Braucht ein Krieg Kriegsbilder? Für die Heimatfront sicherlich, meist auch für die Propaganda, wenn man seinerzeit an die Wochenschau-Berichte denkt, nicht nur die propagandistischen deutschen während des zweiten Weltkriegs, sondern auch die in der Sache richtigen in den USA und England. Auch für die Berichterstattung, um eine Nachricht oder eine Reportage zu illustrieren und um zu zeigen, wie es im Wüstenkrieg der US-Army im Irak ausschaut. Kann man Krieg in Photos verklären, und inwieweit beeinflussen Photographien unsere Sicht auf ihn, indem Zeitungen ästhetisch ansprechende Kriegsphotographien drucken statt der Schockbilder? Diesen Vorwurf macht David Shields in seinem Buch „War Is Beautiful“ der „New York Times“. Tim Parks diskutiert in der Besprechung zu Shields Buch die Frage nach dem schönen Schrecken der Bilder. Zu finden ist dieser Beitrag in der New York Review of Books.
Eine alte Frage zwar, doch stellt sie sich immer wieder neu. Nicht erst seit Susan Sontags Kritik an der Photographie oder in Baudrillards provokant zugespitzter These „The Gulf War Did Not Take Place“, die er 1991 über den Irak-Krieg sowie dessen mediale Vermittlung äußerte. Wir sehen nicht mehr das, was ist – als ob je ein Bild das präsentieren könnte –, sondern medial Vermitteltes, und wie im Falle des Irak-Kriegs abstrakt-absurd anmutende, zugeschlierte Fernsehbilder: Grüngetönte, mit Nachtsichtgeräten aufgenommen Filmszenen, die angeblich zielgenaue Einschläge von Marschflugkörpern zeigen, Photos wie in einem B-Movie-Science-Fiction oder in einem aufgemotzten, frühen Konsolenspiel. Ohne Opfer, lediglich beschädigte Gebäude und Panzer. Von den Militärs und nicht von unabhängigen Kriegsreportern gelieferte Photos. Krieg kommt plötzlich als Präzisionsarbeit daher; Kriegsbilder passieren, wie schon im Zweiten Weltkrieg die Raster der Zensur, unterliegen einer Auswahl. Schön, schockierend, aufregend im Sinne einer Empörung oder einer Art visuellen Erklärung, geschweige denn irgendwie informativ waren diese Photographien aus dem Irak nicht. Es gab keine Opfer, es gab keinen Gegner. Die Photographien wirkten kalt, leblos, technisch.
Daß Photographien als effektive Waffe gegen den Krieg fungierten und dazu beitrugen, einen solchen Krieg zu beenden, passierte im letzten Jahrhundert ein einziges Mal: nämlich beim Vietnamkrieg, wo sich unkontrolliert und geradezu viral die Photos und Fernsehszenen vom Krieg, Brand und Gemetzel bis ins Wohnzimmer ausbreiteten. Als übten und testen die USA, was Bilder vermögen und als veranstaltete jemand ein Seminar über die Macht und die Reichweite von Bildern. Der Krieg in einem fernen Land wurde auch deshalb verloren, weil die Stimmung an der Heimatfront kippte. Durch Photographien und Fernsehbilder. Insbesondere die Photographien des Massakers von My Lai und jene Photographie des Polizeichefs von Saigon, Nguyen Ngoc Loan, der auf der Straße einem Mann in den Kopf schoß und ihn tötete.
