Texte zur Asche, Sehnsuchtsorte. Formen des gelingenden Scheiterns [Notizhefte der Gegenwärtigkeit] (1)

Bildbeschreibung

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.


 

13_07_10_1

 

So hieß es in den guten alten Zeiten, als noch (mehr oder weniger) umstandslos jene Gedichte geschrieben werden konnten, die über das Bloß-Faktische hinausflogen und es transzendierten. In den Zeiten der Post-Pathetik, der ironischen Brüche, im Zeitalter der bloßen Lebenskontingenzbewältigung und im Diesseitsparadigma jedoch tritt der Schmetterling ab, und es bleibt bei einer kleinen unscheinbaren Fliege, die sich aus einer Laune des Zufalles heraus in das Feuer verirrte, verstrickte oder vielleicht auch flüchtete und im Wachs sich dann einschloß. Bernstein für Bargänger.

Das Stirb und Werde der seligen Sehnsucht hatte ihren Ort in einer Metaphysik der Gegenwärtigkeit, die zugleich mit einer aufgesteigerten Selbstpreisgabe einherging. Diese Preisgabe freilich – und damit korrespondierend sollte als Effekt die Daseinsweise der instrumenteller Ratio aussetzen und für diesen Gang stillgestellt sein – hatte zum Ziel, daß sich über die Entäußerung ein Subjekt bildend gewinne: dem Geist der Goethezeit gehorchend, als es, zumindest für die jungen Weimarer Damen und für die weiblichen Musenkreise, von erzieherischen Erfolg gekrönt war, Bildungsromane zu schreiben.

Es kaprizierte sich dieses Stirb und Werde auf den Augenblick – im Moment zu verglühen, in seiner Intensität einzugehen – und gleichzeitig auf die Ewigkeit dieses Augenblickes: diesen auf die Dauer und in die Unendlichkeit hinein stillzustellen, ihn ins Unermeßliche zu heben. Und weil dieser Krebsgang niemals recht funktionieren kann, sondern von Störungen und Interferenzen getragen ist, stellt sich angesichts der Aporie beim reflektierten Schreiber eine Weise von Melancholie ein, die das Leben daran bemißt, was es hätte sein können: die Wahrheit liegt nur selten in den gelebten Momenten, denn diese Zeit, die bleibt, diese Augenblicke – als „Verzückungsspitzen des Daseins“ –, sind in ihrer emphatischen Variante rar. Eine Nacht in Leipzig, eine Sommernacht in Hamburg, Winter in Potsdam, der Park Sanssouci liegt in Kälte und Dämmer. Wer keinen Hang zur Melancholie in sich trägt, hat nimmer das Zeug zur Schriftstellerin, geschweige zum Dichter. Einzig der Melancholiker vereint den kalten und den warmen Blick in einem Zuge und einem Wesen. Acedia ist die Tugend des Schriftstellers, des beobachtenden Essayisten. I would prefer not to. Das „Kein Ort, nirgends“ ist einerseits das Versprechen einer Existenz, die nicht mehr auf Heimat, Blut und Boden bauen muß, sondern im Ungebundenen und im Dissoziierten wohnt und andererseits die Gewißheit, das hiernieden kein Platz bleibt, an dem es sich aufzuhalten lohnte. In einer entstellten Welt bleibt auch die Natur beschädigt. Wer meint, bloß seinen Garten hegen, pflegen und bestellen zu müssen, wird schneller dem darin thronenden Gartenzwerg ähnlich als ihr oder ihm lieb ist.

Der Drang zur Destruktion im Flammentod (als Schmetterling versteht sich) oder an sonst einem Ort zu vergehen, verband sich – selige Zeiten – seinerzeit noch mit dem Drang zum Schöpferischen, zur Negation der Negation, und zwar im Akt des Ästhetischen als eines gesonderten Bereiches, der als Transzendenz- und Steigerungsmodus wirkte. Kunst war souverän und autonom in einem Zuge. Nietzsche dichtete im Vorspiel zur „Fröhlichen Wissenschaft“ unter dem Titel „Ecce homo“ im Sinne einer ästhetischen Existenz, der freilich bereits (zumindest an sich) die Selbsterfindung als Selbstoptimierung eingeschrieben ist:

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich.

