Herbstzeit, Bücherzeit – die Photochallenge (3)

Teil 3 der Serie: Ich zeige sieben Bücher, die sich in irgendeiner Weise mit Photographie beschäftigen und die mich prägten und faszinierten – seien das Bildbände oder aber Theoriebücher. Dies aber nicht stur sieben Tage hintereinander, sondern in loser Folge.
[Hier geht es zu Teil 1 (Time-Life-Bücher) und zu Teil 2 (Helmut Newton)]

Wer sich mit Photographie beschäftigt, sei es als Betrachter von Photos oder in der Praxis, wer photographiert, eigenen Bilder zeigt, Photos von anderen intensiver betrachtet und sich dazu Gedanken macht, wird am Ende auch um die Theorie der Photographie nicht herumkommen – allein deshalb, weil einem die eigenen Gedanken nicht mehr genügen und der Betrachter sich seine Perspektiven erweitern möchte. Solche Theorie beginnt basal bereits in der Dunkelkammer, über den Weg der Technik und des Wissens ums Machen, wenn der Jüngling oder das Girlie anfängt die eigenen Filme und die eigenen Bilder zu entwickeln. Man muß wissen, was man da mit der Chemie, im Entwicklerbad und am Vergrößerer tut und wie das geht – auch rein technisch. Was ist ein Negativfilm und wie funktioniert er? Was ist Photopapier, was ist eine Photographie und wie entsteht sie – physikalisch wie auch technisch? Und ähnliches gilt fürs Photographieren selbst, die ich in der Dunkelkammer abziehe, nicht nur die Seele in der Silberschicht, sondern die krude Chemie darin: wie lange belichte ich, welches Papier wähle ich, welchen Härtegrad? und so haben vermutlich Millionen von Menschen Ansel Adams Zonensystem studiert oder Klassiker der Bild-Komposition wie Harald Mante oder eine der bekannten Photoschulen gelesen. Wer weiß, wie es technisch geht, weiß am Ende auch, was er in der Landschaft oder auf der Straßensafari mit einer Kamera machen soll und wo man gekonnt eine Regel bricht und wo besser nicht, so daß durch diese Kombination von Phantasie, Können und Vermögen eben jene „Seele in der Silberschicht“ sich zeigt, die eine besondere Photographie ausmacht.

Ähnliches auch mit der Theorie. Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild? Nein, das ist es nicht. Eine Photographie von Jeff Wall, von Martin Parr, von Alfred Stieglitz oder von Joel Meyerowitz sind vier sehr unterschiedliche Arten mit Bildern umzugehen. Aber wie sich nähern, was lesen? Wer nicht gerade einen Lehrstuhl für Photoästhetik hat oder sich mit diesem Thema als Forscher und Wissenschaftler befaßt, wird über einige wenige Bücher kaum hinausgekommen sein: Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz, vielleicht noch seine „Kleine Geschichte der Photographie“ und Kracauers wichtige, aber nicht gut bekannte Schrift „Die Photographie“, ansonsten Roland Barthes „Die helle Kammer“, vielleicht noch ein Text von André Bazin und von Villem Flusser „Für eine Philosophie der Fotografie“. Aber schon Namen wie Douglas Crimp, Michael Fried und Rosalinde Krauss werden vermutlich nur noch den Theoriemenschen der Ästhetik etwas sagen.

Wer also ein Arbeiter des Details im Weinberg des Herrn ist oder wer solcher werden will und wer weit in die Geschichte der Photographie hineinblicken möchte, nämlich in ihre Anfänge Ende der 1830er Jahre, mithin ihrer „Erfindung“ – im eigentlichen Sinne gab es mehrere Erfindungen verschiedener photographischer Verfahren, die Welt und uns selbst realistisch und mittels der Sonne abzulichten – wer es also gründlich und im Detail mag, mit einem Theporie-Ausblick bis in die Gegenwart, der muß unbedingt zu dem von Wolfgang Kemp und Hubertus von Amelunxen herausgegebenen Bandes „Theorie der Fotografie. 1839-1995“ greifen. Dabei aber wollten die Herausgeber dieser vier Bände, die 2006 in einem kompakten Einzelband erschienen sind, „keine Quellensammlung der Theorie-Geschichte, sondern ein „Kompendium aktiver, aktivierender Aussagen“ entstehen lassen – also auch solche Texte von Leuten, die aus der Praxis kommen, werden gezeigt und dazu verschiedene, einander befehdende oder auch ergänzende Theoriestränge. Dabei geht es immer wieder, bis in die Gegenwart hinein, um die Frage, ob Photographie eine Kunst ist und auch, wie es um die Kunst des Realismus in der Malerei bestellt ist – verbunden durch das neue Medium Photographie, das die Verfahrensweise jene Malerei (Futurismus und Kubismus sind eben auch Reaktionen auf die neuen optischen Medien), erheblich tangierte und auch umgekehrt, indem um 1900 und darüber hinaus Photographien nun die Malerei nachahmten: so bei den Piktoralisten.

Dieses Verhältnis von Photographie und Malerei und die Bedeutung der neuen Reproduktionstechnik für die Malerei zeigt sich etwa in Baudelaires Text von 1859 „Die Fotografie und das moderne Publikum“, darin bereits die Frage aufgeworfen wird, die dann 75 Jahre später prominent Walter Benjamin umtreiben wird: wie nämlich durch die Entwicklung einer neuen Technik und dadurch, daß sich Bilder in der Zukunft durch jene Form der Reproduktion massenhaft verbreiten können, es um die Bildende Kunst selbst bestellt ist und wie also die Photographie als solch neues Reproduktionsmedium nicht nur eine unmittelbare und mittelbare Auswirkung auf die Kunst, sondern auch auf die Rezeption und die Vermittlung von Kunst haben wird: Denn nun können jene vom eigenen Wohnort weit entfernte Gemälde betrachtet werden, die z.B. in Museen hängen, zu denen im 19 Jahrhundert nicht jeder unmittelbaren Zugang hatte, weil Reisen nicht nur beschwerlich, sondern auch teuer war. Wer in Washington ein Gemälde aus dem Louvre sehen wollte, war nicht mehr nur auf die Repro im Kupferstich oder auf ein Abmalen angewiesen, sondern konnte damit rechnen, daß ein Bild auch auf einer Photographie anschaulich wurde, wenn auch noch nicht in Farbe. Zu dieser Frage der Bedeutung der Reproduktion ist im übrigen das Buch von Wolfgang Ullrich interessant: „Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen“ (Wagenbach Verlag, 2009).

Will man sich, von den Anfängen der Photographie bis zur Gegenwart, einen generellen und zugleich kompakten Überblick über Geschichte und Positionen der Photographie verschaffen, um dann in die Texte des einen oder des anderen Autor einzusteigen, dann stöbere und lese man in diesem kompakten und klugen Buch. (Glücklich, wer noch die vier Einzelbände besitzt, da diese doch etwas besser in der Hand liegen als der Klotz.) Wer freilich lieber einen schnellen Überblick zum Thema möchte, greife zu „Texte der Theorie der Fotografie“ aus dem Reclam Verlag oder auch Reclams „Kleine Geschichte der Fotografie“; und wer es im philosophischen Detail lesen will, dem sei von Peter Geimer die Einführung bei Junius empfohlen: „Theorie der Photographie“. Für die Fragen der Technik(geschichte), von der Daguerreotypie über das Negativ-Positiv-Verfahren des William Henry Fox Talbot bis hin zur Erfindung der Kleinbildkamera und des Kodakfilms und damit auch der modernen und vor allem schnellen und unauffälligen Photoreportage sei von Beaumond Newhall die „Geschichte der Photographie“ empfohlen (Schirmer/Mosel, zuerst erschienen 1937, dann erweitert 1982)

Mit dem Buch von Kemp/von Amelunxen jedoch wird man im Hinblick auf unterschiedliche Theorie-Aspekte zum Experten bis ins Detail und nicht nur fürs grobe und vor allem bekommt der Leser einen Überblick über die (Theorie)Geschichte des Faches. Den einzelnen Texten sind zudem kleine Kommentare vorangestellt. Man kann also anlesend, stöbernd und flanierend sich durch dieses Buch bewegen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Und dieses Lesen und dieses Wissen ist im Laufe der Zeit dann mehr als nur den Auslöser einer Kamera zu betätigen und mehr, als sich nur Bilder anzusehen, denn in diesem Buch gerät zugleich die Geschichte der Photographie in den Blick, auch in solchen Formen und Versionen, die für unsere Gegenwart und fürs Heute kaum noch vorstellbar sind: angefangen von der Größe der Aufnahmegeräte, mit denen man bis in die 1920er Jahre, als die ersten Kleinbildkameras auf den Markt kamen, sich kaum unauffällig bewegen konnte, so daß das, was wir heute als Straßenphotographie und als gelungenen Schnappschuß kennen, nicht möglich war. Auch dieses technische Wissen und das Wissen um die Möglichkeiten gehört zur Photographie. Ebenso wie der ästhetische Status und der ästhetische Schauer einer Photographie, sei es gesellschaftlich oder auch erinnerungspolitisch, wie das in unterschiedlichen Formen Benjamin und Barthes aufschrieben und wie es insbesondere Barthes in bezug auf das Berührtwerden durch eine bestimmte Photographie festhielt.

Eine Ästhetik des Schreckens oder ästhetische Lust am Schrecklichen? Die Bilder des Krieges (2)

nature-war-beautifulBraucht ein Krieg Kriegsbilder? Für die Heimatfront sicherlich, meist auch für die Propaganda, wenn man seinerzeit an die Wochenschau-Berichte denkt, nicht nur die propagandistischen deutschen während des zweiten Weltkriegs, sondern auch die in der Sache richtigen in den USA und England. Auch für die Berichterstattung, um eine Nachricht  oder eine Reportage zu illustrieren und um zu zeigen, wie es im Wüstenkrieg der US-Army im Irak ausschaut. Kann man Krieg in Photos verklären, und inwieweit beeinflussen Photographien unsere Sicht auf ihn, indem Zeitungen ästhetisch ansprechende Kriegsphotographien drucken statt der Schockbilder? Diesen Vorwurf macht David Shields in seinem Buch „War Is Beautiful“ der „New York Times“. Tim Parks diskutiert in der Besprechung zu Shields Buch die Frage nach dem schönen Schrecken der Bilder. Zu finden ist dieser Beitrag in der New York Review of Books.

Eine alte Frage zwar, doch stellt sie sich immer wieder neu. Nicht erst seit Susan Sontags Kritik an der Photographie oder in Baudrillards provokant zugespitzter These „The Gulf War Did Not Take Place“, die er 1991 über den Irak-Krieg sowie dessen mediale Vermittlung äußerte. Wir sehen nicht mehr das, was ist – als ob je ein Bild das präsentieren könnte  –, sondern medial Vermitteltes, und wie im Falle des Irak-Kriegs abstrakt-absurd anmutende, zugeschlierte  Fernsehbilder: Grüngetönte, mit Nachtsichtgeräten aufgenommen Filmszenen, die angeblich zielgenaue Einschläge von Marschflugkörpern zeigen, Photos wie in einem B-Movie-Science-Fiction oder in einem aufgemotzten, frühen Konsolenspiel. Ohne Opfer, lediglich beschädigte Gebäude und Panzer. Von den Militärs und nicht von unabhängigen Kriegsreportern gelieferte Photos. Krieg kommt plötzlich als Präzisionsarbeit daher; Kriegsbilder passieren, wie schon im Zweiten Weltkrieg die Raster der Zensur, unterliegen einer Auswahl. Schön, schockierend, aufregend im Sinne einer Empörung oder einer Art visuellen Erklärung, geschweige denn irgendwie informativ waren diese Photographien aus dem Irak nicht. Es gab keine Opfer, es gab keinen Gegner. Die Photographien wirkten kalt, leblos, technisch.

Daß Photographien als effektive Waffe gegen den Krieg fungierten und dazu beitrugen, einen solchen Krieg zu beenden, passierte im letzten Jahrhundert ein einziges Mal: nämlich beim Vietnamkrieg, wo sich unkontrolliert und geradezu viral die Photos und Fernsehszenen vom Krieg, Brand und Gemetzel bis ins Wohnzimmer ausbreiteten. Als übten und testen die USA, was Bilder vermögen und als veranstaltete jemand ein Seminar über die Macht und die Reichweite von Bildern. Der Krieg in einem fernen Land wurde auch deshalb verloren, weil die Stimmung an der Heimatfront kippte. Durch Photographien und Fernsehbilder. Insbesondere die Photographien des Massakers von My Lai und jene Photographie des Polizeichefs von Saigon, Nguyen Ngoc Loan, der auf der Straße einem Mann in den Kopf schoß und ihn tötete.

In den Überlegungen zur Theorie der Photographie gibt es zahlreiche Argumente für und gegen solche Schockbilder. Bereits Roland Barthes wies 1957 in seinen „Mythen des Alltags“ auf das Problematische solcher Fotos hin. In Ausstellungen gezeigt, verkunsten sie das ganz und gar nicht in der Kunst Aufgehende. So schreibt Barthes über Kriegsbilder in einer Galerie unter der Überschrift „Schockphotos“, daß dieses Schreckliche fast immer überkonstruiert und effektheischend wirke. Im Grunde erschüttern diese Bilder uns nicht wirklich, die Photographien sind nicht als solche grauenhaft, sondern das Grauen rührt daher, daß wir sie aus unserer Freiheit heraus betrachten. Mit Abstand also, denke ich mir, und es kommt mir in diesen Ausführungen Barthes zur Photographie das Kantische Erhabene in den Sinn, delightful horror, aber aus der Ferne bitte, und zugleich auch erinnere ich mich an den Kleist-Satz im Angesicht von C.D. Friedrichs „Mönch am Meer“ aus den „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ aus den Berliner Abendblättern von 1810:

„Herrlich ist es, in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer, unter trübem Himmel, auf eine unbegrenzte Wasserwüste, hinauszuschauen. Dazu gehört gleichwohl, daß man dahin gegangen sei, daß man zurück muß, daß man hinüber möchte, daß man es nicht kann, daß man alles zum Leben vermißt, und die Stimme des Lebens dennoch im Rauschen der Flut, im Wehen der Luft, im Ziehen der Wolken, dem einsamen Geschrei der Vögel, vernimmt. Dazu gehört ein Anspruch, den das Herz macht, und ein Abbruch, um mich so auszudrücken, den einem die Natur tut. (…)  Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da, (…) und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.“

Spannender Bruch im Blick. Mit Perspektive auf unser Meer im Heute auch im Hinblick auf das Mittelmeer, die Toten und die Kriege. Der Schnitt durch die Augenlider als Beschneidung des Sehens, wie später dann in jener Buñuel-Szene im Film „Ein andalusischen Hund“, gerät hier zu einer Art ethischem Imperativ und zugleich lassen sich solche Fotos eben auch ästhetisch lesen. Reales Grauen.