In den Überlegungen zur Theorie der Photographie gibt es zahlreiche Argumente für und gegen solche Schockbilder. Bereits Roland Barthes wies 1957 in seinen „Mythen des Alltags“ auf das Problematische solcher Fotos hin. In Ausstellungen gezeigt, verkunsten sie das ganz und gar nicht in der Kunst Aufgehende. So schreibt Barthes über Kriegsbilder in einer Galerie unter der Überschrift „Schockphotos“, daß dieses Schreckliche fast immer überkonstruiert und effektheischend wirke. Im Grunde erschüttern diese Bilder uns nicht wirklich, die Photographien sind nicht als solche grauenhaft, sondern das Grauen rührt daher, daß wir sie aus unserer Freiheit heraus betrachten. Mit Abstand also, denke ich mir, und es kommt mir in diesen Ausführungen Barthes zur Photographie das Kantische Erhabene in den Sinn, delightful horror, aber aus der Ferne bitte, und zugleich auch erinnere ich mich an den Kleist-Satz im Angesicht von C.D. Friedrichs „Mönch am Meer“ aus den „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ aus den Berliner Abendblättern von 1810:
„Herrlich ist es, in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer, unter trübem Himmel, auf eine unbegrenzte Wasserwüste, hinauszuschauen. Dazu gehört gleichwohl, daß man dahin gegangen sei, daß man zurück muß, daß man hinüber möchte, daß man es nicht kann, daß man alles zum Leben vermißt, und die Stimme des Lebens dennoch im Rauschen der Flut, im Wehen der Luft, im Ziehen der Wolken, dem einsamen Geschrei der Vögel, vernimmt. Dazu gehört ein Anspruch, den das Herz macht, und ein Abbruch, um mich so auszudrücken, den einem die Natur tut. (…) Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da, (…) und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.“
Spannender Bruch im Blick. Mit Perspektive auf unser Meer im Heute auch im Hinblick auf das Mittelmeer, die Toten und die Kriege. Der Schnitt durch die Augenlider als Beschneidung des Sehens, wie später dann in jener Buñuel-Szene im Film „Ein andalusischen Hund“, gerät hier zu einer Art ethischem Imperativ und zugleich lassen sich solche Fotos eben auch ästhetisch lesen. Reales Grauen.
Bezogen auf den Ausstellungsort der Galerie schreibt Barthes, daß das Interesse, das wir an solchen Bildern nehmen, nicht den kurzen Moment ihrer Betrachtung überschreitet. Es hallen diese Bilder in dieser Situation nicht nach, die Bilder verwirren nicht, setzen unser alltägliches Bewußtsein nicht außer Kraft. Es bringt diese Art von Fotografie, in der sich Kunst und Dokumentation koppeln, uns nicht außer Fassung. Kleist würde das anders sehen. Vieles hängt an der Emphase des Zuschauers beim Schiffbruch. Meeresglück mit Schrecken.
Daß sich kunstmäßige Darstellungsform und Dokumentation teils durchdringen, ist richtig. Dies dies ist bei zahlreichen Kriegsphotographien der Fall – man denke an die Bilder von Robert Capa. Der Kritik von Barthes ist jedoch mit Kleist entgegenzuhalten, daß sich ebenso in der kontemplativen, ästhetizistischen Betrachtung mit dem Schock samt der prompt einschleichenden Gewöhnung zugleich Reflexionen einstellen, die an solche Bilder andocken. Gerade in diesen Prozessen des Denkens, im Verweilen und nicht im flüchtigen Vorbeistreifen an Fotografien, liegt das Potential der Bilder. Und es liegt ebenso im Aushalten dieses Szenarios. Der Betrachter muß sich dem stellen. Ob mit oder ohne Champagnerglas in der Hand.
Die amerikanische Essayistin Susan Sontag verhält sich gegenüber dem Medium Fotografie ebenso skeptisch wie Barthes in jener knappen Skizze. Der Titel ihres 1977 erschienen Buches „Über Fotografie“ müßte eigentlich, wie es der Bildtheoretiker Mitchell einmal sagte, „Gegen Fotografie“ lauten. Erst später, angesichts des Jugoslawienkrieges und in dem Buch „Das Leiden anderer betrachten“ änderte sie ihre Sicht. In jenem Anti-Photographie-Buch spielten für Susan Sontag die Bilder der befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen und Dachau eine zentrale Rolle. Um solcher Ereignisse willen, damit das, was abgebildet wurde, nicht im Wust und in der Flut der Bilder untergeht und so relativiert wird und der Moment des Schocks, der sich unwillkürlich einstellt, gemildert wird, erweist sich für Sontag die Fotografie als das am wenigsten geeignete Ausdrucksmedium, um sich dem Grauen anzunähern. Die Singularität eines (schrecklichen) Ereignisses geht verloren. Es ist die Flüchtigkeit des Bildes. Der Fotografie fehlt in der Sicht Sontags die „narrative Kohärenz“ wie Judith Butler dies in ihrem Buch „Krieg und Affekt“ nennt. Hinzu kommt ein zweiter zentraler Aspekt, der gegen die Photographie spricht: Die „schiere Unersättlichkeit des fotografischen Auges“, so Sontag, verändert unsere Sehgewohnheiten. Angefangen bei den Fotos von Sonnenuntergängen, die allgegenwärtig präsent sind und unsere Wahrnehmung von Natur durch die Allgegenwart solcher Photos anders strukturieren. Ähnliches gilt für die Schockbilder.
