Unter dem Himmel von Paris – Charles Baudelaire zum 200. Geburtstag

„Die Schwelle, die den avancierten Künstler von dem Muff des Heilen scheidet, ist heute wie vor hundert Jahren, als die ‚Fleurs du mal‘ geschrieben wurden, daß er dieser Schönheit ohne Reservat sich überantwortet. Was ein Kind empfindet, das im Neuschnee seine Fußspur hinterläßt, zählt zu den mächtigsten ästhetischen Triebkräften.“
(Th.W. Adorno, Kriterien der neuen Musik)

Wie Baudelaires Kindheit war, wissen wir nicht, wir wissen aber von seiner Dichtung und daß wir heute seinen 200. Geburtstag feiern. Fangen wir von hinten an, beginnen wir mit dem Tod – was ja, wenn ich manchen Motiven seines 1857 erschienenen Gedichtbandes „Les Fleurs du Mal“ folge, kein Abweg ist. So etwa in dem Gedicht „Ein Aas“, darin ein Kadaver eine Rolle spielt.

Charles_Baudelaire_1855_NadarWer in Paris weilt und durch die Stadt schlendert, wird womöglich, weil er als Tourist in den Reiseführern von den Friedhöfen gelesen hat, auch auf den Cimetière Montparnasse gelangen – da, wo es „zum Sterben schön“ zugeht, im gleichnamigen Viertel, wo früher einmal die Bohème zwischen Picasso und Sartre exaltiert lebte, dachte und schuf. Auf jenem Friedhof liegen viele der berühmten französischen Künstler und Philosophen begraben, von Sartre und Simone de Beauvoir bis hin zu Serge Gainsbourg und dem nicht ganz so französischen Samuel Beckett. Wenn der Grabgänger auf diesem herrlichen Friedhof auf das Grab von Baudelaire trifft, findet er auf jener Grabplatte, wie bei Prominentengräbern oft der Fall, Devotionalien und Dingen abgelegt: Blumen, Bilder, Figuren, Steine, Zigaretten, bei Gainsbourg sogar ein Blumenkohl, und bei Baudelaire eben Tickets der Pariser Metro. Die Bedeutung dieser Tickets hatte sich mir zunächst nicht ganz erschlossen, als ich vor dem Grab des Dichters stand. Ich vermute aber, es hängt mit Baudelaires besonderem Verhältnis zur Großstadt Paris zusammen, jene Stadt, die er in den „Fleurs du Mal“ und insbesondere in den „Tableaux Parisiens“ und dann auch in seinem Prosagedicht „Spleen de Paris“ bedichtete. Jene „Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ wie Walter Benjamin schrieb, so wie überhaupt seine beiden Baudelaire-Studien nicht nur in bezug auf Baudelaire, die Moderne und „Das Paris des Second Empire“ als eine materialistische Ästhetik bedeutsam sind, sondern auch im Blick auf die Physiognomie eines Zeitalters, in dem Baudelaire lebte und wo zu einem Teil das entstand, was wir die ästhetische Moderne des 20. Jahrhunderts nennen: der Künstler als Souverän und Zerstörer in einem, der Mensch in der Menge, der Flaneur, das Lumpenproletariat, die Schönheit im Vergehen und im Vergänglichen, der Augenblick, die Stadt als Raum, Landschaft und Mythos – all dies findet sich bei Baudelaire und das reicht bis in die französische Literatur des frühen 20. Jahrhunderts und insbesondere hin zum Surrealismus. Man denke nur an Louis Aragons großartiges Buch „Le paysan de Paris“.

Dazu kommt, als Arsenal bei Baudelaire, der dem bürgerlichen Leben sich widersetzende Bohème und der Dandy als Typus zwischen Aussteiger und Rebell, Reste Satans und Taugenichts, eine Figur, die ostentativ nach außen trägt, daß sie Zeit hat, die nicht durch Arbeit verschlungen wird, und dies zeigt der Dandy-Flaneuer, indem er statt mit einem Hund mit einer Schildkröte spaziert, wie Benjamin es an einer Stelle im „Passagenwerk“ beschreibt. Die Stadt als Sujet und zugleich als Erkundungsraum für den Dandy, die Stadt als Möglichkeit. Mit all ihren Tücken und Makeln: die Menschenmassen, die Geräusche, Pferdefuhrwerke, Droschken, Gestank, Aufruhr, Bettler und Geschäftige, Huren, Lumpensammlern, die Apachen und Säufer. Straßenszenen und die schweifenden Imaginationen des wilden Poeten. Unter Rausch, unter Opium, unter Haschisch in den „künstlichen Paradiesen“, so ein Essay von Baudelaire, oder aber bei kaltem klaren Bewußtsein des Beobachters. Nicht irgendeine Großstadt, nicht bloß Vetterchens Eckfenster von E.T.A. Hoffmann in Berlin, am piefigen Gendarmenmarkt, sondern die Metropole des 19. Jahrhunderts: Paris – Stadt des Ereignisses, von der jener Stoß nicht nur in die ästhetische Moderne ausging. Die „Fleurs du Mal“ sind auch das Durchschreiten einer Stadtlandschaft: das Erfassen eines Raumes mittels Reise. Insofern passen die Metrotickets auf dem Grab. Wer je mit der Metro durch Paris fuhr und an so unterschiedliche Stationen wie „Opéra“ und „Barbès – Rochechouart“ hielt, bemerkt, wie das Publikum sich wandelt.

Diese Großstadt, die in der Lyrik an die Stelle der Natur rückt bzw. eine eigene Art von Natur bildet, nämlich eine künstlich, darin dem Dichter alles zur Allegorie wird, ist das Sujet Baudelaires: sei es in den „Les Fleurs du Mal“ und weniger verschlüsselt und drastischer noch in den Prosagedichten der „Spleen de Paris“. Ebenso geschieht dies in seinen Tagebuchaufzeichnungen und Notizen, die den Charakter von Aphorismen haben: Sie heißen „Raketen“ und sie funktionieren auch als solche Leuchtspurmunition. Blitzartig werfen diese Aphorismen ein Licht, das zugleich wieder verschwindet. Oder wie es in den „Fleurs du Mal“ in jenem bekannten Gedicht „A une passante“ heißt: „Un éclair … puil la nuit!“

Ein Aufblitzen, erscheinen und wieder verschwinden und dazwischen jene drei Punkte Dehnung. Solches Aufscheinen findet sich ebenfalls in den Sternen. Wir ordnen sie nach einem willkürlichen Prinzip und geben ihnen Namen. An Sternzeichen zu glauben, mag Humbug sein, doch scheint mir dieser Glaube aus ästhetischen Gründen interessant, und zwar weil es in unserer transzendenzlosen Zeit irgendwie tröstlich oder einfach nur schön ist, daß da etwas im Himmel scheint, was mit uns zu tun hat. Und sei es in der Ferne eines finsteren, kalten Raumes, noch über dem Himmel hinaus. Ähnlich wie ein Feuerwerk, das im Aufgehen und Verglühen etwas mit den Sternen gemeinsam hat – eine Beobachtung, die Theodor W. Adorno in seiner Ästhetik machte, wenn er von der apparition spricht, jenem kurzen Aufscheinen und Wiederverglühen einer Himmelserscheinung: „Am nächsten kommt dem Kunstwerk als Erscheinung die apparition, die Himmelserscheinung. Mit ihr halten die Kunstwerke Einverständnis, wie sie aufgeht über den Menschen, ihrer Intention entrückt und der Dingwelt.“ (Adorno, Ästhetische Theorie)

Walter Benjamin machte im „Passagenwerk“ die Bemerkung, daß jemand wie Baudelaire in der lichtdurchfluteten Großstadt im Paris des 19. Jahrhunderts jenen Satz Kants vom moralischen Gesetz in ihm und vom bestirnten Himmel über ihm (und damit auch der Idee des Erhabenen) nicht hätte schreiben können: weil es bei all der Illumination von Paris keinen Himmel und keine Sterne mehr zu sehen gibt.

„Quand le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle/ Sur lʼesprit en proie aux longs ennuies“
(„Wenn tief und schwer der Himmel den Geist, den ächzend von Verdrossenheit geplagten, wie ein Deckel drückt …“*)

Dafür aber gibt es, wie zum Anfang von „A une Passante“, Geräusche der Stadt:

„La rue assourdissante, autour de moi hurlait“
(„Betäubend heulte die Straße rings um mich“)

Wir können uns diese Sentenz über die Straßenbeleuchtung und den bestirnten Himmel auch als eine Art Metapher für die Transzendenzlosigkeit vorstellen. Und an dieser Stelle eben setzt die Kunst ein: Wir müssen verzaubern! Wir müssen uns die Transzendenz von irgendwoher borgen oder sie inszenieren. Das ist eine Frage des Gelebtwerdens. Traditionen, die nicht mehr lebendig sind, sterben – wir beten dann, wie es der Reformsozialist und Pazifist Jean Jaurès sagte, nur noch die Asche an. Auch das ist jene von Georg Lukács in der „Theorie des Romans“ konstatierte transzendentale, metaphysische Obdachlosigkeit. So richtet man sich im Grandhotel Abgrund oder in der Kunst ein. Ästhetizismus mithin, eine Art Jenseits im Diesseits: unterm leeren Himmel.

Die „Fleurs du Mal“ als einen der Gründungstexte moderner Lyrik zu bezeichnen, dürfte nicht falsch sein, und zugleich finden wir darin jene „Querelle des Anciens et des Modernes“ wieder: Antike Ruinen in der modernen Großstadt. Und auch formal findet sich diese Verquickung, wenn in dieser Dichtung traditionelles Versmaß wie der Alexandriner und althergebrachte Gedichtform wie das Sonett mit neuem Sujet sich mischte: die Lichter der Großstadt glitzern, eine alte Zeit verfällt, Häßliches wird besungen, der Dichter ein Albatros: an Land ein Tollpatsch, aber im Fluge, den Menschen entrückt, wunderschön – so in Baudelaires Gedicht „LʼAlbatros“. Und ansonsten begegnen wir in den „Fleurs du Mal“ Dirnen, Bettlern, Lumpensammlern, käuflichen Musen, Säufern, Erinnerungen und Abgründen. Die kalte Apperzeption im Blick des Dichters wirft ein Licht auf das, was sich auf seinen Wegen findet: Objet trouvé, die zu Allegorien geraten. Dieser Nexus deutet aufs Phänomen des Modernen: die Sprachgestalt und ebenso die Weise, wie Dichtung ihren Stoff bearbeitet, den Lyriker, den Beobachter selbst und das Beobachtete zu konfigurieren, in einem Bild zusammenschießen zu lassen, mal als Photographie, die eine Straßenszene bannt (obgleich Baudelaire die Photographie wegen ihres Abbildrealismus als Kunstform verachtete), die vorbeieilende Unbekannte in der Menge, aus der Masse heraus im Augenblick wahrgenommen und schon wieder vorüber („A une Passante“), der Dichter registriert und phantasiert einer Gestalt hinterher, die Flüchtigkeit des Moments. Oder ein anderes Mal die Innerlichkeit eines Exzesses, im Erinnern des Degoutanten, Verfallenes, das da am Wegesrand beim Spazieren in den Blick kommt, Wesen und Verwesen, nämlich ein Aas als Bild unserer Vergänglichkeit und simultan perspektiviert als Schönheit des Verfalls.

Rappelez-vous lʼobjet que nous vîmes, mon âme,
Ce beau matin dʼété si doux:
Au détour dʼun sentier une charogne infâme
Sur un lit semé de cailloux,

(Gedenke des Dinges, das wir sahen, meine Seele, an jenem Sommermorgen, der so lieblich war: an eines Weges Biegung lag schändlich auf kieselübersätem Bett ein Aas;)

Häßliches und doch Alltägliches beschreibt der Dichter: Gestank und Verwesung von einst Lebendigem. Böse dann der Bruch, wenn jene Geliebte, mit der das lyrische Ich da spaziert, ebenfalls als ein solch vergängliches Wesen bedacht wird:

Oui! telle vous serez, ô la reine des grâces,
Apres les derniers sacrements,
Quand vous irez, sous l’herbe et les floraisons grasses,
Moisir parmi les ossements.

Alors, ô ma beauté! dites à la vermine
Qui vous mangera de baisers,
Que j’ai gardé la forme et l’essence divine
De mes amours décomposés!

(„Ja! Derart wirst du sein, o Königin an Reizen und Anmut, wenn, nach den Sterbesakramenten, du unter Gras und fetten Blumen dich betten wirst, zu schimmeln zwischen dem Gebein.

Dann, o meine Schönste! Sag dem Gewürm, das küssend dich verspeisen wird, daß ich die Form, den göttlichen Gehalt bewahrte meiner Liebe, die in dir zerfällt.“)

Das Ideal als unvergängliches Wesen und der Spleen (Stefan George übersetzt ihn mit Trübsinn und das Ideal mit Vergeistigung) also ein subjektives Befinden, diese neue Seltsamkeit des Gemüts, aufgesteigert zu höchster Wahrnehmung, zu Intensität und Idiosynkrasie: bewahrt in der Dichtung und durch den Dichter, all diese Momente dichtete Baudelaire, schrieb es in Notizen und Essays zur Kunst:

„Das Schöne wird aus einem ewigen unveränderlichen Element gebildet, dessen Qualität außerordentlich schwierig zu bestimmen ist, und aus einem relativen, bedingten Element, das, wenn man will, nacheinander oder zugleich von der Epoche der Mode, dem geistigen Leben, der Leidenschaft dargestellt wird.“ (Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens).

In solchem Sinne koppeln sich bei Baudelaire in den „Blumen des Bösen“ Mode und Moderne, Schönheit und Häßliches, Unvergängliches und die Flüchtigkeit der Zeit. Um diese gesteigerte Schönheit sinnlich zu erfahren, ist es gut, die Gedichte laut und im Original zu lesen. Um den Klang der Wörter, um jede Silbe als Hauch wahrzunehmen und weil dieser Rhythmus des Sonetts dich Leser spüren läßt, weshalb Lyrik eine körperliche Sache ist:

„Que nos rideaux fermés nous séparent du monde,
Et que la lassitude amène le repos!
Je veux m’anéantir dans ta gorge profonde,
Et trouver sur ton sein la fraîcheur des tombeaux!“

Ich lege mir für solche Zeilen die Interlinearübersetzung von Friedhelm Kemp daneben.

