Zur Katastrophe, zu Putins Drohton und heute abend Mantas Kvedaravicius‘ „Mariupol 2“

Gestern in der NZZ gab es einen Kommentar des Historikers Timothy Snyder zum Ukraine-Krieg und seiner möglichen Deeskalation – einen Dank auch an El Mocho für die Verlinkung im Kommentarbereich. Der Artikel bringt Putins Taktik und sein Gebaren gut auf den Punkt, vor allem Putins rhetorische Eskalationen: sein Mittel ist es, den Angstlevel im Westen möglichst hoch zu halten, damit die Unterstützung der Ukraine aus dem Westen nachläßt. Dazu im Hybridkrieg das Plazieren der Falschinformationen, vor allem hier in Deutschland und auch mit Putins willigen Vollstreckern auf diversen Portalen. Die entsetzliche Gewaltlogik des Hinterhofschlägers wurde gestern auch wieder in der Talkshow von Anne Will gut auf den Punkt gebracht – insbesondere im Blick darauf, daß der Rußlands Krieg gegen die Ukraine nicht erst seit dem 24.2.2022 tobt, sondern bereits mit der russischen Annexion der Krim und der russischen Intervention im Donbas. (Dazu und für die Hintergründe vor allem die von mir mehrfach erwähnten zwei Bände von Winfried Schneider-Deters „Ukrainische Schicksalsjahre 2013-2019“ und gerade neu erschienen von Gwendolyn Sasse „Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen“, im  C.H. Beck Verlag für gerade mal 12 Euro. Wer also zu den Hintergründen dieses Krieges etwas wissen will, kann es wissen.

Snyder nun schreibt zu solchen putinschen Drohgebaren:

„Indes erzeugt das Bild vom Atompilz als Schlusspunkt dieser Geschichte Angst und behindert klares Denken. Der Fokus auf dieses Szenario verhindert, dass wir sehen, was tatsächlich passiert, und dass wir uns auf wahrscheinlichere Szenarien vorbereiten. In der Tat sollten wir nie aus den Augen verlieren, wie sehr ein ukrainischer Sieg die Welt, in der wir leben, verbessern wird.

[…]

Sicherlich gibt es eine gewisse Versuchung, sich mental einer nuklearen Erpressung zu beugen. Sobald das Thema Atomkrieg aufgeworfen wird, scheint es von überwältigender Bedeutung zu sein, und wir verzweifeln und werden besessen. Genau dahin versucht Putin uns mit seinen vagen Anspielungen auf den Einsatz von Atomwaffen hinzubiegen. Er bringt uns dazu, uns Dinge vorzustellen, mit denen Russland gar nicht droht. Wir beginnen über eine ukrainische Kapitulation zu sprechen, nur um den psychologischen Druck abzubauen, den wir spüren.

Damit jedoch erledigen wir Putins Arbeit, und er vermag sich aus einer Katastrophe zu retten, die er selbst verursacht hat. Er hat gemerkt, dass er den von ihm begonnenen konventionellen Krieg verlieren könnte. Er hofft, dass sein Hinweis auf Atomwaffen die westlichen Demokratien davon abhält, Waffen an die Ukraine zu liefern. Darüber hinaus soll er ihm Zeit verschaffen, russische Reserven auf das Schlachtfeld zu schaffen, um die ukrainische Offensive zu bremsen. Wahrscheinlich liegt er damit falsch, aber die rhetorische Eskalation ist eine der wenigen Möglichkeiten, die ihm noch geblieben sind.

Ein Nachgeben gegenüber einer nuklearen Erpressung würde den konventionellen Krieg in der Ukraine keineswegs beenden. Es würde indes einen künftigen Atomkrieg sehr viel wahrscheinlicher machen. Wenn man einem nuklearen Erpresser Zugeständnisse macht, lernt dieser, dass er mit dieser Art Drohung bekommt, was er will, was für weitere Krisenszenarien in der Zukunft sorgt. Es lehrt andere Diktatoren, dass sie nur eine Atomwaffe und ein bisschen Getöse brauchen, um zu bekommen, was sie wollen. Das führt schliesslich dazu, dass alle davon überzeugt sind, dass die einzige Möglichkeit, sich zu verteidigen, der Besitz von Atomwaffen sei, was wiederum die weltweite Verbreitung solcher Waffen zur Konsequenz hat.“

Genau das ist, im Blick auf Nordkorea und den Iran, das Fatale, vor allem aber hinsichtlich Putins nächsten Ambitionen, wenn wir ans Baltikum und die Aufrichtung einer neuen russischen Welt denken, die dann wieder mit der alten Sowjetunion und ihren schrecklichen Repressionen identisch ist. Einen Anlaß, irgendwo zu intervenieren und gegebenfalls dann im Falle einer Niederlage auch mit Atormwaffen zu drohen, findet Putin immer. Man warte nur den nächsten „historischen Essay“ des Hinterhofgelehrten Putin ab.

Eine gute Reaktion auf solche Methoden, die Leute kirre zu machen und immer wieder systematisch neue Angst zu erzeugen, findet sich – zu den Hochzeiten des Koreakrieges 1950 – in einem Brief vom 1. August 1950, den der Philosoph Theodor W. Adorno an Thomas Mann schrieb. Es ist eine Reaktion des Standhaltens, um gewissermaßen mit einer Art britischen Gelassenheit sich dem Druck nicht zu beugen und vor allem der irrationalen Angst nicht anheimzufallen, mit der Gangster wie Putin spielen:

„Ihre Gedanken zur zweiten Emigration verstehe ich nur allzu gründlich, aber wohin? Drüben sind Sie ja vermutlich doch ungestörter als in Europa und haben ihren eigenen Rahmen, dessen Bedeutung für die Kontinuität der Arbeit nicht hoch genug anzuschlagen ist. Wir haben die größte Sehnsucht nach dem Pazifik, der zwar nicht Korea, aber doch gemessen an den hiesigen Konstellationen seinem Namen Ehre macht. Aber sonst sieht die Welt so aus, daß es schon fast gleichgültig ist, wo man sich befindet, so daß es wohl wirklich am weisesten ist, wenn man sich von den je gegebenen Möglichkeiten einigermaßen beraten läßt. Dazu kommt, daß in mir ein tiefer Widerstand dagegen sich regt, Maßnahmen zu ergreifen, durch die man sich im Fall eines Atomkries in Sicherheit bringen könnte. Wenn schon Weltuntergang, dann will man doch wenigstens dabei gewesen sein. Aber Sie wissen, ich glaube nicht daran.“
(Th.W. Adorno/Th. Mann, Briefwechsel 1943-1955, S. 80 f.)

Nein, diese Photographie zeigt keine Stadt nach einem Atomangriff, sondern sie zeigt, was die Russen in Mariupol angerichtet haben. Und wer genauer wissen will, was russische Kriegsverbrechen sind, der schaue heute abend auf ARTE den Dokumentarfilm des von russischen Soldaten  ermordeten litauischen Regisseurs Mantas Kvedaravicius.

https://www.arte.tv/de/videos/109827-000-A/mariupolis-2/

Robert Gernhardts Dialektik, Adornos Kritische Theorie, Pohrts Witz und die Elche

Zum Jahresbeginn vielleicht eine kleine Kanzelrede vom Weltgebäude herab. Denn kürzlich las ich bzw. entdeckte ich im Internet ein Gedicht von Robert Gernhardt wieder, das den schönen Titel „Theke, Antitheke, Syntheke“ trägt. Es ist in dem Gedichtband „Reim und Zeit“ enthalten. Es geht, sozusagen, um den vermeintlichen dialektischen Dreischritt, der hier aber bei Gernhardt in seiner Fülle ausgefahren wurde:

Theke, Antitheke, Syntheke

Beim ersten Glas sprach Husserl:
»Nach diesem Glas ist Schlusserl.«
Ihm antwortete Hegel:
»Zwei Glas sind hier die Regel.«
»Das kann nicht sein«, rief Wittgenstein
»Bei mir geht noch ein drittes rein.«
Worauf Herr Kant befand:
»Ich seh ab vier erst Land.«
»Ach was«, sprach da Marcuse,
»Trink ich nicht fünf, trinkst du se.«
»Trinkt zu«, sprach Schopenhauer,
»Sonst wird das sechste sauer.«
»Das nehm ich«, sagte Bloch,
»Das siebte möpselt noch.«
Am Tisch erscholl Gequietsche,
still trank das achte Nietzsche.
»Das neunte erst schmeckt lecker!«
»Du hast ja recht, Heidegger«,
rief nach Glas zehn Adorno:
»Prost auch! Und nun von vorno!«

Eine schöne, illustre, philosophische Gesellschaft, die den angenehmen Dingen frönt. Das ist in der Philosophie meist so. Allerdings ist sie wie auch die Dialektik mit Arbeit verbunden. Und nun komme ich heute aus dem Lachen gar nicht mehr heraus, trotzdem es in Berlin trüb ist, denn ich lese gerade in Wolfgang Pohrts „Der Staatsfeind auf dem Lehrstuhl“. Dies ist ein Vortrag, den Pohrt 1984 auf dem Adorno-Symposion in Hamburg hielt und der sich zum Teil auf den sozusagen offiziellen Adorno-Kongreß von 1983 in Frankfurt mit all denGroßkopfeten bezieht. Pohrts Vortrag ist immanent adornitisch gedacht zwar und vielleicht nicht unbedingt gemäß philosophischer Kritik, aber dafür doch unnachahmlich lustig und teils auch treffend. Es schrieb Pohrt dieses:

„Insofern aber, als es ein vernünftiges Ding mit dem Namen Frankfurter Schule gar nicht geben kann, darf man einen philosophischen Sachbearbeiter Schnädelbach oder eine unter dem Namen Habermas publizierende vollautomatische Textverarbeitungsanlage durchaus als Frankfurter Musterschüler bezeichnen. Insofern auch ist es ganz falsch, hier dem Frankfurter Adorno-Kongreß vom letzten Jahr eine verbesserte Version entgegensetzen zu wollen, denn wenn es der Zweck solcher Veranstaltungen ist, den Ruhm des Toten, dem sie gewidmet sind, im hellsten Glanz strahlen zu lassen, dann war jener Kongreß einfach unübertrefflich in der Art, wie er tätig aufopfernde Selbstverleugnung praktizierte, wie er das Funkeln ausschließlich Adorno überließ und dessen Leuchtkraft noch erhöhte durch den Kontrast zur Blässe derer, die pedantisch über ihn nachdachten. Insofern auch ist vielleicht die oft als unglücklich beklagte Personalpolitik Adornos eher das Produkt einer maliziösen Strategie gewesen. Vielleicht im Bewußtsein dessen, daß man sein Werk kaum würde verbessern, sondern nur verwalten können, hat er auch Sachbearbeiter herangezogen und dabei möglicherweise tagträumend die Vision genossen, wie man ihn nach seinem Tod um so schmerzlicher vermissen wird, wenn dann solche Sachbearbeiter am Ruder sind. Sie dienen seinem Andenken mit ihrer Unfähigkeit mehr, als es andere mit ihren Fähigkeiten können, und deshalb sollten wir ihnen dankbar sein, statt ihnen kleinliche Gehässigkeiten nachzutragen.“

Kritische Theorie ist vielfach zu einer Angelegenheit von universitären Verwaltungsbeamten an geworden. Oder aber man erforscht und referiert jene Kritische Theorie, um sie zu verstehen und auch, um sie historisch einzuordnen. Philologie kann manchen Sonnenschein und Glück allein bringen. So wie es geschieht, wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist; es beginnt dann der Flug jener wunderbaren Eule der Minvera. Immerhin ist es nicht falsch, um Herkunft und Geschichte des eigenen Tuns zu wissen, diese Geschichte zu kennen, auch wenn man sie nicht mehr zu können vermag. Und in diesem Sinne ist Kritische Theorie Geschichte – die Zeiten Adornos sind nicht die unseren.

Dennoch: anstatt Symposien und Kongresse über Kritische Theorie zu veranstalten, wäre es Zeit und angebracht, sie insofern lebendig werden zu lassen, indem man sie am Gegenstand betreibt: nicht nachmachend und die hunderste kulturkrititsche Volte und Wendung schlagend, noch einmal und noch einmal: again and again, sozusagen: der Geist der schnarchenden Kritik aus dem Zeitalter der  Reproduzierbarkeit, sondern in einer originellen Form. Witz, so heißt das Zauberwort, und Gedächtnis. Und ein  feuilletonistisch-philosophischer Esprit. Mit Adorno, gegen Adorno, über Adorno, mit Adorno. Und insofern warte ich dringend auf DAS Adorno-Buch von Rüdiger Safranski. Es wird, so vermute ich, zum Niederknien gut sein.

Aber all diese Esprit-Witz-und-Denker-Wünsche: es ist leichter gesagt als getan: vielfach findet sich nur laues Genöle, das sich für Kritik hält, oder ein nachgerade antiadornitisches Antideutschtum oder „kritische Kritik“ wie Marx witzelte, die verkennen, wie sehr Adorno immer an diesem Land hing. Oder aber einfach eine Leerlauf-Kritik, die bei weitem ihren Gegenstand unterbietet. Entweder eine Ideologiekritik, die noch ihre eigenen Grundlagen unterläuft und bereits gescheitert ist, wenn man sie in Selbstanwendung auf den Kritiker bringt, um ihm seine intellektuellen Unzulänglichkeiten vorzuhalten. Oder aber eine längst als Phrase leerlaufende Kritik an dit und an dat. Solche Kritik hat etwas Freudloses, Unfrohes, Unerotisches, Langweiliges und Lustloses. Ein Modus, den man im Gestus wiederholt und in imitatio betreibt, wird zum Zombie, zum Untoten. Dann lieber ein fröhlicher Epikureer, der gärtnert oder sich ein leckeres Suppenhuhn kocht.

Geisterhafte Wiedergänger sind so problematisch wie universitäre Verwaltungsbeamte. In Horkheimers Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ wurde jene Kritische Theorie noch kleingeschrieben: denn es war dies keine Lehre und keine traditionelle Schule, zu der man sich zählte, sondern vielmehr eine Tätigkeit des Denkens, die zum einen sich von herkömmlicher, eben traditioneller Theorie und einem herkömmlichen Methodenideal unterscheiden wollte: eine Kritik der Vernunft mit ihren eigenen Mitteln – was auch gar nicht anders geht, denn es stehen dem Denken lediglich diese Mittel zur Verfügung; und zum anderen stand sie dennoch in der Tradition, nämlich der Kants und Hegels, Marx‘ und Freuds und auch Husserls: Abhub der Erscheinungswelt und ein kritisches Denken zu betreiben, das sich dabei auch auf die Gesellschaft bezog und Oberflächenphänomene bzw. das, was zunächst ins Auge sticht und als unmittelbar erscheint, auf ihre Tiefenstrukturen zu untersuchen. Eine Philosophie, die sich von ihrer materialen Basis nicht ablöste, aber dabei dennoch nicht ins positivistische Erbsenzählen glitt. Eine Philosophie, die den Idealismus – im Sinne Adornos und Horkheimers als Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft – beim Wort nahm, indem sie sich auf dessen Texte bezog (wenngleich die philologische Gründlichkeit der beiden oftmals zu wünschen übrigließ) und die dennoch auf eine veränderte Gesellschaft abzielte, oder wie Horkheimer es 1937 in jenem Text in einer Fußnote formulierte:

„Die kritische Theorie erklärt: es muß nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden.“ (Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie)

Das ist ein interessanter Gedanke. Und er wird in der Demokratie auf eine eher prozessuale Weise eingeholt.