Hinzu kommt, daß der Fotografie etwas Lüsternes innewohnt. Sontag schreibt:
„Das Fotografieren hat eine chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt geschaffen, die die Bedeutung aller Ereignisse einebnet. (…) Das Fotografieren ist seinem Wesen nach ein Akt der Nicht-Einmischung.“
Weiter heißt es:
„Obwohl die Kamera eine Beobachterstation ist, ist der Akt des Fotografierens mehr als nur passives Beobachten. Ähnlich dem sexuellen Voyeurismus ist er eine Form der Zustimmung, des manchmal schweigenden, häufig aber deutlich geäußerten Einverständnisses damit, daß alles, was gerade geschieht, weiter geschehen soll. Fotografieren bedeutet an den Dingen, wie sie nun einmal sind, interessiert zu sein, daran, daß ihr status quo unverändert bleibt …“
Das ist sicherlich eines der härtesten, moralisch inspirierten Urteile gegen Fotografie, das eine Theoretikerin der Fotografie über dieses Medium hervorbringen kann. Was dem Fotografen also abgeht, ist das Engagement, die Parteinahme, die Empathie, und vor allem handelt es sich um einen passiven Akt, der das, was nicht sein soll, so beläßt wie es ist. Die Arbeit des Intellektuellen besteht jedoch nach Sontag im Engagement, um gesellschaftlich Schlechtes eingreifend zu verändern. Wer eine Erschießung fotografiert, wie in Vietnam, der ist passiv und verhindert sie nicht, so Sontag.
Was aber zeigen uns die Zeitungen und die Fernsehbilder vom Krieg? Was dürfen sie drucken und was nicht? In die Tageszeitungen gehören im Grunde genommen die ungeschminkten, ungeschönten Bilder hinein, nicht die unmittelbar ansprechenden, weil es um die harten Fakten geht. Dennoch besitzen auch solche eher verklärenden oder ansprechenden Photographien ihren Reiz, dienen der Information und müssen gezeigt werden. Aufgrund des Kontrafaktischen, weil sich in diesen Bildern ein Widersinn manifestiert und sogar multipliziert, den der Zeitungstext dann herausarbeiten kann: im ungeschönten Beschreiben und sich nicht mit einer Kriegspartei gemeinzumachen.
Schönheit inmitten des Grausamen. Programm jeder Ästhetik und jeder Kunst, die inmitten der Welt den Riß und den Bruch ausmacht. Ja, es gibt diese schönen Kriegsphotographien – schön nicht unbedingt vom Sujet her, aber doch durch die Komposition des Bildes. Man denke an Capas Bilder von der Landung in der Normandie, und selbst jenes Photo vom ersterbenden, fallenden Soldat im Spanischen Bürgerkrieg – eines der ikonischen Photographien – zeigt so etwas wie eine Schönheit des Schrecklichen. Man kann es auch mit dem Begriff „Ausdruck“ benennen: die Photographie besitzt eine Intensität.

Neben solchen Photographien der Intensität gibt es Kriegsbilder, die wirken, weil sie Absurdes zeigen und vor allem, weil sie extra für die Inszenierung gemacht sind und weil sie als Show für die anwesende Presse und damit auch für die Heimatfront dienen. Wir müssen insbesondere solche Photographien zu lesen und zu betrachten lernen, die nicht nur ikonographischen, sondern vor allem manipulativen Charakter haben. Etwa oben das Bild aus dem Irakkrieg, wo George W. Bush 2003 zum Thanksgiving den Soldaten einen Truthahn mit Früchten serviert. Inszenierte, vorgetäuschte Spontaneität. Das Obst ist aus Plastik, das Tablett scheint sich unter der Last zu biegen, doch der Vogel ist nicht echt und kaum zum Verzehr bestimmt. Ein bukolisches Lügen-Idyll, eine symbolische Lügen-Szene.
