Eine Lanze für die Berliner Zeitung und eine kräftige Watsche für den Tagesspiegel im Blick auf den 100. Geburtstag von Franz Fühmann

Der Dichter Franz Fühmann hatte am 15. Januar seinen 100. Geburtstag. Westberlin und die Potsdamer Straße, wo einstmals Tante Tagesspiegels Redaktion saß, mag ein wenig, wenngleich zu Schöneberg gehörend, dem fiktiven Stadtteil Altmottenburg angehören, wo man im Muff des Westmilieus nüscht mitbekam, als noch selig die Mauer stand. Aber daß einer der bedeutenden ostdeutschen Dichter im Januar ein derart rundes Jubiläum feiert, hätte auch in die verstaubteste Feuilletonstube Askanischer Platz 3 durchdringen müssen, wo inzwischen der Tagesspiegel seinen Sitz hat, und es hätte dazu eine Würdigung geben müssen. Als Verantwortlicher für den Literaturteil täte ich mich da ein bißchen schämen. Es brachte der Tagesspiegel gar nichts. Es brachte die Berliner Zeitung dankenswerter Weise zwei Artikel:

„Franz Fühmanns 100. Geburtstag: Miststücke von Büchern. Franz Fühmann war einer der wichtigsten Autoren der jungen DDR. Weitgehend unbekannt ist sein Scheitern an einem Projekt über Theodor Fontane.“

Und ein zweiter Artikel noch dazu, in der BLZ:

Briefwechsel: Franz Fühmann und Christa Wolf in ihren Briefen: Gemeinsam gegen die Dogmatiker. Ein Stück Literaturgeschichte, ein Stück Lebensgeschichte für viele Leser: „Monsieur – wir finden uns wieder“.“

[Schon der Titel dieses Bandes gefällt ausnehmend gut]

Und auch auf der Literaturseite am Sonntag im Tagesspiegel: gar nichts. Ihr seid schon rechte Schnarchnasen beim Tagesspiegel. Stattdessen findet sich auf der Titelseite am Samstag im Feuilleton: „Wollen wir Masken auch im Fernsehen?“ (hui was für ein Thema!), und am Sonntag dann „Sprühdosenduell in Belgrad“: ist zwar interessant, aber dann hätte wenigstens im Literaturteil eine Fühmann-Würdigung stehen müssen. (Und ja, Tagesspiegel: das ist die erste Anzählung, von wegen Abonnement.) Und genau aus solchem Grunde des Checkerhaften, des Schnellen und Nicht-so-derart-Westberlin-Behäbigen habe ich die Berliner Zeitung gerne gelesen: weil ich als Wessi immer neugierig auf den Osten war. Und das nicht nur, wegen der Klasseostbräute, sondern vor allem wegen der Geschichten von dort. In der BLZ standen Dinge, die man sonst nirgends las, und auch, weil ich nicht belehrt, sondern informiert werden wollte, wie das lange Zeit in dieser Zeitung üblich war: Erzählen, was ist.

Den Briefwechsel zwischen Wolf und Fühmann gibt es im Aufbau-Verlag. Gute Dichterbriefe lese ich gerne – man nehme nur die von Hölderlin, da findet sich eine ganze Poetik darin. Und was dort erzählt wird aus jenem Land, das es nicht mehr gibt, werde ich dann ja sehen.

„Monsieur, wir finden uns wieder“
Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Franz Fühmann 1968 bis 1984
224 Seiten, gebunden, 24 Euro
ISBN 978-3-351-03958-5
Aufbau-Verlag Berlin

Ich denke, dies ist ein schönes Jubiläumsbuch und das möchte ich gerne lesen. Darin auch ein Spottgedicht von Christa Wolf, zu jenen Zeiten, als der Liedermacher und Dichter Wolf Biermann im November 1976 aus der DDR ausgebürgert wurde:

„Im neblichten Monat November war’s,
die Blicke wurden trübe,
da ward eine Affaire zur Staatsaktion –
aus Furcht vor Trauer und Liebe.

Im schönen Monat Dezember war’s,
die Tage wurden kälter,
da küsste mancher manchem den Ars –
wir Kumpels werden halt älter.

Nun kömmt der frostklare Januar –
mit ihm die neuen Lieder.
Die Miserere ist vorbei.
Monsieur – wir finden uns wieder.“

Danke, Berliner Zeitung, daß Ihr an dieses Jubiläum gedacht habt. Der Titel in der FAZ immerhin „Der Eremit von Märkisch-Buchholz“ bringt einen schönen Brandenburg-Sound. Daß auch die ZEIT in der Ausgabe dieser Woche keinen Artikel brachte (den Artikel zu Fühmann und Höllerer Ende Dezember fasse ich nicht als Geburtstagsartikel auf), ist ebenfalls kein Ruhmesblatt und zeigt einmal wieder, welchen Stellenwert die Ostliteratur im Westdeutschen Feuilleton hat. Ihr seid schon arge Brunzen.

„Berliner Zeitung“ oder ein langer Brief zu einem kurzen Abschied von meinem lang währenden Abo

Im Jahr 1999 geriet ich nach Berlin, kannte die Stadt zuvor nur flüchtig: sie war erheblich im Umbruch, die letzten Zuckungen jener wilden Jahre nach der Wende waren noch zu beschauen, aber zugleich zeichnete sich ab, daß diese Stadt im Lauf der Zeit ein anderes Gesicht erhalten würde. Als ich nach Berlin zog, dachte ich lange, welche Tageszeitung zu lesen sei, um am Stadtgeschehen teilzunehmen und um zu wissen, was im Kiez und auch andernorts passiert: was geht am Theater, was in den Galerien und Museen? Gutes und kluges Feuilleton, das neben der Information auch Analyse bietet: Kunst samt Kritik. Es gab drei Zeitungen, die zur Auswahl standen: Die Berliner Morgenpost, der Tagesspiegel und die Berliner Zeitung. Ein Kollege, typischer Ostmensch, im guten Sinne, riet mir zur Berliner Zeitung, die sei die beste. Sicherlich auch ein Rat aus Ostpatriotismus heraus – nicht im Sinne von: die DDR war knorke, sondern: es gab dort Dinge, die zu bewahren und die weiterzubetreiben es sich lohnt. Und das stimmt allemal – nicht nur im Blick auf die Berliner Zeitung. So fiel am Ende meine Wahl auf jene alte und zugleich junge Zeitung. Obwohl altes DDR-Gewächs war sie inzwischen frisch und innovativ. Nice and fresh, wie man heute zu sagen pflegt. Gründlich überarbeitet und verbessert, Relauch wie man so schön sagt. Und der funktionierte.