„Das bürgerliche Denken ist so beschaffen, dass es in der Reflexion auf sein eigenes Subjekt mit logischer Notwendigkeit das Ego erkennt, das sich autonom dünkt. Es ist seinem Wesen nach abstrakt, und die als Urgrund der Welt oder gar als Welt überhaupt sich aufblähende, vom Geschehen abgeschlossene Individualität ist sein Prinzip. Der unmittelbare Gegensatz dazu ist die Gesinnung, die sich für den unproblematischen Ausdruck einer schon bestehenden Gemeinschaft hält, wie etwa die völkische Ideologie. Das rhetorische Wir wird hier im Ernst gebraucht. Das Reden glaubt, das Organ der Allgemeinheit zu sein. In der zerrissenen Gesellschaft der Gegenwart ist dieses Denken, vor allem in gesellschaftlichen Fragen, harmonistisch und illusionär. Das kritische Denken und seine Theorie ist beiden Arten entgegengesetzt. Es ist weder die Funktion eines isolierten Individuums noch die einer Allgemeinheit von Individuen.“ (Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie)

24 Jahre später: Adorno ergänzt diesen doch noch irgendwie optimistischen Blick Horkheimers mit einer Art von ästhetischer Melancholie :

„Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm.“ (Adorno: Versuch, das Endspiel zu verstehen)

Von jenem Programm kritischer Theorie, das Horkheimer, Adorno und Marcuse Ende der 1930er Jahre formulierten und gleichsam programmatisch in Anschlag brachten und mit der „Zeitschrift für Sozialforschung“ praktisch auch wirkmächtig werden ließen, ist nach Adornos Tod lediglich die denkende Besinnung auf eine Sache namens Gesellschaft übrig geblieben. Und auch die Schwierig- oder besser geschrieben die Unmöglichkeit, jenes dumme Ding, das man Gesellschaft nennt, mit sogenannten revolutionären Mitteln zu ändern, müssen im Sinne Kritischer Theorie mitgedacht werden – wobei gegenwärtig eher zu fürchten ist, daß – weltweit betrachtet – diese Revolution eine von rechts sein wird. Kritische Theorie ist problematisch geworden und das formulierte auch Wolfgang Pohrt implizit mit, wenn er vortrug:

„Wie jeder Gesellschaftskritiker oder Philosoph, der seine Sache gut gemacht hat, so hat auch Adorno seinen Schülern und Amtsnachfolgern nichts als Arbeitslosigkeit hinterlassen. Was es über diese Epoche zu denken und zu sagen gibt, kann man in seinen Büchern lesen, und eine andere Epoche, in welcher Adorno veraltet oder überflüssig sein würde, ist leider nicht in Sicht.“

Dieser Satz mag polemischer Zuspitzung geschuldet sein und er mag einer gewissen Einseitigkeit im Blick entsprungen sein, denn auch an sogenannten kulturindustriellen Produkten wie dem Unterhaltungsfilm kann einem Zuschauer etwas aufgehen, und die besten „Tatorte“ in der ARD werfen, trotzdem sie eine für viele produzierte Unterhaltung sind, zugleich gesellschaftliche Fragen in die Diskussion (und das in Einzelfällen sogar besser als manches Zeigefingersozialdrama aus der Rubrik High-brow-Film mit Hang zur Berlinale), und in diesem Sinne bleibt hinreichend Arbeit übrig – auch um andere Verzweigungen nur als die negative Kritik zu entdecken. Denker wie Foucault mit seinem, wie er es in bezug auf bestimmte Phasen seines Denkens halbironisch, halbernst nannte, „fröhlichen Positivismus“ und Deleuze (aber auch Lyotard und der mittlere Derrida) zeigen hier andere Wege.

Dennoch bringt dieses Pohrt-Zitat eine Tendenz gut auf den Begriff: daß Adorno in seinen Analysen zentrale Aspekte der spätkapitalistischen Gesellschaft mit marxschen Mitteln zur Darstellung brachte: ihre Mechanismen und auch die Art, wie Bewußtsein in Beschlag genommen werden kann, bis hin zu seiner These, daß Arbeit und Freizeit ineinander übergegangen sind – auch im Sinne jener Selbstoptimierung, die nicht dem Gnothi seauton, sondern dem marktgerechten Verhaltung und der unternehmensorientierten Selbstdarstellung und damit der Performance dient.

Einen solchen Blick in die Welt optimierter Selbste und der Wahl des Liebespartners nach Portfolio-Kriterien entwirft Ute Cohen in ihrem Anfang des Jahres erschienenen Roman „Poor Dogs“, und wir finden schon lange vorher in Guy Debords „Die Gesellschaft des Spektakels“ etwas davon. Auch in bezug auf diese Selbstperformanz, und darin ist Pohrt recht zu geben, finden wir bei Adorno zahlreiche Texte: die „Minima Moralia“ sind gleichsam ein Brevier und Handorakel der Negativität und was nicht zu tun sei. Es bleibt in diesem Sinne tatsächlich viel Nacharbeit, wie es Schiller in den Xenien über „Kant und seine Ausleger“ dichtete: „Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.“ Aber in der Position des Kärrners zu verharren ist eben doch langweilig – außer man heißt Nena und ist noch so fresh wie in den 1980er Jahre, als die Unmittelbarkeit noch unmittelbar war. Unmittelbar naiv.

Solche Kritik des Projekts Frankfurter Schule als Projekt und planbare Veranstaltung universitärer Verwaltungsbeamter gedacht, äußerte unlängst auch Peter Trawny in seinem Buch „Was ist deutsch?“:

„Habermas‘ Projekt, die aktuelle Frankfurter Schule überhaupt, ist ein Diskurs von Professoren, der sich nur insofern ein besonderes Profil verleihen kann, als er in Exzellenz-Initiativen erfolgreich ist. Theorie um ihrer selbst willen wird ausgestattet mit großzügigen Posten. Damit aber erlangt der Diskurs noch keine gesellschaftspolitische Relevanz. Im Gegenteil. Er wird nicht weniger esoterisch als das von Habermas so häufig abgekanzelte Heideggersche Denken. Was universitätspolitisch äußerst effektiv funktioniert, ist ‚lebensweltlich‘ irrelevant geworden.“

In diesem Sinne bleibt vielleicht nur jenes Ausweichen vor falschen Alternativen und dogmatischen oder sophistischen Festlegungen oder dem Festzurren auf eine linke Identitätspolitik als ungetriggerter Hallraum der Woken: jene Echokammer, die sich kritisch dünkt und sich doch nur narzißtisch spiegelt: dies Leute haben nicht einmal mehr ihre französischen Gewährsmänner und -frauen, auf die sie sich frech berufen, auch nur halbwegs erfaßt. Da können sie sich mit Gumbrechts Postmoderne-Kritik zusammentun. Zwei Lager, ein Denken.

Adornos Stärke lag nicht da, wo er sich in die Fallstricke der Ideologiekritik verhedderte, sondern da, wo er ungedeckt und frei von solchen Konstrukten sich in die Philosophie warf: das Denken des Nichtidentischen, jene Freiheit zum Objekt und des Eingedenkens der Natur: „Im Eingedenken ans eigene Naturwesen entragt es [das verfallene Dasein] seiner Naturverfallenheit.“ (Adorno, Zur Schlußszene des Faust)

Was bleibt, als kritische Theorie, gegen all diese Tendenzen, das ist die Philosophie als Kritik und Denken, als Arbeit am Text, als gründliche intensive Lektüre und genaue Deutung von Texten. Close reading. Das also, was Philosophie seit Heraklit, Parmenides und Platon schon immer tat. Das Denken denken.

Vielleicht läßt sich als eine der Bestimmungen der unterschiedlichen Ausprägungen kritischer Theorie jener Satz von Herbert Marcuse festhalten, den er in Anschluß an Horkheimers Essay und als Antwort schrieb:

„Das Interesse der kritischen Theorie an der Befreiung der Menschheit verbindet sie mit bestimmten Wahrheiten, die sie festhalten muß. Daß der Mensch mehr sein kann als ein verwertbares Subjekt im Produktionsprozeß der Klassengesellschaft, durch diese Überzeugung ist die kritische Theorie am tiefsten der Philosophie verbunden.“ (Herbert Marcuse, Philosophie und kritische Theorie)

Vielleicht ist diese Neue Frankfurter Schule, vielleicht ist jener Humor, jener Witz als Ingenium eine Möglichkeit, im Modus der Kritik zu bleiben und dennoch nicht freudlos und moralinsauer aus der Welt zu blicken oder Kunstwerke daran zu messen, ob darin auch die richtigen moralischen und haltungsmäßigen Standpunkte vorkommen und ob darin bloß keine der Figuren „Neger!“ oder „Zigeuner“ ruft oder aber als Ideologiekritiker den Leuten ihr vermeintlich falsches Bewußtsein vorzunölen und im Unterbewußten der Massen zu poppeln: Freud für Freudlose gleichsam, wobei ich nichts gegen Freud gesagt haben will. Solchen digressiven Takt als entferntes Verstehen und Koppelung von Ungleichzeitigem und Inkompatiblem zeigten Dichter wie Laurence Sterne, Jean Paul, Heinrich Heine, Eckhard Henscheid und überhaupt die Dichter und Spötter der Neuen Frankfurter Schule – man nehme nur Standardwerke wie „Reim und Zeit“, die schon vom Titel her mit der Größe des Denkens spielen (der Anklang an Heideggers „Sein und Zeit“ ist unüberhörbar) und die dennoch das Gedicht als Effekt auch der Zeit sehen. Womit ich wiederum bei jenem Gedicht von Robert Gernhardt vom Anfang des Textes angelangt bin.

Und vielleicht auch für all die Orakel und Debakel, die haltlosen Auslegungen und für die Mutmaßungen, die am Ende doch nicht so wie gemaßt und gemutet zutreffen,  sei mit Spott, mit Witz und deshalb mit Robert Gernhardt geendet, der dieses Jahr seinen 15. Todestag hat, und zwar mit Gernhardts „Deutung eines allegorischen Gemäldes“

Fünf Männer seh ich inhaltsschwer;
wer sind die fünf?
wofür steht wer?

Des ersten Wams strahlt blutigrot;
das ist der Tod
das ist der Tod.

Der zweite hält die Geißel fest;
das ist die Pest
das ist die Pest.

Der dritte sitzt in grauem Kleid;
das ist das Leid
das ist das Leid.

Des vierten Schild trieft giftignaß;
das ist der Haß
das ist der Haß.

Der fünfte bringt stumm Wein herein;
das wird der Weinreinbringer sein.

In diesem kritischen Sinne einen guten Start ins Jahr 2021.

Zur Krise der Literaturkritik

„Wer nach langen Emigrationsjahren wieder in Deutschland sich befindet, spürt den Verfall der literarischen Kritik. Es mag dabei Selbsttäuschung im Spiel sein. Der Vertriebene neigt dazu, den geistigen Zustand in Deutschland in der Zeit vor Hitler zu verklären und den Gedanken an all das zu verdrängen, was damals schon die faschistische Barbarei teleologisch in sich trug. Erinnert man sich an den Kampf, den Karl Kraus gegen die literaturkritischen Prominenzen führte, an den von ihm unerbittlich erbrachten Nachweis ihres Konformismus, ihrer Inkompetenz, ihrer Schlamperei, Wichtigmacherei und Unverantwortlichkeit, so wird man sich aller Illusionen über den damaligen kritischen Großbetrieb entschlagen. Aber gerade Karl Kraus hat im Negativen zwischen Dummheit und Gemeinheit, zwischen Mittelmaß und Inferiorität, zwischen dem Schmock und dem Kaffern zu unterscheiden gewußt. Es liegt im Sinne solcher Unterscheidung, daß man den heutigen Zustand, in dem der Geist kritischer Freiheit und Autonomie in Deutschland zu fehlen scheint, abhebt von einer Periode, in der die Kritik sich mag aufgebläht haben, aber wenigstens noch dem sogenannten geistigen Leben gegenüber ein Element von Unabhängigkeit bewahrte.

[…]

Die faschistische Autorität ist zergangen, aber übrig geblieben ist von ihr der Respekt vor einem jeglichen Bestehenden, Anerkannten und sich als bedeutsam Aufspreizenden. Ironie, geistige Beweglichkeit, Skepsis gegen das, was nun einmal da ist, hat nie in Deutschland hoch im Kurs gestanden. Solche geistigen Verhaltensweisen wurden auch während des liberalen Zeitalters mit schlechtem Gewissen, als eine Art illegitimer Reiz genossen. Sie galten für unsolid: stets mißtrauten das Feuilleton und das Akademische einander. Das Element der produktiven Negativität geht nun offenbar der heute in Deutschland Kritik übenden Generation weithin ab. Entweder man traut sich nicht, oder der Versuch bleibt hilflos. Polemiken wie etwa die, welche vor einiger Zeit Alfred Polgar im ‚Monat‘ dem Opus des Herrn von Salomon widmete, sind seltene Ausnahmen. Wird negativ geurteilt, so geschieht es eher im Sinne des autoritären Dekrets als dem des Eindringens in die Sache. […] Meist aber beschränkt sich die Kritik aus Mangel an Freiheit, Distanz und vor allem wirklicher Kenntnis der sachlichen Probleme, in deren Bewältigung künstlerische Arbeit wesentlich besteht, auf eine Art gehobener Information. Oft fällt es schwer, den Kritiker vom Waschzettelschreiber zu unterscheiden, wie ich mir umgekehrt habe erzählen lassen, daß jüngst ein Literaturkritiker, anstatt sich mit dem ihm vorliegenden Buch zu befassen, sich auf die Kritik des Waschzettels beschränkte.

[…]

Als Lessings helle Rationalität den äthetischen Rationalismus durchschaute, Heine die zum Genrehaften und Reaktionären verkommene Romantik angriff, als Nietzsche die Sprache des Bildungsphilisters bloßstellte, trug sie alle die Teilhabe am objektiven Geist. Selbst Karl Kraus, der den Expressionismus der Baller und Steiler bekämpfte, aber Georg Trakl entdeckte, wäre ohne jene geistige Bewegung nicht vorstellbar gewesen. Daß es heute eine damit irgend vergleichbare Tendenz des objektiven Geistes kaum gibt, und daß, was etwa noch an avantgardistischen Intentionen sich vorwagt, sofort in Gefahr steht, zur Spezialität zu verkümmern, reduziert Kritik zur beliebigen, unverbindlichen Meinungsäußerung.