Anders verhält es sich mit den Photographien, die Grausames zeigen und dennoch ihren Reiz entfalten. Trümmerlandschaften, die wie hergerichtet wirken. So etwa in Jeff Walls inszenierter Photographie „Dead Troops Talk“ (nachzusehen unter dem Link). Tote, die in einer Grube zu ruhen scheinen. Wir aber sehen und denken zugleich: Diese Männer sind ja gar nicht tot. Sie sind es aber und sie sind es eben doch nicht, weil Walls Photographien inszeniert und nachgestellt sind. Damit spielen sie mit der Referenz: es sind diese Photographien kein Dokument, sondern, wie auch ein Schlachtengemälde von Eugène Delacroix, die eine Fiktion zeigen. Eine Fiktion freilich, die genausogut wahr sein könnte, weil sie uns etwas Exemplarisches zeigt. Walls Photographie referenziert insbesondere auf Duane Hansons 1967 gefertigter Arbeit „War, Vietnam Piece„. (Nachzusehen unter diesem Link). Ein Objekt, das tote und verwundete Soldaten uns zeigt. Die Bezüge der (inszenierten) Wall-Photographie zu Hansons Kunst-Objekt sind relativ evident. Nur daß sich das, was bei Hanson ein Ausschnitt ist, bei Wall zu einem Tableau, einer gleichsam malerischen Ansicht in Photographie weitet, die uns eine Realität zeigt, die wie photographisch-dokumentiert wirkt, es aber doch nicht ist. Bei Jeff Walls Bild durchdringen sich das Dokumentarische, das Ästhetische und das Darstellen der Kunst mittels Komposition und Phantasie, indem ein Künstler ein Bild inszeniert, das dann einen Eigenwert enthält.

Bilder von roher Gewalt, vom Schreckliche, vom Terror gibt es nicht erst, seit die Photographie zum Medium tagesaktueller Berichte wurde. Immer schon delektierten Menschen sich an Exzeß-Szenen im Modus des Ästhetischen, oder aber sie flößten ihnen unbändigen Schrecken ein und sollten dem Publikum auch genau diesen Schrecken einflößen, indem diese Darstellungen die Höllenszenarien und Verdammungen vor Augen führten.
In der bildenden Kunst des Christentums, des christlichen Europas hatte das Grausame früh seinen Ort. Ob bei Hieronymus Boschs Höllen- und Lustfahrten, die eher dem Bestiarium entsprangen, oder in einer der wohl extremsten Kreuzigungsszenen der Kunstgeschichte, nämlich der des Isenheimer Altars, die uns einen leidenden, am Kreuz verwesenden grüngelben Leib zeigt. Blut strömt aus der klaffenden Wunden, Fleisch ist zerrissen, der Körper ausgemergelt, mehr tot bereits als lebend. Wobei sich, dies muß dazu gesagt werden, dieser Altar keineswegs in einer Ästhetik des Schreckens erschöpft, sonder vor allem dient er im Gottesdienst einer symbolischen Illustration und einer Veranschaulichung des biblischen Geschehens für eine in der Regel des Lesens unkundigen Gemeinde. Die verschiedenen Öffnungsszenen des Objekts zu den unterschiedlichen Anlässen des Kirchenjahres weisen über eine bloße Ästhetik und über eine rein ästhetische, genießende Einstellung, wie wir sie heute hegen, hinaus. Trotz aller Ästhetik des Schreckens, wie wir sie heute wahrnehmen und die damit zugleich trotz Grauen etwas Schönes ist, war dieses Bild in einen sakralen und dadurch mit Walter Benjamin gesprochen in einen auratischen Kontext ausgestellt.
Aber nicht nur in den metaphysisch-theologischen Leid-Darstellungen stoßen wir auf den Schrecken, sondern ebenso begegnen wir ihm in den profanen Werken der Bildenden Kunst, wenn im Sinne des Realismus und als Appell ans Humane das Grauen des Krieges dokumentarisch ins Bild gebracht wurde. Drastisch in Jacques Callots „Les misères de la guerre“ und in Goyas „Desastres de la Guerra“. Doch spiegelt Kunst – sei sie auch dokumentierend – eine Realität wider? Das tut sie nicht einmal in ihren realistischen Varianten; noch der Realismus der bildenden Kunst ist – trivialerweise – nicht realistisch. Bilder repräsentieren nur bedingt. (Ich will die die Strategien der Repräsentation jedoch nicht umfassend in die Kritik nehmen, wie es in der Logik mancher Postmoderner der Fall ist. Es geht mir lediglich um einige einschränkende Bedingungen.) Den äußeren Bildern entsprechen innere. Bilder spiegeln unsere Sicht auf Realität, aber – trivialerweise – nicht diese selbst. Bilder und die Kunst überhaupt stellen eine Welt eigener Art ins Werk, darin liegt die Wahrheit der Kunst gegründet, die sich nicht bloß auf den Modus ästhetischer Erfahrung reduzieren läßt – heute ist das für viele aus jenem neoevangelikalen, neocalvinistischen Milieu der Linken nicht mehr klar. Es zeigen uns jene Bilder Weisen der Wahrnehmung, die mit ästhetischer Wahrheit korrespondieren. Kunst weiß etwas, das wir noch nicht wissen – zumindest nicht diskursiv. Eben das von Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“ genannte Verhältnis von Sagen und Zeigen, von diskursiver und ästhetischer Wahrheit. Dieses Spiel zwischen Diskursivem und Deiktischem, zwischen Wissen und Entzug macht, insbesondere im Sinne Adornos, den Rätselcharakter des Kunstwerks aus. Wobei dieser Rätselcharakter bei Adorno wesentlich an Werk und weniger ans Subjekt gebunden ist. Solches Verrätseln geschieht nicht in dem Sinne, wie ein Mensch sich ein Rätsel ausdenkt, das er dann einem anderen aufgibt.