Den Kontext einer Destruktion von Metaphysik und Wesenheit, die Gegenlektüre zu Hegel, lasse ich beiseite. Vielmehr geht es auch in diesem Gedicht um jenes Stirb und Werde, und am Schluß dieses Buches, wenn die Lieder des Prinzen Vogelfrei gegeben werden, so eröffnen diese Gedicht-Passagen mit einer herausfordernden Zueignung „An Goethe“:

Das Unvergängliche
Ist nur Dein Gleichnis!
Gott, der Verfängliche,
Ist Dichter-Erschleichnis…

Das Phoennixmotive jedoch überwog sowohl bei Goethe als auch bei Nietzsche das der Asche. Bei Nietzsche verband es sich mit dem Augenblick als reinem Augenblick in der Gegenwart, bei Goethe kombinierten sich die Ebenen, verschwisterten sich (denn hinab geht es am Ende immer zu den Weibern und wenn nicht das, dann zu den Müttern des Seins) zu einem die Zeit übersteigenden Moment. Die Zeiten änderten sich, es gingen einige Kriege und einiges Unbill ins Land, das Ästhetische nahm die Negativität als eine absolute auf. Das Ideal der Kunst sei das Schwarze, so schrieb es Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“. Bedingt ist diese Konstatierung durch den Gang der Geschichte selbst. Wir haben, in der Konstellation bei Becketts „Endspiel“ etwa, nur noch die Asche als jenen Rest, der bleibt, auch wenn uns die Heilsversprecherinnen und -versprecher beständig das Gegenteil salbadern und gerne eine heile, heile Welt im Plauderton hätten. Aber die ist hinüber.

„HAMM: Ich habe einen Verrückten gekannt, der glaubte, das Ende der Welt wäre gekommen. Er malte Bilder. Ich hatte ihn gerne. Ich besuchte ihn manchmal in der Anstalt. Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn ans Fenster. Sieh doch mal! Da! Die aufgehende Saat! Und da! Sieh! Die Segel der Sardinenboote. All diese Herrlichkeit! Pause. Er riß seine Hand los und kehrte wieder in seine Ecke zurück. Erschüttert. Er hatte nur Asche gesehen. Pause. Er allein war verschont geblieben. Pause. Vergessen. Pause. Anscheinend ist der Fall … war der Fall gar keine … Seltenheit.“

Diese Lakonie besticht. Von der Gegenwart geht die Reise zur Vergangenheit: „ist der Fall … war der Fall“. Großartig konstruiert: es sind hier die Zeitebenen aneinander gebaut. Es bleibt: die Asche. „Feu la Cendre“, wie ein Text Derridas heißt. Die adjektivische Bedeutung von „feu“ ist „verstorben“ bzw. „selig“. Die Asche als Grund, und Derrida nimmt hier den Grund durchaus im Sinne Heideggers. „Es gibt die Rebellion gegen Phoenix und ebenso die Affirmation des Feuers ohne Ort noch Trauer.“ So schreibt Derrida in jenem Buch. Ein entscheidender und einschneidender Satz. Jedes Kaddisch läuft ins Leere. Es bleiben lediglich die Spuren, der „Singbare Rest“. Eine Poetik nach Auschwitz oder ganz allgemein, eine Poetik innerhalb des Grauens und des Immanenzzusammenhangs, für den das Wort Hölle zu kurz greift, ist den meisten fremd; das Diktum Adornos von einer Kunst nach Auschwitz den meisten heutzutage vollkommen unverständlich.

Es sei an dieser Stelle das ganze Goethe-Gedicht, die komplette „Selige Sehnsucht“ gegeben, um sich zu vergegenwärtigen, wie eine Existenzweise einstmals funktionierte, in der das Selbst sich steigert, indem es zunächst sich verliert:

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Ueberfällt dich fremde Fühlung
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsterniß Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Handelt es sich hierbei nun um gelingendes Scheitern oder doch vielmehr um mißlingendes Leben? [Auch wirft diese Passage ein grelles Licht auf das Dialogische und das Schwadronieren der Kommunikationstheoretiker samt des Handelns.] In Becketts „Endspiel“ heißt es im Hinblick auf die Modalität des Daseins:

HAMM: Ich bin nie dagewesen. Pause. Clov!
CLOV sich zu Hamm zuwendend, aufgebracht: Was ist denn?
HAMM: Ich bin nie dagewesen.
CLOV: Du hast Schwein gehabt.
Er wendet sich wieder dem Fenster zu.
HAMM: Abwesend immer. Alles ist ohne mich vorgegangen. Ich weiß nicht, was geschehen ist. Pause. Weißt du, was geschehen ist? Pause. Clov!