Es gab eine Zeit und die währte lange, da habe ich die Berliner Zeitung gerne gelesen, freute mich morgens auf die Zeitung, die ich dann gegen Mittag bzw. am Abend mit Lust las. Das war schon so eine Art von Tradition und auch das handliche Format tat ein übriges dazu – Rheinisches Format, für jene, die den Begriff suchen. Aber vor allem waren es die Inhalte und die Art, wie Journalistinnen und Journalisten schrieben: eine gute, umfassende Berichterstattung über die Stadt, auch auf der Lokalebene. Und vor allem ein frisches, kluges, intelligentes, offenes und teils auch witziges Feuilleton. Es war eine Freude, die Zeitung zu lesen und es war vom Intellektuellen wie auch von den Informationen her bereichernd. Dagegen war die westliche Konkurrenz genau das, als was man sie spöttisch benannte: „Tante Tagesspiegel“: leicht saturiert, ganz nett, aber ein bißchen staubig auch. Und die „Morgenpost“ war eher eine Familienzeitung für den bürgerlichen Mittelstand – also auch nicht ganz meine Sache. Die Berliner Zeitung hingegen besaß etwas, das man mit dem Begriff „Geist“ zusammenfassen konnte. Sie traf einen Ton der Zeit, ohne sich am Zeitgeist anzubiedern. Mit ihr begleitete ich gerne jene wilden Zeiten, selbst dann noch als die Zeitungsbranche ab Mitte der 00er Jahre in eine heftige Krise geriet, als es krachte und die Zeitung an den Rendite-Raffke David Montgomery verscherbelt wurde. In dieser Zeit geschahen, zum Leidwesen der Redaktion, die ersten Einbrüche in der Qualität des Blattes. Aber es war am Ende auszuhalten – auch wenn die Zeitung leicht ausdünnte. Lediglich aus Protest gegen solche Einsparungen, aber nicht, weil ich mit der Redaktion unzufrieden war, kündigte ich 2008 mein Abonnement, um es aber nach einem Monat dann doch wieder aufzunehmen.

Und wie es so ist, erlebt ein Leser mit seiner Zeitung zusammen Höhen und Tiefen: Es gibt Artikel, da sagt man „genial, was für eine kluge und analytisch genaue Sichtweise“ – etwa wenn Dirk Pilz abwägend und gründlich über die Heidegger-Debatte und dessen Schwarze Hefte schrieb, und das ohne in die üblichen Dichotomien zu verfallen. Andererseits gibt es Texte da ärgere ich mich als Leser. Und genau so muß es auch sein. Da war der einstmals teils witzig-bissige Jens Balzer als Musikkritiker, leider geriet er immer mehr auf dem Weg nach Identitätspolitikshausen und die achtzehnte Beschreibung von Helene Fischers oder eines anderen ihm unliebsamen Popstars Bekleidung ist am Ende nur bedingt witzig und nudelt sich ab. Aber auch Balzer ließ sich verkraften – dafür gab es zur Freude Arno Widmann und Harald Jähner – und irgendwann ging dann auch Balzer – was freilich mit der Verschlechterung der Lage Mitte der 2010er Jahre zu tun hatte und weil die Redaktion in sogenannte Newsrooms umzog. Und leider ging eben auch Jähner; und Pilz, mit dem ich politisch in vielem nicht einer Meinung war, verstarb. Aber immer noch blieb ich der Zeitung treu. Zumal diese Zeitung unterschiedliche Sichtweisen unter einem Dach vereinen konnte. 2019 dann stieg das Unternehmerpaar Silke und Holger Friedrich in die Zeitung ein und übernahm. Sie kamen nicht vom Journalismus, aber dieser Umstand mußte nichts bedeuten, denn ein Verleger braucht nicht schreiben zu können, sondern er soll ein angeschlagenes Schiff steuern und auf guten Kurs bringen. Ich war nach der Misere der letzten Jahre zuversichtlich.

Doch leider fiel dieser Wechsel nicht so aus, wie ich es mir erhoffte: nicht die Stärkung des Lokalteils war Ziel, sondern er wurde geschwächt. Nach nunmehr bald 22 Jahren Abonnement dieses mir lieb gewordenen Blattes habe ich im Januar dieses Jahres mein Abonnement endgültig gekündigt und bin zum Tagesspiegel gewechselt. Und damit bin ich nicht unglücklich. Im Gegenteil: ich finde dort das, was ich inzwischen bei der Berliner Zeitung vermisse, und es ist auch keine Verlegenheitslösung, sondern die bessere Wahl. Warum der Wechsel?

Zum einen ist der Berlin-Teil derart ausgedünnt, daß es im Blick auf Lokales keinen Unterschied mehr macht, ob ich gar keine Zeitung lese oder ob ich die Berliner Zeitung lese. Kleines Beispiel: Mitte Januar gab es in Berlin mehrere Brände, die Feuerwehr war stark in Anspruch genommen. Einer der Brände fand genau in der Straße statt, wo ich wohne: eine schwerverletzte Person wurde aus dem Haus gebracht und auf dem Gehsteig behandelt. Die Sanitäter und der Notarzt machten eine halbe Stunde Herzdruckmassage, um sie dann mit Kanülen zu verkabeln. Leute lesen eine Lokal-Zeitung, weil sie das, was in ihrer Nähe geschieht, noch einmal und mit Hintergründen versehen lesen wollen: deswegen der Lokalteil. Warum brannte es? Was geschah? War die Feuerwehr am Rande ihrer Kapazität oder ging es gut? Die großen W-Fragen im Journalismus eben. Wo, wie, was, warum, wieviel, weshalb. Eigentlich etwas, das bereits der Volontär lernt und weiß. Wenn aber Lokalredaktionen kaputtgespart werden, um dann mit dem Geld eine Wochenendausgabe zu finanzieren, die eher einem Life-Style-Magazin für politisch Rechtschaffene gleicht, statt einer Zeitung für die ganze Stadt, dann brauche ich keine Lokalzeitung mehr. Und wenn die Themenpalette sich auf das beschränkt, was im inneren Berliner S-Bahn-Ring passiert, brauchen Bewohner, die dort nicht wohnen und die der identitätspolitische Zirkus in Kreuzberg-Friedrichshain und eine Buchhandlung wie She said oder irgendwelche Transidentitäten nur am Rande interessieren, sich diese Zeitung nicht mehr zu kaufen. Anders der Tagesspiegel, der ein breites Themenspektrum fährt – auch politisch.  