Noch die Aussage, daß an der Sterilität der Kritik die Sterilität der Produktion Schuld trage, griffe zu kurz.Der wahre Grund ist die Neutralisierung der Kultur, die weiter weist wie zufällig von den Bomben verschonte Häuser, und an deren Substantialität keiner mehr recht glaubt. In solcher Kultur wird der Kritiker, der sie nicht selber beim Namen nennt, notwendig zum Mitmacher und verfällt der Gleichgültigkeit seiner Objekte, in denen die geschichtlichen Kräfte des Zeitalters zwar stofflich erscheinen, kaum je aber das Gestaltete selber tragen. Die Aufgabe der Literaturkritiker scheint an weiter und tiefer greifende Besinnungen übergegangen, weil die ganze Gattung Literatur heute nicht mehr die Dignität beanspruchen kann, die ihr noch vor dreißig Jahren zukam. Nur der Literaturkritiker würde seiner Aufgabe noch gerecht, der über diese Aufgabe hinausginge und etwas von der Erschütterung in seinen Gedanken registrierte, die dem Boden widerfuhr, auf dem er sich bewegt. Das könnte aber nur gelingen, wenn er zugleich in voller Freiheit und Verantwortlichkeit, ohne alle Rücksicht auf öffentliche Geltung und Machtkonstellationen und zugleich mit der genauesten artistisch-technischen Erfahrung sich in die Gegenstände versenkte, die ihm vorkommen, und den Anspruch aufs Absolute, der noch dem erbärmlichsten Kunstwerk verzerrt innewohnt, so schwer nähme, als wäre es das, wofür es sich gibt.“
(Th. W. Adorno, Zur Krisis der Literaturkritik, veröffentlicht 1952/53)

Dieses Passage kann man unkommentiert stehenlassen. Sie spricht und steht für sich. Auch was den Geist der bösen und bissigen Kritik, gerade im Sinne eines Karl Kraus betrifft, der heute fehlt, um jene scheinheiligen Lemuren – von links wie von rechts – aufzuspießen. Von der mißlungenen Literatur ganz zu schweigen. Man kann das insgesamt als eine Krise der Kultur begreifen. Immerhin aber ist es möglich zumindest diesen Umstand auszusprechen.

 

 

„Hellhörige Scheu vor dem Vergangenen“. Von Menschen und Mäusen oder: Jene zwanziger Jahre

Hegel, Hölderlin, Beethoven, Engels, Celan, Adorno

2020 – schönes Zahlenspiel, Zahlenmagie. Man kann auf solchen Datumsgrenzen zurückblicken. Aufs letzte Jahr und in diesem Falle gar auf das letzte Jahrzehnt und man kann Listen mit Büchern, Ausstellungen, Theaterstücken ausstellen: was war, was vorgeblich wichtig war oder auch nicht oder was ein Aufreger oder keiner war. Was man gelesen hat, was und wieviel. Undsoweiter. Aber solche Sichtung bleibt ohne Bezug und Kontext und damit im guten hegelschen Sinne abstrakt. Und wollte man diesen Kontext erzeugen, wuchtete sich der Text zu einem Essay über jenes Jahrzehnt aus. Insofern lieber mäandern.

Listen, Preise und Rankings mögen einen bestimmten Zeitgeist spiegeln und sie sind insofern soziologisch interessant. Doch übers ästhetisch Gelungene geben sie nur bedingt Auskunft. Weshalb ein Buch wie Anke Stellings „Schäfchen im Trockenen“ letztes Jahr den Leipziger Buchpreis erhielt, mögen die Götter oder die heutigen Bewohner des Prenzlauer Bergs wissen. Es gibt, so scheint es mir, Buchpreise, die nicht primär die ästhetische Qualität eines Textes, sondern dessen politische Haltung bepreisen: das unabdingbare Recht, innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings wohnen zu müssen. Und es sind das dieselben Leute, die heute jammern und klagen, wenn sie aus ihren Wohnungen gentrifiziert werden und denen es gestern am Arsch vorbeiging, wer da eigentlich vorher im Wins- oder Bötzow-Viertel wohnte, bevor sie in jene Wohnungen einzogen. Ossis waren Kollateralschaden und mußten halt dem neuen biederen Lebensstil weichen. Da machte es nichts, wenn es für den Vormieter ab in die Platte nach Hellersdorf ging. Da fragte niemand, da schrieb kaum einer was zu. Aber das ist inzwischen auch über zwanzig Jahre her. Und so möchte man auch heute mit maliziösem Lächeln jenen Klagenden entgegnen: Leben ist eben Veränderung.

Festhalten kann man freilich fürs letzte Jahrzehnt verschiedene Tendenzen: Die wichtigste findet sich wohl im Feld des Politischen und es ist dies in meinen Augen die traurigste, erschreckendste und gefährlichste: nämlich der Niedergang der Sozialdemokratie, einst eine Volkspartei. 2013 noch beging sie ihren 150. Geburtstag und selbst in jenem Jubeljahr samt Jubelfest hätte, trotz Rückschlägen und trotz Wählerschwund, wohl niemand daran gedacht, daß sich die gute alte Tante auf dem Weg einer 15 %-Partei befindet. An diesem Niedergang sind nicht nur die Medien schuld, vor denen es – insbesondere in der Springer-Presse – die SPD immer schon ein Stück weit schwerer als die bürgerliche CDU hatte – man denke nur an Steinbrücks Fuckfinger und der daraus abgeleiteten Kampagne, während man Asse- und Irakkrieg-Merkel ungehindert gewähren ließ, ebenso ihre unsolidarische Haltung, nicht nur in der Flüchtlingsfrage, vor 2015 gegenüber Ländern wie Italien und Griechenland, und wie jene Medien es dabei unterließen, irgendwas von diesen Dingen je aufs Zeitungspapier zu drucken. Doch trug vor allem die SPD selbst an diesem Niedergang erheblichen Anteil und es läßt sich dieser Wählerschwund nicht nur auf die mediale Berichterstattung reduzieren.

Eine weitere unheilvolle politische Tendenz lag darin, daß sich die Klientel linker Politik entscheidend veränderte. Große Teile der Linken verschrieben sich einer Identitätspolitik, die primär nur noch auf Partialeffekte und Gruppenidentitäten abzielte. Das Abklopfen nach Marginalisierungen wurde Lieblingsbeschäftigung, Opferquartett das Lieblingsspiel. Noch die Literatur wurde von jenen Literaturblasenevangelikalen nach der korrekten Darstellung von Minderheiten in Prosa und auf sprachliche Reinheit abgeklopft. Vom politischen Separatismus ganz zu schweigen. Kein Blick aufs ganze, keine Analyse von Strukturen und von Denksystemen. Stattdessen häufig kurzschlüssige Ideologiekritik oder Identitätspolitik.

Daß es zwischen dunkelhäutigen und weißhäutigen Arbeitern und Angestellten durchaus politische Gemeinsamkeiten geben könnte, geriet zunehmend aus dem Blick und ebenso geriet aus dem Fokus, wie man solche Gemeinsamkeiten gesellschaftlich und politisch sichtbar machen kann. Solche Abschottungen, zum Teil auch innerhalb der SPD und im Osten gegenüber dem klassischen Milieu der Linke-Wähler, waren mitverantwortlich dafür, daß da eine Partei am rechten Rand entstehen konnte, die Bedürfnisse und Wünsche auffing. Dies ist beileibe nicht die einzige Ursache, aber doch eine von vielen. Man betrachte sich die Wählerwanderungen.

(Gelingende) linke Politik ist heute kaum noch denkbar. Kluge Linke wie auch der Dialektiker im Grandhotel Abseits ziehen sich aufs Feld der Analyse und gerne auch der ästhetischen Abenteuer zurück – gleichsam dem einheimisch-dialektischen Reich der Theorie, worin Waldgänger, destruktive Charaktere und abenteuerliche Herzen ihren Platz haben und sich tummeln. Denn Gesellschaft zu verändern, bedeutet zunächst mal, sie überhaupt erst in ihren Mechanismen zu begreifen – manchmal auch von der Perspektive des Exzentrikers her, der beim heutigen Juste Milieu der evangelikalen Identitätslinken nachgerade verpönt ist, wie er es sonst nur beim Spießbürger war – und auch die komplexen Aspekte in den Blick zu bekommen und das, was uns als vermeintliche Naturform gespiegelt wird, als gesellschaftlich Gemachtes und damit auch als Veränderbares zu lesen.

Womit wir beim Jahr 2020 angelangt sind und damit bei den anstehenden Jubiläen, nämlich Hegels und Hölderlins 250. Geburtstag. Man kann solche Jubiläen belächeln und als bildungsbürgerlichen Scheiß abtun, nur sollte man dann auch etwas Besseres in petto haben als Partialphilosophie, Textethiken samt intellektueller Kleingeisterei, die auf Partialschwachsinn hinauslaufen.

Hegel wie Hölderlin dachten und begriffen ihre Zeit und sie realisierten die großen gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Umbrüche ihrer Epoche, die bis heute Auswirkung haben: der Einsatz von Maschinen zur Produktion von Waren, das Ausbilden einer bürgerlichen Schicht und damit korrespondierend einer pauperisierten, die Bedeutung der Arbeit und das

„Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen -, bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt.“

So Hegel im Paragraph 244 seiner „Rechtsphilosophie“. Dieser gesellschaftliche Wandel kulminiert bei Hegel unter den Begriffen Entzweiung und Entfremdung. Vor allem aber traf Hegel die zentrale Unterscheidung zwischen der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat als Rechtsstaat, dem in diesen Konflikten eine zentrale Rolle zukam. Hegel dachte, so formuliert es Vieweg in seiner Hegel-Biographie, „über die Bedingungen für einen vernünftigen und freien Staat“ nach und dies eben ist eine Konstante in Hegels Philosophie. Bis heute aktuell. Bis heute zu realisieren.

Ebenfalls dachten Hegel wie Hölderlin die Bedeutung und die Macht der Kunst. Der Kunst kam zum einen eine gleichsam therapeutische wie auch verändernde Kraft zu, weil sie zum einen Möglichkeiten eines Anderen bereitstellte, das im Vorschein als Utopie aufblitzte oder in Rätselschrift sich als zu lesende Chiffre seinen Weg bahnte, wie in Hölderlins Dichtung, und zum anderen machte uns Kunst etwas anschaulich, was im Medium des Begriffs zunächst sich „verkapselt“, in der Kunst aber eine Form erhält, so daß Inhalte (sinnlich) zugänglich werden: in der Kunst schaut Gesellschaft sich selbst an. Gekonnt zeigt Hegel dies etwa in seinen Ästhetik-Vorlesungen anhand der niederländischen Genre-Malerei.

Kunst versinnlicht und darin liegt für das ausgehende 18. und das kommende 19. Jahrhundert zugleich eine Möglichkeit von umfassender Bildung, die nicht nur den Verstand, sondern ebenso die Sinne beansprucht: Jenes Programm ästhetischer Erziehung, das sich im Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus von 1797 als Versinnlichung der Ideen und als ästhetische Aufklärung Bahn brach, um mittels einer neuen Mythologie und neuen Formen des Erzählens so etwas wie Volksbildung zu betreiben. Denn nur ein gebildetes Volk kann auch politisch sich beteiligen. Kunst besitzt, neben der Ausbildung ihrer Autonomie immer eine gesellschaftliche Funktion. Nicht im unidirektionalen Sinne und als Zeigefingerpädagogik, sondern qua ihrer Auseinandersetzung mit und der Aneignung von Gesellschaft. Noch ein einfacher Seitensprung im Eheleben, den Literatur in Darstellung bringt, hat gesellschaftliche Relevanz, ist auf ganz unmittelbarer Ebene gesellschaftlich genommen, und der (subjektive) Brief als Romanform, in der eine unglückliche Liebe zum Ausdruck kommt, ist ebenso gesellschaftlich vermittelt und wirkt qua ästhetischer Form wiederum auf Gesellschaft und die Möglichkeiten von Kunst zurück.

Zentral ist die Rolle der Kunst in der ästhetischen Moderne seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr nur im Sinne der Bildung, sondern ebenso als Medium der Erkenntnis. Womit wir für das fatale und brutale 20. Jahrhundert bei einem dritten Jubiläum wären – das von Beethoven muß man freilich noch dazu nennen, denn ohne diesen wären die ästhetischen Brüche des 20. Jahrhunderts in der Musik, wären Mahler, Schönberg und Berg kaum denkbar. Nämlich dem 100. Geburtstag und gleichzeitig dem 50. Todestag von Paul Celan. Wohl in kaum einer Dichtung wurde das Grauen des deutschen Massen-Mordens im Zweiten Weltkrieg und insbesondere die Vernichtung ganzer Menschengruppen derart zum Ausdruck gebracht und zugleich ein anderes Sprechen als Schweigen und Andersdenken als Dichten derart bedeutsam. Die Linie Hölderlin – Celan dürfte bis heute hin aktuell und interessant sein. Man denke nur, was die bereits ganz unmittelbar genannten Bezüge angeht, an Celans „Tübingen Jänner“ und darin die schwimmenden Hölderlintürme samt jenem fremdseltsamen hölderlinschen Rätselwort „Pallaksch“:

Zur Blindheit über-
redetet Augen.
Ihre – „ein
Rätsel ist Rein-
entsprungenes“ –, ihre
Erinnerung an
schwimmende Hölderlintürme, möwen-
umschwirrt.

Besuche ertrunkener Schreiner bei
diesen
tauchenden Worten:

Käme,
käme ein Mensch,
käme ein Mensch zur Welt, heute, mit
dem Lichtbart der
Patriarchen: er dürfte,
spräche er von dieser
Zeit, er
dürfte
nur lallen und lallen,
immer-, immer-
zuzu.

(„Pallaksch. Pallaksch.“)

Jene aussetzende Sprache, das tauchende Wort; und aus der Sprachlosigkeit heraus, in einer Art Engführung, geschieht, fast musikalisch, ein neues Sprechen. Den wohl bedeutendsten Dichter des 20. Jahrhunderts gilt es dieses Jahr zu feiern. Bedeutsam deshalb, weil sich in der Kunst Möglichkeiten zeigten, solches Grauen in eine hermetische Sprache zu bringen, die nicht einfach mehr im Kunstgenuß sich erschöpft, sondern so etwas wie die ansonsten in der Philosophie beheimatete „Anstrengung des Begriffs“ auch für die Kunst erfordert. Destruktion von Sinn und Sinnhorizonten.

Und damit korrespondierend, nämlich unter anderem auch im Sinne einer Dichtung bzw. Kunst nach Auschwitz, aber ebenso in Fragen nach der Öffnung der ästhetischen Formen und dem Gelingen neuer, anderer Kunst, gilt es, die wohl bedeutendste Ästhetik des 20. Jahrhunderts zu feiern, nämlich 50 Jahre Adornos „Ästhetische Theorie“ – 1970 von Rolf Tiedemann und Gretel Adorno aus den einzelnen Textteilen, Notizen und Fragmenten Adornos in ein Buch gebracht.