Bezogen auf den Ausstellungsort der Galerie schreibt Barthes, daß das Interesse, das wir an solchen Bildern nehmen, nicht den kurzen Moment ihrer Betrachtung überschreitet. Es hallen diese Bilder in dieser Situation nicht nach, die Bilder verwirren nicht, setzen unser alltägliches Bewußtsein nicht außer Kraft. Es bringt diese Art von Fotografie, in der sich Kunst und Dokumentation koppeln, uns nicht außer Fassung. Kleist würde das anders sehen. Vieles hängt an der Emphase des Zuschauers beim Schiffbruch. Meeresglück mit Schrecken.

Daß sich kunstmäßige Darstellungsform und Dokumentation teils durchdringen, ist richtig. Dies dies ist bei zahlreichen Kriegsphotographien der Fall – man denke an die Bilder von Robert Capa. Der Kritik von Barthes ist jedoch mit Kleist entgegenzuhalten, daß sich ebenso in der kontemplativen, ästhetizistischen Betrachtung mit dem Schock samt der prompt einschleichenden Gewöhnung zugleich Reflexionen einstellen, die an solche Bilder andocken. Gerade in diesen Prozessen des Denkens, im Verweilen und nicht im flüchtigen Vorbeistreifen an Fotografien, liegt das Potential der Bilder. Und es liegt ebenso im Aushalten dieses Szenarios. Der Betrachter muß sich dem stellen. Ob mit oder ohne Champagnerglas in der Hand.

Die amerikanische Essayistin Susan Sontag verhält sich gegenüber dem Medium Fotografie ebenso skeptisch wie Barthes in jener knappen Skizze. Der Titel ihres 1977 erschienen Buches „Über Fotografie“ müßte eigentlich, wie es der Bildtheoretiker Mitchell einmal sagte, „Gegen Fotografie“ lauten. Erst später, angesichts des Jugoslawienkrieges und in dem Buch „Das Leiden anderer betrachten“ änderte sie ihre Sicht. In jenem Anti-Photographie-Buch spielten für Susan Sontag die Bilder der befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen und Dachau eine zentrale Rolle. Um solcher Ereignisse willen, damit das, was abgebildet wurde, nicht im Wust und in der Flut der Bilder untergeht und so relativiert wird und der Moment des Schocks, der sich unwillkürlich einstellt, gemildert wird, erweist sich für Sontag die Fotografie als das am wenigsten geeignete Ausdrucksmedium, um sich dem Grauen anzunähern. Die Singularität eines (schrecklichen) Ereignisses geht verloren. Es ist die Flüchtigkeit des Bildes. Der Fotografie fehlt in der Sicht Sontags die „narrative Kohärenz“ wie Judith Butler dies in ihrem Buch „Krieg und Affekt“ nennt. Hinzu kommt ein zweiter zentraler Aspekt, der gegen die Photographie spricht: Die „schiere Unersättlichkeit des fotografischen Auges“, so Sontag, verändert unsere Sehgewohnheiten. Angefangen bei den Fotos von Sonnenuntergängen, die allgegenwärtig präsent sind und unsere Wahrnehmung von Natur durch die Allgegenwart solcher Photos anders strukturieren. Ähnliches gilt für die Schockbilder.

Hinzu kommt, daß der Fotografie etwas Lüsternes innewohnt. Sontag schreibt:

„Das Fotografieren hat eine chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt geschaffen, die die Bedeutung aller Ereignisse einebnet. (…) Das Fotografieren ist seinem Wesen nach ein Akt der Nicht-Einmischung.“

Weiter heißt es:

„Obwohl die Kamera eine Beobachterstation ist, ist der Akt des Fotografierens mehr als nur passives Beobachten. Ähnlich dem sexuellen Voyeurismus ist er eine Form der Zustimmung, des manchmal schweigenden, häufig aber deutlich geäußerten Einverständnisses damit, daß alles, was gerade geschieht, weiter geschehen soll. Fotografieren bedeutet an den Dingen, wie sie nun einmal sind, interessiert zu sein, daran, daß ihr status quo unverändert bleibt …“

Das ist sicherlich eines der härtesten, moralisch inspirierten Urteile gegen Fotografie, das eine Theoretikerin der Fotografie über dieses Medium hervorbringen kann. Was dem Fotografen also abgeht, ist das Engagement, die Parteinahme, die Empathie, und vor allem handelt es sich um einen passiven Akt, der das, was nicht sein soll, so beläßt wie es ist. Die Arbeit des Intellektuellen besteht jedoch nach Sontag im Engagement, um gesellschaftlich Schlechtes eingreifend zu verändern. Wer eine Erschießung fotografiert, wie in Vietnam, der ist passiv und verhindert sie nicht, so Sontag.

Was aber zeigen uns die Zeitungen und  die Fernsehbilder vom Krieg? Was dürfen sie drucken und was nicht? In die Tageszeitungen gehören im Grunde genommen die ungeschminkten, ungeschönten Bilder hinein, nicht die unmittelbar ansprechenden, weil es um die harten Fakten geht. Dennoch besitzen auch solche eher verklärenden oder ansprechenden Photographien ihren Reiz, dienen der Information und müssen gezeigt werden. Aufgrund des Kontrafaktischen, weil sich in diesen Bildern ein Widersinn manifestiert und sogar multipliziert, den der Zeitungstext dann herausarbeiten kann: im ungeschönten Beschreiben und sich nicht mit einer Kriegspartei gemeinzumachen.

Schönheit inmitten des Grausamen. Programm jeder Ästhetik und jeder Kunst, die inmitten der Welt den Riß und den Bruch ausmacht. Ja, es gibt diese schönen Kriegsphotographien – schön nicht unbedingt vom Sujet her, aber doch durch die Komposition des Bildes. Man denke an Capas Bilder von der Landung in der Normandie, und selbst jenes Photo vom ersterbenden, fallenden Soldat im Spanischen Bürgerkrieg – eines der ikonischen Photographien – zeigt so etwas wie eine Schönheit des Schrecklichen. Man kann es auch mit dem Begriff „Ausdruck“ benennen: die Photographie besitzt eine Intensität.

Neben solchen Photographien der Intensität gibt es Kriegsbilder, die wirken,  weil sie Absurdes zeigen und vor allem, weil sie extra für die Inszenierung gemacht sind und weil sie als Show für die anwesende Presse und damit auch für die Heimatfront dienen. Wir müssen insbesondere solche Photographien zu lesen und zu betrachten lernen, die nicht nur ikonographischen, sondern vor allem manipulativen Charakter haben. Etwa oben das Bild aus dem Irakkrieg, wo George W. Bush 2003 zum Thanksgiving den Soldaten einen Truthahn mit Früchten serviert. Inszenierte, vorgetäuschte Spontaneität. Das Obst ist aus Plastik, das Tablett scheint sich unter der Last zu biegen, doch der Vogel ist nicht echt und kaum zum Verzehr bestimmt. Ein bukolisches Lügen-Idyll, eine symbolische Lügen-Szene.

Anders verhält es sich mit den Photographien, die Grausames zeigen und dennoch ihren Reiz entfalten. Trümmerlandschaften, die wie hergerichtet wirken. So etwa in Jeff Walls inszenierter Photographie „Dead Troops Talk“ (nachzusehen unter dem Link). Tote, die in einer Grube zu ruhen scheinen. Wir aber sehen und denken zugleich: Diese Männer sind ja gar nicht tot. Sie sind es aber und sie sind es eben doch nicht, weil Walls Photographien inszeniert und nachgestellt sind. Damit spielen sie mit der Referenz: es sind diese Photographien kein Dokument, sondern, wie auch ein Schlachtengemälde von Eugène Delacroix, die eine Fiktion zeigen. Eine Fiktion freilich, die genausogut wahr sein könnte, weil sie uns etwas Exemplarisches zeigt. Walls Photographie referenziert insbesondere auf Duane Hansons 1967 gefertigter Arbeit „War, Vietnam Piece„. (Nachzusehen unter diesem Link). Ein Objekt, das tote und verwundete Soldaten uns zeigt. Die Bezüge der (inszenierten) Wall-Photographie zu Hansons Kunst-Objekt sind relativ evident. Nur daß sich das, was bei Hanson ein Ausschnitt ist, bei Wall zu einem Tableau, einer gleichsam malerischen Ansicht in Photographie weitet, die uns eine Realität zeigt, die wie photographisch-dokumentiert wirkt, es aber doch nicht ist. Bei Jeff Walls Bild durchdringen sich das Dokumentarische, das Ästhetische und das Darstellen der Kunst mittels Komposition und Phantasie, indem ein Künstler ein Bild inszeniert, das dann einen Eigenwert enthält.

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Bilder von roher Gewalt, vom Schreckliche, vom Terror gibt es nicht erst, seit die Photographie zum Medium tagesaktueller Berichte wurde. Immer schon delektierten Menschen sich an Exzeß-Szenen im Modus des Ästhetischen, oder aber sie flößten ihnen unbändigen Schrecken ein und sollten dem Publikum auch genau diesen Schrecken einflößen, indem diese Darstellungen die Höllenszenarien und Verdammungen vor Augen führten.

In der bildenden Kunst des Christentums, des christlichen Europas hatte das Grausame früh seinen Ort. Ob bei Hieronymus Boschs Höllen- und Lustfahrten, die eher dem Bestiarium entsprangen, oder in einer der wohl extremsten Kreuzigungsszenen der Kunstgeschichte, nämlich der des Isenheimer Altars, die uns einen leidenden, am Kreuz verwesenden grüngelben Leib zeigt. Blut strömt aus der klaffenden Wunden, Fleisch ist zerrissen, der Körper ausgemergelt, mehr tot bereits als lebend. Wobei sich, dies muß dazu gesagt werden, dieser Altar keineswegs in einer Ästhetik des Schreckens erschöpft, sonder vor allem dient er im Gottesdienst einer symbolischen Illustration und einer Veranschaulichung des biblischen Geschehens für eine in der Regel des Lesens unkundigen Gemeinde. Die verschiedenen Öffnungsszenen des Objekts zu den unterschiedlichen Anlässen des Kirchenjahres weisen über eine bloße Ästhetik und über eine rein ästhetische, genießende Einstellung, wie wir sie heute hegen, hinaus. Trotz aller Ästhetik des Schreckens, wie wir sie heute wahrnehmen und die damit zugleich trotz Grauen etwas Schönes ist, war dieses Bild in einen sakralen und dadurch mit Walter Benjamin gesprochen in einen auratischen Kontext ausgestellt.

Aber nicht nur in den metaphysisch-theologischen Leid-Darstellungen stoßen wir auf den Schrecken, sondern ebenso begegnen wir ihm in den profanen Werken der Bildenden Kunst, wenn im Sinne des Realismus und als Appell ans Humane das Grauen des Krieges dokumentarisch ins Bild gebracht wurde. Drastisch in  Jacques Callots „Les misères de la guerre“ und  in Goyas „Desastres de la Guerra“. Doch spiegelt Kunst – sei sie auch dokumentierend – eine Realität wider? Das tut sie nicht einmal in ihren realistischen Varianten; noch der Realismus der bildenden Kunst ist – trivialerweise – nicht realistisch. Bilder repräsentieren nur bedingt. (Ich will die die Strategien der Repräsentation jedoch nicht umfassend in die Kritik nehmen, wie es in der Logik mancher Postmoderner der Fall ist. Es geht mir lediglich um einige einschränkende Bedingungen.) Den äußeren Bildern entsprechen innere. Bilder spiegeln unsere Sicht auf Realität, aber – trivialerweise – nicht diese selbst. Bilder und die Kunst überhaupt stellen eine Welt eigener Art ins Werk, darin liegt die Wahrheit der Kunst gegründet, die sich nicht bloß auf den Modus ästhetischer Erfahrung reduzieren läßt – heute ist das für viele aus jenem neoevangelikalen, neocalvinistischen Milieu der Linken nicht mehr klar. Es zeigen uns jene Bilder Weisen der Wahrnehmung, die mit ästhetischer Wahrheit korrespondieren. Kunst weiß etwas, das wir noch nicht wissen – zumindest nicht diskursiv. Eben das von Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“ genannte Verhältnis von Sagen und Zeigen, von diskursiver und ästhetischer Wahrheit. Dieses Spiel zwischen Diskursivem und Deiktischem, zwischen Wissen und Entzug macht, insbesondere im Sinne Adornos, den Rätselcharakter des Kunstwerks aus. Wobei dieser Rätselcharakter bei Adorno wesentlich an Werk und weniger ans Subjekt gebunden ist. Solches Verrätseln geschieht nicht in dem Sinne, wie ein Mensch sich ein Rätsel ausdenkt, das er dann einem anderen aufgibt.