Baudelaires legendärer Gedichtband erschien im selben Jahr wie auch Flauberts „Madame Bovary“ und Adalbert Stifters „Der Nachsommer“. Gleichsam die verschiedenen Schreibformen der klassischen Moderne in drei Werken in nuce – 1857. Es erweckten die „Blumen des Bösen“ – wie auch „Madame Bovary“ – sogleich den Zorn der Öffentlichkeit, es wurde noch im selben Jahr prozessiert. Die träufelnde „verderbliche Wirkung der Bilder“ und die „Verhöhnung der öffentlichen Moral und der guten Sitten“, derentwegen Baudelaire zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Er mußte sechs Gedichte aus dem Band tilgen.

Die Moderne bricht sich Bahn, nicht nur weil es die Stadt als neue Lebensform gibt, sondern vor allem, weil neue Technik die Welt radikal änderte. Doch Charles Baudelaire haßte die Ausprägungen dieser Moderne. Das Gaslicht von Paris und auch das Neue der Stadt: die Haussmannschen Architektur und jene breiten Boulevards, die auch dazu dienten, Aufstände besser zu bekämpfen und Artillerie auffahren zu lassen,– all das war ihm suspekt:

Le vieux Paris nʼest plus (la forme d’une ville
Change plus vite, hélas! que le coeur dʼun mortel);

Je ne vois qu’en esprit tout ce camp de baraques,
(Le Cygne)

„Das alte Paris ist nicht mehr (die Gestalt einer Stadt wechselt rascher, ach, als das Herz eines Sterblichen);
Nur im Geiste seh ich noch dieses ganze Barackenlager vor mir, …“
(Der Schwan)

Und weiter:

„Paris change! mais rien dans ma mélancolie
N’a bougé! palais neufs, échafaudages, blocs,
Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie
Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs.“

„Paris verändert sich! nichts aber hat in meiner Schwermut sich bewegt! neue Paläste, Gerüste, Steinböcke, alte Vorstädte, alles wird mir zur Allegorie, und meine liebsten Erinnerungen lasten schwerer als Felsen.“

In die Lumpen gedichtet, dem Rotwein, den Drogen zu, der Dichter ein Albatros oder einfach ein loser Vogel, der durch die Stadt streift. Walter Benjamin assoziierte in seiner großen Baudelaire-Studie den Dichter mit dem Lumpensammler zusammen. Über jene verstoßene Klasse schreibt Benjamin:

„Lumpensammler traten in größerer Zahl in den Städten auf, seitdem durch die neuen industriellen Verfahren der Abfall einen gewissen Wert bekommen hatte. Sie arbeiteten für Zwischenmeister und stellten eine Art Heimindustrie dar, die auf der Straße lag. Der Lumpensammler faszinierte seine Epoche. Die Blicke der ersten Erforscher des Pauperismus hingen an ihm wie gebannt mit der stummen Frage, wo die Grenze des menschlichen Elends erreicht sei.“ (Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire)

Pauperismus ist in diesem Kontext das entscheidende Wort. Eine immer verfügbare Reservearmee der Arbeiter. Es begegnet uns in der Dichtung nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine soziale Moderne. Baudelaires Protest jedoch war ästhetisch motiviert, er entlud sich in der Dichtung und nicht in politischen Proklamationen und einer Bekenntnisdichtung der bodentiefen Fenster. Und doch entstand gerade dadurch das Bild von Gesellschaft – gleichsam im Nebensatz. Der Dichter stöbert, sucht, sammelt. Seine Dichtung ist mit dem angereichert, was er einst auflas:

„Ich habe mehr Erinnerungen, als wär ich tausend Jahre alt.

Ein großes Möbel mit Schubfächern, voll Abrechnungen, Versen, Liebesbriefen, Prozessakten, Romanzen und schweren Haaren, die man in Quittungen gewickelt hat, birgt weniger Geheimnisse als mein trauriges Hirn. Eine Pyramide ist es, eine ungeheure Gruft, die mehr der Toten als das Massengrab enthält.

J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans.

Un gros meuble à tiroirs encombré de bilans,
De vers, de billets doux, de procès, de romances,
Avec de lourds cheveux roulés dans des quittances,
Cache moins de secrets que mon triste cerveau.
C’est une pyramide, un immense caveau,
Qui contient plus de morts que la fosse commune.
(Baudelaire, Spleen)

Mit diesem Sammeln ist eine Melancholie verbunden, die Melancholie als Todesbewußtsein – wie schon in jenem „Aas“. Die Metapher der Pyramide als Erinnerungsschacht – wir denken dabei an Hegels Pyramide und Derridas Lektüre jenes Hegelsatzes, der auf die Arbeit des Dichters deutet: „Das Zeichen ist irgend eine unmittelbare Anschauung, aber die eine Vorstellung von ganz anderem Inhalt vorstellt, als sie für sich hat; – die Pyramide, in welche eine fremde Seele versetzt und aufbewahrt ist.“ (Hegel, Enzyklopädie)

Ohne im Detail auf die Frage der Zeichen sich zu kaprizieren, kann man ähnliches von der Dichtung Baudelaires sagen – zumal der Blick auf die Verheißungen des Orients fürs 19. Jahrhundert en vogue war. Die Dichtung Baudelaires wirkt in einem ähnlichen Sinne, sie hebt auf und verwahrt: eine Pyramide, in der ein Fremdes versetzt, aufbewahrt und zugleich aufgebahrt ist.

Aus der natur belebten tempelbaun
Oft unverständlich wirre worte weichen ·
Dort geht der mensch durch einen wald von zeichen
Die mit vertrauten blicken ihn beschaun.

„La Nature est un temple où de vivants piliers
Laissent parfois sortir de confuses paroles;
L’homme y passe à travers des forêts de symboles
Qui l’observent avec des regards familiers.“
(Baudelaire, Correspondance, Übersetzung: Stefan George)

Himmelstürzende, verdrehte Dichtung oder wie wir schon bei Hölderlin, Büchner und Celan sahen: Wer auf dem Kopf geht, hat den Himmel unter sich als Abgrund:

„Race de Caïn, au ciel monte,
Et sur la terre jette Dieu!“

Charles Baudelaire wird am 9. April 1821 in Paris in der Rue Hautefeuille 13 geboren.

* Die deutschen Zitate Baudelaires stammen aus der Interlinearübersetzung von Friedhelm Kemp.

Photographie: Charles Baudelaire 1855 Nadar (gemeinfrei)

Vom Gebirge: Paul Celan zum 100. Geburtstag

Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.
Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen
und irgendwer steht auf dahier…
Den will er über die Kastanien tragen:
„Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!
Erst jenseits der Kastanien ist die Welt…“

Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun,
dann halt ich ihn, dann muß er sich verwehren:
ihm legt mein Ruf sich ums Gelenk!
Den Wind hör ich in vielen Nächten wiederkehren:
„Bei mir flammt Ferne, bei dir ist es eng …“
Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun.

Doch wenn die Nacht auch heut sich nicht erhellt
und wiederkommt der Wind im Wolkenwagen:
„Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!“
Und will ihn über die Kastanien tragen –
dann halt, dann halt ich ihn nicht hier…

Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.

So heißt es in einem frühen Gedicht Celans, aus dem Jahr 1939/1940, das den Titel „Drüben“ trägt. Es klingt wie ein Wispern und das Rauschen eines Versprechens – vielleicht eines schwarzromantischen, von einem Drüben, von einem anderen Ort her. So ganz mag man dieser Stimme, die da ruft und eine Welt jenseits der Kastanien verspricht, nicht trauen, so schön sie zugleich und so betörend-lockend sie sich auch ausnimmt. Und ebenso befremdlich zunächst scheint jenes Ich, das da antwortet und spricht und erzählt und zirpt wie es Heimchen tun. Und doch besitzt das Gedicht, trotz oder gerade wegen jener Bilder von Natur, einen harten Grundton, in dem viele der Motive, die Celan später ausfalten wird, bereits angelegt sind. Ein Düsteres, ein zunächst rätselhaft Anmutendes, ein Ich und ein Du, ein Anderes. Es liegt freilich in dem Versprechen eine Drohung: was als Utopie einer Natur scheint, kann auch Verhängnis bedeuten. Roter Fingerhut etwa ist, als Digitialis bekannt, eine giftige Pflanze, kann aber in der richtigen Dosis genauso als Heilpflanze gegen Herzinsuffizienz eingesetzt werden. Engelsüß ist eine Farnpflanze, die in ihrem Begriff zunächst Angenehmes zu assoziieren scheint und wenn man von ihr ißt, besitzt sie einen süßen Geschmack. Und auch klingt der Erlkönig, gar eine Erkönigin aus der Lyrik heraus: daß da einen jemand wispernd mitnimmt. Jene Ferne, die nicht schwierig mach, und das ist eben auch jene Goethesche aus der „Seligen Sehnsucht“: „Keine Ferne macht dich schwierig,/ Kommst geflogen und gebannt,/ Und zuletzt, des Lichts begierig,/ Bist du Schmetterling verbrannt.“ Dieses Begehren und dieser Sturz ins Licht fordern einen Preis, sind aber zugleich Garant fürs Stirb und Werde.

Als empirische Wesen freilich können wir dies nur ein einziges Mal, insofern muß man dieses Gedicht eher als ein Sinnbild verstehen: sich aufgeben, um sich zu gewinnen. Davon freilich ist in Celans Gedicht wenig zu verspüren. Eher ist es ein Lockgedicht, darin von einer seltsamen Verheißung gesprochen wird, von der man nur in Andeutungen weiß, was sie bedeuten könnte. Daß es da womöglich auch ein Grab in den Lüften – oder hier in „Drüben“  an einem anderen Ort gibt, an dem man nicht eng liegt, kennen wir aus dem wohl bekanntesten späteren Gedicht Celans, nämlich der „Todesfuge“. Sie entstand 1944, 1945, nachdem Celans Eltern und Verwandte von Deutschen bzw. im Auftrag von Deutschen ermordet wurden. So heißt es in der Todesfuge: „wir schaufeln ein Grab / in den Lüften / da liegt man nicht eng“ 

Zugleich finden wir hier aber auch so etwas wie eine Naturlyrik. Und daß Dichtung – nicht Kunst, dieser Unterschied war Celan nicht erst seit seiner Büchnerpreisrede wichtig – etwas mit Landschaft zu tun hat, wissen wir etwa aus Celans „Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen“ (1958):

„Die Landschaft, aus der ich – auf welchen Umwegen! Aber gibt es das denn: Umwege? -, die Landschaft, aus der ich zu Ihnen komme, dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein. Es ist die Landschaft, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil jener chassidischen Geschichten zu Hause war, die Martin Buber uns allen auf Deutsch wiedererzählt hat. Es war, wenn ich diese topografische Skizze noch um einiges ergänzen darf, das mir, von sehr weit her, jetzt vor die Augen tritt – es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten.“ 

Solche Landschaften werden von verschiedenen Linien gekreuzt, so daß sich in einer solchen Landschaft aus Büchern und Menschen und eben auch aus der Natur unterschiedliche Ebenen sammeln und für einen Augenblick verbinden können. Celan hat dafür in seiner Poetik das Bild des Meridians gefunden. Auch in dem „Gespräch im Gebirg“ vom August 1959, das zugleich ein nie stattgefundenes Gespräch mit Adorno ist – unter anderem über das Judentum – finden sich neben den Fragen der Poetik auch solche Aspekte der Landschaft:

„Die Geschwätzigen! Haben sich, auch jetzt, da die Zunge blöd gegen die Zähne stößt und die Lippe sich nicht ründet, etwas zu sagen! Gut, laß sie reden …
›Bist gekommen von weit, bist gekommen hierher …‹
Bin ich. Bin ich gekommen wie du.«
›Weiß ich.‹
›Weißt du. Weißt du und siehst: Es hat sich die Erde gefaltet einmal und zweimal und dreimal, und hat sich aufgetan in der Mitte, und in der Mitte steht ein Wasser, und das Wasser ist grün, und das Grüne ist weiß, und das Weiße kommt von noch weiter oben, kommt von den Gletschern, man könnte, aber man solls nicht, sagen, das ist die Sprache, die hier gilt, eine Sprache, nicht für dich und nicht für mich – denn, frag ich, für wen ist sie denn gedacht, die Erde, nicht für dich, sag ich, ist sie gedacht und nicht für mich –, eine Sprache, je nun, ohne Ich und ohne Du, lauter Er, lauter Es, verstehst du, lauter Sie, und nichts als das.‹“

Komponiert ist diese Szene als Dialog, nämlich die beiden Juden, die einander treffen und da durch das Gebirge gehen, und wo zwei Juden zusammenkommen, da ist kein Schweigen und keine Natur mehr. Sie sprechen,

„Still wars also, still dort oben im Gebirg, Nicht lang wars still, denn wenn der Jud daherkommt und begegnet einem zweiten, dann ists bald vorbei mit dem Schweigen, auch im Gebirg. Denn der Jud und die Natur, das ist zweierlei, immer noch, auch heute, auch hier.“

Das Ich und das Du sind im Sprechen. Zu einem Teil auch unterschiedslos geworden, so daß vor lauter Sprechen kein Ich und kein Du mehr, inmitten einer Gebirgslandschaft, und da ist zugleich wieder die Geologie im Spiel, viel Eis, Höhe und eine damit verbundene Kälte. Eine Sprache dort, nicht für dich und nicht für mich, wie es bei Celan heißt. Was der eine sagt, kann und wird genauso vom anderen gesagt. Einzig das Er und das Es und das Sie haben Bestand. Daß in dieser Gebirgsregion die Sprache spricht, als eine seltsam anonyme Instanz, die sich nicht um den Menschen schert („das ist die Sprache, die hier gilt, eine Sprache, nicht für dich und nicht für mich“) bleibt festzuhalten. Und es fragt sich, wer eigentlich das Subjekt ist, das aus diesem Text spricht. Motive auch aus der „Engführung“ finden sich hier: „hörst du mich, du hörst mich, ich bins, ich, ich ich und der den du hörst, zu hören vermeinst, ich und der andere, – …“ Es sind poetische Evokationen. Auch ein gewisser Wahnsinn ist in dieser Dichtung, und muß nicht, wie wir seit Platons Phaidros und auch seit der Klassischen Moderne eines Nietzsche, eines Artaud, eines Bataille wissen, in jeder Dichtung ein gewisser Wahnsinn wohnen? Oder zumindest so etwas wie eine Begeisterung, die nahe am Wahnsinn sein kann – als Überborden. So geht die Dichtung als Sprache. Um dann wenig später jenen Büchnerschen Lenz zu nennen:

„da ging  er also und kam, kam daher auf der Straße, der schönen, der unvergleichlichen, ging, wie Lenz, durchs Gebirg, er den man hatte wohnen lassen unten, wo er hingehört, in den Niederungen, er, der Jud, kam und kam.“

Vieles von der Faszination dieses Prosa Celans – des einzigen Prosatextes meines Wissens – geht auch von diesem Ton aus, von den Wiederholungen, der seltsamen Sprache, die eben auch solch einen jüdischen Tonfall, zumindest aber einen deutlich fremden assoziiert.