Bis heute ist diese Kunsttheorie, die selbst mehr als nur Kunstphilosophie sein will, in den Debatten präsent. Bis heute umstritten, wenn es etwa um die Frage nach den Gattungsgrenzen, dem Einreißen von Grenzmarkierungen und einer radikalen Veränderung der Kunst geht. In einem Blog sind diese wissenschaftlich zu sichtenden Aspekte kaum thematisierbar. Aber zumindest lassen sie sich anspielen und einzelne Aspekte der Theorie zwischen all diesen gerade genannten Denkern und Dichtern können in eine Konstellation gebracht werden, so daß – vielleicht in einer Art von Benjaminschem dialektischen Bild – so etwas wie ein Szenario aufblitzt, das pointiert Möglichkeiten, Schwierigkeiten und auch die Aporien gegenwärtiger Kunst aufzeigt.

Spannend in jedem Falle bleibt, daß mit Hölderlin, Hegel, Beethoven, Adorno, Celan, aber auch mit dem 200. Geburtstag von Friedrich Engels ein Feld geschaffen werden kann, in dem Kunst und Gesellschaft ihren Ort haben. Auch in diesem Sinne zeugen Jubiläen von Zeitgenossenschaft. Vor allem besetzen Kunst und Gesellschaft samt jenen Rückblickjubiläen diesen Ort der zeitgenossenschaftlicher Reflexion in ihren Brüchen, was im Gegenwartsbezug eminent auch auf die Formfragen der Kunst am Ende abzielt – unter anderem bedeutet dieser Bruch, für den jene Namen stehen, das Auflösen klassischer oder überkommener Formen und zugleich eine plurale Erweiterung des Kanons.

Das „Meer des nie Geahnten“, welches sich den klassischen Avantgarden der 1910er Jahre auftat und „auf das die revolutionären Kunstbewegungen um 1910 sich hinauswagten, hat nicht das verhießene abenteuerliche Glück beschieden. Statt dessen hat der damals ausgelöste Prozeß die Kategorien angefressen, in deren Namen er begonnen wurde“ wie Adorno im Auftakt seiner Ästhetik schrieb: und so wurde in der Kunst zur Selbstverständlichkeit, daß nichts mehr selbstverständlich ist. Mit Hegel, Hölderlin, Beethoven und Celan haben wir ganz unterschiedliche Protagonisten für eine Bewegung, die bis heute anhält.

Namen in Jubiläen sind Schall und Rauch. Aber die mit den Namen verbundenen Theorien und die Dichtung sind es nicht. Und zu ihnen gesellt sich jener raue, harte, politische, neoklassische, affirmative, brutale Sound jener 1920er Jahre: zwischen Benn, Benjamin, Jünger und Brecht und am Ende Franz Kafkas wie auch Robert Walsers Prosa: eine Art von Verschwinden im Text, in Kunst, ein Kleinwerden, Verlust und die Frage, was eigentlich Kunst noch für jene seltsame Gegenwart sei und was sie bedeutet. Ähnlich der Weise wie es Kafka 1924 in seiner letzten Erzählung „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“ schilderte:

„Ich habe oft darüber nachgedacht, wie es sich mit dieser Musik eigentlich verhält. Wir sind doch ganz unmusikalisch; wie kommt es, daß wir Josefinens Gesang verstehn oder, da Josefine unser Verständnis leugnet, wenigstens zu verstehen glauben. Die einfachste Antwort wäre, daß die Schönheit dieses Gesanges so groß ist, daß auch der stumpfste Sinn ihr nicht widerstehen kann, aber diese Antwort ist nicht befriedigend. Wenn es wirklich so wäre, müßte man vor diesem Gesang zunächst und immer das Gefühl des Außerordentlichen haben, das Gefühl, aus dieser Kehle erklinge etwas, was wir nie vorher gehört haben und das zu hören wir auch gar nicht die Fähigkeit haben, etwas, was zu hören uns nur diese eine Josefine und niemand sonst befähigt. Gerade das trifft aber meiner Meinung nach nicht zu, ich fühle es nicht und habe auch bei andern nichts dergleichen bemerkt. Im vertrauten Kreise gestehen wir einander offen, daß Josefinens Gesang als Gesang nichts Außerordentliches darstellt.

Ist es denn überhaupt Gesang? Trotz unserer Unmusikalität haben wir Gesangsüberlieferungen; in den alten Zeiten unseres Volkes gab es Gesang; Sagen erzählen davon und sogar Lieder sind erhalten, die freilich niemand mehr singen kann. Eine Ahnung dessen, was Gesang ist, haben wir also und dieser Ahnung nun entspricht Josefinens Kunst eigentlich nicht. Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle, es ist die eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder vielmehr gar keine Fertigkeit, sondern eine charakteristische Lebensäußerung. Alle pfeifen wir, aber freilich denkt niemand daran, das als Kunst auszugeben, wir pfeifen, ohne darauf zu achten, ja, ohne es zu merken und es gibt sogar viele unter uns, die gar nicht wissen, daß das Pfeifen zu unsern Eigentümlichkeiten gehört. Wenn es also wahr wäre, daß Josefine nicht singt, sondern nur pfeift und vielleicht gar, wie es mir wenigstens scheint, über die Grenzen des üblichen Pfeifens kaum hinauskommt – ja vielleicht reicht ihre Kraft für dieses übliche Pfeifen nicht einmal ganz hin, während es ein gewöhnlicher Erdarbeiter ohne Mühe den ganzen Tag über neben seiner Arbeit zustandebringt – wenn das alles wahr wäre, dann wäre zwar Josefinens angebliche Künstlerschaft widerlegt, aber es wäre dann erst recht das Rätsel ihrer großen Wirkung zu lösen.“

Auch darin steckt jene Frage, was eigentlich ein Kunstwerk zum Kunstwerk macht oder ob es nicht vielmehr am Ende doch ein ganz gewöhnliches Pfeifen ist – ein Geräusch, ein Ding. Zumindest eine Ahnung scheint beim Volk der Mäuse vorhanden und etwas ist da im Gesang der Josefine, was ein Mehr entläßt. Oder wie Adorno es in bezug auf die Kunst formulierte: „Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.“ Für Adorno ist dies die Gestalt aller künstlerischen Utopie und darin eben liegt – unter anderem – die Aktualität von Adornos Ästhetik. Und man kann dies vielleicht mit Martin Heidegger ergänzen, wenn er in den Schwarzen Heften von 1931 die „Hellhörige Scheu vor dem Vergangenen“ beschreibt. Man muß dieses Rückgehen nicht als Regression fassen, sondern im Sinne eines Andenkens, eines Erinnerns und einer Form von Anamnesis. Und dazu eben dienen auch solche Jubiläen und Gedenktage, vielleicht im Celanschen und im Derridaschen Sinne einer Poetik des Datums. Einer Einmaligkeit und Singularität, die in eine wiederkehrende Struktur eingeschrieben wird.

***

Wer sich ansonsten in ästhetischen Fragen auf die zwanziger Jahre vorbereiten möchte, der lese dazu unbedingt Adornos Aufsatz „Jene zwanziger Jahre“ aus den „Eingriffen“, darin sich auch eine Kulturkritik des Revivals findet (besonders schön darin die Wendung von der Tapetenmusterkunst):

„Schlagworte machen sich verdächtig nicht bloß durch ihre Funktion, den Gedanken zur Spielmarke zu degradieren; sie sind auch Index ihrer eigenen Unwahrheit. Was das öffentliche Bewußtsein heute, zumal die Mode der Revivals den zwanziger Jahren zuschreibt, war damals, spätestens 1924, schon im Verblassen; die heroischen Zeiten der neuen Kunst lagen vielmehr um 1910, die des synthetischen Kubismus, des deutschen Frühexpressionismus, der freien Atonalität Schönbergs und seiner Schule.

[…]

Damit die gegenwärtige Kunst kein Aufguß der zwanziger Jahre werde, nicht zum Bildungsgut degradiere, was den Bildungsgütern absagte, müßte sie nicht nur der technischen Probleme, sondern auch der Bedingungen der eigenen Existenz sich bewußt werden. Sie hat zum gesellschaftlichen Schauplatz nicht mehr den sei’s auch zerfallenen Spätliberalismus sondern eine gesteuerte, überdachte, integrierte Gesellschaft, die »verwaltete Welt«. Was in dieser als Protest der künstlerischen Form sich regt – und keine künstlerische Form wäre länger denkbar, die nicht Protest ist -, fällt selber in das Geplante, dem sie widersteht, und trägt die Male dieses Widerspruchs. Die Kunstwerke werden dadurch, daß sie, nach der Emanzipation und allseitigen Aufbereitung ihres Materials, rein aus dem eigenen Formgesetz sich entwickeln, ohne alles Heterogene, potentiell zu einem Allzublanken, Ausgefegten, Gefahrlosen. Ihr Menetekel sind die Tapetenmuster.“ (Adorno, Jene zwanziger Jahre)

 

Adorno zum 50. Todestag. Von der Theorie als Lebensform: Grandhotel Abgrund und die bestimmte Negation

Es sind Aporien, gesellschaftliche, soziale, die sich übers Leben wälzen: „Das Leben lebt nicht“, so geht der Anfang von Adornos „Minima Moralia“ mit einem Zitat von dem weitgehend vergessenen österreichischen Schriftsteller Ferdinand Kürnberger – einer jener Sprachartisten, die Karl Kraus zum Vorbild dienten.

Todestage geben Anlaß zum Denken, besonders die runden. 50, 100, 200: wir kennen das aus dem Feuilleton. Blicke zurück, je nach Person geschieht das mal philosophisch, mal biographisch, mal literarisch oder eben als eine Mischung, indem Aspekte aufeinander bezogen werden, ohne freilich ein Werk in Biographismus zu ersticken – besser istʼs. Nun könnte ein gewiefter Leser, wenn er sich Adornos „Minima Moralia“ zur Hand nähme und sich an der Methode dieses Buches orientierte, mit dem Vergrößerungsglas zu arbeiten und Ungesehenes freizulegen, solche Form von Gedenken durchaus skeptisch hinterfragen: etwa weil die Sache zum Ritual wird: Gedenken verschließt sich zu einer Kranzabwurfstelle, wo Übliches abgesondert wird. Der Rückblick erledigt die Sache, statt sie leuchten zu lassen. Die bürgerliche Aura, die in solchen Veranstaltungen immer noch wirkt: undsoweiterundsofort.

Die Frage, was von einem Philosophen bleibt, ist in der Tat falsch gestellt und Ausdruck unphilosophischen Bewußtseins, wenn sie sich am Fortschrittsmodell naturwissenschaftlicher Erkenntnis orientiert und meint, bestimmte Aspekte zu den Akten legen zu können, weil sie inzwischen abgegolten sind. Mit Kopernikus mag das alte geozentrische Weltbild zu seinem Ende gekommen sein, in der Philosophie gehen die Uhren anders.

Philosophen und ihrer Philosophie jedoch sind nicht so leicht zu erledigen – und im Grunde auch nicht jene Naturphilosophien und Naturforscher, deren Theorien nicht mehr funktionieren. Ein Nachruf auf Aristoteles, Platon, Parmenides oder Anselm von Canterbury vermag es immer noch, Schätze zum Glanz zu verhelfen und Vergessenes hervorzuschürfen. Veraltet ist nichts, denn wir finden Fragen, um deren Lösung sich bis heute Philosophen streiten – alle Philosophie sei im Grunde nichts als ein einziger ontologischer Gottesbeweis, wie Hegel einmal gesagt haben soll – und gerade dazu, für die veränderte Konstellation und um eine vielleicht andere und ebenfalls originelle Perspektive zu finden, kann ein Blick zurück hilfreich sein, auch als Kritik – immer etymologisch zu lesen vom griechischen krinein, also dem Unterscheiden. Indem man eine Sache auftrennt und neu anordnet, kann solches Unterscheiden ebenso bedeuten, ihr eine andere Form zu geben und dadurch einen anderen Fokus zu liefern. Das, was als irgendwie naturgegeben und unvermeidlich erscheint, was scheinbar fest ist, wird liquid. Wird also liquidiert und damit flüssig. Dialektische Beweglichkeit. Adornos „Minima Moralia“ machen genau diese Bewegung. Sie zeigen uns etwas. Im Modus der Polemik, der Übertreibung, der Anekdote, ebenso aber als philosophische oder literarische Reflexion.

„Longtemps, je me suis couché de bonne heure.“

„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal fielen mir die Augen, wenn die Kerze ausgelöscht war, so schnell zu, daß ich keine Zeit mehr hatte zu denken: ‚Jetzt schlafe ich ein.‘ Und eine halbe Stunde später wachte ich über dem Gedanken auf, daß es nun Zeit sei, den Schlaf zu suchen; …“

Was Proust da im Auftakt minuziös beschreibt, den Schlaf nicht nur zu finden, sondern ihn auch zu schreiben, jenes Hineindenken ins Fremde und jene Kraft zur Phantasie,  – „es kam mir vor, als sei ich selbst, wovon das Buch handelte“ – kommt dem recht nahe, was auch Adorno in den „Minima Moralia“ umtreibt: die Dinge und das, was uns umgibt, zu betrachten – bis hinein in ihre verborgenen Winkelzüge und ihre gesellschaftlichen Mechanismen, denen sie unterliegen. Evident wird dies in zahlreichen Aphorismen dieser philosophischen Prosa, etwa in jener Passage mit dem Titel „Nicht anklopfen“. Wenn Adorno aus den inzwischen durch Schiebetüren ersetzten Türklinken oder an den schönen Flügelfenstern, die durch Kippfenster ersetzt werden, zeigt, wie uns der Umgang mit Welt prägt und formt:

„Am Absterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, daß die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuß, sei’s an Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion.“

Wenn Adorno freilich Vergangenes zitiert und jene Verlusterfahrung konstatiert, so bedeutet solcher Rückblick nicht, in den Modus der Regression zu gleiten und sich nun mit all den mehr oder weniger schönen Dingen aus dem Manufactum-Catalog zu umgeben. Genau solchen falsch verstandenen Konservatismus kritisierte Adorno. Es ist Ideologie und es zeigt das Nachgemachte nur umso mehr, wie sehr eine Epoche versunken ist und unwiederbringlich vorbei: die letzten Bürger ruhen. Grandhotels sind untergegangen und selten gut ausgebucht.