Diese Logik kompositorischer Verdichtung und Transformation des Dokumentarischen, aber auch eines ästhetischen Überschusses gegenüber den kruden Fakten, ist etwa an Théodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“ (1819) zu sehen, wo ein historisches Ereignis dramatisch und dramaturgisch in einer einzigen Szene derart aufgeladen wurde, daß es auf dem Pariser Salon von 1819 einen Skandal hervorrief. Nicht mehr Könige und Helden zu Pferde, griechische Nymphen und antike Götter, historische Schlachten (die Franzosen hatten 1815 gerade eine entscheidende Schlacht verloren) oder Einschiffungen nach Kythera und galante Feste bildeten das Sujet. Sondern die Leiderfahrung derer ohne Namen und göttlichen Stammbaum. Geblieben ist lediglich der Name und der Schrecken der Medusa, zugleich der Name des Schiffes, auf dem die Unglücklichen segelten und insofern eine Mehrdeutigkeit, die nur der Zufall erfinden kann. Insofern kann man in diesem Kontext gut davon schreiben, daß Nomen eben Omen sei. Nämlich die gescheiterte Rettung Schiffbrüchiger von der 1816 im Atlantik gesunkenen französischen Fregatte „Méduse“. Vor der Küste Westafrikas spielte sich dank eines, so steht zu vermuten, inkompetenten Kapitäns ein Seefahrtsdrama ab. Die „Méduse“ lief auf ein Riff, an ein Freikommen war nicht zu denken. Da die Rettungsboote nicht ausreichten, baute man aus den Schiffsteilen ein großes Floß. Das weiße Personal, Handwerker, Offiziere retteten sich in die Beiboote. Für die übrigen, solche, die wir heute Underdogs nennen, blieb das karge Gefährt übrig. Söldner des afrikanischen Korps, Exhäftlinge, Nicht-Europäer; die einzige Frau dort war eine Marketenderin. Das Floß wurde an eines der Rettungsboote vertaut. Doch die im Boot kappten das Seil schließlich, so daß die Ansammlung aus Holz und Mensch ohne Steuerung über den Atlantik trieb. 147 Seelen auf engstem Raum. Die, die am Rande kauerten, mußten damit rechnen ins Meer gespült zu werden. Ein schrecklicher Überlebenskampf. Vor Hunger verspeisten sich die Schiffbrüchigen gegenseitig – der in solchen Fällen übliche Kannibalismus. Überlebenstrieb. Man erschoß 65 der Passagiere, warf Schwache ins Meer. 15 Menschen überlebten die Floßfahrt.
Als in Paris das Publikum dieses Gemälde sah, war es empört. Über das Bild, über das Sujet und das solches Elend plötzlich Gegenstand der schönen Kunst wurde. Doch nicht ein Bild ist Skandal, sondern das, was einem Bild zugrunde liegt. Das Reale, die Geschichte, die Wirklichkeit. Das sich Entziehende, Unabbildbare. Und dieses ist zudem kein Fatum, sondern von Menschen gemacht.
Die Condition humaine erweist sich in den Krisen als fragil, und der Lack der Zivilisation ist dünn aufgetragen. Freud machte sich in diesen Dingen keine Illusion. Das Unbehagen an der Kultur ist zugleich das an der menschlichen Unkultur. Und doch sollte man solches nicht als Wesensbestimmung lesen, sondern eher als eine Beschreibung, die auch andere Möglichkeiten bereithält.