Wozu Kunst? (4) – Interludium, die Tonspur zum Sonntag

 „Baudelaire hat nicht wie Gautier Gefallen an seiner Zeit gefunden, noch sich wie Leconte de Lisle um sie betrügen können. Ihm stand der humanitäre Idealismus eines Lamartine oder Hugo nicht zu Gebote, und es war ihm nicht wie Verlaine gegeben, sich in Devotion zu flüchten. Weil er keine Überzeugung zu eigen hatte, nahm er selbst immer neue Gestalten an. Flaneur, Apache, Dandy und Lumpensammler waren für ihn ebenso viele Rollen. Denn der moderne Heros ist nicht Held – er ist Heldendarsteller. Die heroische Moderne erweist sich als ein Trauerspiel, in dem die Heldenrolle verfügbar ist.“

 (Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, in: GS I 2, S. 600)

Zuweilen weiß man nicht zu schreiben, kommt nicht weiter. Nun ist dieser Text in Serie keine Seminararbeit, die der Pflicht gemäß irgendwo an einem Ort abgeliefert werden oder die ankommen muß, wenn wir die Frage nach dem Wozu der Kunst oder die nach ihrem Ende stellen. Nichts muß ankommen oder seinen Bestimmungsort erreichen. Nicht einmal ein Brief, wie schon Derrida gegen die Einsicht Lacans im Seminar zu Poes entwendetem Brief wußte.

„Es ist gütig von Ihnen, mein hochverehrter Freund, mein zweijähriges Stillschweigen zu übersehen und so an mich zu schreiben. Es ist mehr als gütig, Ihre Besorgnis um mich, Ihrer Befremdung über die geistige Starrnis, in der in Ihnen zu versinken scheine, den Ausdruck der Leichtigkeit und des Scherzes zu geben, den nur große Menschen, die von der Gefährlichkeit des Lebens durchdrungen und dennoch nicht entmutigt sind, in ihrer Gewalt zu haben.“

Wir folgen bloß einem inneren Zwang. Das Schweigen läßt sich nicht schreiben oder sammeln. „On. Say on. Be said on. Somehow on. Till nohow on. Said nohow on.
(…)
All of old. Nothing else ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ (Samuel Beckett, Worstward Ho)

Es gibt ein literarisches Dokument, fast ließe sich sagen ein Gründungsdokument der klassischen Moderne, das bündelt dieses Schweigen und die Dekomposition, die Entleerung des Selbst, früh schon. Hugo von Hofmannsthal schrieb diesen Text: Es ist ein Prosastück mit dem Titel „Ein Brief“, 1902 veröffentlicht, bekannt auch unter dem Titel Chandos-Brief (an Francis Bacon). Es handelt sich um ein Entschuldigungsschreiben wegen des gänzlichen Verzichts auf literarische Betätigung an jenen Francis Bacon, verfaßt von Philipp Lord Chandos. Ein eigenwilliger Zwang zur Beichte manifestiert sich in diesem Brief, ein strömender, aber kein eruptiver oder unkontrollierter Ausfluß:

„Mein Inneres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, eine Unart, wenn Sie so wollen eine Krankheit meines Geistes, wenn Sie begreifen sollen, daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere.“ (H. v. Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Erzählungen, S. 462, Fft/M 1979)

Es deutet sich eine Zeitenwende an. Kongenial bringt Hofmannsthals Text diesen Umbruch zum Ausdruck, aber das Fin de siècle wird in diesem Brief ins frühe 17. Jahrhundert verlegt, also an das Ende der Renaissance, was einen Umstand abgibt, der für die Lektüre des Textes nicht zu unterschlagen ist. Objektives gerät in diesem Brief zum Problem des Subjekts, weil schmerzhaft die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt erfahren wird, mit Hegel gesprochen: das zerrissene und das „unglückliche Bewußtsein“ als Signum der Moderne. Diese Erkenntnis frißt zwar das Denken sowie das Verhältnis von Denken und Sache an, aber nicht die diesen Sachverhalt darstellende Sprache des Briefes, welche nicht verstummt bzw. aphasisch gerät, sondern vielmehr das Schweigen in die Darstellung bringt. Denn geradezu antiperformativ reagiert der Text auf diese Fragmentierung des Subjekts. Die Form stellt sich als das Gegenteil des Ausgesagten dar.

„Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“ Das Subjekt fragmentiert sich, Band und Kontinuum zerreißen. Dichtung und Sprache des Protagonisten mißraten in diesem Zustand. Es stellt sich beim Schreiber jenes Unbehagen ein, etwas auszusprechen oder ein allgemeines Thema zu besprechen und Begriffe zu gebrauchen wie Geist, Seele oder Körper, und auch über die gesellschaftlichen Angelegenheiten fällt ein Urteil schwerer und schwerer, bis es nicht mehr möglich ist. Die Position des Nominalismus ist derart radikal gewendet, daß es der Sprache selbst, der Sprache des Briefeschreibers an den Kragen geht. Im gleichen Zuge jedoch erzählt er virtuos und in einem Spiegelspiel davon. Dennoch: das Begehren des Schreibers läuft ins Leere, es regrediert in die Erinnerung.

„Und aus dem Sallust floß in jenen glücklichen, belebten Tagen wie durch nie verstopfte Röhren die Erkenntnis der Form in mich herüber, jener tiefen, wahren, inneren Form, die jenseits des Geheges der rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann, die, von welcher man nicht mehr sagen kann, daß sie das Stoffliche anordne, denn sie durchdringt es, sie hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich, ein Widerspiel ewiger Kräfte, ein Ding, herrlich wie Musik und Algebra. Dies war mein Lieblingsplan.“ (S. 462)

„Glückliche Tage“, denn dieses Konzept von Einheit geht nimmer. Es ist ein Zeitalter abgelebt, jener Geist der Goethezeit, jenes Weimar als die Vormoderne (allerdings: für Hegel gehörte das, was wir gewöhnlich klassisch nennen, zur romantischen Kunst) oder: Weimar und vor allem Jena als die heraufziehende Moderne, wie die Romantik eines Novalis oder Schlegel, aber auch die Dichtung Hölderlins wohl wußten. Der Prozeß der Kunst spurt nun anders. Den Regelpoetiken widerfuhr schon mit Dubos und überhaupt den Franzosen, aber auch über Lessing und die (bürgerliche) Kategorie des Geschmacks eine Antwort. Im Fin de siècle, im Symbolismus und im Naturalismus gelangt zum schockhaften Bewußtsein, was bei Baudelaire als erstem modernem Dichter bereits in Klarheit zum Ausdruck kam. Es hat Gründe, daß gerade Paris die Stadt der Moderne ist, welche Moderne sowie die Antike auf eine Weise verbindet, daß darin die Querelle des Anciens et des Modernes eine völlig andere Richtung erhält. Odysseus als Flaneur:

„Durch die alten Vorstädte streifend, wo an baufälligen Fassaden die Jalousinnen hängen, hinter denen die Unzucht sich versteckt, beliebt es mir, wenn grausam die Sonne mit doppelt heißen Strahlen auf Stadt und Felder, Dächer und Saaten scheint, allein mein wunderliches Fechthandwerk zu üben, in allen Winkeln nach Reimen witternd, über Worte stolpernd wie über Pflastersteine und bisweilen auf lang verträumte Verse stoßend.“ (Baudelaire, Die Sonne, in: Die Blumen des Bösen, München 1986, S. 177)

Der Dichter ist es, so Foucault in „Die Ordnung der Dinge“, welcher „unterhalb der genannten und täglich vorhergesehenen Unterschiede die verborgenen Verwandtschaften der Dinge und ihre verstreuten Ähnlichkeiten wiederfindet“ (S. 81) Allerdings sind dies Ähnlichkeiten, welche disparat sein können wie Regenschirme und Nähmaschinen auf jenem Operationstisch – Lautréamont in den Plural gebracht.