Medusa

Diese Logik kompositorischer Verdichtung und Transformation des Dokumentarischen, aber auch eines ästhetischen Überschusses gegenüber den kruden Fakten, ist etwa an Théodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“ (1819) zu sehen, wo ein historisches Ereignis dramatisch und dramaturgisch in einer einzigen Szene derart aufgeladen wurde, daß es auf dem Pariser Salon von 1819 einen Skandal hervorrief. Nicht mehr Könige und Helden zu Pferde, griechische Nymphen und antike Götter, historische Schlachten (die Franzosen hatten 1815 gerade eine entscheidende Schlacht verloren) oder Einschiffungen nach Kythera und galante Feste bildeten das Sujet. Sondern die Leiderfahrung derer ohne Namen und göttlichen Stammbaum. Geblieben ist lediglich der Name und der Schrecken der Medusa, zugleich der Name des Schiffes, auf dem die Unglücklichen segelten und insofern eine Mehrdeutigkeit, die nur der Zufall erfinden kann. Insofern kann man in diesem Kontext gut davon schreiben, daß Nomen eben Omen sei. Nämlich die gescheiterte Rettung Schiffbrüchiger von der 1816 im Atlantik gesunkenen französischen Fregatte „Méduse“. Vor der Küste Westafrikas spielte sich dank eines, so steht zu vermuten, inkompetenten Kapitäns ein Seefahrtsdrama ab. Die „Méduse“ lief auf ein Riff, an ein Freikommen war nicht zu denken. Da die Rettungsboote nicht ausreichten, baute man aus den Schiffsteilen ein großes Floß. Das weiße Personal, Handwerker, Offiziere retteten sich in die Beiboote. Für die übrigen, solche, die wir heute Underdogs nennen, blieb das karge Gefährt übrig. Söldner des afrikanischen Korps, Exhäftlinge, Nicht-Europäer; die einzige Frau dort war eine Marketenderin. Das Floß wurde an eines der Rettungsboote vertaut. Doch die im Boot kappten das Seil schließlich, so daß die Ansammlung aus Holz und Mensch ohne Steuerung über den Atlantik trieb. 147 Seelen auf engstem Raum. Die, die am Rande kauerten, mußten damit rechnen ins Meer gespült zu werden. Ein schrecklicher Überlebenskampf. Vor Hunger verspeisten sich die Schiffbrüchigen gegenseitig – der in solchen Fällen übliche Kannibalismus. Überlebenstrieb. Man erschoß 65 der Passagiere, warf Schwache ins Meer. 15 Menschen überlebten die Floßfahrt.

Als in Paris das Publikum dieses Gemälde sah, war es empört. Über das Bild, über das Sujet und das solches Elend plötzlich Gegenstand der schönen Kunst wurde. Doch nicht ein Bild ist Skandal, sondern das, was einem Bild zugrunde liegt. Das Reale, die Geschichte, die Wirklichkeit. Das sich Entziehende, Unabbildbare. Und dieses ist zudem kein Fatum, sondern von Menschen gemacht.

Die Condition humaine erweist sich in den Krisen als fragil, und der Lack der Zivilisation ist dünn aufgetragen. Freud machte sich in diesen Dingen keine Illusion. Das Unbehagen an der Kultur ist zugleich das an der menschlichen Unkultur. Und doch sollte man solches nicht als Wesensbestimmung lesen, sondern eher als eine Beschreibung, die auch andere Möglichkeiten bereithält.

In diesen Bildern des Grauens und in manchem radierten oder in Malerei ausgefahrenen „Dokument“ finden wir das, was sich mit dem Titel „Die Erschütterung der Sinne“ bezeichnen läßt, wie 2013 eine Ausstellung im Dresdener Albertinum benannt war. Bilder, die uns angehen. Im  mehrfachen Wortsinne. Doch dieser Erschütterung unserer Wahrnehmung – sofern sie im musealen Kontext überhaupt noch möglich ist und nicht zur Behaglichkeit regredierte – wohnt zugleich jener feine ästhetizistische Lustreiz und Kitzel inne: der delightfull horror. Zumindest solange wir ins Grauen nicht involviert sind und die Möglichkeiten zu einer rein ästhetischen Haltung entwickeln, die wie beim Lukrezschen und Kantischen Konzept des Erhabenen auf einem Abstand beruht.

Interessant scheint mir dieser gleitende Blick insbesondere bei der Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust“ im Deutschen Historischen Museum. Zu sehen sind dort Grafiken, die im Geheimen von Häftlingen aus verschiedenen KZs, Arbeitslagern und Ghettos gezeichnet wurden. Aber ist es nicht vermessen, diese Zeichnungen mit dem Auge des Kunstkritikers zu betrachte und nach den Regeln der Kunst in ein Feld einzuordnen, das eben am Ende doch auch, trotz aller Dokumentation, ästhetisch ist? Es sind Kunstwerke und es sind zugleich Dokumente. Zeigen, wie es war. Mit dem Kunsthistoriker Didi-Huberman geschrieben, in bezug auf Photographien aus Auschwitz von den Verbrennungsöfen und vom Töten: „Bilder trotz allem“. Bilder als visuelle Dokumente, von einer Sache, die bisher nur in den Erzählungen der Überlebenden überliefert war. Bilder von Unglaublichem und Unfaßbarem.

Dennoch betrachten wir jene Bilder im Historiischen Museum eben auch als Kunstwerke. Weil sie es sind. Anders als jene in Didi-Hubermans Buch (und auch in einer Dokumentation über die Shoah) gezeigten Photographien aus Auschwitz-Birkenau. Kriegsphotographien hingegen leisten im Feld des Abbildrealismus den Schock- und Schönheitsmoment meist auf eine andere Weise noch. Diese Art von Photographien gibt es in verschiedenen Varianten. Seien es Photos, die einen verklärten Abdruck liefern und Kriegsszenen idealisieren (man denke auch das das Bush-Bild mit dem Truthahn zu Thangsgiving), wie wir sie häufig in Zeitungen und im Fernsehen vorgesetzt bekommen, was David Shields kritisierte. Bis hin zu Extrem und Drastik: Leichen und separierte Körperteile, Sterbende, auf einem Not-OP-Tisch Verblutende. Zerfetzte wie der Leib Christi am Kreuz, nur nicht gemalt, sondern hart am Limit photographierte Szenen wie wir sie in Christoph Bangerts Kriegsphotobuch „War Porn“ oder in Stanley Greenes „Black Passport“ uns betrachten können. Photographien aus der Hölle. Was sie von Kunst unterscheidet, ist ihr Status: Sie sind oder sie bleiben reines Dokument, selbst da, wo man sie in Ausstellungen zeigt und wo sie einen gewissen Reiz hervorrufen könnten. Man kann davor mit einem Glas Champagner stehen. Man kann diese Bilder sogar genießen, selbst die schrecklichsten: als Form der Dekadenz, der Gedankenlosigkeit, aber eben auch als Protest gegen eine Betroffenheitsunmittelbarkeit, die als eingeschliffene Verhaltensweise einen instrumentellen Zug hat und in den Kitsch der guten Gesinnung übergleitet. Wie auch immer man sich zu diesen Photographien aber verhält: Ihre Referenz bleibt die Realität – selbst dann, wenn wir nicht die Geschichten kennen, die hinter solchem Tod stecken.

Copyrightnachweise

Bild 1 entnommen von The New York Review of Books:
»Ozier Muhammad/Redux
A US marine convey, north of the Euphrates, Iraq; photograph published in The New York Times on March 26, 2003, and included in War is Beautiful«
Bild 2: Reuters/Niedringhaus, aus: SpOn.
Bild 3: Bersarin, 2011, im Musée d’Unterlinden, Colmar
Bild 4: CC-Lizenz, Wikipedia.

„Raising the Flag on Iwo Jima“. Die Bilder des Krieges (1)

„Flags of Our Fathers. Heroes of Iwo Jima“  wie ein patriotischer Roman von James Bradley und Ron Powers hieß und dann von als “ Flags of Our Fathers“ von Clint Eastwood 2006 verfilmt wurde. Der Wille zum Sieg, und zu diesem gehören Pathos und auch jene Helden samt ihren Mythen. Einerseits. Andererseits ist und bleibt jeder Krieg schrecklich. Und auch das steckt eben etymologisch im Wort „Pathos“.

Wie betrachten wir jene Photographien vom Krieg? Ist dies eine Ästhetik des Schreckens oder ästhetische Lust am Schrecklichen? Oder ein Schrecken, der keiner Ästhetisierung fähig ist?  Eigentlich eine rhetorische Frage, mit der ich einen älteren Beitrag von 2016 und insbesondere dessen Titel noch einmal ausgraben und überarbeiten will. Und da es in diesem Essay um Kriegsphotographien ging, möchte ich ihn zudem auf die ikonisch gewordenen Photographie „Raising the Flag on Iwo Jima“ von dem Associated-Press-Photographen Joe Rosenthal beziehen, wovon dann hier der erste Teil gegeben wird. Denn vor 75 Jahren, gestern am 26. März 1945, wurde die japanische Insel Iwo Jima von der US-Army endgültig erobert, nachdem dort das US-Marine-Corps am 19. Februar 1945 anlandete. Der Krieg im Pazifik war blutig, zumal die USA den Hauptteil ihrer Ressourcen für den Krieg gegen Hitler in Europa einsetzten und also für den Krieg in Asien nur begrenzte Kapazitäten besaßen.

Die etwa 24 km² große Vulkan-Insel war strategisch wichtig, denn sie lag nur 1.200 km von Tokio entfernt und war damit der ideale Ort, um dort B-29-Bomber zu stationieren, die dann Tokio angreifen und bombardieren konnten. Der Kampf um diese Insel, wie auch der um all die anderen eroberten Pazifik-Inseln war grausam. Die Verlustzahlen waren hoch.

Joe Rosenthals „Raising the Flag on Iwo Jima“, für das er den Pulitzer-Preis erhielt, ist eines dieser seltsam-faszinierenden Bilder vom Krieg. Es zeigt nichts vom Grauen des Krieges, sondern liefert eine Grundstimmung fürs Patriotische. Es evoziert Schönheit inmitten des Krieges, Heldentum, Pathos und zugleich zeigt es den realen Krieg und dessen Zerstörungen lediglich in Andeutungen. Wir sehen Trümmer- und Schuttberg im Vordergrund: Holz, Geäst, Metall, was auch immer da liegen mag, eine amorphe, kaputte Masse – aber nur noch als Untergrund. Zentral bleibt die Figurengruppe. Ein Kriegsmotiv als Ikone.

Auch Robert Capas legendäre Photographie von jenem 1944 in der Normandie am Omaha-Beach landenden Soldaten (Bild siehe Link) zeigt im Grunde nicht den Krieg und dessen Grauen, sondern eine einzelne Szene. Und wegen eines Entwicklungsfehlers des Laborassistenten in London kam in das Bild durch die Unschärfe, die Grobkörnigkeit und die Überbelichtung eine Dynamik, die ein „realistisches“ Bild von der Landung am Strand der Normandie in dieser Weise kaum erreicht hätte. [Zu Capa auch meine Kritik von der Ausstellung 2015 in Dresden.] Der Stil des Bildes, die Stärke in der „Komposition“ entstanden durch Unvollkommenheit, durch Pfusch am Ende und also durch einen Zufall, der der Kunst und damit der Ästhetik der Photographie ungeahnt zur Hilfe kam und damit ebenfalls eine ausdrucksstarke Ikone der Kriegsphotographie schuf. So geschah durch einen technischen Fehler (aber sicherlich auch durch die Situation als solcher, der Capa direkt ausgesetzt war, immerhin sprang er zusammen mit den GIs ans Ufer) ein dynamisches Bild des Krieges, das das Gemetzel und damit den Schrecken und das Grauen bei der Anlandung am Atlantikstrand zumindest ahnen läßt und über die Komposition der Photographie samt deren Unfertigkeit ja ihrer Kaputtheit diese Anspannung und die Heftigkeit der Schlacht gut evoziert. Das Gesicht des anlandenden Soldaten allenfalls schemenhaft zu ahnen. Anonym. Ein entstelltes Bild zeugt genau von jenen Entstellungen des Krieges und von der Heftigkeit. Die „Erschütterung der Sinne“, wie 2013 der Titel einer Ausstellung in Dresden lautete.

Anders aufgebaut ist Rosenthals Bild. Das Zentrum der Photographie bildet jene Gruppe aus Soldaten. Fast ein Altarbild, wie eine Kreuzabnahme, es wirkt wie choreographiert, überhöht fast, und ist es doch nicht, sondern da löste ein Photograph anscheinend exakt im richtigen Moment aus. Und aufgrund dieser fast schon perversen Perfektion vielleicht auch der Verdacht der Inszenierung dieses Bildes, so exakt wie es komponiert ist und dadurch seine Wirkung entfaltet. Eine Photographie wie ein antikes Relief. Auf den Punkt genau, so daß da ein harmonisches Ganzes entstand – Linienführung, Proportionen und Dynamik tarieren sich aus. Eine Diagonale, die der Photographie ihre Struktur verleiht. Die einzelnen Individuen, die Soldaten, verschmelzen zu einer Gruppe. Ein Hintergrund, der ruhig wirkt und nicht ablenkt, aber doch durch ein paar Wolkentupfer  und den durchschimmernden Himmel aufgelockert, so daß dieser Hintergrund keine monotone Fläche bildet. Der Blick verweilt dort kurz, klebt aber nicht fest, wird nicht durch äußere Details abgelenkt  und gleitet sogleich wieder zu der Figurengruppe zurück.

Die Photographie entstand am 23. Februar 1945. US-Truppen betraten hier im Pazifik-Krieg zum ersten Mal japanischen Boden. Der erloschene Vulkan Suribachi war eine der zentralen und strategisch bedeutsamen Verteidigungsstellungen der Japaner. Nachdem die US-Marines am 23. Februar diese Artillerie-Stellung eroberten, sollte dort die US-Fahne gehisst werden. Der Bataillons-Führung, die vom Strand aus die zunächst viel zu kleine Fahne sah, befahl, eine deutlich größere Fahne aufzuziehen. Es machte sich ein neuer Trupp Soldaten auf den Weg. Und so hatte Rosenthal das Glück seines Lebens. Der immer wieder getätigte Vorwurf, die Photographie wäre gestellt gewesen, hat sich als unwahr erwiesen.