Es ist vorbei: eine Welt starb. Unaufhebbar muß man dazu sagen, denn Adorno neigte in solchen Fragen nicht zur Restauration und zu einem damit verbundenen Essentialisierung, der Wesenheiten annimmt und in diesem Sinne unterscheidet sich sein Blick von dem Heideggers, wenn man seine Texte „Aus der Erfahrung des Denkens“ nimmt. So sehr Adorno sein Amorbach und die dort verlebte Kindheit in Ferienzeit als Hort von Erfahrung schätzte, war jene Zeit, die der beschleunigten und funktionalen Moderne wich, immer schon durchzogen von Zerstörung und damit bereits im Augenblick des Erfahrens eine abgelebte Zeit. Dem Kind schien, was doch realiter niemals war. Lediglich im Moment blitzte etwas auf und weist auf anderes: als Erinnerung eben, darin ist Adorno Proust in der Methode verwandt. Und dieses Konzept eines nicht-essentialisierenden Konservatismus – ohne dabei im politischen Sinne konservativ zu sein, muß man dazu sagen – unterscheidet Adornos Blick von dem Heideggers, wie wir ihn etwa in seinem Aufsatz „Schöpferische Landschaften: Warum bleiben wir in der Provinz“ finden – nebenbei ein durchaus lesenswerter Text Heideggers, trotz Adornos harschem Diktum dagegen in seiner „Philosophischen Terminologie“.

In diesem Sinne ist Konservatismus ein unspezifischer Begriff – er findet sich im linken, wie im rechten Lager, und nimmt man Adornos Begriff von Heimat, dann zeigt sich gut, wie sehr man solches Denken genauso für eine Sicht von links nutzen kann. In der Emigration, mitten in der Fremde nämlich, ging Adorno auf, was das Zu-Hause-sein bedeutet, und dies ohne Ressentiments gegen sein Gastland zu entwickeln oder in Heimattümelei zu verfallen. Sehr wohl zwar kritisierte Adorno das Leben in den USA, aber er haßte es nicht und schrieb nicht mit dem Ressentiment des vermeintlich Überlegenen darüber. Genau diese Haltung kulturkonservativer USA-Kritiker verfiel regelmäßig dem Verdikt Adornos. Kritik heißt eben: Unterscheiden, trennen, sichten:

„Schönheit der amerikanischen Landschaft: daß noch dem kleinsten ihrer Segmente, als Ausdruck, die unermeßliche Größe des ganzen Landes einbeschrieben ist.

In der Erinnerung der Emigration schmeckt jeder deutsche Rehbraten, als wäre er vom Freischütz erlegt worden.“

Diese beiden Aphorismen stehen direkt untereinander, sie verweisen aufeinander und zeigen unterschiedliche Lebensmodelle. Sicherlich war Adorno ein deutscher (Groß)Bürger, er gehörte einer Klasse an, die es eigentlich schon lange nicht mehr gibt. Man kann dem heute nachtrauern. Aber der Ort des denkenden Intellektuellen, jener Denker, die nicht im tagesaktuellen Betrieb die Lieder singen, die gerade gefragt sind, ist und bleibt das Exil. Was Adorno über jene Jahre in der Emigration schrieb, mag zuweilen auch fürs Hiersein gelten und klingt nicht gar so fremd:

„Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will. Er lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muß, auch wenn er sich in den Gewerkschaftsorganisationen oder dem Autoverkehr noch so gut auskennt; immerzu ist er in der Irre. Zwischen der Reproduktion des eigenen Lebens unterm Monopol der Massenkultur und der sachlich-verantwortlichen Arbeit herrscht ein unversöhnlicher Bruch. Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog. Die Isolierung wird um so schlimmer, je mehr feste und politisch kontrollierte Gruppen sich formieren, mißtrauisch gegen die Zugehörigen, feindselig gegen die abgestempelten anderen.“ (Adorno, Minima Moralia)

Adorno schrieb jene „Minima Moralia“ Mitte der 1940er Jahre im US-Exil, sie erschienen 1951. Er konzipierte sie, in Anspielung auf Nietzsche, als die „traurige Wissenschaft“ und er nannte sie im Untertitel „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Allerdings sollte man das, was Adorno angesichts von Faschismus, Stalinismus und einem hermetischen totalisierenden Kapitalismus sah, als einen Ausdruck seiner Zeit nehmen: insofern ist unreflektiertes Parallelisieren problematisch. Mag unsere Gegenwart, die wir als Zeitgenossen erleben, nicht minder durchdrungen sein von Verdinglichung und sind es immer noch die ökonomischen Verhältnisse, die gesellschaftliches Sein mit bestimmen, so gleichen sich Zeiten nicht. Man kann selbst heute, und das macht in der Tat den Reiz von Adornos wie auch Walter Benjamins mikrologischem Blick aus, durch die neuen Welt der Einkaufspassagen streifen oder den Potsdamer Platz in Berlin durchwandern, um zu entdecken, wie abgelebt bereits 20 Jahre später eine solche Art von Spätmoderne in Architektur ist. Dennoch haben sich entscheidende Parameter verschoben. Technik ist nicht nur Tücke, was freilich auch Adorno und Heidegger gut wußten, sondern immer auch eine Chance um die Produktionsverhältnisse zu ändern.

Ob dafür freilich zugleich generell eine Änderung in unserem metaphysischen Wesen und im Denken selbst erforderlich ist, das eben, was in Adornos Philosophie das Movens ist, nämlich die Fähigkeit zur Erfahrung, ist eine ganz andere Frage. Nicht eben bündig zu beantworten, denn darum kreist auch Adornos Denken und solche Frage nach dem scheinlosen Schein des Absoluten übersteigt bei weitem die bloß soziale Frage. Hält sie aber andererseits auch nicht schlicht draußen zugunsten höherer Dignitäten. Bei Adorno zumindest, nimmt man seine „Meditationen zur Metaphysik“ im besonderen, und als unsystematisches System dazu noch die „Negative Dialektik“, darin jene Meditationen den Schluß bilden, so zeigt sich im Text, daß jene beiden Bereiche eng aneinander gekoppelt sind. Das terminiert in jenem bekannten Schlußbild, mit dem das Buch endet:

„Die kleinsten innerweltlichen Züge hätten Relevanz fürs Absolute, denn der mikrologische Blick zertrümmert die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Vereinzelten und sprengt seine Identität, den Trug, es wäre bloß Exemplar. Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes.“

Diese Aufgabe ist bis heute unabgegolten und dies sowie die Frage nach den Möglichkeiten von Kunst in Zeiten der Spätmoderne macht Adornos nach wie vor währende Aktualität aus. Zu leisten zumindest mit den Mitteln der Philosophie wie auch der Kunst ist eine phänomenologische Aufgeschlossenheit nicht nur hin zu den Dinge, sondern ebenso für die soziale Welt. Die „Minima Moralia“ zeigen uns, das ließe sich bis heute an diesem Text lernen, ganz in der Tradition von Marx und seinem Fetischismuskapitel aus dem „Kapital“, daß jene Verhältnisse, die uns naturwüchsig erscheinen, dies keinesfalls sind, sondern daß sie vielmehr gesellschaftlich verfaßt und gemacht sind – freilich ohne sich in einen halbgaren Kulturalismus aufzulösen und auf der Spielwiese identitärer Beliebigkeit zu zerfransen. Das gilt vom Phänomen der Sexualität, über die Liebe bis hin zu Institutionen und ebenso einem Begriff wie dem Volk, das von Rechtsaußen gerne essentialisiert wird. Kulturräume jedoch sind komplexe und wandelbare Gebilde – was freilich auch bedeuten kann, sie zu bewahren. Nicht alles Neue ist per se gut, nur weil es neu ist.

Mit diesem Aufschließen der Dinge und der sozialen Verhältnisse werden wir auch unserer selbst gewahr: nicht in einem absoluten Sinne und schon gar nicht in der Phrase von vermeintlicher Authentizität gedacht, aber doch in Zügen, in Ausprägungen und in immer neuen Schattierungen. In diesem Sinne sind die „Minima Moralia“ ein Buch im Geiste Prousts: der genaue Blick aufs Selbst und die Umgebung, das Verfahren ist ästhetisch inspiriert und doch erschöpft es sich nicht im Ästhetizismus oder im reinen Beobachten, und noch viel weniger ist es Literatur, selbst wenn Adorno immer wieder Anleihen von dort nimmt und der Stil Adornos literarisch zu nennen ist. Dieses Spiel von Literatur, Kunst und Philosophie zeichnet das Denken Adornos bis heute aus. In seiner Zueignung des Buches an Max Horkheimer heißt es zur Methode:

„Der spezifische Ansatz der Minima Moralia, eben der Versuch, Momente der gemeinsamen Philosophie von subjektiver Erfahrung her darzustellen, bedingt es, daß die Stücke nicht durchaus vor der Philosophie bestehen, von der sie doch selber ein Stück sind. Das will das Lose und Unverbindliche der Form, der Verzicht auf expliziten theoretischen Zusammenhang mit ausdrücken. Zugleich möchte solche Askese etwas von dem Unrecht wieder gutmachen, daß einer allein an dem weiterarbeitete, was doch nur von beiden vollbracht werden kann, und wovon wir nicht ablassen.“

Das Lose und Unverbindliche der Form mag so zu lesen sein, als schriebe sich hier ein Text, der aus der streng akademischen Philosophie fiele. Das ist einerseits richtig. Andererseits findet sich gerade im Überschuß solcher Reflexion das wieder, was wir mit dem Begriff Theorie bezeichnen: Geistig anschauen, betrachten und erkennen. Philosophie mithin. Theorie als Überschuß, ebenso übers rein Diskursive, ist eine Variante auch der akademischen Philosophie. Sie kann uns durch ein spielerisches, ein experimentierendes oder literarisches Verfahren Aspekte von Welt und von Selbst aufschließen, die in der bloßen Ratio verschlossen bleiben. Experimente im Denken – was allerdings kein Freibrief fürs Irrationale oder den Jargon poststrukturaler Eigentlichkeit ist, dessen sich langweilige Epigonen befleißigen, die in vermeintlicher Freiheit doch nur das Gleiche produzieren, was sie als Experiment tarnen, kulturindustrielles Gewäsch nämlich oder genauer gesagt die inzwischen eingeschliffene Phrase. Es kommt aber in der Theorie auf einen Blick an, der mehr auffaßt als das Arrivierte – schwierig zu leisten ist dies allemal, und es erfordert Anstregung, Arbeit und Formbewußtsein:

„Exakte Phantasie eines Dissentierenden kann mehr sehen als tausend Augen, denen die rosarote Einheitsbrille aufgestülpt ward, die dann, was sie erblicken, mit der Allgemeinheit des Wahren verwechseln und regredieren. Dem widerstrebt die Individuation der Erkenntnis. Nicht nur hängt von dieser, der Differenzierung, die Wahrnehmung des Objekts ab: ebenso ist sie selber vom Objekt her konstituiert, das in ihr gleichsam seine restitutio in integrum verlangt. Gleichwohl bedürfen die subjektiven Reaktionsweisen, deren das Objekt bedarf, ihrerseits unablässig der Korrektur am Objekt. Sie vollzieht sich in der Selbstreflexion, dem Ferment geistiger Erfahrung.“ (Adorno, Negative Dialektik, S. 56 f.)

Oder anders gedacht:

„Subjektiv befreite und metaphysische Erfahrung konvergieren in Humanität. Jeglicher Ausdruck von Hoffnung, wie er von den großen Kunstwerken noch im Zeitalter ihres Verstummens mächtiger ausgeht als von den überlieferten theologischen Texten, ist konfiguriert mit dem des Menschlichen; nirgends unzweideutiger als in den Augenblicken Beethovens. Was bedeutet, nicht alles sei vergebens, ist durch Sympathie mit dem Menschlichen, Selbstbesinnung der Natur in den Subjekten; allein in der Erfahrung der eigenen Naturhaftigkeit entragt der Genius der Natur.“ (Adorno, Negative Dialektik, S. 389)

Kunst kann der Statthalter solcher Wahrheit sein. Und auch darin, im ästhetischen Verfahren, mithin im Sinne des Formbegriffs, wie ihn Adorno auch in den „Minima Moralia“ praktiziert, liegt jene Hoffnung, die uns, wie es in Benjamins Wahlverwandtschaften-Buch heißt, gerade um des Hoffnungslosen willen gegeben ist. Am Ende eine Frage der ästhetischen Praktik. Adornos Gang ins Gebirg endete tödlich.

***

Manche sagen, es hätte Adorno das Busen-Attentat den Rest gegeben. Andererseits können doch, so denke ich, diese Paare germanischer Titten kaum solchen Effekt zeitigen. Späte Rache des deutschen Ariers am jüdischen Intellektuellen. Germanische Brunftstuten, die sich als Erinnyen gebärden. Jene Studentinnen und Studenten zumindest, die aufs unmittelbar Praktische setzten, auch der heutige FR- und BLZ-Journalist Arno Widmann soll an der Planung dieses Angriffs beteiligt gewesen sein, hatten nichts, aber auch gar nichts von Adornos Denken begriffen und daß erotische Lust mehr ist als ein entblößter und bloßer Körper. Adorno tat gut daran, das Institut für Sozialforschung von der Polizei räumen zu lassen. Sein Schaudern und Erschrecken über solchen Auftritt bleibt bis heute wahr. Auch eine Lektion, die wir aus den „Minima Moralia“ herauslesen können. Idiosynkrasien können Seismographen sein. In einem ästhetisch geschulten Bewußtsein kommen sie zum adäquaten Ausdruck.

Zur Lyrik Celans und zu einer Lesart des Kitschs

Paul Celans Gedichte gibt es nun bei Suhrkamp in einer neuen einbändigen und kommentierten Gesamtausgabe. Dietmar Dath nahm dies zum Anlaß für eine Sichtung und verweist bezüglich der Lyrik Celans auf den Begriff des Kitsches, der in der einen oder anderen Zeile seiner Texte mitschwingt – wobei man sich über diese Diagnose mit Fug und Recht streiten kann, denn genauso könnte man den seit einiger Zeit verlorengegangenen Begriff des Pathos hier einsetzen. Aber wenn man Derridas These genauer betrachtet, sie für sich nimmt und durchdenkt, scheint sie mir ästhetisch interessant. Dath schreibt in der FAZ:

„Celan hat nicht nur Kunst, sondern auch Kitsch geschrieben. Nicht immer, nicht oft, aber wohl unvermeidlicherweise: Kitsch war hier Kollateralschaden der Unmöglichkeit, den angestrebten hohen Ton zu treffen, der nötig ist, um das magische Denken der Vorzeit ins poetische Spiel der Neuzeit zu retten, wenn das denn in einer Sprache geschehen soll, die man zuerst aus ihrem Alltag lösen muss, weil in diesem das, was die Neuzeit von der Vorzeit unterscheiden soll, die Vernunft, geschändet wurde wie in keiner anderen: In dieser Sprache hat man Verbrechen gerechtfertigt, befohlen, koordiniert, die jeden Gedanken von Vernunftgeschichte, von Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, der Wahrheitsfindung und Kunsterziehung in ihren blutigen Dreck treten.