Es mag in Hinsicht auf die Landschaftsbilder interessant sein und dagegen oder besser dazu eine Passage Adornos zu kontrastieren, die er über Sils Maria und die Landschaft des Engadins schrieb, der Ort, wo sich Adorno und Celan hätten begegnen sollen – und nebenbei einer der vielen verpaßten Begegnungen Adornos; so auch mit Herbert Marcuse, ebenfalls im Engadin verpaßt, kurz vor Adornos Tod 1969, um sich auszusprechen und zu versöhnen. Es ist diese in der Süddeutschen Zeitung 1966 erschienene Skizze „Aus Sils Maria“ eine Ergänzung oder auch eine (implizite) Antwort Adornos an Celan. Er schreibt über jene Landschaft: 

„Wer einmal den Laut von Murmeltieren hörte, wird ihn nicht leicht vergessen. Daß er ein Pfeifen sei, sagt zu wenig: es klingt mechanisch, wie mit Dampf betrieben. Und eben darum zum Erschrecken. Die Angst, welche die kleinen Tiere seit unvordenklichen Zeiten müssen empfunden haben, ist ihnen in der Kehle zum Warnsignal erstarrt; was ihr Leben beschützen soll, hat den Ausdruck des Lebendigen verloren. In Panik vorm Tod haben sie Mimikry an den Tod geübt. Täusche ich mich nicht, so haben sie während der letzten zwölf Jahre, als das Camping vordrang, immer tiefer in die Berge sich geflüchtet. Selbst die Pfiffe, mit denen sie klaglos die Naturfreunde verklagen, sind selten geworden.

Zu ihrer Ausdruckslosigkeit paßt die der Landschaft. Sie atmet keine mittlere Humanität aus. Das verleiht ihr das Pathos der Distanz Nietzsches, der dort sich versteckte. Zugleich ähneln die Moränen, für jene Landschaft charakteristisch, Industriehalden, Schutthaufen des Bergbaus. Beides, die Narben der Zivilisation und das Unberührte jenseits der Baumgrenze, steht konträr zur Vorstellung von Natur als einem tröstlich, wärmend den Menschen Zubestimmten; es verrät schon, wie es im Kosmos aussieht. Die gängige imago von Natur ist begrenzt, bürgerlich eng, geeicht auf die winzige Zone, in der geschichtlich vertrautes Leben gedeiht; der Feldweg ist Kulturphilosophie. Wo die Herrschaft über Natur jene beseelte und trugvolle imago zerstört, scheint sie der transzendenten Trauer des Raumes sich zu nähern. Was die Engadinlandschaft an illusionsloser Wahrheit vor der kleinbürgerlichen voraushat, wird wettgemacht von ihrem Imperialismus, dem Einverständnis mit dem Tod.“ (Adorno, Aus Sils Maria)

Und wenn man es nun noch weiter in den Rückbezug setzen und sich jenes Bild vom Gebirge vergegenwärtigen möchte und wie es ein Denken bestimmen kann und womöglich auch eine Ästhetik: dieses Verhältnis von Natur, Naturschönem und der Frage ihrer Abbildbarkeit, der lese in Hegels Tagebuch zu seiner Reise in die Berner Oberalpen vom 25. Juli bis August 1796. Es findet sich dort die Beschreibung der Landschaft der Berner Alpen und des Reichenbach-Wasserfalls: die Kargheit der Landschaft, die Härte der Natur:

„Wir sahen heute diese Gletscher nur in der Entfernung von einer halben Stunde und ihr Anblick bietet weiter nichts Interessantes dar. Man kann es nur eine neue Art von Sehen nennen, die aber dem Geist schlechterdings keine weitere Beschäftigung gibt, als daß ihm etwa auffällt, sich in der stärksten Hitze des Sommers so nahe bei Eismassen zu befinden, die selbst in einer Tiefe, wo sie Kirschen, Nüsse und Korn zur Reife bringt, von ihr nur unbeträchtlich geschmelzt werden können. Nach unten ist das Eis sehr schmutzig und zum Teil ganz mit Kot überzogen, und wer eine breite, bergabgehende, kotige Straße, in der der Schnee angefangen hat, zu schmelzen, gesehen hat, kann sich von der Ansicht des unteren Teils der Gletscher, wie sie von fern sich darstellt, einen ziemlichen Begriff machen und zugleich gestehen, daß dieser Anblick weder etwas Großes noch Liebliches hat. – Weiter hinauf erscheint das Eis in Pyramiden, die ein reineres Blau haben und die man in Vergleich mit dem unteren schmutzigen Eis, wenn man will, schöner nennen kann.

[…]

„Weder das Auge noch die Einbildungskraft findet auf diesen formlosen Massen irgend einen Punkt, auf dem jenes mit Wohlgefallen ruhen oder wo diese Beschäftigung oder ein Spiel finden könnte. Der Mineralog allein findet Stoff, über die Revolutionen dieser Gebirge unzureichende Mutmaßungen zu wagen. Die Vernunft findet in dem Gedanken der Dauer dieser Berge oder in der Art von Erhabenheit, die man ihnen zuschreibt, nichts, das ihr imponiert, das ihr Staunen und Bewunderung abnötigte. Der Anblick dieser ewig toten Massen gab mir nichts als die einförmige und in die Länge langweilige Vorstellung: es ist so.“ (Hegel, Tagebuch )

Für Hegel schließt sich hier zugleich die Frage nach der Kunst an und wie überhaupt die Kunst solch Erhabenes in einem Bild darstellen kann. Interessanterweise überragt bei Hegel in dieser Notiz die Natur bei weitem die Kunst und in einem Bild ginge all diese Macht unweigerlich verloren, wie Hegel im Tagebuch beklagt:

„… aber eine Beschreibung kann so wenig als ein Gemälde nur einigermaßen die Selbstansicht ersetzen. Bei der Beschreibung kann eher noch die Einbildungskraft, wenn sie schon ähnliche Bilder hat, sich das Ganze hinmalen, aber ein Gemälde, wenn es nicht sehr groß gemalt ist, kann nicht anders als dürftig ausfallen und nur eine unzureichende Vorstellung geben. Die sinnliche Gegenwart des Gemäldes erlaubt der Einbildungskraft nicht, den vorgestellten Gegenstand auszudehnen, sondern sie faßt ihn so auf, wie er sich dem Gesicht darstellt. Sie wird an seiner Erweiterung noch mehr dadurch gehindert: wenn wir das Gemälde in der Hand halten oder an einer Wand aufgehängt finden, so können die Sinne nicht anders, als es an unserer Größe, an der Größe der umgebenden Gegenstände zu messen und klein zu finden. Ein solches Gemälde müßte dem Auge so nahe gebracht werden, daß es Mühe hätte, das Ganze zu überblicken, es nicht neben andere Gegenstände versetzen könnte und so völlig allen Maßstab verlöre.“

Die Kunst faßt nur den Ausschnitt – was wiederum an jene Celansche Unterscheidung im „Meridian“ zwischen Kunst und Dichtung erinnert.

Bei Celan ist es aber nicht einzig nur diese Kälte, das Eisig-Abweisende einer solchen Landschaft, die dann als Prosa, als Gedicht oder eben als Tagebuchnotiz festgehalten wird. Das Gedicht, so sagt Celan in seiner Rede zum Bremer Literaturpreis, sei eine Flaschenpost, es ist diese Einsamkeit zugleich eine gerichtete:

„Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiss nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. Um solche Wirklichkeiten geht es, so denke ich, dem Gedicht.“ (Celan, Bremer Rede)

Celans sogenannten Hermetik, die seinen Gedichten zuweilen nachgesagt wird, ist nie ein Selbstzweck, und man kann sich überhaupt fragen, ob der Ausdruck „Hermetik“ nicht vielmehr in die Irre geht und damit eine Lesart etabliert wird, die es sich im Einordnen bequem machen will, um über jene vermeintlich dunklen Stellen hinwegzugleiten. Celans Dichtung ist nicht hermetisch und nicht dunkel, sondern sie ist in der Tradition eines Stéphane Mallarmé unbedingt modern. Sie spricht und steht in sich und ist doch auf jenes Andere hin und  jenen Anderen ausgelegt und gemacht. Jenes Dialogische, das in Celans Bild von der Flaschenpost steckt – auch Adorno benutzte es in seiner „Philosophie der Musik“ und bezog es zudem – zusammen mit Horkheimer – auf deren „Dialektik der Aufklärung“ – will sich auf einen anderen zusprechen, auf ihn zuhalten. Eine Flaschenpost gibt man auf, damit sie gelesen wird. Aber es gibt keine Gewißheit dafür, daß sie gefunden wird oder daß sie – vor allem – rechtzeitig an Land gespült, entdeckt und entkorkt wird. Etwas flapsig geschrieben und mit der Band „Element of Crime“ gesungen in ihrem Lied „Kavallerie“:

Heute Nacht wird dir klar, dass der liebe Gott dich nicht liebt,
dass sich der Tag der Erlösung noch etwas verschiebt.
Zehn Biere im Sturzflug und die Eingangstür fest im Visier.
Die rettende Kavallerie,
die kommt heut‘ nicht mehr.

Aber dies sind die Aporien von heute und es sind Liebesaporien in einer Bar irgendwo in der Bundesrepublik. Freilich: Liebesaporien, die teils in Celans Gedichten ebenfalls anklingen, so meine Hypothese und deshalb ist dieser Erlösung- und Liebesvergleich, den ich hier aus der Schublade Pop ziehe, gar nicht einmal ganz falsch. Nur dichtet Celan solche Vergeblichkeit lange nicht in einem solchen Modus der Unmittelbarkeit.

Solche Flaschenpost bedeutet: ein Gedicht bzw. ein Text wurde geschrieben in der Absicht, daß es irgendwie von irgendwem irgendwann einmal aufgenommen und gefunden würde. An einem Strand, einem Ufer, durch Zufall. Es kann solch ein Fund Rätsel auslösen, Erstaunen oder Wiedererkennen, und es kann ein Gedicht auch ein Gruß sein aus der Ferne sein. Ein Datum, wie Derrida es in seiner Celan-Lektüre beschreibt und daß jedem Gedicht seinen Daten eingeschrieben sind, also auch so etwas wie eine Vita, die aber für uns dann auch wieder unlesbar wird. Das vielleicht macht dann die Faszination von Celans Gedichten aus, die voll von Daten sind: Quatorze Juillet („und der Juli ist kein Juli.“ heißt es dann im „Gespräch im Gebirg“ der  20. Jänner, der Tag, an dem Lenz ins Gebirge ging und eben jene Wannseekonferenz in Berlin stattfand, 9. November – was, Ironie der Geschichte, bis in die Gegenwart reicht und noch eine Zeit erfaßt, die Celan nicht kennen konnte.

Eine Flaschenpost ist ein Mittel der Distanzkommunikation und sie will doch zugleich Nachricht oder Zeichen geben. Celan spricht davon, daß das Gedicht dialogisch sei. Es hält auf etwas, auf „etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit“. Es sucht Wirklichkeit. Dieses Suchen in dichterischer Sprache kann aber zugleich auch bedeuten, sie zu entwerfen. Jenes ganz Andere und jenes Offene, von dem Celan spricht.

Es gibt von Hans-Georg Gadamer einen Essay, der ist betitelt „Wer bin Ich und wer bist Du?“; es ist ein Kommentar zu Paul Celans Gedichtband „Atemwende“ und es zielt diese Celan-Lektüre auf das Dialogische und das Kommunikative in Celans Dichtung ab. Das ist insofern ein hermeneutisch kluger Gedanke, weil für gewöhnlich die lyrische Dichtung Celans mit den Wörtern „dunkel“, „hermetisch“ unverständlich belegt ist. Doch das ist sie eben nicht. Und man kann zu diesem hermeneutisch aufschließenden Text, der ein Gespräch sein möchte, um es in Anklang an Hölderlin zu sagen, zugleich Jacques Derridas „Schibboleth“ als Gegenbewegung lesen. Ein Buch, das etwas Ähnliches unternimmt, nur in einer methodisch völlig anderen Weise, nämlich nicht auf die Kohärenzen hin zu deuten, sondern auch auf solche Einmaligkeit, die zwar einerseits in Strukturen der Wiederholung eingeschrieben sein muß – Jahrestage und Daten eben -, um als Einmaligkeit lesbar zu bleiben und wo es doch um einen derart singulären Aspekt geht, daß dabei manche Daten im Lauf der Zeit unlesbar geraten. Es ist lange her, daß ich diesen faszinierenden Derrida-Text zu Celan gelesen habe und ich hatte immer einmal wieder vorgehabt, ihn hier im Blog darzustellen und deshalb wiederzulesen. Es sei hier nur, als Streifzug, auf diese spannende Celan-Interpretation verwiesen.

Celan starb 1970 im April. [Siehe hier meine Würdigung, im ersten Teil.] Seine Dichtung liegt bereits Jahrzehnte zurück, und es scheint beim Lesen und beim Nachdenken über Celan, als ob uns da ein Ton aus einem anderen Jahrhundert anwehte. Und gleichzeitig ist all das, worüber Celan dichtete und was seine Vita, sein Leben, seine Umstände bestimmte, ein doch Allzunahes und das reicht bis heute und bis in die Gegenwart hinein.

Zum Fall der Mauer, als dieses, wie der Historiker Eric Hobsbawm formulierte, so kurze Jahrhundert in eine andere Phase drehte, wäre Celan gerade einmal 69 Jahre alte gewesen. Heute vor 100 Jahren wurde Paul Antschel in der alten k.u.k.-Stadt Czernowitz geboren. Es war eine Stadt voll von Habsburger Kultur und eine Mischung aus Ukrainischem, Rumänischem, Jüdischem, Zigeunerischem, man hörte Platten von Karl Kraus, so etwa sein Gedicht „Die Raben“ aus „Die letzten Tage der Menschheit“. Und wer noch die letzten Überbleibsel einer inzwischen völlig vergangenen Zeit sehen möchte, der schaue sich un-un-unbedingt den traurig-schönen und vor allem vielfach auch lustigen Dokumentarfilm „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ von Volker Koepp an. Auch hier finden wir Daten die lange schon getilgt sind. Diese Region der Bukowina gehörte nach einem ausklingenden langen Jahrhundert 1918 an Rumänien und hieß fortan Cernăuţi, danach ging sie  von 1940 bis 1941 an die Sowjetunion, von 1941 bis 1944 an Rumänien, dann von 1944 bis 1991 an die Sowjetunion und nun gehört diese Stadt zur Ukraine. 