Die Dynamik des ersten und ursprünglich vom Kriegsphotographen Lou Lowery aufgenommenen Bildes ist eine ganz andere: weniger patriotisch, allenfalls die Fahne im Hintergrund zeugt davon, weniger Pathos in der Positur der Menschen um die Fahne herum, sondern vielmehr pragmatisch situiert. Das Kampfgeschehen ist noch unmittelbar zu ahnen, insbesondere durch jenen Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag – das einzige Spannungsmoment in dieser Photographie, sieht man einmal von der Perspektive ab, die die Szenerie von schräg-unten abbildet. Die Soldaten im Hintergrund wirken routiniert und gleichgültig: man tut, was man tut. Die zweite Aufnahme hingegen ist ganz auf die Fahne der USA konzentriert und dazu auf die Bewegung der Soldaten als eine ineinander verschmolzene Gruppe. Wie aus der Erde, dem Geröll und den Trümmern herausringend hissen sie da auf jenem Berg jenes Star Spangled Banner. Jede Bewegung und die Anordnung im Bild läßt bereits das Monument ahnen: es ist eine Pose, ein Ausdruck.

Man könnte für diese Frage der Darstellung auch Lessings „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“ lesen: wie nämlich bestimmte Kunstgattungen bestimmte Szenarien (Handlung und Charaktere etwa) gelungen ins Kunstwerk bringen. Wie auch in der Laokoon-Gruppe findet sich in Rosenthals Bild Dynamik, Spannung und zugleich ein festgeforener, gebannter Augenblick. In der Photographie von Rosenthal wird der Krieg selbst abstrakt und auch die Soldaten werden es – auch wenn man hinterher versucht hat, ihre Namen für die Kriegsbegeisterung nutzbar zu machen und mit ihnen für die dringend nötigen Kriegsanleihen zu werben. Mittels dieser Komposition und eben auch durch das Glück, im rechten Moment den Auslöser gedrückt und diese Szenerie geahnt zu haben, geriet jene Photographie von Joe Rosenthal plastisch. Sie wurde auf dem US-amerikanischen Militär- und Nationalfriedhof Arlington zur Skulptur verwandelt und geriet zum Heldendenkmal. 

Braucht ein Krieg solche Bilder? Für die Heimatfront sicherlich, und auch für einen Krieg, der gegen Diktaturen geführt wird, sind die Einübungen in Munterkeit oder zumindest ein Antidot zur Verzweiflung und zur Resignation angesichts der Opfer erforderlich. Selten aber laufen Geschichte und Ästhetik rund. Eine ästhetisch perfekte Photographie vom Krieg, ohne Ecken und Kanten, ohne Tücken, eignet sich nur leider auch zum Hurra-Patriotismus. Das eben ist das Fatale der Schönheit, die wir bewundern und die doch im formschönen Körper und im auskomponierten Bild immer auch zum Mißbrauch einlädt. Die Frage, ob Kriegsphotographien gelungene Kunst sein können, sollten wir dabei immer im Auge behalten – auch für den zweiten Teil dieses Essays.

Nicht ganz zu vergessen ist bei solcher Helden-Monumental-Photographie das Schicksal eines dieser Soldaten, die die Fahne aufstellten. Und zwar der 1923 im Indianerreservat geborene Ira Hamilton Hayes, ein Pirma-Indianer, der später im zweiten Weltkrieg beim US-Marine Corps diente. Von den sechs auf der Photographie abgebildeten Soldaten überlebten, nach Wikipedia, lediglich Harold Schultz, Rene Gagnon und Ira Hayes. Bei Wikipedia heißt es zur Vita weiterhin:

Nach dem Ende des Krieges verlor diese Maßnahme an Bedeutung und Hayes kehrte auf Umwegen in das Indianerreservat zurück, aus dem er stammte. Er kam mit dem Ruhm, den die sechs Flagraisers praktisch über Nacht besaßen, nicht zurecht. Später litt er an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Dadurch verfiel er dem Alkoholismus und wurde insgesamt 51-mal wegen Trunkenheit verhaftet. Über das Hissen der Flagge auf dem Berg Suribachi verlor er kaum noch Worte, über seinen Dienst im Marine Corps sprach er jedoch immer voller Stolz. Hayes plagten Gewissensbisse, dass sein Freund Harlon Block, der beim zweiten Hissen der Fahne auf dem Foto war, fälschlicherweise mit Henry Oliver „Hank“ Hansen verwechselt wurde, der beim ersten Hissen auf einem anderen Foto war. Deswegen trampte er 2000 Kilometer zu der Farm der Blocks, um diesen Irrtum zur Freude und Dankbarkeit der Familie Block aufzuklären.

Hayes sah sich nicht als Held und verschmähte seinen ungewollten Ruhm. Als ihn 1954 bei einer Ehrung durch Präsident Dwight D. Eisenhower im Weißen Haus ein Reporter fragte, wie ihm der Pomp und die Umstände gefielen, antwortet er mit gesenktem Kopf: „Gar nicht“.

Ira Hayes wurde wenige Tage nach seinem 32. Geburtstag tot neben einer verlassenen Hütte in der Nähe seiner Wohnung aufgefunden. Er lag mit dem Gesicht nach unten in seinem eigenen Erbrochenen und Blut. In der Nacht zuvor hatte er mit anderen Männern, darunter seine Brüder Kenny und Vernon sowie einem Pima-Indianer namens Henry Setoyant, Karten gespielt und dabei Alkohol getrunken. Mit Setoyant soll es zu einem Handgemenge gekommen sein, woraufhin das Kartenspiel abgebrochen wurde und nur Hayes und Setoyant zurückblieben. Der Gerichtsmediziner kam zu dem Schluss, dass Hayes durch die Kombination von Unterkühlung und Alkohol zu Tode gekommen war. Allerdings bleibt sein Bruder Kenny überzeugt, dass der Tod etwas mit dem Handgemenge zu tun hatte. Es gab aber keine amtliche Untersuchung und Setoyant bestritt jegliche Vorwürfe, dass er mit Hayes noch eine Schlägerei hatte, nachdem alle Spieler fortgegangen waren.

Ira Hayes wurde auf dem Nationalfriedhof Arlington beigesetzt.

Auch diese Hintergründe scheinen mir für solch eine Photographie nicht ganz ohne Bedeutung, und (ungewollte) patriotische Ikonen und Helden für fünf Minuten geraten nach solchen Kriegen schnell in Vergessenheit.

Wieweit wiederum eine Photographie wie die von Rosenthal in Kunst verwandelt werden kann, zeigt Edward Kienholz‘ „The Portable War Memorial“ (siehe Link) aus dem Jahr 1968. Wir sehen eine Kunst, die jenen Pathos implizit kritisiert und teils auch ins Lächerliche bringt oder zumindest mit einer gewissen Komik konfrontiert, wenn da ein hochemotional-patriotisches Narrative wie das vom Sieg in Iwo Jima und banaler Alltag innerhalb dieses Environments (oder ist es noch eine Skulptur? Auch hier bei Kienholz stellt sich die Frage nach den Gattungsgrenzen innerhalb der bildenden Kunst) zur Anschauung gebracht werden. Kienholz gab seinem Werk eine einzige Gebrauchsanweisung nur mit: Man muß es von links nach rechts „lesen“, und er gab den Betrachterinnen und Betrachtern eine inhaltliche Gliederung mit auf den Weg: links die Propaganda-Bilder, der Uncle Sam, Katie Smith, die in einer Art Mülltonne dargestellt wird, singt von einem Tonband in Dauerschleife „Good Bless America“, die Soldaten erreichten die Fahne auf einem Campingtisch und nicht auf dem Gipfel des Vulkans. Rechts, so Kienholz sehen wir „The business goes on“. Jene Imbiß-Atmosphäre, irgendwo in den USA. Und über alledem liegt in Wiederholung jener Song. Kienholz bringt in seinem Environment – unter anderem – auch jenen kulturindustriellen Umgang mit dem spezifischen US-Patriotismus zum Bewußtsein. Eine Fahne, die auf einem Camping-Tisch errichtet wird, mag nicht einmal mehr vordergründig patriotisch stimmen, sondern zeigt die Entleerung eines Rituals. Die Einmaligkeit und das Erhebende solcher Hymnen, Bilder und patriotischen Szenarien ist am Ende nichts als eine Inszenierung.

Dennoch wurde Kienholz‘ Werk immer einmal wieder der juristische Vorwurf des Fahnenmißbrauchs gemacht. Was aber in diesem Falle – und man kann das auch an Jasper Johns Kunstwerken des Star Spangled Banner sehen – ohne Rechtfertigung und ohne Grund ist, denn das Bild einer Fahne oder dessen Abbild in einer Skulptur ist nicht die Fahne selbst.

Was als Werk für den Alltagsgebrauch einstmals als Pathos mit Patriotismus konzipiert war, insbesondere in jener Arlington-Skulptur des US Marine Corps War Memorial nach einem Entwurf von Felix de Weldon, darin jene Inschrift: „IN HONOUR AND MEMORY OF THE MEN OF THE UNITED STATES MARINE CORPS WOH HAVE GIVEN THEIR LIVES TO THEIR COUNTRY SINCE NOVEMBER 1775“. Die Skulptur des Memorials wurde nach jenem Photo von Rosenthal geformt, Krieg als Pathos, als Passion,  als Pomp und als Heldenmut ausgestellt und zugleich soll sie die Trauer-Herzen ergreifen und verführen und damit täuscht sie die Menschen zugleich über das Mörderische eines Krieges  – noch ein gerechter Krieg ist ein grausamer: die Mütter, die um ihre Söhne weinen und jene Frauen, die um ihre Männer klagen, wissen es -, wird bei Kienholz zur Pop-Art, zum reproduzierbaren käuflichen, transportierbaren Accessoire, wie er auch auf Postern und auf Merchandising-Objekten mit kleinem Geld und also billig zu erstehen ist: Tassen, Teller oder Photos, die jenes Rosenthal-Motiv ungezählt reproduzieren und als Pathos-Kitsch verbreiten. Eine Dialektik von Auf- und Abwertung. Singularität im Heldentum und Käuflichkeit in einem. Und zugleich ist diese ikonische Photographie von Joe Rosenthal in ihrem Aufbau immer noch schön. Doch bedarf sie eben auch der Ergänzung und lädt die Kunst nachgerade ein, im Sinne des Zitates und der Zitation, die das Wesen der Kunst ausmachen, nämlich auch als Selbstreflexivität aufs eigene Genre, solches in Werken weiterzutreiben.

Kienholz‘ Environment zeigt zudem, daß es eine politisch gelungene Kunst geben kann, die nicht einfach mit dem Zeigefinger kommt und moralisch unterkomplex dem Betrachter im Sinne des betreuten Denkens oder des sensitivity Readings sagt, was wir zu interpretieren und zu denken haben, sondern die in ihrer Überdeterminiertheit unterschiedliche Les- und Betrachtungsarten dieses Werkes ermöglicht. Vom American Way of Life bis hin zur Pop-Kultur, vom Ikonographischem bis hin zum Artifiziellen. Pathos zugleich, der sich auch beim Kienholz in der Dramatik der Fahnenszene zeigt: ein umgekippter Campingstuhl. Selbst im Alltag gehen die Dinge nicht immer leicht von der Hand. Und ins Normale bricht das Unheimliche.

Copyrightnachweise

Alle Photographien: CC-Lizenz, Wikipedia

Naturschönes und Photographie – Bamberg, Jänner

Im Hain, im Bamberger, rauschen die Wasser am Wehr. Spazieren im Abend und schauen. Die Luft ist diesig, sie trieb ins kühle Rot, im Winterlicht, hin zur Dämmerung. Wenn die Bäume ohne ihre Blätter stehen, zeichnen sich Äste und Zweige deutlich gegen den Himmel, sie ragen kahl, kalt, klar und schön in den frühen Abend des Januars. Kein Duft mehr von Herbst. Winterhauch. Deutsche Romantik, so könnte man meinen. Ja. Auf alle Fälle. Kaltromantik, wie ich sie schätze. Davon kein Bild machen, keine Photographie. Diese Szene mit Fluß, Bäumen und den im Wasser gespiegelten Häusern einer Ortschaft nur sehen. Eine Landschaft als Landschaft.

Davon ab freilich, daß die literarische, die ästhetische Romantik mehr als Schauen, Schatten und Sehnen ist, daß sie keine Stimmung bezeichnet – oder wenn, nur bedingt – oder gar, daß sie, wie jüngst die „Debatte“ um Simon Strauß zeigte, böse-politisches Flüchten ins Nazi-Ästhetische der geheimen Reiche, wenn nicht gleich Vorlauf zum Rechtsradikalen sei. „Glaube und Liebe“, wie eine Schrift von Novalis heißt, mag vom Titel innerlich klingen, aber das ist von Novalis ganz und gar politisch gedacht. Heute ist es meist Liebeszauber mit Einsamkeitsmelancholie, was viele ins Bedeutungsfeld „Romantik“ hineinlesen, ein hochgeschraubter, nicht einmal unsympathischer Pathos, nur mit Romantik, mit der ästhetischen, literarischen hat solcher Budenzauber nichts zu schaffen. „Wir werden die besten einsamen Menschen aller Zeiten sein“, wie die Band Wanda sang? Das sind Surrogate der Popindustrie, auch wenn sie schön klingen. Als der Tag mit einer Rasierschnittwunde begann, wie Simon Strauß andenkt? Warum nicht? Aber meist ist es doch nur eine Rasierschaumparty auf Malle bei den jungen Leutz, zum Lenz reicht‘s nimmer. [Aber diese Straußsche Haltung ist immer noch sympathischer als Rotzlöffelinks von Belehrungstaz und Trivialrechts aus Schnellroda.]