Kitsch entsteht in den Künsten immer dann, wenn ein Kunstwerk ein grundsätzliches ästhetisches Problem hat, es aber nicht lösen kann oder will. Kitsch ist die Sahne, die Leute ins Essen schütten, die nicht kochen können, aber glauben, sie könnten den Geschmack mit Hilfe der Sahne darüber betrügen. Celans Kitsch geschieht ihm, wo er Angst hat, die Worte könnten ihm anbrennen, wo sie den größten vorstellbaren Horror sagen sollen. Damit ist Celans Kitsch ein neuer, kein traditioneller. Denn im traditionellen Kitsch wird Stimmung gemacht oder eine pathetische Rechtgläubigkeit beschworen, es gibt in diesem Bannkreis künstlerischer Dummheit sentimentalen, patriotischen, religiösen Kitsch und so fort. Sie alle rühren einen Affekt in die Kunst, der von einer Armut, einem ungelösten Verhältnis zwischen Stoff, Thema und Form ablenken soll. Bei Celan ist der Kitsch aber weder Stimmung noch Gesinnung, sondern eine Qual, die sich der Lyriker nicht ersparen kann, weil er zu klug ist, zu glauben, was der Modernismus vor Hitler geglaubt hatte: dass das Hermetische und Esoterische an sich eine unfehlbare Versicherung der Kunst gegen Kitsch sei.“

Daths Celan-Kritik im Hinblick auf den Kitsch ist interessant, denn er liefert hier eine erweiterte und ästhetisch durchaus relevante Bestimmung für einen Begriff, der in der Kunst der Spätmoderne, besonders seit den 1980er Jahren oft pejorativ oder aber affirmativ und mit ironischem Augenzwinkern gebraucht wird, was wiederum eine Entschärfung des Kitschs als provokante Macht bedeutet, sobald sich solche ‚Subversion‘ institutionalisiert. Denn die höheren Weihen, die im Akt der Affirmation oder der Ironisierung dem Kitsch (auch als Camp) verliehen werden, zeigen am Ende nur das Maß des Gewöhnlichen am Kitsch. Jegliche Innovation geht verloren, sobald es sich um ein eingespieltes System handelt. Eine für Adorno seltsam milde Bestimmung des Kitschs übrigens – dies nur am Rande – findet sich in den Minima Moralia:

„Am Ende ist die Empörung über den Kitsch die Wut darüber, daß er schamlos im Glück der Nachahmung schwelgt, die mittlerweile vom Tabu ereilt ward, während die Kraft der Kunstwerke geheim stets noch von Nachahmung gespeist wird.“

Anders hingegen die Erläuterung, die Darth im Hinblick auf Celan liefert. Mit dieser begrifflichen Problematisierung wird zugleich – und darin ist Daths Kritik dialektisch – ein grundsätzliches ästhetisches Problem avisiert, nämlich dasjenige, was unter der Rubrik „Schreiben nach Auschwitz“ terminiert – man denke hier auch an Adornos (dialektisches) Diktum über Dichtung nach Auschwitz, die unmöglich ward – die komplexen Überlegungen, die in diesem Satz stecken, will ich hier nicht thematisieren, sie ergäbeneinen ganz eigenen Text über die Frage der Leiderfahrung und deren Darstellung. Dath macht diese Frage nach der ästhetischen Form an dem stets heiklen Begriff des Kitsches fest. Das ist insofern interessant, weil hier der Begriff des Kitschs auf ein Krisenphänomen weist, das sich auch in der Kompositionshaltung des Künstlers, in seinem Ringen ums gelungene Wort sedimentiert.

Das eben berührt zugleich die zentrale Frage, wie Kunst vom Grauen und vom Schrecken handeln bzw. schreiben kann, ohne diese in der ästhetischen Form entweder zu entschärfen oder aber im Kitsch und im Kunstgewerblichen zu ästhetisieren oder schlicht zu banalisieren. Kitsch und Kunstgewerbe oft nahe beieinander, das zeigen in unterschiedlicher Ausprägung manche der Zeilen von Rilke, handwerklich schön gedrechselt, aber teils zu schön, um noch den düsteren Schlund, der der Moderne ebenfalls eignet, noch zu fassen, und manche der Werke von Jeff Koons. Für die Zeit nach dem Grauen von Auschwitz und Hiroshima lieferte Celan den teils hermetischen, teils offen zu lesenden Lyrik-Text.

Ein jeder Engel ist schrecklich – in den Duineser Elegien brachte Rilke diese Erfahrung zwischen Daseinsexzeß, lyrischer Meditation auf die Bedingungen solchen Menschseins, schwarzer Metaphysik, schwindelfrei, und dem stummen Dasein der Dinge wunderbar ins Gedicht. Pathos aber kein Kitsch. Sprechen, dichten, schreiben auf der Grenze zum Sagbaren – auf der freilich die Lyrik meist sich bewegt, um es in anderem Modus als dem bloß Diskursiven zu sagen und vor allem: zu singen. Celans Lyrik antwortet auf jene Elegie. Oft in doppelbödigen Bildern. Man denke an sein Gedicht Cello-Einsatz. Es kann dies als der sing- oder musizierbare Rest gelesen werden, wo keine Sprache mehr heranreicht, weil sich Ausdruck in reinen Klang verwandelt und die Lyrik wieder in die Lyra, in das Spiel der Töne übergeht – nicht unbedingt im Sinne des Schönen, des Fast-zu-schönen. Aber man kann diesen Celloeinsatz ebenso als die Begleitmusik nehmen, die aufspielt, wenn es dem Lagerkommandanten nach Gemüt und deutscher Tonart zumute ist.

In diesem dialektisch-dichterischen Sinne scheinen mir Daths Überlegungen zu Celan interessant und sie öffnen einen neue, eine andere Dimension im Blick auf Celans Werk und überhaupt auf die ästhetische Kategorie des Kitsches.

 

Bildquelle: Wikipedia, von: http://www.oliverwieters.de/artikel-73.html

 

 

Zum Tod Rolf Tiedemanns

„Zweideutigkeit ist die bildliche Erscheinung der Dialektik, das Gesetz der Dialektik im Stillstand. Dieser Stillstand ist Utopie und das dialektische Bild also Traumbild. Ein solches Bild stellt die Ware schlechthin: als Fetisch. Ein solches Bild stellen die Passagen, die sowohl Haus sind wie Straße. Ein solches Bild stellt die Hure, die Verkäuferin und Ware in einem ist.“ (Benjamin, Paris, S. 55)

Rolf Tiedemann, legendärer Herausgeber der Benjamin- und auch von Teilen der Adorno-Gesamtausgabe, ist am 29. Juli verstorben. Ich habe es erst gestern in der FAZ gelesen. Er starb im hohen Alter von 85 Jahren. Daß überhaupt eine umfassende Benjamin-Ausgabe erschien, war Tiedemanns Verdienst. Und auch seine Texte zu Benjamin lieferten instruktive Hinführungen in Benjamins Werk, gleichsam als Ergänzung zu den Originaltexten, materialistisch, sich keinen intellektuellen Moden beugend, die ja gerade mit Benjamins Philosophie immer einmal wieder angezettelt wurden: Tiedemanns Essays zu dessen Werk bleiben lesenswert: Studien zur Philosophie Walter Benjamins und ebenso zum Passagen- und mithin auch zu seinem Spätwerk der Buch Dialektik im Stillstand – jener gelungene Begriff Benjamins aus den geschichtsphilosophischen Thesen, der für eine bestimmte Figur des dialektischen Bildes steht. Eine eingefroren-bewegliche Zeit, stillgestellt und im Akt des Zeigens und Erzählens doch verflüssigt. Adorno warf Benjamin vor, auf der Stufe des marxschen Warenfetischismus stehengeblieben zu sein und gleichsam eine Anbetung des Dinghaften zu betreiben, ein subtiler Vorwurf Adornos auch gegenüber Siegfried Kracauer, am Ende seines Aufsatzes Der wunderliche Realist:

„Die Fixierung an die Kindheit, als eine ans Spiel, hat bei ihm die Gestalt von einer an die Gutartigkeit der Dinge; vermutlich ist der Vorrang des Optischen bei ihm gar nicht das erste, sondern die Folge dieses Verhältnisses zur Dingwelt. Im Motivschatz seiner Gedanken dürfte man Aufbegehren wider die Verdinglichung vergebens suchen. Einem Bewußtsein, das argwöhnt, es sei von den Menschen verlassen, sind die Dinge das Bessere. An ihnen macht der Gedanke wieder gut, was die Menschen dem Lebendigen angetan haben. Der Stand der Unschuld wäre der der bedürftigen Dinge, der schäbigen, verachteten, ihrem Zweck entfremdeten; sie allein verkörpern dem Bewußtsein Kracauers, was anders wäre als der universale Funktionszusammenhang, und ihnen ihr unkenntliches Leben zu entlocken, wäre seine Idee von Philosophie. Das lateinische Wort für Ding heißt res. Davon ist Realismus abgeleitet. Kracauer hat seiner Filmtheorie den Untertitel ‚The Redemption of Physical Reality‘ verliehen. Wahrhaft zu übersetzen wäre das: Die Rettung der physischen Realität. So wunderlich ist sein Realismus.“ (Th.W. Adorno, Der wunderliche Realist)

Dieser Text ist in den Noten zur Literatur zu finden, ebenfalls von Rolf Tiedemann herausgegeben. Das aber, dieser Rückzug ins Dingliche, das Überwintern gleichsam, die seltsame Parteinahme für jenes seltsame, fremde Ding Odradek, das wir in einer Kafka-Erzählung finden, meint eben auch Rettung, rettenden Eingriff. Diesen Eingriff beförderte Rolf Tiedemann mit seiner Arbeit. Unter anderem auch ganz materialistisch: Er sorgte bei Siegfried Unseld dafür, auch gerichtlich, daß aus dem Verkauf der Benjamin-Ausgabe auch dem Erben und Sohn Stefan Benjamins ein Anteil am Erlös zukommen sollte. Ein Text dazu findet sich hier beim Spiegel, von Willi Winkler – in der leider typischen Spiegel-Manier damals geschrieben.

Unbedingt zu erwähnen ist Tiedemanns Arbeit an Adornos Fragment gebliebener Ästhetischer Theorie. Zusammen mit Gretel Adorno komponierten beide im Sinne des Autors diesen Text weiter und stellten die letzten Passagen zusammen. 1970 konnte das Werk erscheinen, als Fragment einerseits und doch als ein zusammenhängend zu lesender Text. Es ist insofern, so Tiedemann, ein work in progress – wie eigentlich jede gelungene Ästhetik, so auch die unvollendete und eigentlich in keiner festen Gestalt vorliegende von Hegel: Proteus-Schriften. Dieses Schillernde, das Changieren der philosophischen Form wie auch der Angewiesenheit auf Interpretation paßte zu Adornos Werk – eine Ästhetik im Geist der Romantik als Fragment, nicht jedoch als Ruine, sondern durchaus als komplexes Theoriegebäude. Zusammen mit Heideggers Kunstwerkaufsatz und jenem von Benjamin das wohl bis heute für das 20. Jahrhundert und darüber hinaus maßgebliche Buch zur Philosophie der Kunst bzw. zur Ästhetik – auch wenn es, wie Tiedemann im Nachwort schrieb, kein Buch ist, „das Adorno in dieser Form imprimiert hätte.“ Ausgefeilt, dialektisch: Adorno drückte sich nicht vor der gesellschaftliche Seite der Kunst, aber ebensowenig verriet er ihre Autonomie: daß sich das Kunstwerk niemals in den Dienst einer Sache zu stellen habe, außer einer einzigen, nämlich der eigenen Gestalt, seiner Form, die sich durch den Inhalt bedingt, durch das ästhetische Material – und bereits hier fängt es an komplex zu werden, komplexer als man es in einem Nachruf darstellen kann. Es ist das Verdienst von Rolf Tiedemann und von Gretel Adorno, daß dieses Werk erschien. Maßgeblich und eigentlich bis heute hin bestimmt es die Diskurse europäischer und teils auch der US-Amerikanischen Kunsttheorie. Nach der Fertigstellung von Adornos wohl wichtigstem Werk versuchte sich Gretel Adorno mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben zu nehmen. Es mißlang und sie lebte dahin. Alexander Kluge berichtet davon in seiner Chronik der Gefühle.

Abbruch und Fortleben. Adorno schreibt – und Tiedemann zitiert diesen Satz im editorischen Nachwort zur Ästhetischen Theorie:

„Das Fragment ist der Eingriff des Todes ins Werk. Indem er es zerstört, nimmt er den Makel des Scheins von ihm.“

Daß ein Mensch gelebt hat, sieht man an seinen Werken, die bleiben, die gelesen werden und die den Debatten Anlaß liefern und auch an seinen Taten – und womöglich am Ende noch den den Photographien und Bildern, die er hinterläßt. Das Fragmentarische dieser Ästhetik ist der Ausdruck eines bsonderen Werkes, das sich, wie kein anderes dem Systemdenken sträubt, darin der Negativen Dialektik ganz und gar treu. Dekonstruktion von Einheits- und Ursprungsfiktionen. Auch Ästhetik kann in diesem Sinne gesellschaftliche Kritik an der Geschlossenheit sein. Aber das Fragment darf zugleich und kann nicht das letzte Wort sein. In Adornos Utopie von der Abschaffung des Todes – so in der Negativen Dialektik im Schlußteil der Meditationen zur Metaphysik angeklungen und in jenem legendären Radio-Gespräch über Utopie zwischen Adorno und Bloch direkt genannt – liegt zugleich die Warnung, aus „den Zerstörungen des Todes keinen Sinn zu pressen, der Einverständnis mit ihnen erlaubte“, so Tiedemann im Nachwort zur Ästhetischen Theorie. Es schreibt Tiedemann:

„So wenig eine Edition der Ästhetischen Theorie über den Fragmentcharakter des Werkes täuschen kann, es auch nur versuchen darf, so unmöglich ist es, mit ihm sich zu versöhnen. Mit dem Unvollendeten, das aus bloßer Kontingenz zu einem solchen wurde, gibt es kein sich Abfinden, und dennoch verbietet wahre Treue, wie Adorno selbst unvergleichlich sie übte, das Fragmentarische mit Ergänzungsversuchen anzutasten.“

Es gibt Autoren, die stehen im Schatten eines großen Werkes, leisten die Kärrnerarbeit und tauchen darin doch nicht auf. Am Theater sind es die Bühnentechniker, die Assistenten, manchmal auch die Dramaturgen. Aber das ist nicht ganz ganz richtig: Im Prozeß des Schaffens sind sie unabdingbarer Teil des Werkes. Und so gehört auch Rolf Tiedemann unaufhebbar zum Werk Walter Benjamins und Theodor W. Adornos. Wir haben ihm viel zu verdanken.

 

 

Erich Kästner, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und die Symphonie einer Großstadt

Kästners Fabian, 1931 erschienen, ist ein, wie ich damals Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts von Hamburg aus fand, interessanter Berlin-Roman, ein Großstadtroman im Geist der Zeit, wie es als Genrebezeichnung üblich auf ein Buch appliziert wird, neusachlich im Erzählen und zugleich ein moralisches, nein ein moralisierendes Buch über Moral, insofern den (vermeintlich phänomenologischen) Blick der Neuen Sachlichkeit übersteigend. Aus diesem Unbehagen heraus, dem sich sträubenden Widersinn des jugendlichen Ästhetizisten, las ich den Roman damals in den jungen Jahren ratlos und mit wenig Emphase, so wie ich bereits bei Wolfgang Borchert ästhetische Skepsis hegte. Das Pathos mochte ich, das Politische als traurige Botschaft blieb aber heikel.