„Ich habe mehr Erinnerungen, als wäre ich tausend Jahre alt.“ (Baudelaire, S. 155) Die Erinnerung birgt das Tote, das Vergangene, als Schacht und als Pyramide. Die Antike erscheint dem Flaneur in den Straßen nicht nur im flüchtigen Blick auf die Karyatiden über den Hauseingängen. Der Flaneur hat das abgelebte Momente in sich aufgesogen; er korrespondiert als Figur des Draußen – Schwellenkunde oder von Schwelle zu Schwelle. „Im Flaneur begibt sich die Intelligenz auf den Markt. Wie sie meint, um ihn anzusehen und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden.“ (Benjamin, GS V 1, S. 54)Und um es weiter über den Text Benjamins zu schreiben, der Flaneur korrespondiert mit dem Lumpensammler, welcher in den Vorstädten die abgelebten Dinge, die Nicht-Waren, die vernutzten Dinge wieder in Waren verwandelt, den Werbung tragenden und Waren anpreisenden Sandwich-Man, die Hure, „die Verkäuferin und Ware in einem ist“ (Benjamin, GS V 1., S. 55), den Zerüttungen, wenn man es vom Heute her sehen möchte: der Flaschensammler, den es in den 90er Jahren noch nicht in diesem Ausmaße gab, den die Regierung Kohl nicht hervorzubringen wagte. Dazu gaben sich einige Jahre später dann willige Büttel her. Diese Dinge gilt es einzufangen, mit Benjamin gesprochen, die dialektischen Bilder zu erzeugen und die Phantasmagorien freizulegen. Zu Baudelaires Zeiten war die Photographie nicht ausgeprägt genug und konnte von ihrer technischen Seite her dem Flaneur nicht beistehen, um die transformierende Fixierung zu leisten. Es bestanden Grenze des Ausdrucks. Das Wesen der Photographie zeichnet sich jedoch in Wortskizzen vor und antizipiert sich in „A une passante“, jenem zentralen Gedicht von Baudelaire: dieser Blitz und der Augenblick, der sekundenhafte Blick, aufgefangen in jener Menge, die strömt. Dies darzustellen, bedarf eines zur Sprache hinzutretenden Mediums: die mémoire involontaire freizulegen, stellt ein Tun dar, das jedoch intentionslos nur erfolgen kann und sich an keine Ökonomie andocken läßt, da das Wesen der mémoire involontaire eine bewußte Bewußtlosigkeit ist – Würfelwurf und Zufall.

„Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden, ebensowenig höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, Einsamkeit und Gesellschaft; in allem fühlte ich Natur, in den Verirrungen des Wahnsinns ebensowohl wie in den äußeren Verfeinerungen eines spanischen Zeremoniells; …“ (Hofmannsthal, S. 464)

Das Konzept von Einheit ist der Moderne abhanden gekommen, Hegel wußte und begriff dies als erster, nahm diesen Riß in der heraufziehenden Moderne wahr und brachte den Bruch in die Philosophie, anders als die Romantik freilich mit dem Begehren, ihn auch zu heilen – „die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“. Und dieser Verlust, der sich dann als bloße Individualität und als Subjektivität geben muß, zieht sich bis in die Fähigkeit hinein, alltägliche Kommunikation zu führen oder Werke zu schaffen. Kein Begriff und schon gar nicht der Begriff des Begriffs, als Zusammenhang, ist noch vorhanden; dort, wo Hegel auf die vermittelnde Instanz des Begriffs oder eines Allgemeinen setzte, blieb eine Leerstelle. Eine „Furie des Verschwindens“ treibt sich um, konsequente Logik des Nominalismus, die sich einzig in die Logik des Bildes transformieren kann, Metamorphosen und Bewegungen, Beschleunigungen innerhalb der Kunst, so daß neben der Photographie das bewegte Bild des Kinos nicht mehr fern scheint.

Alltägliches und soziale Bezüge lösen sich auf. Hofmannsthals Brief gleicht einem Delirium. Was bleibt, ist die grauenvolle Nähe des unscheinbaren, nebensächlichen Details, als unmittelbares Zoom. Die vergrößerte Kleinigkeit bedarf in der Kunst einer anderen Einstellung: extreme close-up, italian shot:

„Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.“ (Hofmannsthal, S. 466)

Diese Aufspaltung als System der Zertrümmerung bis ins kleinste hinein funktioniert als Mise en abyme. Aufschreibsysteme und Optik. Was aber als Signum der Moderne bleibt, ist der Gunfight vereinzelter Subjekte, der Kampf in der Zerrissenheit und die Windungen. „No One Here Gets Out Alive“, so wird dies dann als Song und Slogan etwa 66 Jahre später lauten, im Sinne eines herabgesunkenen und zum schlechten Allgemeinen gehörendes Kulturgut, welches unter dem Titel „Pop“ firmiert.