Es schneit in die Parklandschaft, so stelle ich sie mir vor, während ich abends durch den Bamberger Hain spaziere. Der Gemahl der Schneekönigin gleitet durch den Winter, weitgereist von Tromsø, Norway. Kafka im Eis, ich liebe den Schnee, ich liebe das Verb schneien. „Es schneit“ kann man nur sagen, nicht: ich schneie, du schneist, er schneit, wir schneien. Nur: ‚Es schneit‘ ist vom Sinn her korrekt sagbar. Kein wir, kein du, kein ihr, kein ich, lauter Es. Klingt wie Eis. Nicht der Wörtersüden, den Rolf Dieter Brinkmann im Voyageurs Apt. 311 in Austin, Texas sich erschrieb und imaginierte, als wüste Dichtungsfläche, in der wilden und wunderbaren Assoziation der Bezüge, sondern Kaltnord. Norden erinnert mich an Kühe auf der Weide, an die Weite der Felder, die doch durch die Landschaftsknicks zwischen den Feldern begrenzt ist, an Regen und den Matsch auf Wiesen, an Eichen- und Mischwälder, Marschland und eine See, die an den Strand brandet, und natürlich an die Elbe bei Hamburg. Fiktion Norden.

Manchmal sehen wir, sofern wir eine Landschaft betrachten, diese Natur-Szenen, die doch Leben und keine Kunst sind, unter der Optik der Malerei, wir komponieren Gemälde hinzu, Caspar David Friedrich bietet sich – naturgemäß – an, um für den Blick einen Rahmen von Referenz zu setzen, wie wir eine Landschaft interpretieren, wenn wir sie auf uns wirken lassen. (Gingen auch Jackson Pollock oder Cy Twombly? Ad Reinhardt wäre wohl eher für die Nachtlandschaften gut. Dazu später.) Schauen durch die Augen anderer? Ebenso eignet sich dazu Carl Blechens (Post)Romantik – Natur mit Hüttenwerk als Schnittwunde. Kaltschnee im Januar, ein Frostblick.

Ist das noch Romantik der Landschaft oder schon ein neues Sehen, wenn Heinrich von Kleist in seinem Text „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ übers Betrachten dieses Bildes schreibt: „ein Anspruch den das Herz macht, und ein Abbruch, (…) den einem die Natur tut.“ Wir sehen und intensivieren die Natur durchs Medium der Malerei – und inzwischen durchs Medium der Photographie. Ich sehe die Bäume, den strömenden Fluß, das wilde Wehr, wo ich stand und sinnierte, während unter mir die Glätte des ruhigen Wassers in den Absturz des Elements überging. Zwei Modalitäten des Wassers, gestrichene, glattsanfte Fläche und schäumender Sturz. Heraklit, in Sprache, am frühen Abend, nicht zu schreiben. Eine Photographie brächte in Sekunden auf den Punkt, was ich meinte. Ich konnte es in der Sekunde nicht.

Was Kleist über das Bild von Caspar David Friedrich, jenem Mönch am Meer, schreibt, gilt nicht für die Naturbetrachtung, fürs Naturschöne, sondern explizit fürs Medium Bild: „so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.“ Aber auch hier, in der Kunst und gerade in dieser sind es die Als-ob-Konstruktionen. Wir kennen sie aus Kants Philosophie, an der Kleist fast zerbrach. Eine Reihung von Annahmen, die wir machen müssen. Allein – sind sie auch (hegelianisch) notwendig? In der Malerei sehen wir die Meeresbilder von Gerhard Richter und in der Photographie sind es die seltsamleeren, bedrückend-berückend ruhigen Bilder der See von Hiroshi Sugimoto. Eine Unendlichkeit ins Grau, in der es sich verlieren läßt. Photographien als Abstraktionen. Freilich wirken solche Bilder nur in einer bestimmten Größe und mit einem Abstand. Natur als Imago. Adorno wußte, daß die bloße Natur zugleich eine Schimäre ist, wenn sie wie Kunst behandelt wird:

„Die Anamnesis der Freiheit im Naturschönen führt irre, weil sie Freiheit im älteren Unfreien sich erhofft. Das Naturschöne ist der in die Imagination transponierte, dadurch vielleicht abgegoltene Mythos. Schön gilt allen der Gesang der Vögel; kein Fühlender, in dem etwas von europäischer Tradition überlebt, der nicht vom Laut einer Amsel nach dem Regen gerührt würde. Dennoch lauert im Gesang der Vögel das Schreckliche, weil er kein Gesang ist, sondern dem Bann gehorcht, der sie befängt.“ (Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie)

Wir sehnen und sehen dieses Fließen des Wassers und das Ragen von Bäumen im Park als Natur, weil wir Kunst geschaut haben. Wir sehen es aber genauso als diese Natur, weil wir mit unserem Inneren auf die Welt schauen. Es ist die Einbildungskraft und ihre nicht bloß kantisch-erkenntnistheoretische Spontaneität. Seltsame Korrespondenz zwischen innen und außen. Manchmal ist die Pose des Betrachters als Ästhetiker, die Inszenierung des Selbst, sozusagen, im Kontext der Natur, als ästhetisches Wesen interessanter als das Naturschöne als solches, begehrenswerter als Natur, als reines Sein und als Materie. Objekthaftes. Antithese. Von diesem Naturschönen und von seiner Macht auf unsere Vernunft ahnte Kant. Doch Adorno war der erste, der es für eine Ästhetik und damit auch für die Kunst im 20 Jahrhundert, als Korrespondenz zur arrivierten Kunst, als bloße Kunst, dann im Widerton aktivierte und in jenem Naturschönen ein Kraftzentrum ausmachte, und zwar gerade dort, wo es auf die ästhetische Erfahrung als Möglichkeit zum denkenden Widerstand ankam.

Am nächsten Morgen den Geschmack von Rotwein im Mund.

Es ist Nacht, und unter mir liegt still und schön die Stadt. Gelb und orange glänzen die Lichter zum Michelsberg hinauf. Kafka im Frost, seine Briefe an Felice Bauer waren eine einzige Veranstaltung der Distanznahme, um im Schreiben Nähe zu imaginieren. Briefe sind eine Form der Kommunikation, um Nähe in Distanz zu schaffen. Man denkt an Nietzsches pathetische Formel der Zaubererei: Actio in distans, wie Nietzsche das in seinem bekannten Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft nannte. Kafka war niemals in Bamberg. Die kleinen Gassen der Stadt und ihr Fluß böten manchen Anlaß für eine Geschichte in der Manier Kafkas – zumal in die Stadt das Unheimliche E.T.A Hoffmanns darin eingewebt ist. Das Unterbewußte des 19. Jahrhunderts trifft aufs Unterbewußte des 20. Eine spannende Paarung eigentlich und ich bedauerte es, daß ich kein Schriftsteller bin, der dazu die Phantasie und die Einbildungskraft besitzt, nein, das ist falsch – beides besitze ich, ich meinte vielmehr: die Kraft zur Konstruktion.

In Bamberg ragt nachts, wenn ich trunken durch die Gässlein schlendere, ein illuminiertes Kreuz vorm Kloster Michelsberg vom Steilhang herab auf die Stadt, über den dunklen Grund der dunkle Stadt, die schläft. Zugedecktes. Schöne Frauen. Schönes Zeichen, als elektrischer Feuergrund in die Nacht gestrahlt, und mittags in der Pfarrkirche St. Martin ist Gesang, Musik dort, ein Grund katholisch zu werden.

In Bamberg trank E.T.A. Hoffmann sich an den Anfang des Endes, er pokulierte, wie er es in seinem Tagebuch notierte, wenn er zu viel aus der Brandweinflasche oder vom Punsch soff, und malte dazu dann einen oder sogar viele Pokale – je nach Trinkmenge, meist waren es viele Pokale, die er malte. Kafka trank nicht, er schrieb Distanzbriefe an Felice Bauer. Ein Brief erzeugt hinreichende Nähe und ist doch ein Medium des Abstands. Ich dachte an Poes Brief. Ich stand da vor meiner Hoteltür und stocherte im Schloß herum. Traumloser Schlaf und morgens eine Stadt, die noch im Nebelmeer lag.

Blickt endlich wieder romantisch! Oder blickt wenigstens wie romantische Dialektiker, auch wenn Hegel für die literarische Romantik und deren Ironie nichts übrig hatte, außer vielleicht für Solgers Ästhetik, die ihn inspirierte. Das Naturschöne ist ein solches Zwischending, was bei Kant noch übers Erhabene der Natur vorbehalten war, sollte bald ein Gegenstand der Kunst werden.

Parklandschaften freilich sind keine bloße Natur, sondern ein Hybrid. Ebenso das Stadtbild, wo Gräser am Wegerand auf Wiesen wuchern oder ein Fluß sich durch die Gassen schlängelt. Die Schönheit solcher Orte ist eine gebrochene.

„Mit dem Verfall der Romantik ist das Zwischenreich Kulturlandschaft verkommen bis hinab zum Reklameartikel für Orgeltagungen und neue Geborgenheit; der vorwaltende Urbanismus saugt als ideologisches Komplement auf, was dem städtischen Wesen willfahrt und doch die Stigmata der Marktgesellschaft nicht auf der Stirn trägt. Ist aber deswegen der Freude an jedem alten Mäuerchen, an jeder mittelalterlichen Häuserfamilie schlechtes Gewissen beigemischt, so überdauert sie gleichwohl die Einsicht, die sie verdächtig macht. Solange der utilitaristisch verkrüppelte Fortschritt der Oberfläche der Erde Gewalt antut, läßt die Wahrnehmung trotz aller Beweise des Gegenteils nicht vollends sich ausreden, was diesseits des Trends liege und vor ihm, sei in seiner Zurückgebliebenheit humaner und besser.“ (Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie)

Bilder gehen meist, im Akt des Photographierens, leicht von der Hand, mir zumindest, ich weiß, was ich sehe, sehe, was ich weiß, spüre, was ich ablichten will. Blatt, Weg, Baum, Borke, Gasse an einem Januarabend, auf einem Seitenweg im Hain oder in der Stadt. Kühle des Abends, der in die Nacht geht. Belichtungszeiten. Schwieriger und viel mehr Arbeit ist am Ende das Werk in der „hellen Kammer“. Eine Welt. Der Bau des Kontextes. In Text, in Bild, in Sprache gebaut. Und manchmal bleibt das alles sprachlos und unsagbar. Verwundbar und wunderbar liegen sprachlich dicht beieinander.

Die Bilder des Krieges: Eine Ästhetik des Schreckens oder ästhetische Lust am Schrecklichen?

Eigentlich eher eine rhetorische Frage, mit der ich einen mehrteiligen Besprechungsessay zu drei Photo-Büchern einleite: Kann man Krieg in Photos verklären, und inwieweit beeinflussen Photographien unsere Sicht auf ihn, indem Zeitungen ästhetisch ansprechende Kriegsphotographien drucken statt der Schockbilder? Diesen Vorwurf macht David Shields in seinem Buch „War Is Beautiful“ der „New York Times“. Tim Parks diskutiert in der Besprechung zu Shields Buch die Frage nach dem schönen Schrecken der Bilder. Zu finden ist dieser Beitrag in der New York Review of Books.

nature-war-beautifulEine alte Frage zwar, doch stellt sie sich immer wieder neu. Nicht erst seit Susan Sontags Kritik an der Photographie oder in Baudrillards provokant zugespitzter These „The Gulf War Did Not Take Place“, die er 1991 über den Irak-Krieg sowie dessen mediale Vermittlung äußerte. Wir sehen nicht mehr das, was ist – als ob je ein Bild das präsentieren könnte  –, sondern medial Vermitteltes, und wie im Falle des Irak-Kriegs abstrakt-absurd anmutende, zugeschlierte  Fernsehbilder: Grüngetönte, mit Nachtsichtgeräten aufgenommen Filmszenen, die angeblich zielgenaue Einschläge von Marschflugkörpern zeigen, Photos wie in einem B-Movie-Science-Fiction oder in einem aufgemotzten, frühen Konsolenspiel. Ohne Opfer, lediglich beschädigte Gebäude und Panzer. Von den Militärs und nicht von unabhängigen Kriegsreportern gelieferte Photos. Krieg kommt plötzlich als Präzisionsarbeit daher; Kriegsbilder passieren, wie schon im Zweiten Weltkrieg die Raster der Zensur, unterliegen einer Auswahl. Schön, schockierend, aufregend im Sinne einer Empörung oder einer Art visuellen Erklärung, geschweige denn irgendwie informativ waren diese Photographien aus dem Irak nicht. Es gab keine Opfer, es gab keinen Gegner. Die Photographien wirkten kalt, leblos, technisch.

Anders als die Bilder aus Vietnam, die gerade weil sich Kriegsphotographen relativ frei bewegen konnten, perverserweise eine ungeheure Dynamik und damit zuweilen sogar Schönheit besaßen. Genau das ästhetische Moment im Photo, was Roland Barthes in seinem Text „Schockphotos“ an solchen dann noch in Galerien zur Schau gestellten Bildern monierte und was in anderer Weise Susan Sontag in ihrem Buch „Über Photographie“ ebenfalls in die Kritik nahm. Der Vietnam-Krieg war einer der letzten großen, medial ausgetragenen Konflikte, der in Sachen Bildreportage einiges zuließ, das heute unmöglich durchführbar ist. Natürlich waren auch diese Kriegsreporter innerhalb der US-Army eingebettet und auf deren Schutz angewiesen. Aber das Feld schien offener, es gab mehr Kniffe und Tricks. Anders als drei Jahrzehnte später dann in Afghanistan oder dem Irak.