Linke Melancholie, so kritisierte Walter Benjamin diese Kästner-Haltung 1931 in einem Aufsatz gleichen Titels. Andererseits behagten mir ästhetisch und von ihrer Binnenstruktur ebensowenig die sozialanklägerischen Stücke des Benjamin-Freundes Brechts: Arturo Ui, die heilige Johanna. Eine in Dialoge verpackte Polit-Botschaft und ein Vulgärmaterialismus, so las ich es damals – wobei es beim Theaterstück am Ende und im Sinne einer Offenheit des Kunstwerkes immer darauf ankommt, aus dem Text mittels Regie-Interpretation den Funken zu schlagen und qua Dekonstruktion und Analyse der Prosa den Textes zu zerlegen und – mit oder gegen den Autor – nochmal eine andere Ebene freizusetzen. Heiner Müller gelang dies im Berliner Ensemble in den 90er Jahren mit seiner ganz und gar herrlichen, teils komödiantischen Ui-Erzählung. Pop, Karfiol, Faschismus – das hatte in seiner Drastik Schwung. Da durfte dann auch gerne Pop-Sound vom Band schallen. Solcherart könnte man auch den Fabian heute verfilmen oder auf eine Bühne bringen, zumal beim deutschsprachigen Theater der Saison 2017/2018 es inzwischen Mode ist, sich an der Literatur abzuarbeiten und ein Buch bühnentauglich zu inszenieren: Ob Melle, ob Zeh, da geht auch Kästner. Seltsam, daß sich Fassbinder sehr wohl an Döblins Berlin Alexanderplatz wagte, in einer vierzehnteiligen Serie, aber nicht an den Fabian. Unter Fassbinders Hand – der Moral nicht ganz abhold – hätte dieser Großstadtroman eine besondere Farbe erfahren. Manchmal ist es schade, daß einem nur die Phantasie bleibt, wie Fassbinder das inszeniert hätte. (Ach, auch dies wäre ein weiteres Kunstgenre: Einen Film zu drehen, über eine Sache, wie Fassbinder ihn gedreht hätte. Einen Berlin-Roman der 20er Jahre zu schreiben, wie ihn Thomas Mann hätte konstruieren können.)

Meine Lektüre vom Fabian ist 35 Jahre her. Aber Kästners Kinderbücher, deren Lektüre noch viel länger zurückliegt,  sind mir noch immer im Kopf. Am 29. Juni 1974, als das Kind noch ein Kind war, weit vom Erwachsensein entfernt, starb Erich Kästner in München. Eine Instanz. Wir lasen natürlich seine Bücher, liehen sie aus der Kinderbücherhalle. Sahen wohl auch die Verfilmung von Emil und die Detektive. Wer diese in einer filmisch interessanten und im Vergleich zu der Verfilmung aus den 50er Jahren filmästhetisch anregenden Fassung sehen möchte, der schaue sich unbedingt die von Gerhard Lamprecht aus dem Jahr 1931 an, den meisten nicht bekannt, auch mir lange nicht: Berlin, Berlin, die wilden 20er. Hinterhof und Technik. Telefone, Straßenbahnen, Automobile und ein wildes Treiben in einer der aufregendsten, in einer aufgescheuchten Großstädte am Vorabend des Weltuntergangs. Nein, nicht einmal ein Versuchslabor für selbigen – wie Karl Kraus das noch für die k.u.k.-Monarchie konstatierte – war dieses Berlin, sondern die Küche, in der synthetische Drogen gebraut und dann verabreicht wurden. Dazu mehr zu lesen auch bei Walter Benjamin und noch deutlicher in den Feuilletons von Siegfried Kracauer, die in der schönen Suhrkamp-Gesamtausgabe in den Bänden 5.1 bis 5.4 zu finden sind. Essays, Feuilletons, Rezensionen – 1906-1965. Ein unvergleichliches Zeitdokument zu jenen seltsamen Jahren, in Deutschland und darüber hinaus, bis nach Paris reichen die Streifzüge Kracauers, hinein in wüste Negerkaschemmen, dahin sich auch das weiße Publikum zum ästhetischen Kitzel begibt:

„Die Neger treffen sich mehrmals wöchentlich im Quartier Grenelle, weitab von den Hauptzonen des Vergnügungsbetriebs. Arbeiter und Kleinbürger bewohnen das Viertel. Es ist nachts so dunkel wie die Hautfarbe der Neger, die sich aber weniger aus koloristischen Gründen als aus dem Bedürfnis, ungestört zu bleiben, dorthin zurückgezogen haben. Schon öfters haben sie den Ort wechseln müssen, um der weißen Neugierde zu entrinnen. Ein vergebliches Versteckspiel, denn die Fremden folgen stets wieder auf dem Fuß. Sie versprechen sich ungemeine Sensationen von einem Negerball und sind mit dem Instinkt von Spürhunden begabt.“
(Kracauer, Negerball in Paris)

Solchen Zeichen intentionslos nachzugehen, ist die Aufgabe des Chronisten, des Feuilletons, das am Puls der Zeit horcht. Heute sind diese Szenen für uns Vergangenheit. Oder vielmehr: Sie tun sich anders auf, man muß nur zu blicken lernen und es aufschreiben. Da aber heute sehr viele über solche Dinge berichten, von Journalisten, Pop-Autoren bis hin zu Bloggern und Kulturjournalisten, stellte sich ein gewisser Überdruß ein. Eine Entropie des Dokumentarischen. Zu Kracauers und Kästners Zeiten war das anders.

Kracauer schaute, trieb sich herum, berichtete, von einer Heidegger-Tagung, von einem Hegel-Kongreß, über den § 218 oder Von der sitzenden Lebensweise. Zwischen den Zeilen und im Text immer einmal wieder eine kleine Blüte: Die Dingwelt, die Kracauer festmacht, die sich seltsam belebt und unter der Feder des Chronisten beweglich wird. Der „wunderliche Realist“, wie Adorno in seiner Kracauer-Würdigung mit einigem Hintersinn und nicht nur wohlmeinend titelte.

Kracauer durchstreift nicht einfach bloß Städte, sondern – wie schon in den Gedichten und Essays Baudelaires – gerät der Stadt-Raum selbst zu einer Landschaft, die erwandert wird. Nicht als sei alles das, was uns mit Lärm und Tosen umgibt, von Menschen gemacht, sondern als sei es eine erste Natur, deren Zeichen zu dechiffrieren sind, von deren Schönheit wie auch von deren Härte wir uns in den Bann ziehen lassen. (Zu solchem Naturschönen als Natur, nahe der Stadt gelegen und vom Photographieren schrieb ich im Januar). Hie aber in Berlin ist es Vetterchens Eckfenster, von dem her geblickt wird:

„Vor meinem Fenster verdichtet sich die Stadt zu einem Bild, das herrlich wie ein Naturschauspiel ist.“ (S. Kracauer, Berliner Landschaft)

Das Fenster als Rahmen. Das alles ist nichts Neues. Aber in der Art, wie Benjamin und Kracauer diesen Zeichen lauschen und eine Stadt als Natur lesen (Baudelaires Correspondances!), erzeugt dieses Nachspüren etwas Neues. Eine materialistische Kontemplation gewissermaßen als eine Weise des Rezipierens: Nicht nur, daß sich der Autor vor einer Landschaft befindet, sondern diese formt sich zudem zum Bild. Die Verwandtschaft zur Photographie, zum Photographen, der schweift und streift und das, was er sieht ablichtet und im Bild verdinglicht und fixiert, drängt sich nachgerade auf.

Diese Form materialistischer Flanierbeobachtung als Grenze zwischen Literatur und kritischer Philosophie findet dann in den 40er Jahren bei Adorno seinen Ausdruck in den Minima Moralia. Und davor noch bei Walter Benjamin, dem Strategen im Literaturkampf. Schon in den 20er Jahren war es an Benjamin die Waffe der Kritik und des kritischen Materialismus im idealistischen Feld zu schärfen: „Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf“ und zugleich schreibt es sich als eine Kunst, darin ganz der romantischen Theorie der Schlegels verwandt: „Kritik muß in der Sprache der Artisten reden.“ So Benjamin, von seiner Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik noch deutlich romantisch-ästhetisch inspiriert.

Bei Kracauer ist es mitunter das absichtslose Spazieren, so wie er es in seiner Skizze Berliner Landschaft schildert und weniger ein messianischer Materialismus:

„Diese Landschaft ist ungestelltes Berlin. Ohne Absicht sprechen sich in ihr, die von selber gewachsen ist, seine Gegensätze aus, seine Härte, seine Offenheit, sein Nebeneinander, sein Glanz. Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaften Bilder geknüpft.“ (S. Kracauer, Berliner Landschaft)

Es gilt, lesen zu lernen, auch das Gesellschaftliche, das sich in den kruden Phänomenen, den Situationen, den kleinen Szenen des Alltags zu verstehen gibt. Kracauer macht das in der Frankfurter Zeitung vom 17.6.1930 gar über eine Theorie der sozialen Räume am Beispiel des Arbeitsamtes fest, eine soziologische Skizze, eine kritische Prosa-Miniatur der feinsten Art über das entwürdigende Warten in einem Amt:

„Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkraft des Bewusstseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.“
[…]
Auch die Arbeitslosen harren an der Hinterfront des gegenwärtigen Produktionsprozesses. Sie scheiden aus ihm als Abfallprodukte aus, sie sind die Reste, die übrigbleiben. Der ihnen zugewiesene Raum kann unter den herrschenden Umständen kaum ein anderes Aussehen als das einer Rumpelkammer haben.“ (S. Kracauer, Über Arbeitsnachweise)

Man denkt unwillkürlich an die Dachböden in Kafkas „Process“, wo das Gericht untergebracht ist, an all die Verschläge und Rumpelkammern dort, auch im Büro des Josef K., wo sich die Szene mit dem Prügler in einer solchen Kammer zuträgt. Und überhaupt bei Kafka all die Hinterhof-Szenen nachzulesen; seine politischste wohl in der Prosaskizze Der Aufruf an die Hausgenosssen. Darin ließen sich durchaus revolutionäre Bezüge im Sinne der Arbeiterbewegung festmachen lassen. Insbesondere, wo Kindergewehre verteilt werden: eine merkwürdig skurrile und eigentlich friedfertig widerständige Perspektive, um sich herrschenden Verhältnissen zu wiedersetzen. Adorno schreibt in seinen Aufzeichnungen zu Kafka: „Das ist die Figur der Revolution in Kafkas Erzählungen“. Eine Parabel auf die Revolutionen, vor allem auf die gescheiterten.

Solcherart durch die Stadt zu flanieren und den materialistisch geschulten Blick zu setzen, sich einer ästhetische Sichtweise und einer gesellschaftskritische gleichermaßen zu befleißigen, wäre das Ideal des – sozusagen – kritisch-ästhetizistischen Spaziergängers. Und das mag auch, bis heute hin, zur Literatur, zur Lyrik motivieren. Selbst beim Blick aufs Amt:

„Die Erwerbslosen befassen sich im Arbeitsnachweis damit, zu warten. Da im Verhältnis zu ihrer Zahl die der Stellen augenblicklich vernachlässigt werden darf, wird das Warten beinahe zum Selbstzweck. Ich habe beobachtet, daß viele bei der Verlesung der Angebote kaum noch hinhorchen. Sie sind schon zu abgestumpft, um an ihre Auserwähltheit glauben zu können. (…) Daß sie die Mütze oder den Hut meistens aufbehalten, mag ein schwaches Zeichen des Freiheitswillens sein. Nur im Zimmer nimmt man die Kopfbedeckung ab; dieser Raum aber soll kein Zimmer sein, sondern allenfalls eine Passage, ob man auch Monate hindurch in ihr weilt. Mir ist nicht eine Örtlichkeit bekannt, in der das Warten so demoralisierend wäre. Um ganz davon abzusehen, daß ihr in diesen Zeiten der Stagnation das Ziel fehlt: es fehlt ihr vor allem der Glanz. Weder ist der Empörung gestattet, hier laut zu werden, noch erhält der aufgezwungene Müßiggang irgendeine andere Weihe.
[…]
Lauter naturwissenschaftliche Konstatierungen, ohne ein Wort der Kritik, die an diesem Platz [der Arbeitslosenvermittlung] allerdings nicht am Platz wäre. Es ist so, es muß wohl so sein. Die dumpfe Ergebenheit in die Wechselfälle der Konjunktur ist geradezu ein Merkmal der Arbeitsnachweise. Hier, wo man im Rücken des allgewaltigen Produktionsprozesses sein Dasein fristet, schimmern immer noch die Kategorien, die ihn zu einem unabwendbaren Naturereignis gestempelt haben, in ihrem alten Glanz. Hier ist er noch Abgott, und nichts gibt es über ihm.“
(Kracauer, Über Arbeitsnachweise)

Die kalte Rationalität schlägt ins Mythische um, der Einzelne verschlingt sich nicht nur im Dickicht der Städte, sondern im Instanzenzug des Amtes. Gesellschaft als geronnene Natur. Und im gleichen Zuge tanzt eine Gesellschaft auf dem Vulkan.

In Kästners Fabian finden wir die herrliche, verdreht und zugleich vertrackte Dekadenz einer Gesellschaft, an der der Protagonist verzweifelt. Und deshalb, wegen solcher Sujets bin ich auf die TV-Serie Berlin, Babylon https://www.youtube.com/watch?v=uekZpkYf7-E

skeptisch-gespannt, die Ende des Jahres auf ARD ausgestrahlt wird, auch wenn ich im voraus eher Konfektionsware und Charleston- samt Dekadenz- und Drogenklischee fürchte. Was all das uns über das Heute erzählt, ist eine andere Geschichte. Die Gefahr bei solchen Sujets ist es, in die Nostalgiefalle zu tapsen. Wer übers Dasein des Arbeitslosen der Gegenwart sich literarisch informieren will, der greife zu Anna Weidenholzers gelungenem Roman Der Winter tut den Fischen gut.

1. Mai – Marxjahr

„Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Proletariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist. Der Proletarier befindet sich dann in bezug auf die werdende Welt in demselben Recht, in welchem der deutsche König in bezug auf die gewordene Welt sich befindet, wenn er das Volk sein Volk wie das Pferd sein Pferd nennt. Der König, indem er das Volk für sein Privateigentum erklärt, spricht es nur aus, daß der Privateigentümer König ist.

Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehn.

Resümieren wir das Resultat:

Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt. In Deutschland ist die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich als die Emanzipation zugleich von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters. In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.