„Best worse no farther. Nohow less. Nohow worse. Nowhow naught, Nohow on.
Said nohow on“

(Samuel Beckett, Worstward Ho)

Hier aber nun die Tonspur zum Sonntag:

Karneval in Berlin (3)

Heute gibt es auf Proteus Image eine weitere Bildserie zum Karneval.

Ein schönes Photo von einem Motivwagen zeigt auch SpOn im Hinblick auf die katholische Kirche: „Bei uns ist jeder Tag Weltjugendtag“. Wäre Karneval etwas bösartiger, so könnte dieses Fest auch mir gefallen. In der Oberschule 1984 oder 1985 sind ein Schulfreund und ich als Ku-Klux-Klan verkleidet gegangen. Am meisten Spaß machte das Nähen der Gewänder. Es funktionierte nämlich überhaupt nicht, weil wir die Nähmaschine nicht zu bedienen wußten. Und mit zunehmendem Weingenuß wurde das Nähen bzw. die Folgen desselben furchtbarer und unansehnlicher. Dann stieß zu allem Überfluß ein Hippiefreund hinzu, der rauchbare Drogen mitbrachte; auch dies verbesserte unsere Schneiderarbeit keineswegs. Am Ende sahen wir eher wie nach Gespenstern aus statt nach dem Ku-Klux-Klan. Einige Schüler fanden uns beim Schulfaschingsfest geschmacklos, andere ganz lustig. Und die Lehrer wußten sowieso, wie sie mit uns dran waren.

Morgen folgt dann der letzte Teil der Photoserie und dann ist das Ereignis vorbei.

Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert

Über diese Sätze wäre einmal nachzudenken, um sie, in Vermittlung mit der Literatur, der Ästhetik, in eine philosophische Theorie des Bürgers zu überführen: 

„Flaubert ist dagegen voll von Widersprüchen, und seine widerspruchsvolle Beziehung zur Romantik entspricht einem ebenso widerspruchsvollen Verhältnis zum Bürgertum. Sein Haß gegen den Bourgeois ist, wie oft bemerkt wurde, die Quelle seiner Inspiration und der Ursprung seines Naturalismus. Er läßt das bürgerliche Prinzip in seinem Verfolgungswahn zu einer metaphysischen Substanz werden, zu einer Art von ‚Ding an sich‘, das unergründlich, unerschöpflich ist. ‚Der Bourgeois ist für mich etwas Undefinierbares‘, schreibt er an einen Freund – ein Wort, in dem neben dem Begriff des Unbestimmten auch der des Unendlichen mitklingt. Die Entdeckung, daß die Bourgeoisie selber romantisch, ja gewissermaßen das romantische Element schlechthin geworden ist, daß die Verse der Romantiker von niemandem mit so viel Gefühl deklamiert werden wie von ihr, und daß die Emma Bovarys die letzten Repräsentanten des romantischen Lebensideals sind, hat viel dazu beigetragen, Flaubert von seinem Romantizismus abzubringen. Flaubert ist aber im tiefsten Wesen selber ein Bourgeois, und er weiß es.“ (Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 829 f.) 

Bohrer hat ja ein seinem Buch zur Romantik ganz zu recht die These formuliert, daß mit der Romantik der eigentliche Beginn der (literarischen) Moderne ansetzt, nicht unbedingt manifest, aber doch in Latenz. Auch gesellschaftlich, in der fortschreitenden Emanzipation des Bürgertums als treibende geschichtliche Kraft, kann die Moderne im 19. Jahrhundert beginnen. Die technischen Einschnitte, welche ja auch für die Kunst außerordentliche Bedeutung haben, man denke an die Bilder Blechens und Turners, stellen etwas Ungeheures dar und erzeugen Potenzierungen.  