U.S. President George W. Bush carries a platter of turkey and fixings as he visits U.S. troops for Thanksgiving at Baghdad International Airport, November 27, 2003. Bush secretly traveled to Baghdad and paid the surprise Thanksgiving Day visit in a bold mission to boost the morale of forces in Iraq amid mounting casualties. REUTERS/Anja Niedringhaus, Pool EL NIE/SV

REUTERS/Anja
Niedringhaus, Pool
EL NIE/SV

Was zeigen uns die Zeitungen und  die Fernsehbilder vom Krieg? Was dürfen sie drucken und was nicht? In die Tageszeitungen gehören die ungeschminkten, ungeschönten Bilder hinein, nicht die unmittelbar ansprechenden, weil es um die harten Fakten geht. Dennoch besitzen auch solche eher verklärenden oder ansprechenden Photographien ihren Reiz, dienen der Information und müssen gezeigt werden. Aufgrund des Kontrafaktischen, weil sich in diesen Bildern ein Widersinn manifestiert und sogar multipliziert. Schönheit inmitten des Grausamen. Programm jeder Ästhetik. (Im zweiten Teil dieses Essays, wenn ich über Anja Niedringhausʼ Bildband „At War“ schreibe, komme ich auf den Aspekt der Schönheit im Schrecken zurück.) Wir müssen insbesondere solche Photographien zu lesen und zu betrachten lernen, die ikonographischen Charakter haben. Etwa das Bild aus dem Irakkrieg, wo George W. Bush 2003 zum Thanksgiving den Soldaten einen Truthahn mit Früchten serviert. Inszenierte Spontaneität. Das Obst jedoch ist aus Plastik, das Tablett scheint sich unter der Last zu biegen, doch der Vogel ist nicht echt und kaum zum Verzehr bestimmt. Ein bukolisches Idyll, eine symbolische Szene. Anders verhält es sich mit den Photographien, die Grausames zeigen und dennoch ihren Reiz entfalten. Trümmerlandschaften, die wie hergerichtet wirken. Tote, die fast friedlich und wie dahingestreckt schlafend auf einem Feld zu ruhen scheinen. Wir aber wissen: Diese Männer sind tot.

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Bilder von roher Gewalt, vom Schreckliche, vom Terror gibt es nicht erst, seit die Photographie zum Medium tagesaktueller Berichte wurde. Immer schon delektierten Menschen sich an Exzeß-Szenen im Modus des Ästhetischen, oder aber sie flößten ihnen unbändigen Schrecken ein, indem diese Darstellungen die Höllenszenarien und Verdammungen vor Augen führten, die ihrer sündigen Existenz harrten. In der bildenden Kunst hatte das Grausame früh seinen Ort. Ob bei Hieronymus Boschs Höllen- und Lustfahrten, die eher dem Bestiarium entsprangen, oder in der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars, die uns einen leidenden, am Kreuz verwesenden grüngelben Leib zeigt. Blut strömt aus der klaffenden Wunden, Fleisch ist zerrissen, der Körper ausgemergelt, mehr tot bereits als lebend. (Wobei sich dieser Altar keineswegs in einer Ästhetik des Schreckens erschöpft. Die verschiedenen Öffnungsszenen des Objekts zu den unterschiedlichen Anlässen des Kirchenjahres weisen darüber hinaus.)

Aber nicht nur in den metaphysischen und theologischen Leiddarstellungen stoßen wir auf den Schrecken. Sondern ebenso in den profanen Bildnissen begegnen wir ihm, wenn im Sinne des Realismus und als Appell ans Humane das Grauen des Krieges dokumentarisch ins Bild gebracht wurde. Drastisch in  Jacques Callots „Les misères de la guerre“ und  in Goyas „Desastres de la Guerra“. Doch spiegelt Kunst – sei sie auch dokumentierend – eine Realität wider? Das tut sie nicht einmal in ihren realistischen Varianten; noch der Realismus der bildenden Kunst ist – trivialerweise – nicht realistisch. Bilder repräsentieren nur bedingt. (Ich will die die Strategien der Repräsentation jedoch nicht umfassend in die Kritik nehmen, wie es in der Logik mancher Postmoderner der Fall ist. Es geht mir lediglich um einige einschränkende Bedingungen.) Den äußeren Bildern entsprechen innere. Bilder spiegeln unsere Sicht auf Realität, aber nicht diese selbst. Bilder und die Kunst überhaupt stellen eine Welt eigener Art ins Werk, darin liegt die Wahrheit der Kunst gegründet, die sich nicht bloß auf den Modus ästhetischer Erfahrung reduzieren läßt, und es zeigen uns jene Bilder Weisen der Wahrnehmung, die mit ästhetischer Wahrheit korrespondieren. Kunst weiß etwas, das wir noch nicht wissen – zumindest nicht diskursiv. Dieses Spiel zwischen Diskursivem und Deiktischem, zwischen Wissen und Entzug macht, insbesondere im Sinne Adornos, den Rätselcharakter des Kunstwerks aus.

Medusa

Diese Logik kompositorischer Verdichtung und Transformation des Dokumentarischen ist deutlich etwa an Théodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“ zu sehen, wo ein historisches Ereignis dramatisch und dramaturgisch in einer einzigen Szene derart aufgeladen wurde, daß es auf dem Pariser Salon von 1819 einen Skandal hervorrief. Nicht mehr Könige und Helden zu Pferde, Nymphen und Götter, historische Schlachten (nun gut,  die Franzosen hatten gerade einige entscheidende verloren) oder Einschiffungen nach Kythera und galante Feste bildeten das Sujet. Sondern die Leiderfahrung derer ohne Namen und göttlichen Stammbaum. Geblieben ist lediglich der Name und der Schrecken der Medusa. Insofern kann man in diesem Kontext gut davon schreiben, daß Nomen eben Omen sei. Nämlich die gescheiterte Rettung Schiffbrüchiger von der 1816 im Atlantik gesunkenen französischen Fregatte „Méduse“. Vor der Küste Westafrikas spielte sich dank eines, so steht zu vermuten, inkompetenten Kapitäns ein Seefahrtsdrama ab. Die „Méduse“ lief auf ein Riff, an ein Freikommen war nicht zu denken. Da die Rettungsboote nicht ausreichten, baute man aus den Schiffsteilen ein großes Floß. Das weiße Personal, Handwerker, Offiziere retteten sich in die Beiboote. Für die übrigen, solche, die wir heute Underdogs nennen, blieb das karge Gefährt übrig. Söldner des afrikanischen Korps, Exhäftlinge, Nicht-Europäer; die einzige Frau dort war eine Marketenderin. Das Floß wurde an eines der Rettungsboote vertaut. Doch die im Boot kappten das Seil schließlich, so daß die Ansammlung aus Holz und Mensch ohne Steuerung über den Atlantik trieb. 147 Seelen auf engstem Raum. Die, die am Rande kauerten, mußten damit rechnen ins Meer gespült zu werden. Ein schrecklicher Überlebenskampf. Vor Hunger verspeisten sich die Schiffbrüchigen gegenseitig – der in solchen Fällen übliche Kanibalismus. Überlebenstrieb. Man erschoß 65 der Passagiere, warf Schwache ins Meer. 15 Menschen überlebten die Floßfahrt.

Als in Paris das Publikum dieses Gemälde sah, war es empört. Doch nicht die Bilder sind der Skandal, sondern das, was ihnen zugrunde liegt. Das Reale, die Geschichte, die Wirklichkeit. Das sich Entziehende, Unabbildbare.

Die Condition humaine erweist sich in den Krisen als fragil, und der Lack der Zivilisation ist ausgesprochen dünn aufgetragen. (Freud machte sich in diesen Dingen keine Illusion. Das Unbehagen an der Kultur ist zugleich das an der menschlichen Unkultur.)  In diesen Bildern des Grauens und in manchem radierten oder in Malerei ausgefahrenen „Dokument“ finden wir das, was sich mit dem Titel „Die Erschütterung der Sinne“ bezeichnen läßt, wie 2013 eine Ausstellung im Dresdener Albertinum benannt war.

Doch dieser Erschütterung unserer Wahrnehmung – sofern sie im musealen Kontext überhaupt noch möglich ist und nicht zur Behaglichkeit regredierte – wohnt zugleich jener feine ästhetizistische Lustreiz und Kitzel inne: der delightfull horror. Zumindest solange wir ins Grauen nicht involviert sind und die Möglichkeiten zu einer rein ästhetischen Haltung entwickeln, die wie beim Lukrezschen und Kantischen Konzept des Erhabenen auf einem Abstand beruht. Interessant scheint mir dieser gleitende Blick insbesondere bei der Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust“ im Deutschen Historischen Museum. Zu sehen sind dort Grafiken, die im Geheimen von Häftlingen aus verschiedenen KZs, Arbeitslagern und Ghettos gezeichnet wurden. Scheint es nicht vermessen, diese Zeichnungen mit dem Auge des Kunstkritikers zu betrachte und nach den Regeln aZeigen, wie es war. Mit dem Kunsthistoriker Didi-Huberman geschrieben: „Bilder trotz allem“.

Oder es leisten im Feld des Abbildrealismus Kriegsphotographien den Schock- und Schönheitsmoment. Diese Art von Photographien gibt es in verschiedenen Varianten. Seien es Photos, die einen verklärten Abdruck liefern und Kriegsszenen idealisieren, wie wir sie häufig in Zeitungen und im Fernsehen vorgesetzt bekommen, was David Shields kritisierte. Bis hin zu Extrem und Drastik: Leichen und separierte Körperteile, Sterbende, auf einem Not-OP-Tisch Verblutende. Zerfetzte wie der Leib Christi am Kreuz, nur nicht gemalt, sondern hart am Limit photographierte Szenen wie wir sie in Christoph Bangerts „War Porn“ oder in Stanley Greenes „Black Passport“ uns betrachten können.

In den nächsten Teilen schreibe ich über Anja Niedringhausʼ „At War“ sowie über die Bücher von Bangert und Greene.

Copyrightnachweise
Bild 1 entnommen von The New York Review of Books:
»Ozier Muhammad/Redux
A US marine convey, north of the Euphrates, Iraq; photograph published in The New York Times on March 26, 2003, and included in War is Beautiful«
Bild 2: Reuters/Niedringhaus, aus: SpOn.
Bild 3: Bersarin, 2011, im Musée d’Unterlinden, Colmar
Bild 3: CC-Lizenz, Wikipedia.

„Schockphotos“ – Fetischelement – Präsenzillusion

Die gelungene Photographie ist eine Sprache ohne Effekt, ohne künstlich aufgetragenen Glanz und zugleich einen Allusion. Die Zeit anzuhalten, die Zeit festzuhalten? Wie nur? Dialektik gegen Phänomenologie. Roland Barthes beschreibt in seinem Text „Schockphotos“ Bilder, die zu gelungen, zu drastisch, zu deutlich, zu schön, zu ausgefeilt sind, als daß sie überhaupt noch im Betrachter nachwirken. (Eine interessante Paradoxie allemal, die Barthes in seinem Aphorismus festhält und über die es lohnt, nachzudenken.) Überzeichnet. Konstruiert, trotzdem die Photographie die Realität an einem besonderen Punkt der Zeit abbildete. Oder vielmehr: solche Photographien wirken, ohne zu wirken. Zu gelungen, zu inszeniert. Aber genau darauf kommt es dem Photographen nun einmal an. Der Beuteblick, das eine Mal nur, dieser eine Moment. Gefroren. Nicht nur das Herz ist bekanntlich ein einsamer Jäger, sondern ebenso der Photograph, welcher unablässig schaut und blickt, Augen wie Sucher und Winkelsucher, während er durch die Stadt streift, nicht mehr dem Denken verhaftet, sondern als reines Sehen: betrachten, ahnen, wittern. Die Fährte. In Vorausschau nach dem einen, nach diesem einen Bild, dem auf die Spitze getriebenen und gebannten Augenblick.

 „Andere Photographen haben uns, wenn schon nicht schockieren, so doch verblüffen wollen, aber der grundsätzliche Irrtum ist der gleiche. Zum Beispiel haben sie sich bemüht, mit größtem technischem Geschick den ausgefallensten Moment einer Bewegung, ihre äußerste Grenze festzuhalten, den Flug eines Fußballspielers, den Sprung einer Sportlerin oder die Levitation der Gegenstände in einem Spukhaus. Aber auch hier bleibt das Schauspiel, obwohl unmittelbar und keineswegs aus kontrastierenden Elementen zusammengesetzt, allzu konstruiert. Das Einfangen des einen Augenblicks erscheint willkürlich, allzu effektheischend, aus einem verqueren Willen zur Sprache entstanden, und die dabei geglückten Bilder haben keinerlei Wirkung auf uns. Das Interesse, das wir an ihnen nehmen, überschreitet nicht den kurzen Moment ihrer Lektüre; sie hallen nicht nach, sie verwirren uns nicht, unsere Aufmerksamkeit verengt sich zu rasch wieder auf ein reines Zeichen. Die perfekte Lesbarkeit der Szene, ihre Gestaltung, befreit uns davon, das skandalöse Bild in seiner ganzen Tiefe aufzunehmen; auf einen rein sprachlichen Zustand reduziert, bringt uns die Photographie nicht aus der Fassung.“ (R. Barthes, Schockphotos, in: Mythen des Alltags)

 Weshalb aber haben Bilder, die jene eine Szene, den Augenblick auf die Fuge der Zeit stellen, ihn (semiotisch gedacht) lesbar machen und sein Exzeptionelles einfangen – denken wir nur an Henri Cartier-Bressons Mann, der über die Pfütze springt –, keinerlei Wirkung? Ist diese Sicht Barthes nicht einer eher vormodernen Auffassung der Photographie geschuldet? Weil Photographie – fast immer und ihrem Wesen nach womöglich – zu drastisch ins Betrachten einbricht, weil sie uneigentlich ist, weil sie sich selber in ihrer Drastik tilgt? (In dieser Linie des Inflationären der Photographien knüpfte einige Jahre später Susan Sontag in ihrem Buch „Über Fotografie“ an, das eigentlich „Gegen Fotografie“ heißen müßte.) Der Scheincharakter der Photographie, Vorspiegelung des Falschen als Tatsache – „In Platons Höhle“ so heißt eines der Kapitel in Sontags Buch. Weil der Photographie etwas Manipulatives anhaftet? Manipulativ jedoch nicht, weil sich eine Photographie aufdrängt und sich in unsere Wahrnehmung schiebt, sich über sie stülpt, uns nicht mehr losläßt oder aber bloß an der Oberfläche verharrt, sondern vielmehr liegt diese Irritation und die Manipulation am Wesen der Photographie bzw. in dem, was uns als ihr Wesen erscheinen mag, jedoch viel mehr noch mit unserem Begehren nach Präsenz, nach reiner Gegenwart, nach Wahrheit als erfülltem Sein zusammenhängt. Es ist uns nicht geheuer, daß das, was sich als Lebenswelt und in der Wirklichkeit geschaute Szene in die Retina brannte und sich in Impulse wandelt, die wir als Bilder der Außenwelt wahrnehmen und einordnen, in einem Akt der Technik, vermittels eines Apparates festgehalten, reproduziert und statisch gemacht wird. Wer auf den Grund der Photographien steigt, wird dieses Unbehagen am Bild wiederfinden. Wirklichkeit – noch einmal und zur reflektierenden Betrachtung wieder und wieder freigegeben. Allusion der Präsenz. Photographien tilgen das Einmalige, die reale Gegenwart, das Datum dieser einen Zeit und Sekunde. Sie sind Gedächtnis, Behälter, eine Maschine der Aufbereitung. Präsenz ereignet sich als Wiederholung. Das eben irritiert und insbesondere dann, wenn es sich um exzeptionelle Momente, wie im Krieg oder bei bestimmten Bewegungen handelt. Die Ballettänzerin, die zu schweben scheint und die kurz davor steht, wieder die Bretter zu berühren.