Zweitens halte ich jene sich leider vermehrt in der BLZ breitmachende Tendenz des Belehrjournalismus für verhängnisvoll – sozusagen die Nils-Minkmarisierung des Journalismus. Wenn Journalisten meinen, Haltungen verkaufen zu müssen und Erzieher ihres Volkes zu spielen, indem eine Redaktion bestimmte Themen (Gender-Transgender, Identitätspolitik, Rassismus als Dauerbrennerthema in schöner Lifestyle-Form aufgepimpt) nicht nur in einer Unwucht in die Zeitung bringt, sondern auch mit jenem Haltungsnotenton und dem wedelnden, erhobenen Zeigefinger versieht – Anfang Januar von Susanne Lenz der Hauptaufmacher des Feuilletons „Rassistisch oder zeitgemäß?“ und so zieht sich das von Lenz bis Hanno Hauenstein –, dann ist das zwar die Entscheidung der Zeitung. Und meine Entscheidung ist es dagegen, als Leser diese Art von Berichterstattung nicht zu goutieren. Nicht per se wegen dieser Themen, sondern wegen einer Debattenunwucht und einer Einseitigkeit in der Ausrichtung. Kaum vorstellbar, auch einmal einen Bericht zu lesen, weshalb es sinnvoll sein kann die englische Queen mit einer Weißen zu besetzen, weshalb es ein biologisches Geschlecht gibt und wir daran festhalten müssen, weshalb es sinnvoll ist, den Namen Mohrenstraße zu belassen. Vermutlich würden diese Texte eher noch von Götz Aly kommen. Im Falle der Mohrenstraße setzte dieser sich in der BLZ vehement für die Beibehaltung dieses Namens ein. Nur eben: Aly ist kein Journalist und nicht Mitglied der Redaktion, sondern externer Kolumnist – wie überhaupt, auch bei der ZEIT, interessante und kluge Perspektiven oftmals eher von Externen kommen und nicht von jenen in ihrem Sud brutzelnden Journalisten des täglichen Klein-klein. Aber vermutlich würde, wenn jemand, der fester Journalist ist und der solche Artikel schriebe, es bald mit einem Aufschrei auf Twitter zu tun bekommen, wie dies unlängst der Tagesspiegel-Autorin Fatina Keilani widerfuhr, die inzwischen dann auch nicht mehr beim Tagesspiegel arbeitet: „Sagste einen falschen Satz, kriegste einen vor den Latz“ hieß es mal in der antiautoritären Kindersendung Rappelkiste kritisch: ja, die Revolte frißt ihre Kinder. Und diesem neuen digitalen, identitären Mob – orchestriert teils von Leuten aus dem Medienmilieu – mögen sich immer weniger Journalisten aussetzen, schon gar nicht, wenn man keinen großen Namen hat, der einen schützt. Nur noch wenige, wie Jan Feddersen, Deniz Yücel oder der Kolumnist Aly, der gegenüber jeder Parteinahme für Kolonialismus unverdächtig ist, können es wagen, jemanden wie Kathleen Stock gegen einen transaggressiven Mob, der bis ins deutschuniversitäre Milieu vermeintlicher „kritischer“ Theorie reicht, zu verteidigen.

Nein, eine Zeitung soll nicht nur die Weltsicht des Lesers widerspiegeln, in diesem Falle eben meine, sondern ich möchte eine Zeitung lesen, die auf einem breiten Spektrum informiert und verschiedene Stimmen zu Wort kommen läßt. Und bei einer Tageszeitung, die für viele Leser dasein will, sollten viele Stimmen abgebildet werden. Und das kann auch bedeuten, daß jene Zeitung in einer Reportage oder einem Interview einen Querdenker, einen Neonazi, einen Linksextremisten, einen Veganer, einen Fleischliebhaber oder einen Transmenschen zu Wort kommen läßt.

In den Artikeln gehäuft eine bestimmte politische Tendenz zu bedienen und nicht zu berichten, sondern zu belehren, gehört zu den Gründen meiner Abo-Kündigung. Vom geschrumpften Lokalteil ganz zu schweigen. Daß eine Volontärin wie Maxi Beigang in ihren Texten in Dauerschleife eine Politagenda der trivialen Art fährt, stößt ebenfalls unangenehm auf. Man kann solche Art von Agendaschreibe vielleicht als Kinderjournalismus abtun: von jungen Menschen, die sich bei ihrer Peer-Group profilieren wollen. Doch das ist eben kein Journalismus mehr, sondern PR – und wer will als Journalist schon zu einer Margarete Stokowski herabsinken? Und das gilt auch – oder gerade – fürs Feuilleton. Solchen Haltungsjournalismus kann ich als Leser noch goutieren, wenn er Einzelfall ist. Das eben ist jene Vielfalt. Wenn aber diese Vielfalt zum Einheitsbrei und dann zur Einfalt wird, läuft bei einer Zeitung etwas falsch. Und wenn ich von der Schreibe und der politischen Haltung Autorinnen wie Antonia Groß und Maxi Beigang nicht mehr auseinanderhalten kann, dann sollte sich eine der beiden Damen überlegen, ob sie sich vielleicht einen anderen Markenkern zulege möchte. Man vermeidet solchen Brei, wenn man sich selbst einfach mal beim Schreiben zurücknimmt. Ich möchte nicht lesen, was 25jährige junge Frauen oder Männer so denken und was sie den Tag über bewegt. Ich kaufe keine Schülerzeitung, sondern eine Tageszeitung. Auch sehe ich nicht ganz ein, warum ich mich für das Tagebuch einer Jungjournalistin wie Beigang interessieren sollte – nicht einmal sofern dieser Text satirisch gemeint war. Dafür gibt es Blogs. Auch dies ist leider eine Tendenz, die ich verstärkt im Journalismus beobachte. Journalisten, die zunehmend um sich selbst kreisen und über sich, über ihre Kinder, über ihre Mütter, über ihren Tagesablauf berichten. Warum sollte das normale Leser interessieren?

Aber nicht einfach wegen solcher immer wieder ins Blatt gebrachter Themen ist diese Art von Journalismus verhängnisvoll – gerne kann man in guter Weise über Feminismus berichten oder über Rassismus, den es ja objektiv gibt –, sondern wenn ich als Leser bemerke, daß ich belehrt werden soll und mich eher in die Zeiten des Neuen Deutschlands der alten Art zurückgesetzt fühle, dann stellt sich Widerwille ein: ich will als Leser ernstgenommen werden und nicht das Objekt kinderpädagogischer Versuche sein. Wenn ich solche Tendenz verstärkt feststelle – das ist zumindest mein subjektiver Eindruck – dann ist es Zeit abzubrechen. Insbesondere wenn ich den Eindruck habe, daß sich eine Zeitung an eine bestimmte Zielgruppe und an einen bestimmten Zeitgeist andient.

Ich habe die Berliner Zeitung jahrelang geschätzt. Sie war Anfang der 2000er Jahre in meinen Augen die beste Tageszeitung, teils sogar der Bundesrepublik – zumindest in meinem kursorischen Sichtungsvergleich. Diese Zeit ist lange vorbei. Wenn ich bei einer Zeitung einen Großteil der Texte nur noch ärgerlich abbreche; wenn ich in einer Lokalzeitung keinen angemessenen Lokalteil mehr finde; wenn die Wochenendausgabe zu einem Hochglanzmagazin für Bobos wird, dann ist es Zeit, mit dem Lesen insgesamt und also auch mit dem Abonnement abzubrechen. Eine Tageszeitung lebt davon, daß der Leser sie morgens gerne liest. Sie lebt nicht davon, daß ich morgens beim Briefkasten jedesmal denke: „Gott, was erwartet mich jetzt wieder für ein Schmarrn?“ Daß ich eine Ausgabe gerne las, war leider bei der BLZ nur noch sehr bedingt der Fall. Mit dem Wechsel der Eigentümer hatte ich mir eine Qualitätssteigerung der gedruckten Zeitung versprochen. Die blieb jedoch weitgehend aus. Das ist schade, weil ich die BLZ lange Zeit gerne gelesen habe. Nun ist es vorbei und da führt kein Weg zurück.