Das bürgerliche Prinzip als metaphysische Substanz: dies ist wirklich gut gedacht und gut formuliert. Aber dieses Ding an sich läßt sich, ganz anders als das Kantische (1), durchaus in sich selbst bestimmen; im 20. Jahrhundert betreibt dies dezidiert Benjamin in seinem Passagenwerk und damit zusammenhängend in seinen Studien zu Baudelaire und dem Paris des Second Empire (2). Ein Paris der Moderne, ein Paris des Bürgers, aber auch eines mit seinem menschlichen Kehricht wird aufgetan als (nicht nur höllischer) Ursprungsort und mit Verlängerungen in das Jetzt hinein. Adorno kritisierte diesen Materialismus Benjamins in seinen Briefen an Benjamin scharf. Er sah diese Zusammenschlüsse von Gesellschaftlichem und Ästhetischem, die Benjamin in seinem Baudelaire-Buch tätigte, als zu kurz gegriffen an; gewissermaßen ein (brechtscher) Vulgärmaterialismus. (Davon wäre jedoch ein andermal zu handeln.)

Spannend zum Schluß bleibt zu lesen, ob es der Verfolgungswahn Flauberts oder der des bürgerlichen Prinzips selber ist. Die letztere Lesart bleibt mir die sympathischere. 

Und so möchten wir abschließend, gleichsam in einer Übersprungshandlung (Behaviour out of context), aber doch geprägt von der ersten Lesart, zu Sartre überleiten und mit ihm und seinen Ausführungen zu Flaubert beschließen: 

„… was kann man heute von einem Menschen wissen? Eine Antwort auf diese Frage schien mir nur durch die Untersuchung eines konkreten Falles möglich: Was wissen wir – zum Beispiel – von Gustave Flaubert? Diese Frage beantworten heißt, die Informationen, die wir über ihn haben, zu totalisieren. Nichts beweist zunächst, ob eine solche Totalisierung möglich und ob die Wahrheit einer Person nicht plural ist; (…) Laufen wir nicht Gefahr, auf Schichten heterogener und unreduzierbarer Bedeutungen zu stoßen? Dieses Buch versucht zu beweisen, daß die Unreduzierbarkeit nur scheinbar ist und daß jede Information in ihrem Kontext zum Teil eines Ganzen wird, das nicht aufhört, sich hervorzubringen, und zugleich seine eigentliche Homogenität mit allen andern Teilen offenbart. 

Ein Mensch ist nämlich niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelheit wiederhervorbringt. Da er durch die einzelne Allgemeinheit der menschlichen Geschichte allgemein und durch die allgemeinmachende Einzelheit seiner Entwürfe einzeln ist, muß er zugleich von beiden Enden her untersucht werden.“ (Jean-Paul Sartre, Der Idiot der Familie, S. 7)

Flaubert ist sicherlich eine schillernde Figur in bezug auf das Bürgertum, und wer es hierzu dann ein wenig gallig-heiter möchte, der lese als Quintessenz „Bouvard und Pécuchet“. Sehr dicht sind wir hier schon an Beckett dran. Dieser Roman begibt sich in die Abgründe nicht nur der Gelehrsamkeit: einen Bildungsroman mit umgekehrten Vorzeichen schrieb Flaubert und konzipierte einen gedoppelten Odysseus, der von seiner Reise an (fast) genau dieselbe Stelle zurückkehrt – erfahrungslos, angereichert mit Ballast und Scheitern. Zudem fragmentiert und mitten im Geschehen interruptierend. Zum schöner Scheitern, zum gelingenden Scheitern eines Beckett ist es da wie gesagt nicht mehr weit, Scheitern als Chance, um mit Schlingensief zu sprechen, Scheitern als ästhetische-moralische Kategorie, Scheitern als Aufgabe des Bürgertums:

 „All of old. Nothing else ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ (Samuel Beckett, Worstward Ho)
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(1) Die Dialektik von der Grenze, die unüberbrückbar gesetzt wird, und der These, daß eine Grenze zu setzten bereits deren Überschreitung intendiert, soll beiseite gestellt werden. Auch die Gedanken Adornos in seinen „Meditationen zur Metaphysik“, daß, gegen Hegel gewendet, dieses Ding an sich als rettender Block in bestimmtem Sinne aufrechtzuerhalten sei. Obwohl allerdings diese Angelegenheit sehr gut in den philosophischen Teil einer Theorie der Bürgerlichkeit hineinpaßte.

(2) Ich möchte hier der Gerechtigkeit halber auch noch Siegfried Kracauers soziologisch-biographisches Buch „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“ nennen. Die Biographie als bürgerliche Kunstform des 20. Jahrhunderts.