In diesen Bildern des Grauens und in manchem radierten oder in Malerei ausgefahrenen „Dokument“ finden wir das, was sich mit dem Titel „Die Erschütterung der Sinne“ bezeichnen läßt, wie 2013 eine Ausstellung im Dresdener Albertinum benannt war. Bilder, die uns angehen. Im mehrfachen Wortsinne. Doch dieser Erschütterung unserer Wahrnehmung – sofern sie im musealen Kontext überhaupt noch möglich ist und nicht zur Behaglichkeit regredierte – wohnt zugleich jener feine ästhetizistische Lustreiz und Kitzel inne: der delightfull horror. Zumindest solange wir ins Grauen nicht involviert sind und die Möglichkeiten zu einer rein ästhetischen Haltung entwickeln, die wie beim Lukrezschen und Kantischen Konzept des Erhabenen auf einem Abstand beruht.
Interessant scheint mir dieser gleitende Blick insbesondere bei der Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust“ im Deutschen Historischen Museum. Zu sehen sind dort Grafiken, die im Geheimen von Häftlingen aus verschiedenen KZs, Arbeitslagern und Ghettos gezeichnet wurden. Aber ist es nicht vermessen, diese Zeichnungen mit dem Auge des Kunstkritikers zu betrachte und nach den Regeln der Kunst in ein Feld einzuordnen, das eben am Ende doch auch, trotz aller Dokumentation, ästhetisch ist? Es sind Kunstwerke und es sind zugleich Dokumente. Zeigen, wie es war. Mit dem Kunsthistoriker Didi-Huberman geschrieben, in bezug auf Photographien aus Auschwitz von den Verbrennungsöfen und vom Töten: „Bilder trotz allem“. Bilder als visuelle Dokumente, von einer Sache, die bisher nur in den Erzählungen der Überlebenden überliefert war. Bilder von Unglaublichem und Unfaßbarem.
Dennoch betrachten wir jene Bilder im Historiischen Museum eben auch als Kunstwerke. Weil sie es sind. Anders als jene in Didi-Hubermans Buch (und auch in einer Dokumentation über die Shoah) gezeigten Photographien aus Auschwitz-Birkenau. Kriegsphotographien hingegen leisten im Feld des Abbildrealismus den Schock- und Schönheitsmoment meist auf eine andere Weise noch. Diese Art von Photographien gibt es in verschiedenen Varianten. Seien es Photos, die einen verklärten Abdruck liefern und Kriegsszenen idealisieren (man denke auch das das Bush-Bild mit dem Truthahn zu Thangsgiving), wie wir sie häufig in Zeitungen und im Fernsehen vorgesetzt bekommen, was David Shields kritisierte. Bis hin zu Extrem und Drastik: Leichen und separierte Körperteile, Sterbende, auf einem Not-OP-Tisch Verblutende. Zerfetzte wie der Leib Christi am Kreuz, nur nicht gemalt, sondern hart am Limit photographierte Szenen wie wir sie in Christoph Bangerts Kriegsphotobuch „War Porn“ oder in Stanley Greenes „Black Passport“ uns betrachten können. Photographien aus der Hölle. Was sie von Kunst unterscheidet, ist ihr Status: Sie sind oder sie bleiben reines Dokument, selbst da, wo man sie in Ausstellungen zeigt und wo sie einen gewissen Reiz hervorrufen könnten. Man kann davor mit einem Glas Champagner stehen. Man kann diese Bilder sogar genießen, selbst die schrecklichsten: als Form der Dekadenz, der Gedankenlosigkeit, aber eben auch als Protest gegen eine Betroffenheitsunmittelbarkeit, die als eingeschliffene Verhaltensweise einen instrumentellen Zug hat und in den Kitsch der guten Gesinnung übergleitet. Wie auch immer man sich zu diesen Photographien aber verhält: Ihre Referenz bleibt die Realität – selbst dann, wenn wir nicht die Geschichten kennen, die hinter solchem Tod stecken.
Copyrightnachweise
Bild 1 entnommen von The New York Review of Books:
»Ozier Muhammad/Redux
A US marine convey, north of the Euphrates, Iraq; photograph published in The New York Times on March 26, 2003, and included in War is Beautiful«
Bild 2: Reuters/Niedringhaus, aus: SpOn.
Bild 3: Bersarin, 2011, im Musée d’Unterlinden, Colmar
Bild 4: CC-Lizenz, Wikipedia.