Es gibt gute Gründe dafür, weshalb sich bestimmte indigene Völker nicht photographieren ließen. Die Photographie ist in ihrer Weise ein Fetisch. Noch das belangloseste Bild, das ohne jeden Anspruch auftritt und kompositorisch oder technisch schlicht lausig ist, jedoch aus dem einzigen Grunde aufgenommen wurde, eine Szene des Lebens festzuhalten, ist ein solcher Fetisch. (Gerade diese Bilder, die wir Alltagsphotographien nennen.) So wie an hohen Feiertagen eine Familienphotographie gefertigt wurde oder am Urlaubsort – sei es pauschaltouristisch, erlebnisorientiert oder um Land und Leute abseits ausgetretener Pfade kennenzulernen: die Unterschiede dieser Reiseformen sind am Ende marginal nur – jemand auf den Auslöser drückte. Dieser eine Sonnenuntergang, dieser Kuß zu zweien, dieser Abend auf der Terrasse vorm Pantheon, dieser eine (für uns) pittoreske Dorfbewohner. Photographien sind Fetische der Vergegenwärtigung ohne Gegenwart. Präsentistische Abwesenheit, pars pro toto. Egal, was sie ablichten. Egal wie effektvoll, inszeniert oder genau geschaut. Das Bild, das wir am Festtag machen, ist eine Wiederholung und in ihrem Wesen zugleich eine Unheimlichkeit. Gespensterhaft, weil wie aus dem Spuk die andere Zeit auftaucht. Wer sich die eigenen Photographien aus der Kinderzeit betrachtet und nicht nur auf das Äußere der Accessoires und Gegenstände im Raum sich kapriziert und sich daran erfreut, wie Dinge aussehen, die längst nicht mehr existieren, wird etwas von diesem unheimlichen Moment verspüren. Selbst bei den Photoalben von uns unbekannten Menschen, die wir auf Flohmärkten erstehen, stellt sich diese Spannung ein. Das Bild arbeitet phänomenologisch: da ist die damals noch gar nicht so alte, aber inzwischen lange tote Frau zu sehen, die einst die Oma war, da ist jene Baby-Rassel, im Laufgitter plaziert, und ein Katzenbild liegt auf dem Boden und ein Stofftier im Arm des Kindes, das wohl einst ich gewesen sein mußte, auf jener Photographie, in schwarz/weiß alles gehalten. Als Da-Sein, was nimmer mehr da und hier sein kann. Eine Gegenwart, aus der Zeit gestellt. Phänomenologisch scheint das alles ganz klar. Und dennoch befällt uns, wenn wir betrachten, etwas Eigentümliches in Gemüt, Sinn, Verstand und Denken. Sein und Zeit in Überspitzung – als Bild. Nichts unheimlicher als der Mensch.

Auch wenn wir gegenwärtig unzählige Bilder wahrnehmen und von Photographien geflutet werden, wie von Twittermeldungen, Internettext und zusammenhanglosen Nachrichten, Sekunde um Sekunde, all das Belanglose, haftet der Photographie, wenn wir sie genau betrachten, das Unheimliche an, geht ihr nach, geht der Photographie voraus. Diese (Schock)Photographien wirken zwar, sie hallen jedoch, wie Barthes es hier beschreibt – möglicherweise – nicht nach. Nicht nur in der Inflation der Photos, sondern ihrer (Zeichen-)Struktur nach, so Barthes.

Etwa 33 Jahre später, 1980, wird Roland Barthes mit einem ganz anderen Konzept von Photographie aufwarten: „Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie“. Eines der spannendsten und anregenden Bücher der letzten Jahrzehnte. Keine Wesensbestimmung, auch wenn Barthes von dem „ontologischen Wunsch“ zunächst gefangen war, unbedingt zu wissen, was die Photographie „an sich“ war und ist, „durch welches Wesensmerkmal sie sich von der Gemeinschaft der Bilder unterscheidet.“ Wie nämlich, bis ins Detail, bis in die Pose des abgebildeten Menschen, eine Photographie zu betrachten und ihr Besonderes wahrzunehmen sei. In bezug auf den späteren Barthes können wir sicherlich einen sehr viel größeren Hang zu einer Art von subjektiven Phänomenologie konstatieren als bei dem semiologischen Barthes der 50er, 60er und 70er Jahre. Was freilich grundsätzlich fehlt, bleibt die dialektische Vermittlung des photographischen Blickes sowie der Photographie selbst. Das dialektische Bild ist kein Psychologismus und keine Tatsache des Bewußtseins.

Photographien als Dokumente oder der Blick vom Subjekt her? Ute und Werner Mahler in den Deichtorhallen zu Hamburg (1)

Es gibt Photographien, die zeigen das, was der Fall ist. Solche Bilder werden – trivialerweise – dokumentarische Photographien genannt. Und es gibt solche, die die Szenerie, das Objekt Mensch, die Dinge, die daliegen, in eine Anordnung bringen, die nicht die der Dinge, sondern die des Subjekts ist. Doch bleibt am Ende die Frage, ob nicht das objektive Dokument in der Photographie von vornherein eine Fiktion bedeutet. Ebenso wie der beständige Rekurs aufs Subjektive an den Orten, wo es schon lange keine Subjekte mehr gibt, sondern Funktionsstellen im Koordinatensystem.

25794[Photographie von August Sander]

Fiktion der Objektivierung, hervorgerufen durch den Trug, ein neutraler Apparat nähme die Szenerie exakt so auf, wie sie vor unseren Augen liegt und lichtete sie auf eine Silberoxidschicht oder in heutiger Zeit zumeist: auf ein digitales Trägermaterial ab. Die Lichtbilder von so unterschiedlichen Photographen wie Dorothea Lange, Walker Evans oder August Sander vermitteln den Anschein des So-Seins. Menschen, die in einem bestimmten (Arbeits-)Umfeld anzutreffen oder mit der Kleidung ihres Berufsstandes, ihrer Schicht und Klasse ausgestattet sind, wie bei August Sanders Zeitstudien „Deutsche Menschen“. Menschen auf der Flucht oder unter erbärmlichen Bedingungen, wie es Dorothea Lange auf ihren Photographien über die „Große Depression“ in den USA festhielt, die sie im Auftrag der US-Regierung fertigte, um die Notwendigkeit der New-Deal-Maßnahmen unter Roosevelt zu zeigen: Lumpenproletariat und verarmte Bauern im Staub der Straßen. Die Photographie zeigt das, was sozial der Fall ist, so suggerieren diese Bilder. Werbemaßnahmen für Sozialreförmchen, damit die, die am Ende zum Protest sowieso nicht auf die Straße gingen, tatsächlich nicht auf die Straße gehen und Paläste, Villen und andere Objekte in ihren Ausgangszustand zurückverwandeln.

In solcher Indienstnahme ist die Photographie kein Kunstprodukt mehr, sie löst sich von ihrer medialen Seite her sowohl von ihrer Autonomie als auch aus dem Feld der Malerei, der sie in ihren Anfängen, etwa vermittels des Pictoralismus, sich anzunähern trachtete, um sich dadurch als Kunstform zu beglaubigen; Photographie begibt sich ins Feld des Sozialen, dient dazu Reportagen und Berichte aus Regionen, die wir nicht kennen, mit den nötigen Bildern auszustatten, um so das geschriebene Wort erst in die Geltung zu bringen oder aber um als reines Bilddokument eine Situation überhaupt erst authentisch und wirklich zu machen. Nur was wir sehen, glauben wir. Doch leicht sitzen wir dem Trug des Empirismus auf und erheben ihn zur Religion. Nicht nur in den optischen Dingen.

Die Dokumentarphotographie der neueren Zeit stellt sich diesem Paradox, und sie weiß, daß ihre Bilder nur bedingt objektiven Charakters sind: diese Bilder zeigen eine Welt unter der Maßgabe unseres Blickes, zwar als So-Sein des Moments gebannt und vergegenständlicht, dennoch unter dem Blickwinkel einer Situation erfaßt. Es ließe sich hier jenes Wesen der Photographie, sofern sich denn von einem Wesen sprechen läßt und wir in die Sprache der Ontologie zurückfallen, mit einem Satz des Filmtheoretikers André Bazin erweitern, den Jean-Luc Godard seinem Film „Die Verachtung“ voranstellte: „Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnitten ist.“ Ein zunächst kryptisch klingender Satz, denn was ist das für eine Welt in Bildern, wie müssen diese Bilder beschaffen sein, und was ist oder vielmehr was bedeutet dieses Begehren, das auf jenen Blick, der die Bilder betrachtet, zugeschnitten ist? Transformiert man diesen Satz vom Film auf die Photographie und bedenkt dabei, daß die Bilder des Filmes in der Zeit bewegt sind, während die der Photographie stillstehen und die Zeit einbalsamieren, sie geradezu mumifizieren, so ließe sich dieses Begehren im Sinne einer Thanatologie lesen.

Photographien sind solche Todesbilder. Sie dokumentieren das Vergehen in der Zeit und jenen Fluß: Daß sich im Hier und Jetzt keine Stelle festhalten läßt, daß jeglicher Augenblick vergeht – noch der schönste und berührendste: der erste Kuß, die ersten Umarmung, ein Familienfest oder auch die ganz einfachen Dinge und Szenen – und wir dennoch eines Mediums bedürfen, das es erlaubt, auf realistische und zugleich schnelle Weise den Moment so einzufrieren, wie er sich uns darbot. In diesem Sinne arbeitet die Photographie als Thanatos-Dokument, sie konstituiert das Wesen des Melancholikers, der das Vergehen der Zeit festhalten möchte, und wir knüpfen an diese Photographie das Begehren. Wir sind in jeglicher Hinsicht wild nach Fotos. Die Sucht nach den sogenannten Selfies ist modernstes Indiz für die Gier nach dem vorgeblich Authentischen, der Selbstinszenierung und der Beglaubigung des Augenblicks in der Photographie. „Die Tage vergehen, ich bleibe“, so wußte der Dichter Guillaume Apollinaire. Unterm Pont Mirabeau. In jenem wunderbaren Gedicht.

Doch zurück zur professionellen Photographie der Reportage oder der Sozialstudie. Es mag zunächst wie ein Widerspruch klingen, doch es strukturieren sich solche Dokument-Bilder dennoch als subjektive Dokumentarphotographien. Insbesondere bei „Migrant Mother“, eine der bekanntesten Photographien von Dorothea Lange, kann man geradezu von einem inszenierten Dokument sprechen. Einerseits. Helmuth Lethen weist in seinem Buch „Der Schatten des Fotografen“ auf die komplexe Geschichte, die hinter dieser Photographie steht. Andererseits erscheint gerade vermittels dieser Inszenierung und der bewußten Pose sowie dem Umstand, daß jeglicher Kontext des Bildes verbannt wurde, ein objektives Moment drastisch auf. Es bricht in diese subjektive Tönung die Objektivität von Elend und Armut ein: Der gefrorene, kalte Moment, eine soziale Situation, abgelichtet und als Bild gesetzt.

Lange-MigrantMother02[Photographie von Dorothea Lange]

Doch bleibt der Referenzrahmen in der Bildanalyse selbst trotz aller Deutlichkeit in der Anordnung der Bildelemente und des Ausdrucks in einer eigentümlichen Unschärfe. Das Bild als solches neigt am Ende zur Ästhetisierung der Szenerie: wir delektieren uns in der gekonnten Aufnahme. Hier insbesondere greift jene Kritik, die Susan Sonntag in ihrem Buch „Über Fotografie“ lieferte. Aber am Ende des Prozesses (oder womöglich bereits in der Auslösung von Prozessen) macht gerade dieses Spiel der beiden Ebenen eine Photographie interessant und liefert ihren Reiz. Das läßt sich in unterschiedlichen Annäherungen anfahren und angehen: von Roland Barthes Theorie des punctums als jenes bloß Zufällige an einer Photographie, „das mich besticht“ (Barthes) und des studiums als Hingabe an die Sache bei gleichzeitiger (moralischer) Konditionierung des Blickes, während der Betrachter eine Photographie wahrnimmt.

Aber genug der Vorrede zum subjektiv-objektiven Charakter einer Photographie: Ute und Werner Mahler sind solche herausragenden Photographen, die das Spiel ihres Mediums samt der Differenz zwischen Subjektivität und szenischer Objektivität perfekt beherrschen und in dieser Spaltung mit bewundernswertem Blick ihre Bilder fertigen: eine Mischung aus Reportage und kunstvoller Inszenierung. Auf ihren Photographien ist kein Schnickschnack als Zierrat und Ornament, keinerlei Überästhetisierung zu sehen, ebenso wenig findet, wie heute beliebt, die Zerfilterung des Bildes mit Instagramsoße, billiger Effekt oder Montage statt. Bloße Photographie, Szenen, auf Silbergelatine abgezogen, mit der Körnung des Filmes. Das bekommt man in keiner digitalen Weise hin, hier fällt die Digitalphotographie mit ihrem Filtereffekten, die Körnung bloß simulieren, drastisch ab.