Jene Landschaften und politischen Koordinaten mögen sich verschoben haben. Doch bis heute ist die Dichtung Celans nicht verloschen. Sie ist gegenwärtig. Auch durch oder gerade auch wegen ihrer Ferne und als eine Stimme, die vom Drüben her klingt. Als Dichtung in ihrer ganzen Einmaligkeit und in ihrer auch  traurigen Unwiederholbarkeit aufgrund einer Beschneidung und eines grausamen Einschnitts, der niemals mehr zu tilgen ist.

Gedicht zum Sonntag, das man auf die Melodie von IDEALS „Schwein“ absingen kann

Mein Weg oder: Ich hab so unbändige Lust

Du denkst ich bin der woke Typ,
Der mit dem linken Lesetrieb,
Der nachts in seiner Kammer bleibt
Und sich die Zeit mit Marx vertreibt.

Du denkst, ich lese linke Sachen.
Meinst mit mir Kuschel-Kommune machen.
Doch weißt du nicht, was das so heißt,
Wenn man politisch dich bescheißt.

Du denkst, ich lese nachts Adorno.
In Deinem Kopf ein linker Porno.
Doch kriegst du heute reinen Wein.
Ich lese Zeugs, da packste ein.

Alain Benoist und Jean Raspail,
Mich machen diese Bücher geil.
Ernst Jünger, Dávila, Carl Schmitt:
Ein herrlich harter Herrenritt.

In seinem Tagebuch Schmitt schreibt,
wie er an seinem Glied sich reibt.
[Ungelogen: das tut er: Hinweis von Günter Maschke]
Du glaubst es nicht und wirst kaum lachen:
da stehn noch deutschlich schärfre Sachen.

Am morgen wachst Du bei mir auf.
Du siehst, ich bin verdammt gut drauf.
Du lächelst freundlich in mein Gesicht,
Doch das hat für mich kaum Gewicht.

Ich denk an Curzio Malaparte,
An Ayn Rand, die geile Zarte,
An Elisabeth Förster-Nietzsche
und wie vor Lust ich dabei quietsche.

Jean Baudrillard und Evola,
Die waren schon lange vor dir da.
José Ortega y Gasset,
Du faßt mich an, ich sage: Lasset!

Denn Du bist‘s nicht, an die ich denke,
An die ich mein Gefühl verschenke.
Ich denk an Mohler und Kositza.
An Schnellroda im letzten Jahr.

Beim Linkskongreß in Leipzig ich sei,
Du wärest gerne auch dabei.
So log ich, daß sich Balken bogen:
Die Genossen wärʼn dir nicht gewogen.

Da bliebst Du traurig-still im Heim:
Ich setz hier einen Verlegenheitsreim.
Während ich nach Schnellroda reiste
Und dort mir wildes Sommerfeld leiste.

Ellens salzig Brot verzehrte.
Naturverwandte, Hochverehrte!
Slawisches Germania:
Herrlich deutscher Kurvenstar!

Im Stall, im Lagerhaus, im Heu,
In unserer Lust war’n wir nicht scheu.
Doch machten wir flugs die Biege,
als Götz kam mit der Käseziege.

Die er vor Journalisten führte
Und damit ihre Herzen rührte.
So schrieben sie halb bös-versonnen.
Von Schnellroda und Käsewonnen.

Ich setze diese Gedichtnotize
Für eine herrliche Süßnovize.
Aus dem Interreg I* num:
Schlußnotiz: darauf nen Rum!

Die Gesetze der Welt Oder zur politischen Literatur

Der Dichter, einem Schwanze verglichen

Er wird die Gesetze
Der Welt nicht sprengen.
Erst muß er stehn,
Dann muß er hängen.
(Peter Hacks, Hundert Gedichte, No 90)

Kurz, knapp und lakonisch schildert uns Peter Hacks hier das politische und gesellschaftliche Wirken des Dichters – man muß freilich dazu sagen: es ist der Mann. Bei einer Dichterin funktioniert das Gedicht – List des Dichters – nicht. Man könnte hier, in einer Art Gegenoptik – und sicherlich nicht im Sinne Hacks‘, der für Nietzsche nicht allzuviel übrig hatte – dessen Gedanken zur Wahrheit als Weib, das Grund hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen, anführen. Männliches Dichten und weibliches Philosophieren.

„Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?… Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehenzubleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!“ (Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)
Die Macht des Scheins, der zugleich Wahrheit ist – denn das Wesen muß erscheinen, damit es wesentlich wird – liegt insbesondere in der Dichtung, in der Kunst, die Schein ist und es dann eben doch nicht sein will. Zumindest will sie nicht durchschaut werden. Und sie ist kein Belehrbär, der mit dem Holzhammer die Politik macht. Identitäres Theater wie in Berlin im Gorki Theater, wenn man hier Simon Strauß folgt. Das Gegenteil von Dichtung und nicht einmal Kunst. Sag mir, wo Du stehst. Kunst als Haltung. Peter Hacks sprengt solches Identitätstheater mit seinem lakonischen Witz.

„Alles ist weniger, als es ist, alles ist mehr“ – Zu Paul Celans 50. Todestag (1)

Geboren am 23.11.1920 in Czernowitz, Freitod, der kein frei gewählter war, in der Nacht vom 19.4 zum 20.4.1970 in Paris beim Sprung in die Seine von der Pont Mirabeau, so steht zu vermuten, irgendwann, beim nächtlichen Spazieren, wenn es im Kopf wild läuft, der Himmel als Abgrund wirkt und wenn, wie es in Büchners „Lenz“ heißt, ein Ich, das ein Er ist, grenzgängerisch gerät:

„Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.“ (Georg Bücher, Lenz)

Das birgt Gefahren, tödlich-faktische, auch im Aus- und Rückblick auf deutsche Geschichte:

„[W]er auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.“
(Paul Celan, Der Meridian)

Nicht einmal 50 alt Jahre wurde Paul Celan. Wie Jean Améry und viele andere auch ist Celan eines der späten Opfer reichsdeutscher Rassenpolitik. Es ist viel geschehen inzwischen. 80 Jahre, 75 Jahre, 50 Jahre ist das her. Zwischen diesen einzelnen Daten und Jahrestagen liegt viel Zeit. Wie mag jemand, der heute gerade 16 oder 18 Jahre ist, diese Celan-Gedichte lesen? In der Schule etwa. Gegen die Instrumentalisierung seines wohl bekanntesten Gedichtes, jene „Todesfuge“, hat Celan sich immer gesträubt, Gedichte sind keine Reinwaschung, und als er hörte, daß die Todesfuge sogar in Schulbücher aufgenommen wurde, äußerte Celan, daß er sich wünschte dieses Gedicht niemals geschrieben zu haben, wenn er dies je gewußt hätte.

20. April. Da hatte wer anders Geburtstag und feierte heute vor 75 Jahren seine letzten.

Es gibt jene schicksalhaften Daten, manchmal auch Jahrestage, die in einem Gedicht eingraviert sind – Celan spricht in seiner Büchnerpreisrede „Der Meridian“ von jenem „20. Jänner“:

„Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein ‚20. Jänner‘ eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben?

Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her? Und welchen Daten schreiben wir uns zu?“

Die Pont Mirabeau in Paris, so sah es im Jahr 1992 dort aus. Als ich aus Bordeaux zurückreiste, eine Woche Zwischenstop in meiner Lieblingsstadt und ein Gang auch zu jener Brücke, zu jenem Gedicht von Apollinaire und zum Sprungturm, um ins Wasser der Seine zu schauen, und ich sah nichts, nichts als Wasser, das in Richtung Eiffelturm fließt. Damals floß und immer noch fließt. Korrespondenzen – frei nach Baudelaires gleichnamigem Gedicht – lassen sich kaum erzwingen. Ich dachte an jene Germanistik-Studentin aus Dortmund, die mich in Bordeaux wohl ziemlich süß fand. Ihre großen, straffen, schönen Brüste, ihr freches Gesicht, ihre enge Jeansjacke, die Ballettschuhe in ihrem gemieteten Zimmer. „Es gibt Männer, die merken es nicht einmal, wenn eine Frau sie geil findet.“ Ich hätte diesen Satz vielleicht doch besser auf mich beziehen sollen, statt ihr mein gerade angelesenes Wissen über Luhmanns „Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität“ anzudrehen. Auch das verbinde ich mit Celan.

Dichtung als Moment des Subjektiven, und sie weist doch, wie jener 20. Januar 1942, über das Private hinaus und zeitigt gesellschaftliche und schwerwiegende Folgen, und zugleich muß sich dieses Datum, das man ebenso im Sinne von Büchners „Lenz“ lesen kann – vom Subjekt her und als Irrsinnsfügung –, notwendig vorm Leser verschließen und löst sich vom biographischen Ich, das da dichtete, ab. Gedichte sind zwar vom Ich her geschrieben und es spricht aus ihnen dennoch nicht einfach das empirische Ich, sondern ein lyrisches, ein Anders-Ich, ein Gedicht-Ich, eine Stimme, die vielleicht gar kein Ich mehr ist, sondern die in eigenem wie auch in ganz anderem Namen spricht, schreibt oder manchmal auch ächzt, seufzt, jubiliert oder deliriert (der fremde Gebrauch des Eigenen), und nicht einmal mehr vielleicht eine einzige Stimme ist es, die im Gedicht spricht, sondern ein Vielfaches, ein polyphoner Sound, vielleicht sogar etwas Unheimliches, was nicht Unbestimmbarkeit oder Unschärfe bedeutet – irgendwie dies und irgendwie auch das –, sondern eine Sache nach unterschiedlichen Aspekten ausgefaltet. Und eben in der Lektüre auch von unterschiedlichen Seiten und Perspektiven gelesen. Das Maß solcher Lektüren freilich bleibt aber immer der Text selbst und nicht die an die Stelle des Textes gesetzte Spekulation über den Text.

Solches Lesen, Deuten und Verstehen als Bildung hermeneutischer Sinnkohärenz mag bei Celans (vermeintlichen) Rätselgedichten zunächst schwerfallen. Manches Wort, wie etwa „Faltenachsen“ oder „Harnischstriemen“ klingt dunkel. Aber beim Blick in Wörterbücher oder aber beim Wissen um das Bedeutungsfeld, dem diese Begriffe entstammen, können die zunächst rätselhaften Wörter einen für die Deutung anderen Horizont bekommen: Begriffe wie jene beiden genannten oder aber, „Durchstichpunkte“, „Kluftrose“ aus einem der Gedicht in dem Band „Atemwende“ (1967), dessen erste Gedichte zunächst unter dem Titel „Atemkristall“ erschienen sind, versehen mit acht Radierungen seiner Frau Gisèle Celan-Lestrange, sind Begriffe aus der Geologie. Auch der Kristall ist ein geologischer Begriff. Heute ist die Bedeutung solcher Wörter dank Internet leicht zu eruieren, damals mußte man es wissen oder in Bibliotheken nachschlagen – oder aber man ließ einfach den Klang des Wortes wirken und nachhallen. Auch das bildete eine Möglichkeit, sich einem Gedicht zu nähern: genaues Hinhören. Und mit diesen geologischen Bezügen gelangen wir bei Celan (unter anderem) auch in eine topographische Sphäre. Gedichte als Landschaften, schroff manchmal oder lieblich wie die Bukowina.

„Die Landschaft, aus der ich – auf welchen Umwegen! Aber gibt es das denn: Umwege? –, die Landschaft, aus der ich zu Ihnen komme, dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein. Es ist die Landschaft, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil jener chassidischen Geschichten zu Hause war, die Martin Buber uns allen auf Deutsch wiedererzählt hat. Es war, wenn ich diese topografische Skizze noch um einiges ergänzen darf, das mir, von sehr weit her, jetzt vor die Augen tritt – es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten.“ (Celan, Bremer Rede)

Wir denken bei jenen Landschaften auch an Celans Gedicht „Engführung“, darin wir als Leser oder aber auch das lyrische Ich selbst, in ein Gelände verbracht werden, in eine ganz besondere Landschaft, nachdem das schöne Galizien und die herrlichen Tage von Czernowitz ein Ende hatten:

VERBRACHT ins
Gelände
mit der untrüglichen Spur:

Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß,
mit den Schatten der Halme:
Lies nicht mehr – schau!
Schau nicht mehr – geh!

Geh, deine Stunde
hat keine Schwestern, du bist –
bist zuhause. Ein Rad, langsam,
rollt aus sich selber, die Speichen
klettern,
klettern auf schwärzlichem Feld, die Nacht
braucht keine Sterne, nirgends
fragt es nach dir.

Gras auseinandergeschrieben. Sprachgitter, so heißt der Band, in dem dieses Gedicht erschienen ist. Abgesetzt von den anderen Gedichten, als das letzte in diesem Buch – und in meinen Augen eines der wichtigsten Celan-Gedichte überhaupt, wenn nicht des 20. Jahrhunderts und sofern man den Terminus „Lyrik nach Auschwitz“ bemühen möchte. Gras auseinandergeschrieben kann als Anagramm, genauer als Palindrom gelesen werden: Sarg. Und auseinandergeschrieben ist Gras eben auch Gas, wenn das r herausfällt. Und wer Alain Resnaisʼ „Nacht und Nebel“ gesehen hat – in der deutschen Fassung des Films steuerte übrigens Celan den Text bzw. die Übersetzung bei –, der wird sich zugleich an das Gras zwischen den Gleisen von Auschwitz erinnern, das da wuchs, im Vergessen, im Vergehen von Geschichte, nur ein Jahrzehnt später schon. „Jetzt kommt das Wirtschaftswunder. Jetzt kommt das Wirtschaftswunder. Jetzt gibt’s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder.“

Das Gelände Celans ist vielfältig. Aber es ist dabei in seiner Hermetik und zuweilen auch in seiner Rätselhaftigkeit nicht beliebig. Gedichte sind eben auch „topographische Skizzen“. Nirgends fragt es nach dir. Wie beim intensiven Wandern.