Big in Berlin,

Wählen zu dürfen, ist ein elementares Bürgerrecht, und wenn Menschen daran gehindert werden, wie in Berlin geschehen und in dieser Weise bisher in Deutschland mir nicht bekannt, so haben wir ein erhebliches Problem. Und an dieses Desaster schließt sich auch die Frage an, wie lange ein Bürger bereit sein muß, in einer Warteschlange zu stehen, um zu wählen. Wahlzettel sollten keine Bückware und Wahlkabinen keine Mangelware sein. Ich hoffe sehr, daß dieses eklatante Versagen hier in Berlin politisch und auch juristisch aufgeklärt wird. Daß es eine ungute Idee ist, einen Marathon zusammen mit einem Großkampftag in puncto Wahlen abzuhalten, dürfte selbst meinen 22jährigen Neffen schon bewußt sein. Hinzu kommen die nötigen Sicherheitsmaßnahmen wegen Corona, die zu beachten waren und auf die man von den Wartezeiten hätte vorbereitet sein müssen. Eine Wahl zudem, wo nicht nur ein Volksentscheid stattfindet, sondern auch ellenlange Wahlzettel ausliegen – wenn sie denn überhaupt vorhanden sind: man wußte wohl erst ein paar Minuten vor der Wahl, wieviele Wahlberechtigte es gibt – und man pro Wahlgang und Wähler mindestens eine Minute, wenn nicht drei oder vier Minuten Verweildauer in der Wahlkabine einrechnen muß.

In den 1990er Jahren gab es bewundernde Blicke dafür, wenn man in Berlin lebte, heute sind diese Blicke voll von Mitleid. Eine Bekannte aus Sachsen spricht nur vom Molloch Berlin und ist dankbar, daß sie dort wohnt, wo sie wohnt. Und ich kann sie gut verstehen. Das einzige, was mich in Berlin hält, ist die Schönheit und Größe meiner Altbauwohnung und daß ich in einem Stadtteil weit weg von Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzlauer Berg wohne. Wenn es so weiter geht, sollten wir vielleicht die Abspaltung Steglitz-Zehlendorfs von Berlin fordern und daß man uns als Stadt dem Land Brandenburg zuschlägt.

Freilich, freilich: Berlin hat auch schöne Seiten. Ich liebe meinen Kiez und den Westen. Aber auch Mitte, die Auguststraße, die Kieze in Friedenau, den Rüdesheimer Platz mit dem Weinfest und vieles mehr. Herrlich sitzt man in den Sonnenuntergang hinein am Wannsee und schaut aus dem Schinkel-Casino bei Brot und Wein durch die Arkaden, auf der Wiese auf die im See versinkende Sonne. Und ein Sommer im Treptower Park ist herrlich oder eine Bootsfahrt auf Spree und Landwehrkanal und selbst die Kastanienallee hatte lange Zeit etwas.

Man kann, was Krisen-Berlin betrifft, auf die Lage in Sachsen und auf die Siege der AfD dort verweisen und sich fragen, was besser ist. Doch würde ich, was Sachsen betrifft, die Lage in bezug auf die AfD vergleichen mit dem Wandel in der BRD. Wer da kritisch auf Sachsen schaut, sollte sich ansehen, wie es noch vor 35 Jahren in Teilen Westdeutschlands und besonders in der ländlichen Region aussah. Man denke an die lange tiefschwarzen und CDU-regierten Bauern-Bundesländer Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Die ländliche Bevölkerung war teils tief rechtskonservativ. Das, was heute die AfD ist, wurde damals von der CDU bedient. Auch diese Strukturen und diesen langsam einsetzenden Wandel darf man bei dem guten AfD-Ergebnis, das sicherlich beklagenswert ist, nicht außer acht lassen. Von dem nun mit einiger Gewißheit wieder erfolgenden Sachsenbashing halte ich rein gar nichts. Wenn man etwas ändern will, muß man die Wähler überzeugen. Auch hier wird, wie in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, der Wandel langsam vonstatten gehen. Auch durch die jungen Leute, die langsam ein anderes Bewußtsein entwicklen. Ich erinnere mich noch an all die Hakenkreuze im Harzvorland und auch Richtung Hessen hin Mitte der 1980er Jahre. Und daß eben Nordheim nicht Göttingen ist. Glatzen, Bomberjacken, seltsame Gestalten. Auch das waren die 1980er Jahre in der BRD. Auch Westdeutschland hatte seine Baseballschlägerjahre.

Was auch immer man von diesem Wahlerergebnis halten mag: ein solches Desaster wie gestern ist einer europäischen Großstadt in einer Demokratie unwürdig. Putins Trollfabriken haben in puncto Berlin Arbeitspause. Sie sind für Berlin auch gar nicht nötig. Ich sehe die Geheimdienster in St. Petersburg und Moskau ratlos sitzen, ich höre die Schelte des Geheimdienstchefs: „Warum ist euch Saftnasen nicht eingefallen, auf einen Wahltag einen Marathon zu legen?“ Nein, eigentlich ist all das nicht lustig, und wenn wir über den Zustand in Berlin – nicht nur in bezug auf die Wahlen, sondern auch was die ganze Verwaltung und das Durcheinander zwischen Bezirken und Senat betrifft – nachdenken, dann muß sich in dieser Stadt dringend etwas ändern.

Gustav Seibt schrieb auf Facebook: „Rom wurde nach 1870 mehrfach unter Zwangsverwaltung gestellt. Das, was heute noch funktioniert in der Stadt und ihrem öffentlichen Verkehr, geht darauf zurück.“

Wenn das stimmt, so wäre darüber nachzudenken, daß mit Rechtsmitteln das Funktionieren einer Stadt und vor allem einer Verwaltung sichergestellt wird, in der – unter anderem – Menschen zeitnah die Möglichkeit haben müssen, auf einem Bürgeramt ihren Paß zu verlängern oder eine andere Dienstleistung zu erhalten – für die zudem bezahlt werden muß.

„Jede Stimme zählt“ – Wahlen in Berlin

Wenn man diese Stimme denn abgeben könnte, ist das bestimmt richtig und wahr. Und so ist in Berlin das eingetreten, was ich erwartet habe und weshalb ich bereits um neun Uhr früh zur Wahl gegangen bin, um hier den rot-rot-grünen Senat abzuwählen: Staus vor den Wahllokalen, fehlende Stimmzettel, falsche Stimmzettel und dazu ein Marathon, der Straßen nicht passierbar macht, um so schnell es geht die für den Bezirk richtigen Stimmzettel zu liefern. Denn in Charlottenburg bringt es nichts, die Bezirksversammlung von Köpenick zu wählen. Und heute abend wird man dann wieder das Gesicht von Herrn Oberbürgermeister Müller sehen, der für solches Chaos, das man vielleicht in Moldawien oder in Bananistan erwartet, Worte finden muß, und er wird abwiegeln, abwiegelt, nochmal abwiegel und irgendwelche Worte findet.

