Vor einer Woche erschein in der Zeit ein Artikel von Verena Friederike Hasel, weshalb es schwierig ist, heute links zu sein. Eine der Gründe ist die Hypermoralisierung von Diskursen. Moral ersetzt gesellschaftskritisches Denken und komplexe Sprechweisen werden durch einen normierten Code verdrängt. In anderem Kontext und eher auf die politische Krise der Linken bezogen, samt den Gründen dafür, bringt Didier Eribon diesen Widerspruch einer kulturalistisch gefärbten Linken in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ auf den Punkt. Einer Linken, die sich für jegliche Minderheit einsetzt – was per se nicht falsch ist –, aber die ökonomische Situation zunehmend aus dem Blick verliert.
Ich nenne dieses Personal der Echokammern die kulturalistische Linke. Was einst unter dem Zeichen der Aufklärung zum Sprung ansetzte, mutierte zu intellektueller und ignoranter Bräsigkeit. Sinnbild für diesen Verfall ist die Rede Carolin Emckes zum Friedenspreis des Buchhandels. (Mehr zu diesem Kitsch der rechten Gesinnung unten.) Die Meinung dieser Leute ist so vorhersehbar, wie die von Alexander Gauland zum Deutschtum. Ihr Arbeitsplatz sind die Medien: Fernsehen, Zeitungen, Kunst, Kulturmagazin, Kulturjournalist. Ob sie heute in Berlin oder morgen in New York und Rom leben, ist ganz einerlei, denn ihre Produktionsstätten sind Schreibtische und ein mobiles Gerät namens Computer. Leicht ist es, wie der Chef von Apple, jener seinerzeit in den 00ern als Guerilla-Firma gehypten Marke, ein sonores Statement gegen die Diskriminierung von Schwulen abzulegen – was per se nicht falsch ist –, während das Management die Produktionsstätten nach China verlagert, wo unter harten Bedingungen und zumal billiger gearbeitet wird. Ebenso einfach ist es, wie Hillary Clinton es tat, dieser kulturalistischen Mittelschicht Puderzucker in den Arsch zu blasen, um dann umgekehrt in den Leitmedien von den kulturell Arrivierten der USA zurückgepudert zu werden mit Wahlempfehlung. Jene, die vor einem Jahr noch Bernie Sanders ins Abseits bugsierten, beklagen sich nun lautstark darüber, ungerecht behandelt zu werden. Der US-Wahlkampf spiegelt gut diese Geschichte eines linken Verfalls wider.
Gleiches in Frankreich: So verwundert es nicht, daß jene Franzosen, die einst Stammwähler der Sozialisten oder der KPF waren, nicht mehr links, sondern Le Pen wählen. Die Versprechen der kulturalistischen Linken sind nicht die der Angestellten. Whitney Biennial oder Venedig Biennale interessieren in diesem Milieu niemanden und gegen denHaß läßt sich gut predigen, wenn der eigene Arbeitsplatz sowieso ein flexibler ist. Dem deutschen heteronormativen Familienvater aus dem Osten, für den damals VEB nur noch hieß, „Vatis ehemaliger Betrieb“ hat für solche Dinge wenig übrig. Frau Emcke und ihresgleichen werden mit jenem Mann kaum um einen Arbeitsplatz bei einer Security-Firma oder bei der Zeitarbeit konkurrieren. Ähnlich in France: Während Le Pen bejubelt wurde, als sie eine Fabrik besuchte, die von der Schließung bedroht ist, wird der neoliberale und eloquente Macron von diesen Arbeitern ausgebuht und kann das Werk nur unter Polizeischutz betreten.
Weshalb sich im politischen Spektrum die Koordinaten verschoben haben, darüber wäre nachzudenken. Die hier gelieferten Thesen sind lediglich Impressionen und Tupfer einer allgemeinen Tendenz. Die sich in den marktwirtschaftlichen Demokratien im Wahlergebnis niederschlägt. Die Angestellten wollen nicht, wie sie sollen. Ein Problem, mit dem schon die sogenannten 68er zu kämpfen hatten: Die Arbeiter der BRD mögen sich von ihren goldenen Ketten nicht so gerne befreien lassen. Man kann das mit Heiner Müllers kurzem Interludens „Die Befreiung des Prometheus“ aus dem Theatertext „Zement“ gegenlesen.