Was man insbesondere an Celans „Engführung“ gut zeigen kann, wie dieses Datum, das da ins Gedicht eingefügt ist, sich zerteilt, vielfach ist und insofern eine Figuration von ganz eigener Art bildet. Seine „Engführung“ ist nicht platterdings das „Erlebnis des Dichters“. Das Ich, das da spricht und sich selbst und/oder auch den Leser anspricht und geradezu ins Gedicht hineinzieht, ist kein empirisches Ich – fast könnte man sagen, es ist eine Art Geist, gespenstisch, unheimlich zugleich: wer wird da ins Gelände verbracht? An wen richtet sich der Imperativ „Lies nicht mehr – schau!//Schau nicht mehr – geh!“: an uns, ans lyrische Ich, das da auftaucht und ins Gelände verbracht wird und in das auch wir eben als Leser hineingesetzt werden können. Nämlich in einen Text. Und selbst wenn man annähme, daß da Celan spricht und agiert und uns – als Dichter wohlgemerkt – durch die Kraft seiner Komposition ins Gedicht zieht, bleibt die Differenz zwischen empirischem Ich und diesem mehrfachen lyrischen Ich in der „Engführung“ unaufhebbar. So sehr auch das Gedicht ein Händedruck ist („Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht“ wie Celan, als Dichter und über seine Produktionsästhetik sprechend, in einem Brief an Hans Bender schreibt) und auf Kommunikation angelegt ist.

Das Gedicht spricht und es spricht zugleich auch in einer anderen Sache, als der des Ichs, wie Celan im „Meridian“ betont. Insofern ist jedes Datum im Gedicht auch ein zerteiltes, vervielfältigtes, es steht in einem mehrfachen Bezug. Wie sich ein solches Datum zerteilt, zeigt Celan in seinem Gedicht „In eins“ in seinem Gedichtband „Die Niemandsrose“ (1963):

IN EINS

Dreizehnter Feber. Im Herzmund
erwachtes Schibboleth. Mit dir,
Peuple
de Paris. No pasarán

Schäfchen zur Linken: er, Abadias,
der Greis aus Huesca, kam mit den Hunden
über das Feld, im Exil
stand weiß eine Wolke
menschlichen Adels, er sprach
uns das Wort in die Hand, das wir brauchten, es war
Hirten-Spanisch, darin,

im Eislicht des Kreuzers „Aurora“:
die Bruderhand, winkend mit der
von den wortgroßen Augen
genommenen Binde – Petropolis, der
Unvergessenen Wanderstadt lag
auch dir toskanisch zu Herzen

Friede den Hütten!

Ja, wir schreiben uns von einem subjektiv-persönlichem wie auch von einem geschichtlichen Datum her und wir schreiben uns zugleich vom Ich her, aber lyrische Dichtung, wie überhaupt die Dichtung – um einen Begriff Celans aus dem „Meridian“ zu gebrauchen, den er einführt, um das Gedicht vom automatenhaften, wiedergängerischen Wesen der Kunst abzusetzen – ist niemals bloß biographisches Bekunden und daß da ein irgendwie lyrisches Ich, „Ich“ sagt, um das empirische Ich zu kaschieren. All das mag sein oder mag nicht sein. Aber ob es so ist und wie es ist, darüber kann eigentlich keiner Auskunft geben. Am Ende nicht einmal der Dichter selbst, selbst dann nicht, wenn er uns seine Absichten verrät. Dichtung geht nicht in Intentionen auf, und mag sie sie auch irgendwie voraussetzen, so ist doch das Kunstwerk eine ästhetisches Gebilde eigener Art. So auch bei Celan. Und diese je eigene Welthaltigkeit des Gedichts, ohne bloßes Wortgeklingel zu sein, ist es ja auch, was Celan in sein poetologischen Schriften, wie dem „Meridian“, der Bremer Rede, dem Brief an Hans Bender und ebenso in seiner Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker in Paris 1965 darlegt.

Bei allem Denken eines Schibboleth als Paßwort und einer Revolutionstheologie: Eines freilich sollten Leserinnen und Leser in bezug auf Celan nicht vergessen: Es nützen die Hagiographien des Negativen oder aber eine negative Theologie von Auschwitz nichts, wenn sie nur Mantra sind oder der Traurigkeitsergötzung dienen. Auschwitz, die Shoah, wie überhaupt kein einziges Menschheitsverbrechen eignet sich dazu, im Schauer anzubeten. Celan ist ein Dichter und kein Heiliger, wie Helmut Böttiger im Auftakt seines gerade erschienenen Buches „Celans Zerrissenheit“ schreibt. Am Ende haben wir Texte. Das ist es, was bleibt, wenn ich hier schon von einem Todestag her schreibe, der nun einmal das Ende eines empirischen Ichs bedeutet. Es bleibt, bis heute, die Lyrik Celans sowie seine poetologischen Überlegungen, etwa in seiner Büchnerpreisrede „Der Meridian“. Und wer Hölderlin, Mallarmé und Rilke liest, wird bemerken, in welcher Linie Celan ebenfalls schreibt. Es sind immer auch Gedichte über das Dichten, über die Möglichkeiten und die Grenzen des Ausdrucks in dichterischer Sprache. Und nicht einfach nur die Verrätselungen des Grauens. Wie diese Lyrik auf die Frage nach der Schönheit sich sistiert und verhält, will ich in einem zweiten Teil mir betrachten.

Paul Celan sprang vom Pont Mirabeau in die Seine hinein, so wird es vermutet. An jener Brücke ist eines der wohl wehmütigsten und auch eines der bekanntesten und schönsten Gedichte von Guillaume Apollinaire aus dem Band „Alkohol“ in den Stein gebracht:

LE PONT MIRABEAU

Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine dahin
Unsre Liebe auch
Ist Erinnern Gewinn
Aus traurigem Sinn wird fröhlicher Sinn

Komm Dunkel Stunde eile
Die Tage gehen ich verweile

Aug in Aug laß uns bleiben und Hand in Hand
Ach unter der Brücke
Der Hände schwand
Die Welle von ewigen Blicken verbrannt

Komm Dunkel Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile

Die Liebe vergeht wie der Strom der wogt
die Liebe vergeht –
Wie das Leben stockt
Wie heftig die Hoffnung uns hinreißt und lockt

Komm Dunkel Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile

Die Tage gehn hin und die Wochen gehn hin
Vorbei ist die Liebe
Nun Zeit verinn
Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine dahin

Komm Dunkel Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile

Anakreontisches Lied aus der Produktion

Künstler! ich will meinen Spargel. Zu stechen nun im Feld.
Künstler! Singe Hymnen, als deutscher Spargel-Held
Künstler! Verbinde dichten und arbeiten in eins:
Künstler! Das gibt Geschichten aus der Welt des Scheins.

Zu singen sind Lieder aus der Produktion.
Das ist allemal besser als der urbane Ton
Von Großstadt, Berlin und  Berghain sprachst Du uns gar viel
Bodentiefe Fenster bildeten Deinen Stil

Jammern und auch Klagen über Gentrifikation
Bestimmten deine Dichtung, mein lieber guter Sohn
Der Musen, die dich oft küßten, wir haben es gewußt,
Die, die dich vermißten, sie warten nun mit Lust.

Auf frischen jungen Spargel, so weiß, so rein, so klar
Nicht aufs Werke Deiner Tage, auf’s Junggemüse bei Spar
Gerne auch bei Reichelt und was der Läden mehr
Aus Arbeit heraus zu dichten, das schätzt der Leser sehr.

Wir hatten’s einst im Osten: der Kumpel zur Feder greift.
Heut haben wir den Dichter, der bei der Ernte kneift.
Ein Künstler, der muß darben, das ist nur recht und gut
Erst in der Welt der Armut befällt ihn Schreibeswut.

Aus Armut wird nun Anmut, im Brandenburger Sand:
So wird denn auch der Dichter kulinarisch gut bekannt.
Sein Name rankt bei Rewe – überm Gemüseregal.
Es gab ihm ein Gott zu sagen: Die Ernte war ne Qual.

Angesichts der Überlegungen für die Künstlerhilfe in Zeiten der Krise habe ich mir dieses Gedicht als Möglichkeit und Lösung manchen Problems gedacht. Ich kann und will auch in Zeiten der Krise auf meinen Spargel nicht verzichten, und es geht in dieser freudlosen Zeit vielen so. Zugleich dachte ich aber auch an die Krise der gegenwärtigen deutschen Literatur. Wie sie bewältigen? Ich dachte an den herrlichen Volker Braun und wie er im Gaskombinat Schwarze Pumpe als Tiefbauarbeiter und Betonrohrleger am Aufbau der DDR wirkte, dachte an die großartige Brigitte Reimann und „Franziska Linkerhand“ – einen meiner Lieblingsromane, um das mal zu sagen -, und wer wie Gundermann singend dichten und wie Wolfgang Hilbig schreiben will, wer den Sound des großen Clemens Meyer erreichen möchte: ich rate da nur: hinaus aus dem Moloch Berlin! Der Sowjetische Stadtkommandant hat Hunger! Er will nicht darben, und er will neue Literatur aus der Welt der Arbeit. Geschichten aus der Produktion: Beton, Zement, Germania oder die Spargelschlacht bei den Seelower Höhen. Vielleicht, so dachte sich der Hausherr im Grandhotel Abseits als Rat an seine lieben Berliner Schriftsteller, war der Bitterfelder Weg doch nicht so schlecht. Und Mieten in Brandenburg sind immer noch extrem günstig. Wo ich heute den ersten Spargel sah.

Mondsüchtig – Flüchtige Skizzen, auch im Hinblick auf die Jenaer Frühromantik

„Wir sind auf einer Mißion: zur Bildung der Erde sind wir berufen.“
(Novalis, Blüthenstaub)

„Der Mond ist nichts als eine Hypothese beim
Schreiben eines alltäglichen Gedichts in diesem alltäglichen
Gefängnis aus Seitenstraßen, Straßenecken, verstaubten kleinen Buden, …“
(Rolf Dieter Brinkmann, Westwärts Teil 2)

Es landete die Fähre, es tat der Astronaut seinen ersten Schritt. Ich erinnere nur, daß ich geschlafen habe, und auch das erinnere ich nicht, weil ich eben schlief. Ich erinnere, daß ich ein Kind war und daß am Morgen die Eltern aufgeregt und voll von Euphorie sprachen: Es sei ein Mensch auf dem Mond. Ich begriff es nicht ganz mit meinen vier Jahren. Es war doch hell schon, was hatte der Mond damit zu tun? Für mich war der Mond ein poetischer Gegenstand, er beschien nachts die lieben Häschen, die Rehe und den Fuchs auf der Waldwiese, auch in unserem Zaubermärchenwald schien er nachts und beleuchtete die Geschöpfe. In seinem Licht tanzte das Rumpelstilzchen und es sagten sich dazu Fuchs und Hase gute Nacht, es ein Ort, wohin der Maikäfer Herr Sumsemann in „Peterchens Mondfahrt“ reiste, und es war ein verschrobener, aber irgendwie auch gemütlicher alter Mann, der dem kleinen Häwelmann ins Gesicht leuchtete und ihn ob seines Ungestüms rügte. Und als es der dumme kleine Häwelmann zu bunt trieb, strafte der Mond ihn und ließ sein Licht verlöschen. Später dann war der Mond eben Frau Luna: die schöne Bleiche, die ätherische Frau. Daß „Mondlicht in einem Baugerüst“ eines der von mir geschätzten Gedichte werden sollte, ahnte ich am 20. Juli 1969 nicht.

Mondlicht in einem Baugerüst
am Ende des 20. Jahrhunderts, einfach wie
Mondlicht in einer übriggebliebenen
Allee, schön wie ein langes Klaviersolo Lennie Tristanos,
ein Bücherregal mit noch nicht gelesenen

Büchern, kräftig wie ein Güterzug, flache Schatten,
Entzückungen: voller Mond im September über der
Seitenstraße in der Innenstadt abends 9 Uhr. Das Wort
Mondlicht erinnert mich u.a. an Mondlicht und

nachts im leeren Gang eines Schnellzuges am Fenster
zu stehen und hinauszublicken auf eine Landschaft,
über der das Mondlicht ausgebreitet ist, offen,
gewöhnlich und unsentimental wie eine dunkle

Tankstelle in der sonst menschenleeren Weite,
oder wie Sonntagnachmittag drei Uhr „hang on,
sloopy“ zu hören und auf einen leeren Park
Platz zu schauen, wo ein umgekippter emaillierter

Elektroherd liegt.

Irgendwo eine Seitenstraße in Köln oder in Hamburg eine normalbefahrene Straße im Randbezirk nahe den Hochhaussiedlungen, am 20. Juli. Es war dieses Gedicht an diesem Tag auch noch nicht geschrieben.

Ich zitiere mich gerne selbst, aus meinem Text zu Yoko Ono und John Lennon, darin auch eine Reise zum Mond vorkommt:

1969 war das Jahr von Woodstock und in Altamont kam die vermeintliche Utopie zum Ende, wie es pop-lehrbuchhaft so schön hieß, als die Hells Angels beim Konzert der Rolling Stones einen Neger erstachen. Aber diese Differenz zweier Festivals ist nur eine Illusion. In Woodstock, im Pop, ist Altamont immer schon angelegt. Irrungen, Wirrungen. 1969 zeigte die Risse. Die Reise zum Mond. Utopie nach Ins-Außen, als Reise, in den Weltenraum. Enterprise. Noch in der Grundschule spielten wir dies, als die neue Aula eröffnet wurde, als Kinder, auf der Bühne nach: die Klassenfahrt zum Mond hieß das Stück. Ich war zum Glück nur der Tagesschau-Sprecher, der aus einem Fernsehkasten links von der Bühne auf das Publikum glotze und nachdem die alte Titelmelodie der „Macht um acht“ tönte, verkündete, daß eine Schulklasse zum Mond geflogen sei. Ich brauchte zum Glück mit den widerlichen Kindern nicht mitzureisen, sondern durfte deren Landung verkünden. Leider kamen sie auch wieder zurück, nichts ging schief und ich mußte am nächsten Tag wieder mit ihrem naseweisen Geschwätz im Klassenraum dasitzen. Die blonde Klassenlehrerin hatte ganz zu recht mich als Außenposition des Sprechers von Ereignissen, die zu Nachrichten wurden, gewählt. Distanz als Lebensmodus schon als Kind. Ich schätze die Ferne. „Die größte Kraft ist deine Phantasie“. Deren Reisen lagen in der Ferne. Unter dem Pflaster. Journalist, wie ich immer dachte, wurde ich nicht. Besser war es.