Eine Stadt wie Berlin, die nicht einmal Basales hinbekommt wie zeitnahe Termine beim Paßamt unter zwei Monaten, will vier Wahlen an einem Tag meistern (Bundestag, Abgeordnetenhaus, Bezirk und ein Volksentscheid über die Enteignung der „Deutsche Wohnen“). Und dazu noch einen Marathon, der durch die ganze Stadt geht. Hinzu kommt ein nicht erst seit gestern bekanntes Virus, das Hygienemaßnahmen erforderlich macht. Dementsprechend sieht es dann auch vor den Wahllokalen aus. Wartezeiten von über einer Stunde, wie in irgendeiner Bananenrepublik, wo zum ersten Mal seit 40 Jahren gewählt werden darf. Aus Mitte und aus Schmargendorf wird von fehlenden Wahlzetteln berichtet. Als ob die Anzahl der Wahlberechtigten erst seit heute morgen feststünde.

Der Tagespiegel berichtet, heute 16 Uhr:

„Die Berliner Wahlen laufen deutlich chaotischer als von der Landeswalleitung erhofft. Mehrere Wahllokale mussten am Sonntag zeitweise schließen, weil sie keine Stimmzettel mehr hatten. Manche Wahllokale bekamen zudem die falschen Stimmzettel geliefert – nämlich Stimmzettel anderer Bezirke.

Der Bundeswahlleiter twitterte: „Die Landeswahlleiterin Berlin hat uns mitgeteilt, dass in Wahllokalen in Berlin Zweitstimmzettel der Wahl zum Abgeordnetenhaus fehlen. Wahllokale hatten, wie sich erst am Wahltag herausstellte, Zweitstimmzettel eines anderen Bezirks erhalten.“

Wegen vertauschter Wahlzettel war es in einigen Wahllokalen zu ungültigen Stimmabgaben und Verzögerungen gekommen. Betroffen waren Stimmzettel aus den Bezirken Friedrichshain/Kreuzberg und Charlottenburg/Wilmersdorf.

In den Wahllokalen 404, 407 und 408 in der Spartacus Grundschule in Friedrichshain lagen nach Angaben aus dem Wahllokal für die Abgeordnetenhauswahl nur Stimmzettel aus Charlottenburg/Wilmersdorf vor. Bis die richtigen Stimmzettel nachgeliefert wurden, mussten die Wahllokale zeitweise geschlossen werden. Zudem mussten einige Stimmabgaben auf falschen Stimmzetteln für ungültig erklärt werden.“

In der Berliner Zeitung heißt es:

In einem Wahllokal in Charlottenburg wurden die Leute wieder nach Hause geschickt, mit dem Hinweis, die Wahlzettel seien alle und neue könnten im Moment nicht beschafft werden, da die Straßen wegen des Marathons gesperrt seien. Auf die Ansage, die Wähler sollten nach 17 Uhr noch mal kommen, gab es wütende Reaktionen. Wie unsere Reporter berichten, handelt es sich um das Wahllokal in der Paula-Fürst-Schule.

Hackerangriffe aus den St. Petersburger Trollfabriken kann sich Putin für Berlin sparen: All das, die Zerstörung von Infrastruktur und Verwaltung erledigt hier der rot-rot-grüne Senat in Eigenregie. Völker der Welt, bitte schaut auf diese Stadt, wenn ihr mal lachen wollt.

Oder wie es auf Facebook kommentiert wurde: „Afrikanische Wahlbeobachter zeigen sich besorgt…“

Mohrenstraße bleibt!

Seit einigen Jahren wollen Aktivisten die Mohrenstraße wegbenennen und mithilfe des Bezirks und an der Bevölkerung vorbei wird dies auch geschehen, wenn nun nicht Bürgerprotest erfolgt, und zwar von all den Berlinern und denen, die in Berlin wohnen. Nur wenn es viele sind, wird es nützen. (Wie das geht, dazu gleich unten.)

Der Historiker Götz Aly schrieb in der „Berliner Zeitung“ vom 18.5.:

„Seit 330 Jahren gehört diese Straße zu der in ihrer historischen Struktur erhaltenen Friedrichstadt. Durchgesetzt haben diesen Geschichtsfrevel Grüne, SPD und Linke im Bezirk Mitte. Zuvor hatten dieselben Parteien im Abgeordnetenhaus eine Ermächtigungsklausel beschlossen, mit der sie die Ausführungsvorschriften des Straßengesetzes um ein gummiweich formuliertes Kriterium zur Umbenennung ergänzten: den „Bezug zu rassistisch-imperialistischen Ideologien“. Aber dieser besteht im Fall Mohrenstraße nicht.

Ohne jede Begründung wird zudem behauptet, der Straßenname schade „dem nationalen und internationalen Ansehen Berlins“ und enthalte einen „rassistischen Kern“. Dazu ist zu sagen: Zur Zeit der Benennung wurden in der ständisch verfassten Gesellschaft einzelne Menschen- und Berufsgruppen mit Straßennamen nicht diskriminiert, sondern ehrend als Gemeinschaften hervorgehoben. Deshalb haben wir in Berlin die Schützenstraße, die Jüdenstraße, den Gendarmenmarkt, den Kadettenweg, den Hugenottenplatz, die Böhmische Straße usw. Die Mohrenstraße kreuzt die nach dem vor 320 Jahren regierenden Königspaar – Friedrich und Charlotte – benannten Straßen des heutigen Zentrums. Eine derart hervorgehobene Position im alten und heutigen Zentrum Berlins kann nicht herabsetzend gemeint gewesen sein. Im Deutschen wird das Wort Mohr seit langer Zeit nicht mehr als Bezeichnung für einen Menschen dunkler Hautfarbe verwendet; es existiert auch nicht als Schimpfwort.

Die Mohrenstraße ist Teil der Stadtgeschichte, ähnlich der Mauerstraße, dem Festungsgraben, der Invaliden- oder der Hirtenstraße. Dasselbe gilt für die zur Mohrenstraße parallel verlaufende Taubenstraße. Sie war nicht etwa dem Vogel, sondern solchen Soldaten gewidmet, die im Kriegsdienst ertaubt waren und dort Unterkunft gefunden hatten. Gilt das demnächst als behindertenfeindlich? Es gibt keinen Grund, an den historischen Namen zu rütteln. Sie sind Schriftdenkmale, die es uns Heutigen ermöglichen, die Vergangenheit unserer Stadt zu lesen und besser zu verstehen.

Was tun? Nach den Paragraphen 40 und folgende des Bezirksverwaltungsgesetzes wäre das Bezirksamt verpflichtet gewesen, die „Mitwirkung der Einwohnerinnen und Einwohner zu fördern“ und diese rechtzeitig „über ihre Mitwirkungsrechte zu unterrichten“. All das haben der Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel und die zuständige Stadträtin Sabine Weißler (beide Grüne) fahrlässig oder willentlich unterlassen.

Die Idee zur Umbenennung wurde von einer kleinen, wenig informierten antikolonialistischen Gruppierung forciert. Diese nennt das Bezirksamt „zivilgesellschaftliche Akteurinnen/Akteure“. Diejenigen, die dagegen seit Jahren begründete Einwände erheben, zählt dasselbe grün-rot-rot durchherrschte Amt nicht zur Zivilgesellschaft. Dagegen sollte man sich zur Wehr setzen.