1-Mai-1980-8-img[Photographie von Ute Mahler]

Es stehen diese Photographien der Mahlers in ihrer Eindringlichkeit für sich. Sie sind in einem ausgezeichneten Sinne subjektive Dokumentarphotographien, wie Ute und Werner Mahler es selber betonen; intensiv, bewegend, anrührend teils, in einem Land aufgenommen, das es mittlerweile nicht mehr gibt – Bilder einer entschwundenen Welt, eines erloschenen Systems. Und zugleich sehr viel mehr als das, weil sie auf eine objektive Tendenz verweisen. Im Wandel der Zeiten, in der Zeitenwende, von der Nachwendezeit bis in die Gegenwart hinein bewahrten die Mahlers jedoch ihren genauen Blick.

Zu sehen sind in dieser Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen Photographien, die von den Anfängen in den 70er Jahren bis in die Gegenwart reichen, und dabei zeigt sich einerseits eine Kontinuität in der Exaktheit von Wahrnehmung bzw. deren Gestaltung und Formung im Bild, doch andererseits poetisiert sich der Blick zunehmend, insbesondere in den Arbeiten von Werner Mahler, wie etwa den Bildern der „Fluchtpunkte“ zeigt sich dies.

Noch bis zum 29. Juni können ihre Photographien betrachtet werden, und ich kann nur jeder und jedem raten, sich diese Bilder anzusehen. Die Werkschau präsentiert Photographien von einer kompositorischen Qualität, die außerordentlich ist. Der Kamerablick der Mahlers ist bestechend – sei es in der Reportage oder in den Modephotographien für die legendäre Zeitschrift „Sibylle“. Man möchte als Photograph, nachdem ich das alles gesehen habe, die Kamera eigentlich nur noch zur Seite legen und gar nichts mehr ablichten, weil das, was Ute und Werner Mahler ins Bild bringen, die Photographien sind, die wir eigentlich ein Leben lang sehen und vor allem auch fertigen wollen: von dieser Art des Blickes auszugehen, ihn weiterzuentwickeln, müßte im Grunde die Aufgabe der Photographie sein. Die Mahlers selber machen sich dieses Unternehmen durchaus zur Aufgabe, denn sie lehren in Berlin an der Ostkreuzschule für Photographie.

Was an ihren Photographien so sehr fasziniert, ist diese gemeinsame Art zu sehen, als ob da einerseits ein- und dieselbe Person die Bilder machte und das Gesehene als Gemeinsames festhält, und doch bleibt die Differenz zweier Blicke, ohne daß es zu einer Einheit verschmölze. Beide arbeiten sicherlich sehr ähnlich, manchmal sind ihre Photographien kaum zu trennen, und doch zeigen sie beide eine ganz und gar eigene Handschrift in ihren Bildern. Überhaupt scheint es in der deutschen Photographie zu Paarbildungen zu kommen: so die Bechers oder die Blumes, die jedoch auf eine ganz andere Weise eine Photographengemeinschaft bilden als die Mahlers. Aber auch das ist wieder ein anderes Thema. (Sollte sich der Betreiber dieses Blogs eine Photographin suchen?)

Zu den einzelnen Stationen der Ausstellung sowie den faszinierenden Bilderwelten komme ich im zweiten Teil meines Textes. Im Laufe der Woche auf Ihrem Qualitäts- und Serviceblog „Aisthesis“.

Photographie aus dem Stand der Dinge gelesen: Anna Witts „Sixty Minutes Smiling“. f/stop Leipzig (2)

Die Photographie ist uns als statisches Medium bekannt – in den Bildern bewegen sich die abgebildete Dinge nicht, Augen aus Portraits blinzeln nur selten dem Betrachter freundlich entgegen, die Personen in einem Gruppenbild verändern sich nicht in Gestalt und Aussehen – ausgenommen es handelte sich um das Bildnis des Dorian Gray. (Nein, das ist keine ausgefallene Teesorte für die Mütter vom Kollwitzplatz, sondern ein Buch.) Das Fotografie-Festival f/stop Leipzig verschiebt diesen Akzent vom rein statischen Medium Photographie hin zu den bewegten Bildern, ohne daß sich dabei freilich das Medium selber durchstreicht. Es bleibt, wie ich an zwei Beispielen dieser Ausstellung zeigen möchte, der photographische Charakter der erzeugten Bilder gewahrt; dennoch ändert sich dadurch die Dimension des Bildes. Das Photographische gleitet in die Zeit der stetigen Bewegung als Intervall. Solche Photographie erweist sich im multimedialen Crossover – ebenso wie andere Kunstgattungen, die sich durchdringen – als Interferenzphänomen.

Diese „Verfransung der Künste“ (Adorno) deutet auf eine interessante Entwicklung innerhalb der Photographie (und überhaupt innerhalb der Kunst der Nachmoderne): daß nämlich nicht mehr starr in den Gattungen verharrt wird, selbst bei dem puristischsten Medium nicht: der Photographie, die bisher (zumindest bis in die 90er Jahre) weitgehend von den Überschneidungen der Künste verschont blieb. Und es sind solche Interferenzen ein durchaus gangbarer Weg, das „Wesen der Photographie“ anders zu justieren. Das Bild als Bild im Bild, unbewegt und statisch, transformiert sich, und insofern zeigt sich in diesem Wandel die Berechtigung, jene ansonsten unsinnig erscheinende Videofunktion der Hochpreissegmentspiegelreflexkameras als auch die der Billigteile doch einmal in gezielter Weise und wohldosiert (oder auch wilddosiert) zu benutzen.
 

Wie innerhalb des Bildes die Grenze zwischen Statik und Bewegung sich auflöst, zeigt Anna Witt in ihrer Arbeit Sixty Minutes Smiling (2014): Dort sehen wir eine Gruppe von Menschen, die ausschaut wie die Belegschaft eines mittelständischen Unternehmens, gekleidet in Büroanzüge, für die der schöne Begriff Business-Look steht. Vom Führungspersonal, über den Abteilungsleiter, die Angestellten bis zur Sekretärin, adrett angezogen, vor einem neutralen Hintergrund repräsentativ posierend wie fürs Bewerbungsfoto. Dabei werden diese Männer und Frauen 60 Minuten lang gefilmt und müssen in dieser Zeit beständig lächeln bzw. lachen und insofern Freude, Glück, was auch immer: auf alle Fälle aber ein Mindestmaß an Fröhlichkeit liefern: denn es ist schließlich die Persönlichkeit, die ins Unternehmen als Arbeitskraft und zur Erzeugung von Mehrwert und Profit mit eingebracht werden soll. Diese will von Betrachterin und Betrachter bewertet werden und nichts formt und deutet mehr auf eine Persönlichkeit als ein authentisches Lächeln, ein freundliches Lachen.

Schon in der DDR wußte die Band Oktoberklub in dem Song „Sag mir, wo du stehst“, wie die absurde Durchleuchtung samt der Inszenierung von Personality geht: „Wir haben ein Recht darauf dich zu erkennen,//auch nickende Masken nützen uns nichts.//Ich will beim richtigen Namen dich nennen,//und darum zeig mir dein wahres Gesicht.“ Die Dialektik von Wahrheit und Wissen transformiert sich zum Röntgenblick: „Überwachen und Strafen“. Die Ideologien sind prinzipiell austauschbar, wenn es auf die Funktionsträger samt deren Funktionalität ankommt. Insbesondere das Subjekt in seinen privatesten oder auch in seinen öffentlichen Regungen in der schönen neuen Welt der Arbeit hat unbedingt und mit Haut und Haar authentisch zu sein. Auch hier wieder: der scheinlose Schein des Scheins. Authentizität ist ein Produkt der Kulturindustrie, in der „verwalteten Welt“ (Adorno) dient sie als Spielmarke. Da, wo in den pervertierten Kreativitätsbranchen, den Software-Firmen und selbst noch im herkömmlichen Unternehmen die Arbeit als kreativer Prozeß gesetzt wird und samt dem individuell einzubringenden „Selbst“ zum Maß aller Dinge geworden ist, bleibt allenfalls noch der Gang zur Toilette der einzige Ort, wo der Angestellte oder die Sekretärin hemmungslos in Verzweiflung oder in der Abgeschiedenheit von Zwecken sein und verweilen können – sofern ihnen denn überhaupt noch etwas an den Dingen aufgeht und entgegenschlägt. Die Verdauungsfunktion gleichsam als Funktionslosigkeit und kontemplatives Refugium. Wir scheißen auf den Profit kann man an diesem Nicht-Ort mit dem Namen Lokus ganz wörtlich nehmen.

Von der Höhe und Breite der Projektionsfläche her ist das Bild aufgezogen wie eine Großformatphotographie. 60 Minuten können wir diesem Gruppenbild mit Damen und Herren zusehen und schauen, wie mühsam und arg es ist, über diesen Zeitraum hin zu lächeln. Fröhlichkeit kennt bekanntlich keine Grenzen. Witts Arbeit erweitert auf eine kluge Weise das Medium der Portrait- und Gruppenphotographie. Es bewegt sich diese Arbeit zwischen Video und Photographie, Stand- und Bewegungsbild. Einerseits bleiben die Positionen der Abgebildeten weitgehend unbeweglich und starr, und doch sieht man die Regungen der Beteiligten, betrachtet die zunehmende Anstrengung, das Lächeln über eine Stunde lang zu halten. Die Veränderungen in der Zeit, die ein Film festhalten kann, und die Situation, der Augenblick, den die Photographie bannt, verbinden sich zu einem bewegten Portrait. Auf einer zweiten Projektionsfläche lassen sich die Details der Gesichter betrachten, wir sehen die Anstrengung und auf welche Weise in der Mimik dieses Lächeln der einzelnen Beteiligten sich durchhält. Präsentation und Repräsentation spielen und simulieren in einer eigentümlichen Schleife ein Subjekt, das aus Funktionen besteht: Leistungsträger sind sie alle. Anna Witt erzeugt ein absurdes und trauriges Bild, das in der Tradition des Tableau vivant steht und es ins Groteske treibt.

„Get lucky!“ gerät in diesem Photographie-Video zu einem Imperativ, der genau in jene Tyrannei des Immergleichen sowie ins Zwanghafte mündet, das die Individuen gefangenhält. Mit Glück hat dieser Dauerfrohsinn samt der täglichen Nötigung rein gar nichts zu schaffen. Und er entlarvt noch die hohlen Phrasen des positiven Denkens gleich mit dazu. Die anfängliche Komik oder das Schmunzeln über diese absurde Lächel-Szenerie, das den Betrachter zunächst befallen mag, weicht schnell dem blanken Entsetzen an der Vorstellung, eine Stunde, die wie auf Dauer gestellt wirken mag, in dieser Weise posieren zu müssen. Der Arbeitstag der meisten Menschen freilich ist genau auf diese Funktionalität hin ausgerichtet. Da nützen alle schönen Phrasen, die (vermeintlich) flachen Hierarchien in den Unternehmen, die Meetingpoints, die Kicker, die Orangensaftmaschinen und die Kreativitätstäfelchen, die in den offenen Büros angebracht sind, nichts. Kapital bleibt Kapital, und Arbeit bleibt Arbeit.

Anna Witt spielt in ihrem Video sowohl mit dem Ausdruck eines Gesichts, als auch mit dem Ausdruck von Konventionen. Die Bewegung der Mimik vergegenständlicht sich absurderweise in die absolute Starre des Ausdrucks, in die Regungslosigkeit. Mythos ist bekanntlich die Wiederholung des Immergleichen. Wieder und wieder passieren menschliche Wesen die Sphinx und müssen ihre Fragen beantworten, ohne eine Antwort zu finden, immer wieder gleiten Schiffe an den Sirenen vorbei und zerschellen an den Verheißungen dieses Gesangs. Endlosschleife der immergleichen Scheiße. Der Begriff von Freiheit ist mittlerweile derart verstellt, daß er sich eigentlich nur noch ex negative denken, nicht aber mehr sinnvoll sich explizieren läßt. Selbst die Kunst kann nur hilflos deuten, oder sie verliert sich in affirmativer Ideologie, die das Bestehende kaschiert.

Die Ideologie des Lächelns als Ausdruck des Authentischen ist ubiquitär. Hören Sie zum Abschluß der Installation von Anna Witt als besinnlich-authentischen Ausklang Jürgen Markus mit „Ein Lächeln“.

Man kann den von Jürgen Markus angestimmten, ausdrucksvoll-bewegenden Gesang des Nichtssagenden, der noch dem popmusikalisch ausgefeilten Singer-Songwriter-Lied innewohnt, im Sinne von Susan Sontags Camp natürlich umdeuten. Wie jegliches von der subkulturellen Fabrikation zunächst als Distinktionsmerkmal belegt wird und dann im Schlager-Move und bei Gildo Horn landet. Kein Ort. Nirgends. Land des Lächelns als Farce. Asiatischer Arbeitsethos.

Daily Diary (103) Maitage, einstmals – über die Photographie

„Es wird keinen einzigartigen Namen geben …“

„Die Musen der Künste des ‚Scheins‘ verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet.“ (F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik)

Die Depotenzierung der Welt in der Photographie. Text und Dokument, Text und Fiktion. Jegliche Photographie ist eine Spur – und zwar in dem Konzept, wie Derrida es in seinem différance-Aufsatz vermerkte: Präsenz der Abwesenheit. Die Spur verweist auf nichts, das anwesend ist, sondern sie simuliert das Anwesen, nimmt eine Stellvertreterfunktion ein. Wie auch die Photographie. Sie streicht sich zugleich durch. Nichts bleibt.

„Es wird keinen einzigartigen Namen geben und sei es der Name des Seins. Und das muß ohne Nostalgie gedacht werden, will sagen, jenseits des Mythos von reiner Mutter- oder Vatersprache. Oder von der verlorenen Heimat des Denkens. Das muß im Gegenteil bejaht werden, wie Nietzsche die Bejahung ins Spiel bringt, als Lachen und Tanz-“ (J. Derrida, Die différance)

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