Und ich erinnere mich, daß es damals als Spielzeug Mondfähren und Mondroboter gab, Airfix hatte im Sortiment der Miniaturfiguren auch die Mondfahrer, was mich wenig interessierte – ich mochte die richtigen Soldaten lieber, dann damals Anfang der 1970er Jahre, mit vier gab es nur Ritterschwert und Indianerkostüm. Zum Glück ohne sinnlose Debatten von Cultural confussed People.

Vor allem aber im Krämerladen beim neuen Einkaufszentrum, in der Ecke beim Naschkram zu kaufen, gab es jenen Mondstaub. Das war ein weißes Pulver. Es schmeckte süß. Und es bestand aus Kokosraspel. Nicht schlecht, dachten wir und schleckten aus von der Handfläche. Aber in den Zeiten der rational-entzauberten Welt ist echter Mondstaub wohl eher gefährlich. Solche Phantasien von Verheißung und Seltsamkeit gab es wohl nur im schönen Kinderland oder in der Einbildungskraft der Dichter.

Das Wissenschaftliche dieser Mission hatte mich schon als Kind wenig gereizt und Reisen hatten für mich nur Sinn, wenn es an Orte ging, wohin man am Ende auch gelangen konnte. Der Mond war kein realer Ort, der Mond war ein Sehnsuchtsort, der unser Denken bestimmt, weil er die Einbildungskraft anregt:

„Der Mond stand in mildem Glanze über den Hügeln, und ließ wunderliche Träume in allen Kreaturen aufsteigen. Selbst wie ein Traum der Sonne, lag er über der in sich gekehrten Traumwelt, und führte die in unzählige Grenzen geteilte Natur in jene fabelhafte Urzeit zurück, wo jeder Keim noch für sich schlummerte, und einsam und unberührt sich vergeblich sehnte, die dunkle Fülle seines unermeßlichen Daseins zu entfalten.“ (Novalis, Heinrich von Ofterdingen)

Was für herrliche Zeilen! Novalis ist ein Vorläufer der künstlichen Paradiese und der surrealistischen Überschreitungen, und in diesem Sinne taten die 68er-Studenten dem philosophisch-literarischem Denken des Friedrich von Hardenberg unrecht,  wenn sie die Wände der Universität mit roter Farbe schrieben: „Macht die blaue Blume rot –
Schlagt die Germanistik tot.“ Sie verkannten, daß die Situationisten im Pariser Mai mit ihren Wandparolen genau diese Phantasie an die Macht bringen wollten, man lese nur deren Parolen – ganz im Geist des Surrealismus als Politik. Ob sowas als poetische Politik funktioniert und am Ende wohldurchdacht ist, wenn die Ebenen verschleifen, sei dahingestellt. Das Denken auf Einheit in Differenz zumindest, daß die literarische Romantik befleißigte, fand freilich unter ganz anderen Voraussetzungen statt. Nämlich im Anschluß an die Philosophie Kants und die dort offen gebliebenen Fragen sowie der daraus resultierenden, nicht ganz einfach zu tilgenden Brüche zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, oder wie Friedrich Wilhelm Joseph Schelling im Januar 1795 in einem Brief es an Hegel schrieb:

„Die Philosophie ist noch nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch. Und wer kann die Resultate verstehen ohne die Prämissen?“

Eine Theorie des Selbstbewußtseins, ein Denken des ordo inversus. Der Mond ist ein Ort, um die Ferne anzuzeigen und wie sehr sich das Leben auf unserer der Erde, von Mond aus betrachtet, seltsam ausnimmt und wie klein all dieses Treiben scheint, wenn es durch fremde Augen betrachtet wird. So schreibt Franz Kafka in einem Brief an Oskar Pollak vom 9. November 1903:

„Lieber Oskar!
Ich bin vielleicht froh, daß Du weggefahren bist, so froh wie die Menschen sein müßten, wenn jemand auf den Mond kletterte, um sie von dort aus anzusehen, denn dieses Bewußtsein, von einer solchen Höhe und Ferne aus betrachtet zu werden, gäbe den Menschen eine wenn auch winzige Sicherheit dafür, daß ihre Bewegungen und Worte und Wünsche nicht allzu komisch und sinnlos wären, solange man auf den Sternwarten kein Lachen vom Monde her hört.“

Kafka setze in seiner Prosa jenen fremden Blick vom anderen Ort her vielfach in die literarische Szene.

Für jene Mondsüchtigen, wie ich es bin, gibt es heute vom Bayrischen Rundfunk eine Auswahl wunderschöner Musik zum Mond: Es sind dies allesamt feine (und abwechslungsreiche) Stücke. Mein Liebling ist „Breakfast at Tiffany’s“ und „Der Mond ist aufgegangen“, so wie überhaupt im deutschen Volkslied der Mond eine herrliche Stellung einnimmt. Und im Hinblick auf „Stellung“ fällt mir auch wieder jenes Mondlichtgedicht ein – eben wie bei Brinkmann, zum Ende des Gedichtes, im Vers in der Mitte:

Und mir ist egal, ob das Mondlicht paßt oder nicht,
das Mondlicht fällt in den Supermarkt, es macht

die Dinge einfach mehr weniger, und zu fragen,
nach wieviel Stößen kommst du unterm Mondlicht ist Schwachsinn
unterm Mondlicht, und es macht gar keinen Sinn, das Mondlicht
anders zu beschreiben als mit Mondlicht. Und wenn ich sage,

das Mondlicht ist eine Türklinke im Mondlicht, heißt das,
das Mondlicht ist schön wie Mondlicht; und es ist Zeit;
mit den Vorschriften aufzuhören.

 

 

 

 

 

 

Am Landwehrkanal, nahe Eden: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht – im Hinblick auf ein Gedicht von Paul Celan

 „Niemand zeugt für den Zeugen“
(Paul Celan)

Viele der zunächst hermetisch wirkenden Gedichte Paul Celans – sie sind es nicht, wenn man sich auf sie einläßt, insofern ist dieser Slogan problematisch – handeln von der Schwierigkeit bzw. der Frage, wie Zeugnis zu geben sei. Zeugnis von dem was war, ohne im bloßen Beschreiben sich zu verlieren – was auch die Frage des Datums tangiert: wie eine Einmaligkeit in die Struktur der Wiederholung gebracht werden kann. Jacques Derrida stellt diese Frage der Datierbarkeit in seiner Celan-Lektüre „Schibboleth“ ausführlich dar.

Es gibt ein Gedicht von Paul Celan, das trägt den Titel „Eis, Eden“ (1963), es stammt aus dem Gedichtband „Die Niemandsrose“. Dieser Titel paßte ebensogut zu jener Lyrik, die mit dem Satz beginnt „Du liegst im großen Gelausche“ – Celan ließ in seiner späten Dichtung konsequent die Überschriften weg. Dieses Gedicht hat – man wird das vermutlich nur über Umwege und über die Kombination der Textelemente feststellen – die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Thema. Das Gedicht ist undatiert, obwohl es in seinem Kern an ein konkretes Datum gebunden ist. Es wurde 1971 postum in dem Band „Schneepart“ publiziert, und es geht so:

DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.

Geh zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –

Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –

Der Mann ward zum Sieb, die Frau
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –

Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
stockt.
(Paul Celan, im Gedichtband „Schneepart“)

Ein Rätsel ist nach Hölderlin Reinentsprungenes. Ein Text als erratisches Moment, das treibt und umschlägt, so will es das moderne und ästhetisch gelungene Gedicht, so realisiert sich die Lyrik Celans. Darin allerdings steckt der Zwang zur Form sowie der zur Poetik, die Motive werden aufeinander bezogen, aus dem Zufall von Eindrücken entstehe ein in sich konsistentes Gebilde. Poetisch, aber nicht im lenor-kuschelweichen Habitus der Sinnlichkeitsfanatiker und ihrer säuselnden Adepten, denen es nie lyrisch gestimmt genug zugehen kann [Rilke noch beim händischen Abwasch: denn da ist keine Stelle, die nicht abgeht], sondern als Wille zur Form und zum Ausdruck in einem. Die Welt als Wille zum Text? Nein, eine Szenerie, ein Datum, ein Anlaß, ein Ereignis. Karl und Rosa, wie man sie in linken Kreisen in jovialer Anbiederung der Duz-Genossen gerne nennt.

Der Fluß der Geschichte, die Geschichte, die vergeht und die bleibt, die Geschichten, die sich erzählen lassen, wenn zwei Menschen nebeneinander spazieren, in Berlin, am 22.12.1967, da gehen Peter Szondi und Paul Celan am Landwehrkanal. Beim ersten Lesen des Gedichts herrscht zunächst Unverständnis, ein Idiom, das sich erst einmal in keinen Kontext oder in keinen deutbaren Sinnzusammenhang überführen läßt, sofern man im Text als Text bleibt. „Verwisch die Spuren“, wie es Brecht 1928 in seinem Lesebuch den Bewohnern der Städte anriet. Ein Vorschlag nebenbei, der fünf Jahre später für die Juden Berlins und anderer Städte überlebenswichtig wurde und der im Lyrischen ebenso die Gedichte Celans bestimmt.

Peter Szondi schrieb einen kurzen Essay über jenes Gedicht „Du liegst“. Der Text heißt „Eden“ und befindet sich in den Schriften Band 2. Bemerkenswert bzw. hart im Faktum ist der Umstand, daß Szondi im Oktober 1971 in den Halensee stieg und sich ums Leben brachte. Eineinhalb Jahre, nachdem Paul Celan von der Pont Mirabeau in die Seine sprang und ertrank – am 20. April, Ironie der Geschichte. Beide waren sie als Juden späte Opfer der NS-Vernichtung. Wasserszenen also, aber kein Undinenzauber und es hat die Deutsche Romantik sich ausgeträumt. Die Wunde Eichendorff, um einen Aufsatz Adornos abzuwandeln.

Szondi schildert in diesem Text einen Besuch Celans bei ihm in Berlin, Celans Besuch in Plötzensee, Beobachtungen Celans, seine Lektüre einer Dokumentation zu Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg; ein Weihnachtsmarkt, wo Celan einen schwedischen Adventskranz erblickte, aus rotgestrichenem Holz mit Äpfeln und Kerzen bestückt, ein Spaziergang, den Szondi mit Celan unternahm. Wege, die sie gemeinsam abschritten, eine Fahrt vorbei am Hotel Eden, direkt am Europa-Center.

Das Erratische als Block, deutbar als Zeichen vielleicht, in der „Polyvalenz seiner Struktur“ (so Gadamer) jedoch in der Deutung mehrere Möglichkeiten bietend, aber im Gehalt nicht mehr ins unmittelbar lyrische Bild zu bringen, das, irgendwie heiter, stimmungsvoll aufsteigen mag. Trotzdem viele der zunächst rätselhaft erscheinenden Begriffe, die Celan in seinen Gedichten verwendet, einer bestimmten Sprache entnommen sind, die uns freilich nicht immer geläufig ist. Begriffe wie Hungerkerze oder Harnischstriemen, Faltenachsen, Durchstichpunkte und Kluftrose (aus dem Gedichtband „Atemwende“), die aus der Geologie stammen. Es wird in diesen Kontexten ein „semantisches Feld“ (Gadamer) erzeugt, das sich jedoch einerseits vom konkreten Gebrauch in der Fachsprache löst und einen ganz eigenen Horizont erzeugt, andererseits aber (bei Kenntnis der Sache) auf jenes Gestein, die Härte, die Färbung, das Bewahrende desselben zurückverweist.

Auch in „Du liegst“, das auf einen konkreten Anlaß bezogenen ist, findet sich noch die Polyvalenz. Begriffe, die zu mehrschichtigen Chiffren sich sedimentieren Das nährt das Schillernde und Rätselhafte, so daß die Poesie Celans – zunächst – schwierig deutbar sich liest – was aber bei genauer Lektüre nicht stimmt. Jenes „Eden“, das zunächst theologisch aufgeladen zu sein scheint, um dann in einer genaueren Lektüre gleichzeitig eine andere Bedeutung zu erfahren. Denn „Eden“ hieß das Hotel, wohin am 15. Januar 1919 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verschleppt wurden und die letzten Stunden vor ihrer Ermordung, unter der Folter der Freikorpssoldaten, verbrachten. Es war das Hauptquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, Ecke Budapester Straße/Kurfürstenstraße, nicht weit vom Kanal. Der Kommandeur der Division, Waldemar Pabst, rief beim späteren Reichswehr-Minister Gustav Noske (SPD) an und erhielt von selbigem Noske (SPD) in Absprache mit Friedrich Ebert (SPD) die Genehmigung zum Mord. (Jenes Deutschland samt Ideologie kann man in einer absurden Inszenierung auf YouTube in dieser Sentenz erleben.)

Ein Berlinbesuch und ein gemeinsamer Spaziergang des Literaturwissenschaftlers mit dem deutschen Dichter – dies sind die biographischen Umstände, unter denen dieses Gedicht entstand. Sicherlich konnte Peter Szondi als Zeuge mehr als jeder andere dazu beitragen, das Gedicht zu deuten. Aber was trägt dieses Wissen zur Interpretation eines Gedichtes bei?

„Indessen macht die Kenntnis der Realien, der realen Erfahrungen, die aus Celans Aufenthalt in Berlin um Weihnachten 1967 in das Gedicht Du liegst … eingegangen sind, noch keine Interpretation des Gedichts aus. Vielmehr eröffnet sich solcher Kenntnis die entstehungsgeschichtliche Dimension, in welcher zwar fast jede Stelle des Gedichts auf ein bezeugtes Erlebnis zurückverweist, nicht minder aber der Weg von den realen Erlebnissen zum Gedicht sichtbar wird, ihre Verwandlung. In dem Spannungsfeld zwischen dem halb vom Zufall gefügten Allerlei der Berliner Tage Celans und der kunstvollen Konstellation, welche das Gedicht ist, erscheint dieses dem Leser, der Celan in jenen Tagen begleiten durfte. Darum kann seine Absicht nicht sein, das Gedicht auf die Daten und Fakten zurückzuführen, aus denen die vierzehn Verse zusammenschossen, wohl aber zu versuchen, die Vorgang dieser Kristallisation nachzuvollziehen.“ (Peter Szondi, Eden)

Wer Gedichtete deutet, muß auf einer anderen Ebene lesen, auf anderes rekurrieren als aufs factum brutum. Eine Absage an jeglichen literaturwissenschaftlichen Positivismus. Szondi thematisiert – gleichsam als negative Größe, als Leerstelle – genau dieses Biographische, das Autobiographische jeglicher Dichtung im Grunde, das bis heute Thema der Lektüren und eine Art Fetisch ist und die Konstruktion, die Fiktion, das lyrische Ich überwuchert und in einen handhabbaren Kontext gelebten Lebens einzuhegen versucht. Deutbar durch Daten, das lyrische Ich nur eine krude Funktion des empirischen Ichs. Aber solche Sicht beraubt am Ende einen Text – egal ob Prosa oder Poesie – und bringt ihn ums beste. Gedichte sind keine Berichte. Insofern ist dieser knappe Essay von Szondi auch aus Gründen der Methode für die Textinterpretation bedeutsam. Szondis Methode ist eine dialektische. Denn er schaltet das Biographische nicht krude im Sinne einer immanenten Lektüre des Hermeneutikers aus und markiert es als irrelevante Größe, sondern er nimmt diese Bezüge als Zeugnisse ernst. Oder wie es bei Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“ heißt: ein Kunstwerk ist immer beides. Fait social und autonom.