Was also ist links? Eine Frage, die auf Arte einen Fernsehabend füllte. „Mann der Arbeit, aufgewacht!//Und erkenne deine Macht!//Alle Räder stehen still.//Wenn dein starker Arm es will.“? Zumindest in der von Verena Friederike Hasel beschriebenen Variante fällt Linkssein vielen schwer – einmal davon abgesehen, daß Denken und Analyse von Gesellschaft eben etwas anderes sind als bloß eine bequeme Haltung an den Tag zu legen, die sich als Habitus zeigt, um kulturelles Kapitel zu schöpfen, das sich dann auf dem Arbeitsmarkt der kulturalistischen Linken ökonomisch gut zweitverwerten läßt. Was solches Besinnen auf eine vernünftige Praxis betrifft, denke man nur an Adornos hervorragende Reflexionen zum Verhältnis von Theorie und Praxis – zu finden in „Stichworte. Kritische Modelle 2“. Aber solche Zusammenhänge überhaupt noch zu begreifen, scheint heute schwierig. Vielleicht auch, weil dieses Denken in gewissem Sinne eine Radikalopposition zur Gesellschaft voraussetzt – auch zu der der linken Praktiker. Gegenwärtig vertagt sich die Praxis meist ins Klein-Klein, wo dann in der richtigen Haltung und in der richtigen Gesinnung das richtige Leben im falschen sich installieren soll.
„Während Praxis verspricht, die Menschen aus ihrem Verschlossensein in sich hinauszuführen, ist sie eh und je verschlossen; darum sind die Praktischen unansprechbar, die Objektbezogenheit von Praxis a priori unterhöhlt. Wohl ließe sich fragen, ob nicht bis heute alle naturbeherrschende Praxis in ihrer Indifferenz gegens Objekt Scheinpraxis sei. Ihren Scheincharakter erbt sie fort auch an all die Aktionen, die den alten gewalttätigen Gestus von Praxis ungebrochen übernehmen.“
Diese Kritik an Praxis greift ins Grundsätzliche aus, nicht anders als Martin Heideggers Denken des Seyns, das dem Handhabbarmachen sein Unzulängliches attestierte. Freilich aus einer konservativen Position heraus. (Zur Frage der Technik als Geschick allerdings bleibt Heidegger auf eine interessante Weise ambivalent.) Weiter heißt es bei Adorno:
„Was seitdem als Problem der Praxis gilt und heute abermals sich zuspitzt zur Frage nach dem Verhältnis von Praxis und Theorie, koinzidiert mit dem Erfahrungsverlust, den die Rationalität des Immergleichen verursacht. Wo Erfahrung versperrt oder überhaupt nicht mehr ist, wird Praxis beschädigt und deshalb ersehnt, verzerrt, verzweifelt überwertet. So ist, was das Problem der Praxis heißt, mit dem der Erkenntnis verflochten.“
In diesem Sinne bestimmt durchaus auch das Bewußtsein das gesellschaftliche Sein, ohne dabei in jenen schwärmerischen Idealismus zu gleiten. Im Kontexten der Gegenwart freilich eher als Fades. Nur die traurigen Tropen kann der Ethnologe des Eigenen in Fragen links noch konstatieren. Aus diesem Grunde hält sich Theorie am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward, so formuliert Adorno es in der Einleitung zur Negativen Dialektik.
Bei dem Habitus vieler Linker, den Verena Friederike Hasel uns schildert, nämlich soziale Aspekte in einer politisch korrekten Sprechweise zu moralisieren, handelt es sich um eine Tugendmoral, in der zudem die eigene Position verabsolutiert wird. Vielheiten werden lediglich für die eigene Position akzeptiert, Abweichungen werden sanktioniert und diskreditiert. Toleranz und Offenheit gegenüber anderem Denken schleifen sich zunehmend ab, wird aber für die eigenen Position eingefordert, und wer das verweigert, ist schlimmstenfalls ein Hater, den es unschädlich zu machen gilt.
„Wozu diese narzisstische Selbstüberhöhung führt, bekam ich neulich in Berlin mit. Im Mauerpark im Bezirk Prenzlauer Berg gibt es einen Abschnitt, in dem die Mitglieder des Mauergarten-Vereins ihre Hochbeete haben. Dort, unter vielen zugezogenen Bullerbü-goes-Berlin-Familien gärtnerte auch ein älterer Herr aus der DDR. Es kümmert sich um den Komposthaufen des Vereins. (…) Er macht Führungen für Schüler aus dem Wedding, von denen viele noch nie eine Tomate an einem Strauch gesehen haben. Vor einigen Monaten dann forderte ein anderes Vereinsmitglied per Mail den Ausschluß dieses älteren Herrn, weil er in der AfD ist. ‚Entnazifizierung‘ stand in der Betreff-Zeile. Er ist kein Björn Höcke. Er hat auf seinem Hochbeet auch nie die AfD-Fahne gehisst. Er hat einfach nur Zucchini angebaut.“
So entwickelt sich aus der Moralblase heraus ein restringiertes Verhalten, das vorab schon Bescheid weiß. Aus den eigenen Echokammern gelangt es nicht mehr hinaus. Dieses Milieu ist, wie die Überschrift von Hasels Artikels titelte, selbstgerecht, intolerant und realitätsfern. Harald Martenstein schreibt gegen den Tugendwächterrat seit Jahren an.