In den nächsten vier Wochen können alle Berliner und Berlinerinnen brieflich Widerspruch gegen die Umbenennung einlegen, zu richten an: Bezirksamt Mitte von Berlin, Abt. Weiterbildung, Kultur, Umwelt usw., Karl-Marx-Allee 31, 10178 Berlin. Lassen Sie sich den Eingang bestätigen.“

Diesem Aufruf kann ich mich nur anschließen und ich werde ebenfalls ans Bezirksamt Mitte schreiben. Geschichte – auch Kolonalgeschichte – läßt sich nicht begreifen, indem man Denkmäler schleift und Namen tilgt, sondern nur, indem Menschen wissen, was mit bestimmten Namen verbunden ist. Selbst bei solchen Namen wie dem Hamburger Kaufmann und Sklavenhändler Heinrich Carl von Schimmelmann reicht es nicht aus, einfach einen Straßennamen zu entfernen – und wenn man es möchte, dann muß das unter Beteiligung aller Bürger einer Stadt oder eines Bezirkes geschehen. Bei der Mohrenstraße nun liegt der Fall noch einmal anders. Es ist dies kein Name, sondern wie Aly zeigte, eine Ehrbezeichnung. Schlimm auch, daß gerade jene Kräfte, die ansonsten bei dem Thema Bürgerbeteiligung im demokratischen Gemeinwesen eine hohe Meinung von genau solcher Partizipation haben, genau dann von solcher Beteiligung abgerücken, wenn es der eigenen Agenda zuwiderläuft und wenn es sich gar um ein Projekt handelt, daß jene Politiker auf Teufel komm raus, auch gegen den Willen von Bürgern, durchbringen wollen.

„Those were the days my friend“ – Lutz Seilers „Stern 111“

42925Ein wenig geht es in diesem im Frühjahr 2020 erschienenen Roman von Lutz Seiler zu wie in seinem herrlichen Erstlingsbuch „Kruso“ (2014): Abschied von der DDR auf der Insel, die letzten Tage, nur diesmal nicht auf Hiddensee, sondern auf einer anderen Insel, und zwar mitten in der Hauptstadt der DDR, auf einer Insel in Ostberlin. Da gerät ein Protagonist in eine verschworene Gemeinschaft von Menschen, die dachten, für immer zusammenzuhalten: diesmal in Berlin-Mitte – Oranienburger Straße, die alte DDR, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, das alte Ostberlin. Und das sich bereits ankündigende, kommende, neue Berlin. Was geschieht? Es ist Wendezeit. Die Grenzen wurden dank Schabowskis Zettel und dem Fehlleser geöffnet. Die Menschen strömen in den anderen Teil Deutschlands. Es ist November 1989, die Mauer fällt. Und die Eltern des Protagonisten Carl telegraphieren ihrem Sohn, daß er aus Leipzig in die elterliche Wohnung nach Gera reisen solle, weil sie ihm, dem Sohn, etwas Wichtiges zu erzählen haben: Sie eröffnen ihrem Sohn, daß sie diese einmalige Chance nutze wollen, um in den Westen zu fliehen: wer weiß, wie lange dieser Zustand der offenen Grenze so bleibe, meint die Mutter, um dann wieder in den alten Zustand zurückzuspulen. Eine Flucht, die keine richtige Flucht mehr ist, weil die Mauer bereits gefallen war, aber um im Notaufnahmelager nicht allzu sehr aufzufallen, reist man besser nicht mit dem Auto an, so denken die Eltern. Also muß das Auto in Gera bleiben.

Mit dieser Nachricht wird der Sohn Carl von seinen Eltern überrascht und dazu verdonnert, die Wohnung in Gera einzuhüten und vor allem auf das kostbare, wohlgepflegte und gehegte Gefährt, den Lada Shiguli, aufzupassen. Nicht die Jugend bricht auf, sondern die Alten tun es. Was als elterliches DDR-Leben für die Dauer schien, erweist sich, wie später dann auch die DDR, als brüchig bis hinfällig: „wie gewohnt und als könnte es nicht anders als für immer so bleiben – schließlich war doch alles hier nur dafür eingerichtet.“ Für immer und immer. Denn das eben ist es, was Kinder glauben, die nun selber junge Erwachsene sind, und was sie noch weiterhin gerne glauben wollen. Alles bliebe wie immer: nur man selbst, als junger 20jähriger, würde sich ändern und seinen Lebensweg durchrauschen oder melancholisieren, wenn es einmal nicht so läuft, meist mit den Mädchen: Uni, Literatur, und wieder Mädchen, wild ein Leben leben und vor allem: Gedichte schreiben, so wie Carl es sich wünscht. Die Eltern – das sei der sichere Hafen. Daß alles bliebe. Aber die Gruppe „Karussell“ sang es so: „Nichts ist unendlich, so sieh das doch ein/ Ich weiß, du willst unendlich sein – schwach und klein“. Kitschig und schön zugleich. Ein wenig auch, wie jenes Seiler-Buch.

Auch ein Abschiedslied. Auch ein schöner Kontrast, gleich zu Beginn des Buches: Wagemutig sind die Eltern, die der Sohn in ihrem alltäglichen DDR-Dasein für langweilig, angepaßt und normal hielt. Und als Stubenhocker erweist sich der vormals in Leipzig Literatur studierende Sohn, der schon in Leipzig hockte und der nun nach der Abreise der Eltern monatelang still in der elterlichen Wohnung hockt, wartet, auf irgendwas wartet, auch darauf, daß er den Nachbarn, die neugierig sind und die wissen wollen, was mit den Eltern ist, aus dem Weg geht. Warten, abwarten, beobachten: wie schon im DDR-Leipzig, wo der jungen Mann wegen eines Mädchens namens Effi, in das er unsterblich und tief unglücklich verliebt war, sein Studium abbrach. Nun geht es wieder heim:

„Immer deutlicher wurde, dass Carl im Grunde nicht viel über seine Eltern wusste und nur ein paar blasse, kindliche Bilder mit sich herumtrug aus dem Album seiner Schulzeit und Jugend. Hatte er je wirklich über sie nachgedacht? War es die Aufgabe von Kindern, wenn sie erwachsen wurden, über ihre Eltern nachzudenken? Und wenn, wann sollten sie damit beginnen? War Mitte zwanzig dafür schon zu spät?“

Aber die „alte Ordnung löste sich auf, in rascher Geschwindigkeit“: die Gesellschaft, das Soziale, alles das, was war, ist nicht mehr so wie angedacht: Vorwärts immer, rückwärts nimmer. So denken Carls Eltern; und so denkt dann nach langem Hocken in der elterlichen Wohnung, die mehr und mehr zu einem Nicht-mehr-Ort wird, am Ende auch Carl. Er bricht mit dem Shiguli nach Berlin auf, ohne es den Eltern zu sagen, die glauben, er hüte die Wohnung weiter ein. Literatenträume, und irgendwas erleben, um es aufzuschreiben. Carl streift durch jene Mitte-Viertel, Scheunenviertel, Oranienburger Straße, Kollwitzplatz, fährt Schwarztaxi, beim ersten Mal ohne es zu merken, weil er freundlich ist und einen Ostberliner mitnimmt, der am Straßenrand winkt. Carl fährt, schaut, pennt in seinem Shiguli:

„In den ersten Tagen drehte Carl ein paar kleinere Runden. Er erkundete Berlin, kehrte aber immer wieder zu seinem Schlafplatz in der Linienstraße zurück. Er fuhr in die Kastanienallee, die er bisher nur als Titel eines Gedichtbands kannte, und lief eine Weile ziellos umher. Er war auf Entdeckungsreise, er konnte seinen Herzschlag spüren. Irgendwo hier, hinter diesen Fassaden, wurden die guten Gedichte geschrieben, die dann in Zeitschriften erschienen mit Namen wie ‚Liane‘ oder ‚Mikado‘. Auf der Suche nach ihrem besonderen Wesen musterte Carl die Menschen der Kastanienallee – auch wenn er sich damit lächerlich machte, er zeigte Respekt. Und tatsächlich hatten nicht wenige jene absolute Notwendigkeit im Blick, die zum Schreiben führen konnte; und dieser und jener schien schon tiefer hinabgestiegen in sein einsames ‚Ich muss‘, Rilkes Diktum, das auch Carl verfolgte, seit ihm die ‚Briefe an einen jungen Dichter‘ in die Hände gefallen waren.“

Oft schwingt, wie in der Rilke-Passage, Schalk und Selbstironie im Erzählen mit. Der hohe Anspruch des jungen Mannes und zugleich das am Ende auch wieder Hochtrabende, die große Geste, die im Rückblick der Jahre einerseits etwas Komisches und doch auch etwas Rührendes haben: als wir jung waren, als wir träumten, als da ein Leben noch offen vor einem lag,das es auszufüllen galt, mit all den Träumen, jene wunderbaren Jahre, im neuen, alten Berlin, um die Kastanienallee herum, die 15 Jahre später Castingallee hieß: Seiler vermag es, die Stimmung dieser Jahre anschaulich zu machen. Zumindest erzählt er sie so, daß jene Zeit glaubhaft wirkt und der Westrezensent meint, es wäre genau so gewesen, wie Seiler es beschrieb. [Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre: Literatur ist keine Dokumentation, sondern sie will schöne Geschichten erzählen, an denen wir uns berauschen. Einerseits. Die aber in ihrem Gemachtsein zugleich etwas Besonderes sind. Andererseits.]  Wie Carl da im Fieber fast stirbt, weil er sich nachts im Auto eine Lungenentzündung zuzog und eine Gruppe Hausbesetzer ihn aufliest, mitnimmt, aufpäppelt und er in ihre Gemeinschaft hineinwächst. Hoffi, der Hirte, der Kopf der Gruppe um jenes in der Oranienburger Straße zu einem Treffpunkt ausgebaute Zentrum namens „Assel“, ein wenig gezeichnet wie die Figur des Kruso in dem gleichnamigen Roman und der als Commandante auch in diesem Roman wieder auftaucht, angereist von der Insel Hiddensee und nun ebenfalls in Berlin lebend, samt Kruso-Assistenten Edgar, der wie auch Carl ein weiteren Double des Autors zu sein scheint. Seiler verquickt hier auf eine schöne und unaufdringliche Weise Autobiographie und freies Erzählen: Das Ich ist immer ein Stück vom eigenen Leben und ist es doch nicht ganz. Der Ausbruch aus der alten Ordnung ist vielfältig: Inselszenen sind sowohl „Kruso“ als auch „Stern 111“.

Ist „Stern 111“ ein Berlinroman? Ein Ostberlinroman, genauer geschrieben? Ja und nein. Zwar spielt er an jenen Plätzen des Wende- und Nachwendeberlins in Mitte und Prenzlauer Berg: Oranienburger Straße, Rykestraße, Wörtherstraße, Schönhauser Allee, Kastanienallee, Knaackstraße bis hinein ins Winsviertel. Legendär in der Oranienburger Straße das Zentrum jener wilden Hausbesetzer, an die Carl gerät und die ihn aufpäppelten: jenes ausgebaute, umgebaute, ausgegrabene Kellerlokal mit dem Namen „Assel“.

Ostberlinjahre des Ausbruchs. Eine Art Niemandsland. Maler, Schauspieler, Dichter, Macher, die die marode Bausubstanz dieser Viertel für sich zu nutzen wissen, die renovieren, umbauen, Häuser besetzen, um Wohnraum zu gewinnen. Aber zugleich geht es um mehr als um das alte Wendeostberlin mit seiner speziellen Szene aus Künstlern, Aussteigern, Hausbesetzern, Lebemenschen, aber auch den Alteingesessenen und besonders den Alten, die dort nicht mehr fortwollen und schon bald fort müssen. Jene heute monokulturell aufbereiteten Viertel sind inzwischen die Lieblingsorte von Journalisten, die das migrantische Leben preisen und als sie einstmals mit diesem in Neukölln und Wedding in Berührung kamen, schnell in den inzwischen entmieteten Prenzlauer Berg flohen. Bodentiefe Fenster sozusagen und Entmietung; heute beklagt man sich literarische über jene mit den „Schäfchen im Trockenen“.

Das alles war damals anders. Alles war offen. Neue Lebensformen schienen möglich. Insofern ist dieser Roman auch  ein Buch, das die Frage stellt, wie wir leben wollen. Sei es am Beispiel der Eltern, die tatsächlich zu einem ganz Neuen aufbrechen und Carl, der sich tastend in jenem Ostberlin bewegt. Verfall stand auf der Tagesordnung des Jahres 1989 und diese Ästhetik des Untergangs ermöglichte zugleich ein Refugium für Kunst. Es ist das, was Seiler beschreibt, nicht nur ein Ort, sondern zugleich ein Zustand, eine Emphase von Aufbruch, die Zeit des Umbruchs, die genauso für Leipzig, für Halle und vermutlich auch für Chemnitz und Magdeburg gelten kann. Der Roman erzählt eine Erfahrung, die kein Wessi je machen konnte, nämlich wie ein System vollständig wegbrach und eine Leerstelle hinterließ, an die man andocken und die Menschen mit ihren Ideen und mit ihrer Phantasie ausfüllen konnten; die alten Autoritäten waren fort oder wurden verlacht, neue waren zunächst nicht in sicht. „Stern 111“ zeigt, was damals war, als die DDR zusammenbrach und als sich Menschen ihre Freiräume eroberten – ähnlich wie auch Clemens Meyers Leipzig-Tableau „Als wir träumten“: großartig, weil Meyer in klaren Bildern und pointierten Szenen jene Jahre der Wende auch dem Leser aus dem Westen anschaulich machen kann – vor allem das Wilde dieser Zeit. Und eben dieses Zeigen von Zeit fasziniert auch bei Seiler.