„Inwiefern ist das Verständnis des Gedichts abhängig von der Kenntnis des biographisch-historischen Materials? Oder prinzipieller gefragt: Inwiefern ist das Gedicht durch ihm Äußerliches bedingt, und inwiefern wird solche Fremdbestimmung aufgehoben durch die eigenen Logik des Gedichts?“

Doch das Gedicht, so Szondi, läßt all diese (privaten) Beobachtungen Celans, die biographischen Prämissen und die Flanier-Szenen des Dichter-Beobachters hinter sich. Der Nachmittag eines Schriftstellers ist hier nicht das Thema des Gedichts, genausowenig das, was er an den Phänomenen beobachtet und ebensowenig das Betrachten selbst als kontemplativer Zustand des Dichtens, aus dem heraus wie durchs Wunder oder das Ingenium des genialen Künstlers das Gedicht sich ergießt. Das Gedicht erzeugt eine Wirklichkeit sui generis – wie überhaupt das gelungene Kunstwerk eine Welt eigener Art und Ordnung ins Werk setzt – eine „nicht auf subjektive Zufälligkeiten reduzierte Wirklichkeit“. (Der Bezug zu Hegels Ästhetik wie auch zu Heideggers Kunstwerk-Aufsatz, der darin von Hegel die Redewendung von der stiftenden Funktion des Kunstwerks borgte, liegen auf der Hand.) Es verknüpfen sich dabei in dem Gedicht die Motive: das Weihnachtsfest und der (politische) Mord, Fleischerhaken und rote Äppelstaken, der Tisch mit den Gaben und das Eden, und sie schließen sich zu einem gänzlich neuen Kontext zusammen. Doppeldeutig allemal. Einerseits das Hotel, andererseits ein Garten der Lüste und der Freude.

Was ist es, das in einem Text, in einem Gedicht seine Spuren als Chiffre hinterläßt, ein Zeichen als poetisches Wort, lesbar zwar, doch schwierig zu deuten, rätselhaft, schön und auch hart, als Ton? Schwer zu Entzifferndes. Ein im Gedicht ansprechbares Du – wie Celan dies in im „Meridian“ formuliert –, ein Imperativ in Poesie, als Satz, als Aufforderung und Anforderung zum Gehen, wie wir es bereits aus Celans „Engführung“ kennen. („Lies nicht mehr – schau!// Schau nicht mehr – geh!“) Hier in „Du liegst“ eine Winterszenerie. Und das Gelausche steht – auch reimmäßig – im Zusammenhang mit jenem Kanal, der nicht mehr rauschen wird, sondern dahinfließt, der die Leiche der Frau mit sich führt. Nichts stockt.

Das Gedicht ist eine Momentaufnahme, während die Leiche der Luxemburg treibt. Das Gedicht bringt eine Bewegung hervor („Geh“, die Namen der Flüsse Berlins und jenes Kanals) und zugleich friert es ein, um sich dabei im nächsten Zug als Bewegung wieder zu lösen („Nichts/stockt“). Das kann man zusammenlesen als „nichts stockt“, nichts fixiert sich – auch im Sinne der literarischen Romantik als die Auflösung aller Bilder – und nichts kann zur Festigkeit gerinnen – das mag man sowohl positiv wie auch negativ als Unbeständigkeit sichten. [Und niemand steigt zweimal in denselben Fluß. Das wußten am Ende auch wir, in Paris, unter dem Pont Mirabeau, wo die Seine so träge dahinfließt und wo wir uns im Wissen Apollinaires und unter Abendsonne innig küßten. Deine Zunge, Deine Haut und Spurung des blonden Haars. Unter uns ein Fluß und unweit davon trieb 1971 die Leiche Celans.] Aber im Enjambement deutet sich dieses „Nichts/stockt“ ebenso als Bruch, als Spaltung, als „Nichts“ und als „stockt“, die – jeweils – als Ausfluß von Negation, Nichtigkeit und Nichtung im Gedicht stehen, bleiben und harren. Abgetrennt. Als Schluß eines Gedichts und als Chiffre der Zeit.

Es bleibt, auch im Kontext der Zeitdimension des Gedichts – einmal als historische, dann als metaphyisch-lyrisch sich realisierende Zeit – in diesem Gedicht insbesondere das Paradies- und auch das Erlöser-Motiv (als Edenbezug, „für sich, für keinen, für jeden“) festzuhalten und zu zeigen, wie es bei Celan mit dem Tod kontaminiert wurde. Eine negative Geschichtsphilosophie, fern jeglicher Utopie. Was tun und was geschieht? Es zeigt sich im letzten Wort, in den letzten beiden Zeilen, im Bruch, der den Satz und damit einen dialektischen Fluß auftrennt, die Umkehrung des Heraklit zugeschriebenen Bildes vom panta rhei in der Verneinung und als Anspruch und Abbruch:

Nichts
Stockt.

Der Engel der Geschichte, den Benjamin schilderte und den Heiner Müller als glücklosen ins Bild setzte, erstarrt. Nein, nicht einmal das. Er dröselt sich auf, bricht ab. Im großen Gelausche zu liegen, umbuscht, umflockt – ein eigentlich romantisches Bild: die eingedeckte Tote im Fluß. Eine Art Ophelia. Eigentlich geht es nur noch ums Minimale, um den letzten Rest: Ums Überleben. Doch selbst dieses Weiterleben ist nicht selbstverständlich. Rosa Luxemburg, der „roten Sau“, war es nicht vergönnt.

Das Gedicht „Eis, Eden“ schließt mit diesen Zeilen:

Das Eis wird auferstehen,
eh sich die Stunde schließt.

In einem entfernten Sinne geben diese Zeilen sogar ein Stück weit Hoffnung. Die Erlösung noch des Unerlösbaren. Die Auferstehung des Eises. Was allerdings ebenso den Einbruch der Kälte bedeuten kann. Der Ausgang ist offen.

(Der Text ist eine Überarbeitung zweier bereits auf AISTHESIS erschienener Texte.)

It’s the language, stupid! – Monika Rincks „Risiko und Idiotie“

Dichter sind seltsame Gesellen. Sie wollen partout gelesen werden. Sie nehmen dafür vieles in Kauf, selbst Unbill und jahrelanges Hausen auf prekärem Niveau. Vielleicht sogar politische Verfolgung, obwohl sich solche Posen im sicheren Westen leicht einnehmen lassen:

„Das Risiko besteht nicht in Verfolgung, sondern darin, ungelesen und mißverstanden zu bleiben und darüber bitter zu werden, oder sprachlich zu vereinsamen, in einer längst nicht mehr ansprechbaren Welt.“

Ein zentraler Satz. Das wohl ärgste, was dem Dichter wiederfahren kann. Dichter brauchen Öffentlichkeit, sie gieren nach Lesern. Verstummen heißt Ende, weil Texte zu Monologen für eine düstere Schublade werden. Das ist der Tod. Auf diese Weise wieder zum Idioten werden. Ein Idiot ist etymologisch genommen, so Rinck, eine Privatperson. Das Idion des Autors: eigentümlich und speziell. Das Proprium, das was den Dichter auf dem Markt und in der literarischen Kommunikation auszeichnet, die je eigene Sprache, verwandelt sich in der Einsamkeit oder in der Verbannung ins Extrem: Solipsismus, doch ohne Publikum. Ovids Metamorphosen. Solche Privatiers existieren in unterschiedlichen Metiers. Auch in der Kunst. Und für jeden Künstler besteht prinzipiell das Risiko zu scheitern – sei es monetär, sei es als Stimme – und mit den Texten ungehört zu verhallen, weil kein Resonanzraum offensteht, wie Monika Rinck sogleich im Auftakt ihrer Essaysammlung anmerkt. Trotz der Freiheit des Wortes, die uns die Gesetze garantieren, als Künstler alles sagen zu dürfen, trotz Kunstfreiheit also schwebt über dem Dichter diese Tendenz zum Verstummen und seine mögliche Irrelevanz.

Das erste Buch, das zweite und beim dritten schon klemmt es. Oder es entstehen Wahnsinnsgedichte: Pallaksch, pallaksch oder die Jahreszeiten, im Wechsel, unermüdlich neu bedichtet. Oder gar nichts mehr. Solche Schublade des Schweigens gibt es auch heute, oft vom Markt diktiert. Lyrik verkauft sich schlecht, darunter hat der Kookbook Verlag zu leiden.

Nun kann man sich als Nicht-Dichter für die heutige Zeit fragen, weshalb einen das Dichter-Jammern und das Begehren nach Relevanz interessieren sollten. Und diese Frage ist mehr als berechtigt. Beim Kauf von guten Bäckerbrötchen will unsereiner nichts über die Schwierigkeiten des Backens und die Härte des Bäckerlebens hören will, sondern wir kaufen knusprige Brötchen. Aber Monika Rinck geht es in diesen Texten weniger um solch Monetäres oder um den Klageton, sondern um etwas Prinzipielles: sich dem Scheitern und der Sprache auszusetzen. Scheitern an einer Sache und es dennoch zu versuchen, als Dichter nicht aufzustecken. Auch auf die Gefahr hin, nicht verstanden zu werden oder im Fortdriften gar für irre gehalten zu werden. Oder daß bei manchem die Zeit noch lange nicht gekommen ist. Ich dachte bei diesen Passagen insbesondere an Alban Nikolai Herbst, der vom Literaturbetrieb schmählich und ganz und gar unangemessen unter den Tisch gekehrt wird. Diese Dinge hängen genauso mit der Produktion von Relevanz zusammen, die der Kulturbetrieb geflissentlich betreibt: die einen sind wohlgelitten, andere nicht. Auch eine Frage der Netzwerke, aber eben nicht nur.

Schweigen, verstummen, nicht gelesen zu werden: Des Dichters Risiko. Circulus vitiosus. Also lautet der Titel: „Risiko und Idiotie“. Rinck schreibt einen flotten Stil. Das bewegt, das klingt, das regt an: dieses gleiten, springen, stolpern vom Stöckchen aufs Hölzchen. Ihr ist sprachlich und von den Ideen her ein mäandernder Essay gelungen. Anregend für die Gedanken des Lesers, denn eine Vielzahl an Bezügen entfaltet Rinck, zitiert viel, und man bekommt auch auf die Sekundärliteratur Lust.

Sujet dieses Buches ist die dichterische Sprache, deren Zeitgenossenschaft und ebenso, frei nach Adorno, die Materialbeherrschung. It’s the language, stupid! Aus der stillen Poetenkammer heraus tönt und klingt es, oft lautmalerisch, und in die schalldichte Poetenkammer wieder hinein. Wer weiß schon, wer das liest. Eine hermeneutische und hermetische Situation. Aber auch eine Paradoxiefalle. Die „Privatsprache des Dichters“ will sich und darf sich nicht in bloße Mitteilung fügen und möchte dennoch öffentlich im Gespräch sich entfalten. Wie und auf welche Weise mache ich mich also verständlich? Oder in die andere Richtung gedacht, hin zur spezifischen Sprache des Dichters, aufs Idiom bezogen: Wie unterlasse ich es, verständlich zu sein, um mich dem Diktat der Kommunikation zu entziehen, mich der Kommunizierbarkeit nicht zu beugen? Das ist relevant, wenn wir etwa an einen Dichter wie Jean Paul denken, auf dessen „Ideengewimmel“ Rinck sich kapriziert, aber genauso im Falle Paulus Böhmer. Das Ideal wäre die Agora, der spezielle Bezirk, wo Unterschiedliche sich auf Ähnliches beziehen: ideal einer Gemeinschaft. Doch die gibtʼs qua Strukturwandel der Öffentlichkeit nicht mehr. Ein Gedicht will gelten, tut es aber selten. Das Grunddilemma des Lyrikers: „Einsamer nie …“, dichtete Gottfried Benn.

Rinck zitiert den Dichter Steffen Popp aus einer Dankrede zum Peter-Huchel-Preis:

„Poetisches Denken ist auch in dieser Hinsicht vor allem ein Widerstand, den man dem gewohnten Denken, seinen Logiken und rhetorischen Mustern gegenüber aufbringen muß, wenn sich etwas einstellen soll, man im Text eine Erfahrung vermitteln will, die diesen Namen verdient.“

Um diese Aporie der Darstellung kreisen in unterschiedlichen Tonlagen die Texte von Monika Rinck, die dieser Essay-Band versammelt. Manches wurde seinerzeit als Vortrag gehalten, anderes ist frisch publiziert. „Risiko und Idiotie“ liefert, wenn man die unterschiedlichen Arten von Text auf einen Begriff bringen mag, eine Poetikvorlesung ohne Hörsaal: Wie zu dichten sei, wie die Wirkung des Wortes bemessen? Das reicht vom „Prinzip Diva“, das vom Idioten, als „Ablehnung falscher Kooperationsangebote“ bezeichnet und als eine „lustvolle Form des Entzugs“ gehandelt wird, bis hin zum Komischen und seiner Beziehung zum Unbewußten. Pathos (der Tiefe) und Bathos (der Oberfläche) liegen klanglich dicht beieinander und zeichnen dennoch den Unterschied um‘s ganze. Dichtung ist beides. Nicht nur der hohe Ton, sondern ebenso der kleine, gemeine Witz, als Aperçu aufblitzend, so Rinck. Diese Vermittlung von Höhe und Tiefe macht die Essays von Rinck spannend: daß sie sich nicht in eine Richtung schlägt, sondern diesen Gegensatz, sagen wir mal von Rilke und Gernhardt, einfach auszuhalten und beides denken und auch dichten zu können. Zumal ja im Gernhardtschen Scherz oft ein tiefer Ernst liegt. Und bei Rilke … Aber lassen wir das.