Wenn alle innern Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.“
(Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung)

Wieweit man hier aus diesen Passagen des frühen Marx wiederum die sehr viel prägnanter formulierte 11. Feuerbachthese schon herauslesen kann – zeitlich liegen beide Text dicht beieinander – und inwiefern diese These wieder revoziert werden muß zugunsten einer Theorie der Gesellschaft, ist eine Frage, die für die westeuropäischen Gesellschaften relevant sein mag. Adorno formulierte nicht nur zum Beginn seiner „Negativen Dialektik“ jene Arbeit der Theorie, die nötig ist, da eine Philosophie, die nach Marx einmal überholt schien, sich am Leben erhält, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Sondern auch in seiner „Vorlesung über negative Dialektik“ aus dem Semester 1965/66 gibt es jene Überlegungen zur Feuerbachthese:

„Dieses Zurückgeworfensein auf die Philosophie hat nun in der Situation selbst auch sein reales Äquivalent. Wir befinden uns in einer Art geschichtlicher Atempause. Wir sind in einer Lage, in der im Ernst nachzudenken uns den materiellen Voraussetzungen und auch einer gewissen Friedlichkeit der Zustände nach, jedenfalls soweit es sich um die Bundesrepublik handelt, wieder möglich ist. Und die Versuche, einen darin irre zu machen und unterbrochen: Wolf, Wolf! zu rufen, sind wohl im Augenblick gerade deshalb eine Ideologie, weil auf Grund einer gesellschaftlichen Analyse à la longue nicht damit zu rechnen ist, daß dieser Zustand, in dem man überhaupt nachdenken kann, sich erhält, – so daß man diesen Zustand nicht versäumen darf.“ (Adorno, Vorlesungen Negative Dialektik)

Nicht nur ein Satz gegen den Alarmismus bestimmter Kreise. Aber: Für solche Gesellschaften jedoch, in denen Armutsverhältnisse herrschen wie im Deutschland des 19. Jahrhundert, für Länder, wo Menschen in Slums, gebaut aus Scheiße, wohnen ist diese Frage zur Revolution immer noch virulent. Während hohe Herren im Palast und im Prunk hausen. Haben hier in der BRD die Arbeiter alles erreicht? Ja. Und nein zugleich. Ich müßte nochmal bei Wolfgang Pohrt nachlesen, wo gerade in der Edition Tiamat eine Ausgabe seiner Werke erscheint, im Design schön wie die gute, alte feine MEW-Ausgabe gehalten. Ein Schatz. „Kapitalismus forever“ und „Das allerletzte Gefecht“. Aber eine proletarische Revolution hier in der BRD ist weiter entfernt denn je. Ein letztes Flackern mochte es 1968 während des Pariser Mai gegeben haben und allenfalls in der italienischen Arbeiterbewegung im Operaismus, dessen Geschichte uns nahegebracht werden sollte. Denn nur mit den entsprechenden Narrativen, kann man Theorie und kann man Waffen machen.

(Photographien von Bersarin: Maidemo Berlin, 2014)

Biographisch markiert – Heinz Bude „Adorno für Ruinenkinder“

Das klingt im Buchtitel verheißungsvoll, zumindest für Adorniten, für Bewohner des Grandhotel Abgrund und auch für Leute jener Generation, die Adorno in Frankfurt in den Vorlesungen erlebten, um dort dialektisches Philosophieren im Sinne der Kritischen Theorie zu lernen. In Romanform ist dieser Adornobezug übrigens schön nachzulesen in Gisela von Wysockis feinem Buch „Wiesengrund“ – eine herrliche Lektüre, ein kluges Buch, das ich jedem ans Herz lege. Adorno für Ruinenkinder also, aber das führt zugleich in die Irre, denn es handelt sich bei Heinz Budes Buch keineswegs um eine subtilen Einführung ins Denken Adornos, sondern Bude bieten anhand von fünf unterschiedlichen Menschen einen Rückblick auf jene 60er Jahre, wie sich die Sache aus dem Abstand heraus perspektiviert, Frauen und Männer, darunter auch Peter Gente, der inzwischen verstorbene, ehemalige Verleger und Gründer des Merve Verlags. Ihn kennen wir bereits aus Philipp Felschs Der lange Sommer der Theorie. (Rezension hier.) Oder Klaus Bregenz, der bei Adorno am Institut studierte, für die politische Ökonomie zuständig war und eines der wenigen Arbeiterkinder. Oder Adelheit Guttmann, Radiofrau mit feministischem Einschlag der 68er: Tomatenwurf auf der Delegiertenkonferenz des SDS 1968 in Frankfurt.

„68 hießt nicht, das Ganze zu begreifen oder die Welt zu ändern, sondern seinem Sehnen nach Weite (…) Ausdruck zu verleihen. 68 ist nicht Weltveränderung, sondern Selbstveränderung. (…) In dieser Version von 1968 sind die Doors wichtiger als Adorno.“

Budes Buch ist, wie er selber schreibt, ein Remix seiner Untersuchung Das Altern einer Generation aus dem Jahr 1995, es ist insofern ein schmales Buch, weil es komprimiert die Bezüge zusammenfaßt, und es bietet uns in kompakter Form verschiedene Geschichten und Perspektiven. Es liest sich schnell, es ist unterhaltsam – im Grunde ein längeres Zeit-Dossier. Ob ich es empfehlen kann? Wer sich für diese Epoche im Detail interessiert, wird hier nette Geschichten finden. Großartige Neuentdeckungen sind jedoch nicht zu erwarten. Es ist also eher ein Buch für nebenbei und aufs Jubiläum hin konzipiert. Aber das macht im Grunde nichts, denn das Buch ist unterhaltsam. Wer allerdings etwas über jene wilde Zeit der Theorien lesen will, ist mit Felschs Buch besser bedient. Wer sich an einem oder an zwei Abenden auf dem Ohrensessel mit dem guten und lange gelagerten Rotwein anregen lassen oder wer schwelgen, rückblicken oder sich erinnern will, wie das mal war, kann zu Bude greifen. Ich liefere ein paar Perlen aus dem Buch:

„Wenn im Morgengrauen in der Adalbertstraße der Blick auf die Mauer am Ende der Sackgasse fiel, erschien die Dialektik, nach der immer und überall der Widerspruch die Dinge nach vorne bringt, mit einem Mal als eine Neurose des Geistes.“

So Peter Gentes über seine Zeit in Berlin-Kreuzberg, und solche verdichtete Szene beschreibt sicherlich ganz schön diesen Aufbruch in die 80er Jahre, weg von 68, und das ist natürlich melancholisch-kitschig-schön. Tempi passati. Weg vom Elend der Theorie oder wie es in anderem Kontext Botho Strauß schrieb, daß ohne Dialektik der Mensch auf Anhieb dümmer denke, aber es müsse sein: ohne sie. Doch dieses Zitat wird meist unvollständig wiedergegeben und erhält durch das, was davor kommt, einen anderen Bezug – auch im Sinne von Budes Essay:

„Heimat kommt auf (die doch keine Bleibe war), wenn ich in den ‚Minima Moralia‘ wieder lese. Wie gewissenhaft und prunkend gedacht wurde, noch zu meiner Zeit! Es ist, als seine seither mehrere Generationen vergangen.
(Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer, aber es muß sein: ohne sie!)“
(Botho Strauß, Paare, Passanten)

Dieses tiefe Denken, ein Denken der Kritik, in dialektischen Figuren der Aufhebung wurde mit dem Poststrukturalismus transformiert. Diese Haltung verkörpert auch das Zitat zum Aufbruch Ende der 70er:

„Der Punk brachte den Riss auf den Punkt. ‚No future!’‘war weder als geschichtsphilosophische Trauer noch als gesellschaftliche Anklage gemeint. Es ging um die Behauptung einer Gegenwart, in der sich die Frage des Daseins stellte.“

Ganz der Augenblick also, Lust des Moments, woraus sich dann später in de Hochzeit der Postmoderne der späten 80er, in seiner Trivialform eine Art Ästhetik der Existenz ableitete, die freilich mit Foucaults Denken nicht viel mehr gemeinsam hatte. Was alle in diesem Buch beschriebenen Charaktere eint: Theorie war ein Weg heraus. Heraus aus dem Mief, heraus aus der restaurativen Phase, um Gesellschaft und ihre Mechanismen zu begreifen und vor alle mit kritischem, wenn nicht argwöhnischem Blick zu begleiten. Und Adorno war ihnen ein Wegbegleiter aus dieser Hölle, der Hölle einer Immanenz, einer deformierten Gesellschaft und die Hölle waren natürlich die anderen. Es ging ihnen mit Adorno wie in der Oper, heißt es in dem Buch, man verstand zwar nicht viel, konnte aber alle Passagen mitsingen.

„Über dieses rätselhafte Eigenleben der Gesellschaft konnte man sich in heiligen Büchern informieren. In Adornos Mimima Moralia zum Beispiel, das man als Brevier des Überlebens in Zeiten des Erfahrungshungers mit sich tragen konnte, oder in Lukács‘ Geschichte und Klassenbewußtsein, …“

Theorie als Rüstzeug und ein wenig auch, zumindest im Keim angelegt: Theorie als Pop, als Habitus, den man sich qua bestimmter Autorennamen zulegte. Was dann im Poststrukturalismus, der im Gente-Kapitel angerissen wird, voll ausgefahren wird. Theoriegeladene Nächte und Hedonismus, Punk und Foucault. Solche Aspekte streift das Buch auf eine anekdotenhafte Weise, vermittelt über die unterschiedlichen Biographien.

„Die Gummizäune der liberalen Presse“, so Bregenz, „und die legenden des Kalten Kriegs stabilisierten eine Gesellschaft ohne seelische Zukunft, die zwanghaft darauf bedacht war, dass die historischen Kompromisse der Nachkriegszeit nicht gefährdet wurden. Aber die ‚Risse in der Mauer‘ waren nicht zu übersehen.“

Geschichte ist auch ein Projekt der Generationen. Insofern nimmt Bude am Ende seines Buches ebenso die Enkel der 68er in den Blick. Von einem neuen 68 sei die Rede, so Bude. „Dieses akademisch gebildete Linkssein hat jedoch wenig mit Befreiung und viel mit Gerechtigkeit zu tun.“ Die Minderheit einer Minderheit wurde plötzlich als relevant entdeckt, was sich dann bis hin zu grotesken Detaildebatten aufsplitterte. So hat jede Generation ihr Dogma. Aber es gab noch andere Unterschiede zwischen den alten 68ern und einer neuen kulturalistischen Linken:

„Für sie findet zweitens die politische Willensbildung vor allem im Netz statt. Sie sind damit aufgewachsen, dass ein Tweet, ein Posting oder ein Snapshot eine Bewegung in Gang setzen kann, die plötzlich exponentiell wächst und zu ganz realen Aktionen auf Plätzen, bei Festivals oder um die Ecke führt.“

Wobei Bude hier unterschlägt, daß daraus genauso das Verhängnis der Shitstorms und der unreflektierten Bezugnahme aller auf alles erwuchs. Damit einher ging die Entropie von Bedeutung. Aber dieser Aspekt der Beschleunigung ist ein anderes Thema. Zu recht allerdings weist Bude auf die absurden Auswüchse einer Kultur hin, die sich in Triggerwarnungen, victimhood-culture, safer spaces für Heulsusen (ist meine Wortwahl nicht die Budes) und einer Karikatur von critical whiteness in moralischer Überheblichkeit eingeigelt hat. Mit Jonny Thunders kann man diesen Gestalten nur zurufen: „Born to lose“. Mehr Punk, mehr Politische Ökonomie, mehr Kunst, weniger Moralspackotum

„Bei diesen Enkeln der 68er handelt es sich offenbar um eine Generation von rigoroser Empfindlichkeit, medialer Versiertheit und affektiver Mobilisierbarkeit“

Von der Kritik des falschen Lebens im Falschen geht es zur Gesinnungspolizei, die das richtige Leben im falschen installieren will. Mochte es schon bei Adorno auf Unverständnis gestoßen sein, wenn man seine Texte als Parolen auf Universitätswände schrieb, so haben wir bei jenen Neu-Puritanern eine Wendung, die kaum noch etwas mit einem ursprünglichen Sinn von Linkssein zu tun hat, wie ihn die 68er verstanden. Auch darauf deutet Budes Buch knapp. Auch hier wieder tritt jener Aspekt auf – Bude spricht leider nicht darüber, sondern deutet es allenfalls implizit an –, weshalb linkes Denken sich vielfach marginalisiert hat und eine Angelegenheit für Minderheiten wurde. Partialgruppen, die Partialinteressen vertreten, was nicht per se falsch ist, dabei aber das Ganze und gesellschaftliche Mechanismen zunehmend aus den Augen verlierenend. Mehr Hegel, mehr Marx, mehr Derrida – den vor allem textimmanent gelesen und nicht zum Gewährsmann aufgeplustert – täte in diesem Falle gut. Aber das ist eine andere Sache und wird nur am Rande als Thema des Buches verhandelt.

Das ist ganz interessant und ein gutes Experiment: Bude läßt in einem fiktiven Spiel die Protagonisten auf diese neue, diese andere diese jetzige Zeit blicken. Wie sie diese neue Weise des Protests interpretierten:

„Peter Gente würde diesen neuen puritanischen Ernst, der nichts kostet, vermutlich lächerlich finden, Adelheit Guttmann würde die Bereitschaft vermissen, sich woandershin aufzumachen; Klaus Bregenz würde wohl mit Adorno einwenden, dass das sich selbst schützende Subjekt, das sich in absoluten Gegensatz zur Gesellschaft versteht, nur deren innerstes Prinzip zum Ausdruck bringt; …“

Schön ist die Aufmachung des Buches, sie erinnert, allerdings nur dezent, an die Bände der Bibliothek Suhrkamp, insbesondere an Adornos weiße Minima Moralia. Nur daß die schwarze Banderole bei Bude farbig ist – von Dunkelrot bis Orangensaftgelb.

Und so können wir zwar nicht diese Epoche, aber doch den Weg, den Bude mit uns Lesern schreitet, mit einem Zitat abschließen:

„68 dauerte, wie Peter Gente unmissverständlich darlegte, im Grunde nur einen Sommer lang. Die Vorgeschichte mag zwar um 1964 begonnen haben, aber 1972 oder, wenn man großzügiger ist und den Terror des Deutschen Herbstes dazunimmt, spätestens 1977 war die Geschichte vorbei.“

Die Zeiten mögen vorbei sein. Aber Geschichte dauert eben in ihren Deutungen. Adorno für Ruinenkinder mag in dieser Hinsicht kein besonderer theoretischer oder praktischer Wurf sein, und das Buch wirkt leider wie eine auf die Schnelle nochmal in der Zweitverwertung aufgerührte Speise, weil halt gerade Jubiläum ist. Aber als Anekdote dann doch auch wieder ganz nett lesbar. 1968 war, wie es Paul Veyne in dem Buch bemerkt, das letzte heiße revolutionäre Ereignis und die erste coole Revolution. Der Protest aus dem Geist des Pop eben, so möchte ich hinzufügen. Daß Adorno damit nicht viel anzufangen wußte, verwundert nicht.

Heinz Bude: Adorno für Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968, Carl Hanser Verlag, München 2018, ISBN 9783446259157, gebunden, 128 Seiten, 17,00 EUR