In der NZZ vom 29.4., also kurz vor dem Kampftag, gibt es einen feinen Text von Reinhard Mohr, der zum Nachdenken anregt. Er trägt den Titel „Rebellion gegen linke Sonntagspredig“:
„Ein halbes Jahrhundert später hat sich die Situation komplett gedreht: Der Mainstream in Medien und Politik ist im Zweifel deutlich links der Mitte, emanzipiert, ökologisch, nachhaltig, gendergerecht. Die Grünen, im Nachhall des 68er Protests gegen das bürgerliche Establishment gegründet, sind längst zur alternativlosen Staatspartei mit Hang zur Hypermoral geworden, während der rechte Flügel der konservativ-liberalen Wählerschaft zur offenen Rebellion übergegangen ist – teilweise in roher Form bis hin zu eindeutig rechtsradikalen Positionen. Das Ergebnis ist einigermassen grotesk: Die klassische Sonntagspredigt zur Verteidigung des Wahren, Schönen, Guten – vom Windrad bis zur Willkommenskultur – halten nun die einstigen Rebellen von 68 und ihre links-grünen Adepten, während die radikale Gesellschaftskritik jetzt von rechts vorgebracht wird – ein Hauch von Weimar.
Die moralisch-politische Selbstbeschwörung des links-grünen Milieus setzt dem Protest von rechts die bewährten Prinzipien von Demokratie, Toleranz und Rechtsstaat entgegen, ohne sie nach ihrer praktischen Tauglichkeit zu befragen. Doch genau um diesen schmerzhaften Praxistest geht es: um den Euro als Fehlkonstruktion, das Scheitern der EU in der Flüchtlingskrise, um Fehleinschätzungen bei den Themen Einwanderung, Kriminalität, Terror und Integration, Islam und säkularer Staat.
«Sagen, was ist», die ursozialistische Fortschrittsparole von der anbrechenden Morgenröte, ist heute zur Parole «rechtspopulistischer» Bewegungen in Europa geworden, die die einst linke Strategie der permanenten Provokation als Erfolgsrezept entdeckt haben. Verkehrte Welt. Grosse Teile des linken Milieus werden gleichsam auf dem falschen Fuss erwischt.
(…)
Der «Migrant» ist der grosse Andere, «ein Geschenk», wie die Spitzenkandidatin der deutschen Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sagte. Er ist der Antideutsche, der Antispiesser, eine exotische Projektionsfläche für Ideen und Träume, die man selbst eigentlich schon längst beerdigt hat. «Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich sag euch eins: Ich freu mich drauf!», sagte Göring-Eckardt auf dem grünen Parteitag im November 2015. Kriegs- und Armutsflüchtlinge als Präsent für die europäischen Wohlstandsgesellschaften – auf diesen gepflegten Salon-Rassismus muss man erst einmal kommen.“
Der Hauch von Weimar ist freilich der beliebten (Über-)Dramatisierung geschuldet. Selbst wenn wir in der BRD bei den Rechten eine Figur wie Hitler hätten, sind die Verhältnisse, insbesondere die ökonomischen im Augenblick so gut wie selten, auch bei fortschreitendem und gewolltem Pauperismus. Die Leute am rechten Rand rebellieren nicht, weil sie nichts zu essen haben. Doch der Befund, den Mohr liefert, stimmt. Ich kann nur empfehlen, diesen Artikel komplett zu lesen. Es fällt zunehmend schwer, links zu sein. Insbesondere, wenn man sich eine „linke Sonntagspredigt“ wie die unselige, in Kitsch und Betroffenheit sich spreizende Rede Carolin Emckes zum „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ hört. Sie steht als Sinnbild für jeneBigotterie der kulturalistischen Linken:
„In der Paulskirche, dem historischen Ort der gescheiterten deutschen Revolution von 1848, appellierte sie an die Gemeinde: «Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heisst: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt. Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: die Begabung zum Anfangen. Wir können hinausgehen und etwas unterbrechen. Wir können neu geboren werden, indem wir uns einschalten in die Welt.»
Jenseits der ästhetischen Frage, ob es sich hier um Kitsch handelt, ist die Redundanz der unscharfen, fibelhaften Beschwörungsformeln unverkennbar. Konkrete Probleme, Interessenkonflikte und Widersprüche kommen nicht vor, weder Vergangenheit noch Zukunft, und die Gegenwart scheint so weit weg wie der Mond. Eine Ansammlung zeitloser Kalenderweisheiten aus dem Arsenal der Weihnachtsansprache. Es zählt das gute Gefühl – der fortgeschrittene Zustand einer politischen Selbsthypnose. Aus dem Protest ist die Predigt geworden.“
Intellektuelle Kompetenz und die Analyse dessen, was der Fall ist, wurden zugunsten des guten Gewissens vertagt, und es schwingt, klingt und klingelt der Ton evangelikaler Erbauungspredigt. Bestimmt ist er für die eigenen Gemeinde. Die kulturalistische Linke erfreut sich ihrer selbst. Mit solchen Leuten ist weder Staat noch Veränderung zu machen. Heraus zum roten ersten Mai? Ich bleibe zu Hause.
Die beigefügten Maibilder stammen von einer Demo aus dem Jahre 2014 und wurden hier z.T. schon einmal gezeigt.
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