Aber wie vereint man es im Gedicht? Rinck geht performativ vor, sie zeigt, worüber sie schreibt und läßt also im Vollzug ihres Essays uns sehen, was sie mit dieser Vermittlung und der gleichzeitigen Differenz der Gegensätze meint. Diese Figuren von Dichtung und des Sprechens über Lyrik entfaltet Rinck diskontinuierlich und in einer eruptiven Schreibweise; den phantastisch schweifenden Jean Paul zitierend und sich auf den Shandyismus des Laurence Sterne beziehend. Rinck mischt, mixt, assoziiert – das ist Popton und Theoriediskurs in einem. Sie bricht die Regeln der bloß diskursiven Essayistik. Das liest sich manchmal anstrengend, aber wer sich als Leser auf diesen Weg einläßt, wird mit Einfällen belohnt. In diesem Sinne wird Rinck der Funktion des Essays gerecht: Sich für eine Sache im Denken und Schreiben zu öffnen, sich auszusetzen, auch auf die Gefahr hin zu scheitern und Schiffbruch zu nehmen.

„Stellen Sie sich vor, Sie würden alles sofort verstehen. Es gäbe keinen Widerstand, weder innerlich noch äußerlich. Müssten Sie sich dann nicht darauf versteifen, dass die Welt exakt Ihrem Erkenntnisvermögen entspreche, (…) und damit die Möglichkeit von Überraschung und Erstaunen verabschieden?“

Wörter um eine Sache gruppieren, so daß diese qua Konstellation von Begriffen sich freisetzt. Obwohl Rinck mit der einfachen Form von Kommunikation als bloßer Mitteilung bricht, besteht sie auf dem kommunikativen Aspekt von Dichtung. Exemplarisch zeigt sie dies in ihrer Kritik an dem Germanisten Hans Schlaffer. Ihm sind Gedichte „einseitige Sprechhandlungen“. Rinck widerspricht dieser Haltung energisch. Mag die Kommunikation des Gedichts verschachtelt und manches Mal dunkel wirken, so wirft sich das Gedicht dennoch jedesmal auf ein ansprechbares Gegenüber. Unmittelbare Verständlichkeit jedoch kann nicht Prinzip von Dichtung und auch nicht das von Kunst sein. Insofern möchte Rinck auf einen erweiterten Begriff (lyrischer) Kommunikation stoßen. Das setzt eine Hermeneutik voraus und zugleich zeigt es, wenn wir deuten und uns verständigen, die Grenzen dieser Hermeneutik.

„Kommt jetzt der Götterbote Herpes?“, fragt Monika Rinck an verschiedenen Stellen ihres Essays immer wieder. Ein fein geflügeltes Wort, ein running Gag, der sich durch das Buch zieht – die Flügel passend zum Gegenstand. Auch Nike assoziierend, Nike (aber im Mehrsinn naɪki gesprochen, nicht Nike nur), die Siegesgöttin mit Laufschuhen.

Es nennen sich die Essays im Untertitel „Streitschrift“, und das sind sie einerseits auch: Polemos nämlich, der durch die Welt ragende Streit, Kampf der Gegensätze – auch um die Dichtung, mag mancher auch deren Relevanz bestreiten. Und Herpes – zwischen Geschlechts- oder Lippenkrankheit und dem göttlichen Hermes lauttauschend gleitend. Trennscharf sind bei Rinck die Dimensionen nie zu haben, sie fährt keine Dichotomien auf, zwischen Komik und Ernst, Pathos und Bathos, Paulus Böhmer und Robert Gernhardt, und Kommunikation bedeutet immer auch, daß wir uns verhört und versprochen haben könnten. Auch dieses Mißverstehen gehört zu ihren Zügen, sofern wir an Celans Büchnerpreis-Rede denken, wenn er von den Hasenöhrchen spricht, die über einen Text hinauslauschen und wenn das Kommende und das Kommode verwechselt werden. Rinck setzt diese Tradition Celanscher Poetik fort.

Rinck probiert, sie zitiert, sie scheitert, denn schreiben und dichten können mißlingen. Abbruch ist die kleine Schwester von Anspruch: „Vielleicht liegt gerade in dem Risiko, unverständlich zu sein, eine ganz eigene idiotische Form der Rettung – die ihre eigenen, anderen Möglichkeiten der besseren Adressierung findet.“ Denn: „Wer sich schlau ein Schlupfloch graben will, gräbt sich nur ein frühes Grab.“

Aphoristisches wechselt bei Rinck mit Zitaten, Ideen und Assoziationen, mit Witzen und Texttheorie. Rinck oszilliert zwischen Theorie und der Praxis. Proklamieren läßt sich in Essays zur Lage der Lyrik manches, am Ende aber will es eingelöst werden. Rinck ist selber Lyrikerin und verfasste diverse Gedichtbände mit Titeln wie „Verzückte Distanzen“ oder „Honigprotokolle“. Wie dichten? Was geht? Was nicht? Wohin des Weges? Die alte Frage der Kunst, aus der Produktion heraus gestellt: Wie dichterisch wirken? Autonomie oder Souveränität, ohne als ästhetischer Souverän diktatorisch oder apodiktisch über den Ausnahmezustand der Dichtung entscheiden zu müssen. Und in der Angst, vor lauter Denken über Dichtung im Elfenbeinturm der Theorien die Praxis restlos zu verpennen.

Aber gut ist es, sich zunächst bedeckt zu halten und sich nicht in die Entscheidung zu zwingen. Hier finden wir das Motiv dafür, weshalb Rincks Essay sich nicht dem argumentativen, diskursiven Zwang beugen möchte, sondern mäandert, gleitet, spielt, streitet. Denn über die Sache der Dichtung nachzudenken, ist ja, folgt man ihren Texten, ebenso eine Art von Praxis. Dazu bedarf es vieler Formen und mehr als nur der Verständlichkeit. Rinck exerziert das Variable in verschiedenen Textübungen vor und zeigt, wie eine Theorie der Dichtung als Praxis funktioniert und wirkt. Dichtung und das Denken übers Dichten sind immer auch eine Form von Gespräch – das machen Rincks Essays deutlich.

Rinck schreibt, von Einfällen und Launen getragen, Capprichios und kapriziös, sie schlägt Kapriolen und Haken und manchmal dem Leser eine lange Nase. Ichlastig, ichlästernd. Hinter allem Schabernack aber, der Rinck umtreibt, liegt Ernst – Pathos nämlich. Die Frage nach der Wirkung von Dichtung. Wer spricht und in welcher Form? Die Diva, als die sich Rinck bezeichnet, der Idiot, das Risiko, das sich dem Scheitern öffnet? Was und wer ist das: dieser Idiot? Fürst Myschkins seltsame Blicke. Die Unschuld des Dichters eher nicht. Rinck komponierte ein gelungenes Buch, von dem man sich durchs „Ideengewimmel“ tragen und treiben lassen kann. So und nicht anders funktioniert ein Assoziieren, das uns auf Lesereise mitnimmt. Man muß nicht alles von dem, was Rinck schreibt und was sie will, verstehen, aber der Leser sollte sich überraschen lassen und offen sein.

Für diese Texte paßt gut der Begriff des Webens und Flechtens, wenn man das Wort von seiner lateinischen Bedeutung nimmt. Rinck spinnt. Aber nur im Versponnenen öffnen sich neue Perspektiven. Wer sich davon nicht abschrecken läßt, daß ihre Essays weit abschweifen, findet sowohl in den einzelnen Kapiteln wie auch in der vielfältig zitierten Literatur Brauchbares vor, mit dem sich in Sachen Lyrik und Literatur weiterdenken läßt.

Als Kritik an diesem ansonsten hervorragenden und beim Lesen inspirierenden Buch sei angemerkt, daß Rinck an manchen Stellen mehr für ihre Dichterkollegen zu schreiben scheint und weniger für den gewöhnlichen Lyrik-Leser – aber das läßt sich dann eben, im Rahmen des Textes, mit dem Prinzip Diva erklären. Ansonsten aber spielt diese Essays zwischen den Schauplätzen von Hermeneutik als Präsenz von Sinn und jenem leider oft aufs Schlagwort reduzierten Poststrukturalismus als Überborden des Rests, als Entzug sowie einer ungezielten Triebbewegung. Mit Rincks letztem Kapitel gedacht: „Encore! Encore! Encore! Encore!“ (in Versalien!), und da lesen wir Lacans Eifer heraus und im Namen seines Seminars, das ebenfalls das „Encore“ im Titel trägt und in dem das Begehren als Mangel überwunden ist. Viel Raum für Assoziationen. Man kann dieses Encore auch als eine Zugabe begreifen. Da capo, noch ein Buch. Sie selbst fordert, am Schluß der Lektüre, wie es nach einer guten Performance, nach einer herrlichen Theaterpremiere üblich ist: „Champagner! Champagner für alle!“ Nun kommt er also – der Götterbote Herpes. Wir trinken aus der Flasche! Kommunikation und Lyrik sind ansteckend. Sie sind Kommunion.

Monika Rinck: Risiko und Idiotie. Streitschriften, kookbooks Verlag 2015, 272 Seiten, Broschur mit Umschlag-Poster, gestaltet von Andreas Töpfer, 19,90 Euro, ISBN 9783937445687

Kookbooks Verlag

Es ist, was das Politische betrifft, sicherlich nicht mein favorisierter Verlag – vermutlich trennen die  Verlegerin und mich Welten. Aber das ist in diesem Falle egal. Ich erinnere mich noch an die immer freundliche Daniela Seel, wenn sie auf den Buchmessen dort an ihrem wunderbaren Stand saß, alles ästhetisch ansprechend. Schön gestaltet waren vor allem die Bücher. Die lagen so herrlich angeordnet in den Regalen, daß allein das Zusehen ohne Blättern Freude machte. Farbenpracht in öden Hallen. Eine feine Atmosphäre, die ich im Vorbeischlendern gerne mitnahm.

Nun ist es so, daß der Kookbooks Verlag angeschlagen zu sein scheint, ja man kann sogar sagen, nahe am Abgrund und das heißt dann auch, vor der Insolvenz steht. Dies wäre für die Verlagsbranche und damit auch für uns Leser ein großer, ein herber Verlust: nicht nur wegen der Inhalte der Bücher, an denen viele begabte, begnadete Autoren schufen und wirkten, sondern auch wegen der Optik und der Haptik dieser Bücher: Die ausfaltbaren Schutzumschläge zum Beispiel. Schön gemachte Bücher, mit Liebe und Leidenschaft gefertigt, sind nicht oft anzutreffen. Solche Bände bereiten Arbeit, die keine Verlegerin, kein Hersteller im Vorbeigehen leistet.

Um ein solch herrliches Unternehmen also zu erhalten, sind jetzt unbedingt Gewinne nötig. Denn wenn das Finanzamt zum Prüfen kommt und (meines Wissens) im zweiten oder dritten Jahr hintereinander von einem Unternehmen nichts eingefahren wurde, dann verlöre der Verlag den Status eines Unternehmens, was am Ende noch höhere Besteuerung nach sich zöge.

Hauptsächlich ist Kookbooks ein Verlag für Lyrik, aber auch ein solch großartiger, verspielter und assoziationsreicher Essay-Band zur Theorie und Praktik von Literatur, nämlich Monika Rincks „Risiko und Idiotie“ kann man dort erstehen. (Eine Rezension des Buches folgt hier die Tage, so daß die geneigte Leserin, der geneigte Leser sich überlegen dürfen, dieses Buch zu kaufen.)

Ich will hier gar nicht groß ins Detail gehen, was Daniela Seel alles macht und tut: Gegründet hat sie den Verlag 2003, zusammen mit dem Illustrator Andreas Töpfer. Dies ist eine lange Zeit. 2006 erhielt sie bzw. ihr Verlag den Kurt Wolff-Preis. Solche Preise sind wichtig, um kleine Verlage, die nicht zu Konzernen gehören, am Leben zu halten. Verluste können in solchen kleinen Unternehmen selten gut abgefedert werden.

Man kann nun sagen: Pech, persönliches Risiko, es gibt für Unternehmen kein Recht aufs Überleben: Wenn die Bilanzen nicht stimmen und mehr ausgegeben wird als eingenommen wurde, wirtschaftete der Verlag schlecht. Mag alles sein. Aber dennoch ist es mehr als nur traurig, wenn ein solch ambitioniertes Unternehmen verschwindet. Für die Lyrik ist das ein Verlust, aber auch für die Atmosphäre innerhalb einer Branche, die von solcher Vielfalt lebt.

Man kann nun überhaupt über die Buchbranche debattieren. Wenn angeblich so viel gelesen wird und alle in Literatur machen, wieso der Verkauf bei fast allen Verlagen stagniert. Nun, wenn alle nur in den sozialen Netzwerken abhängen, bleibt womöglich weniger Zeit zum Lesen. Was sich einst als Segen und Weitung der Kommunikation zeigte, erweist sich nun womöglich als Verhängnis. Poesie und Prosa wollen still genossen werden, und womöglich ist am Ende doch noch der gute, alte, analoge Lesekreis am besten, wo in einer kleinen Gruppe jeder einen Lyrikband von Steffen Popp oder Monika Rinck in der Hand hält, um sich daraus vorzulesen und hinterher darüber zu sprechen, wild zu debattieren, sich zu streiten, sich gegenseitig in den Ideen hochzusteigern – gleichsam ein Symposion. Rot- oder weißweinselig versteht sich.

Egal wie: Geht bei Kookbooks kaufen! Ich empfehle hier also ein paar Bücher zum Kauf und rate jedem, die Homepage mit den Büchern und Autoren durchzustöbern. Und dann einfach direkt beim Verlag, sofern das geht, oder über den Buchhändler bestellen. Meine persönlichen Empfehlungen:

Monika Rinck: Risiko und Idiotie. Eine Streitschrift

Monika Rinck: Honigprotokolle, Gedichte

Katharina Schultens: gorgos portfolio,·Gedichte

Daniela Seel: was weißt du schon von prärie,· Gedichte

Gerhard Falkner, David Moss: Gegensprechstadt – ground zero, Gedicht. Music by David Moss

Gerhard Falkner Pergamon Poems, Gedichte & Clips, deutsch-englisch, ins Englische von Mark Anderson

Sabine Scho Tiere in Architektur,· Texte und Fotos  http://www.kookbooks.de/buecher.php#a-9783937445588

Uljana Wolf: meine schönste lengevitch, Gedichte

Man kann das alles unbesehen kaufen! Nicht nur, daß es schöne Bücher sind. Und wichtig ist es allemal, solche Projekte am Leben zu halten. Zumal bald Weihnachten ist und auch im letzten Nikolausstiefel ist noch neben der fetten Schokolade ein Platz.