Und wie schon in seinem erstem Roman „Kruso“ zeigt er Menschen, die in der Gemeinschaft ein besseres und anderes Leben führen wollen, das von Freiheit, aber auch von einem Ideal sozialistischer Gemeinschaft bestimmt ist: Kommune machen, nur eben bloß nicht wie jene zwanghaften 68er, sondern auf Ostart. Da ist jener Hirte, Hoffi mit Spitznamen, der jene lose Hausbesetzergruppe anführt, er denkt bei seinem neuen Wohnprogramm an Arbeiter und an Aussteiger. Er predigt, er nimmt jeden auf, der mitmachen will, so eine Art Naturtheater von Oklahama. Ein Kollektiv, eine Gemeinschaft mit neuer Lebensform. Jeder nach seinen Bedürfnissen. Doch die meisten jener Arbeiter, die der Hirte ansprechen wollte, hatten genug von den Utopieträumen: „Kommt die Westmark bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.“ Genau dies war ihr Verhältnis zur DDR. Und so verirren sich in die „Assel“, jene von den Besetzern peu a peu ausgebauten Kellerkneipe und Café, nur jene ehemaligen russischen Soldaten, die unter traurigen Bedingungen inzwischen schwarz auf dem Bau arbeiten. Oder es kommen die Huren der Oranienburgerstraße. Was bleibt, ist der Idealismus jener Jahre.

Ein wenig anders freilich und als Kontrastbild des Berlin-Aufbruchs wirken Carls Eltern. Sie sind die wirklichen Aussteiger. Sie fangen aus einem alten Leben ein völlig neues an: alles auf Risiko, brechen aus einem alten Leben, das sie jahrzehntelang in Gera führten, aus. Carl hat Eltern, die er im Grunde nicht kennt und die eine Existenz führten, von der er bisher nichts wußte: Sie liebten es, Rock’n Roll zu tanzen, sie waren, als es noch keine Mauer gab, bei einem Rock-Konzert in Westberlin, sie hörten jene Musik und mochte das Wilde und Überschlagende beim Tanzen, und sie haben sich in der DDR am Ende doch gefügt: „Er sah seine Eltern, Seite an Seite tauchten sie ein in diesen Irrtumsnebel, der immer dichter wurde.“

Das Leben der Eltern in der BRD und später dann sogar in den USA, das Leben Carls in Mitte und im Prenzlauer Berg: die Parallelmontage der beiden unterschiedlichen Leben ist eine schöne Konstruktion, um auf diese Weise verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen, wie man auf die Öffnung der Mauer reagieren kann.

An manchen Stellen bin ich mir allerdings von der Sprache her nicht sicher, ob das, was da steht, so gemeint ist oder ob es die Ironie einer Jugend-Phase abbilden soll, so wie junge Künstler gerne bilderreich dichten:

„Für einen Moment beschlich ihn der Verdacht, dass die Welt, der er angehörte, klammheimlich verschwunden und er einer der Übriggebliebenen war, ein Stück angefaultes Treibholz auf dem großen breiten Strom der neuen Zeit.“

Vielleicht soll solcher Bericht von der Zeit in der Form des personalen Erzählers die Stimmung Carls abbilden und sie zugleich persiflieren. Vielleicht aber auch den Eindruck des Erzählers wiedergeben. Doch ist dies zu viel von Pathos, wenn es ernst gemeint sein sollte. Gebeizte Stimmungskunst. Solche hochtourende Prosa findet sich an einigen Stellen. Weniger hätte gut getan. Die Wendung „für einen Moment“ taucht in diesem Roman übrigens an genau 44 Stellen auf. Ich gehe davon aus, daß diese Häufung nicht bloß Nachlässigkeit ist, sondern daß hier der Augenblick, der Moment eben, eine besondere Rolle spielt. Und einen solchen besonderen Moment im Leben eines jungen Mannes erzählt auch Lutz Seiler. Dazu gehört genauso die Ablösung von den Eltern, die sich wiederum von ihrem alten Leben ablösen.

„Stern 111“ ist in diesem Sinne auch ein Bildungsroman. Die Bildungsreise des jungen Carl aus dem beschaulichen, kleinen DDR-Gera nach Ostberlin und der Werdegang eines jungen Mannes, der sich nicht sonderlich viel zutraut, der sympathisch ist, der gerne ein Dichter werden will und der von den Leuten wegen seiner stillen Art gemocht wird, aber eigentlich nie die Rolle des Leittiers im Rudel spielt. Er schaut zu. Und in diesem Schauen, aus dieser Passivität heraus und durchs Beobachten bildet jener Carl sich. Carl nämlich wird es am Ende sein, der genau diesen Roman geschrieben und der zum Schriftsteller wurde; und aus diesem Grund wechselt der Roman dann im Epilog von der Er-Perspektive in die des Ichs. Ein Autor, ein Dichter, der sich gefunden hat. Vom Er zum Ich. Rückblicken auf sich selbst kann man oftmals nur in der dritten Person: man war damals ein anderer. Wie endet der Roman? So wie es richtig ist, nämlich mit einem Blick auf jenen Ort, der neben dem kleinen Carl, Hoffi, dem Hirten, Carls großer Liebe Effi, der er im Osten Berlins wiederbegegnet, Carls Eltern und vielen anderen Bewohnern dieser Utopie-Oase, einer der Protagonisten dieses schönen Romans ist, nämlich die herrliche „Assel“, in der sich Glück, Liebe, Arbeit, Kunst, Kampf, Verzweiflung und Feiern zutrugen:

„Auch heute steht in der Oranienburger Straße 21 ein Haus. Wenn ich dort vorüberkomme, überprüfe ich die Nummer am Eingang und die Lage zu bestimmten Bäumen gegenüber, die es schon damals gab, im Park. Die Lage – sonst ist nichts geblieben. Selbst das Souterrain, die alte Höhle, gibt es nicht mehr. Die Decke ist herausgerissen, der Unterstand ist aufgebrochen, das U-Boot gesprengt. Durch breit verglaste Öffnungen in der Fassade schaut man einem hohen, gut beleuchteten Raum bis auf den Grund. Der alte Unterschlupf ist eine Art Aquarium geworden. Wozu, bleibt ein Rätsel. Vereinzelt stehen dort ein paar Möbelstücke, ohne Preis. Einen Kunden oder einen Verkäufer habe ich nie dort gesehen – keine Menschen, nur ein Kasten aus Glas und Stein, in dem ein paar Möbel treiben.“

Von dem, was einmal war, blieb nichts mehr übrig – außer den Fassaden der Häuser und jene Erinnerungen an eine Zeit, die lange vorüber ist. Lutz Seiler verdichtete sie in Literatur. Die Oranienburger Straße heute ist eine leblose Zone, eine Straße wie jede andere, mit Bars und indischen Restaurants samt bunten Fahnen, die mit India-Kitsch Touristen aus New York und Madrid locken, in einem Bezirk, der inzwischen unbewohnbar ist. Nichts ist unendlich. Der Rest ist Geschichte, der Rest bleibt Erinnerung für die, die damals dabei waren. Ein wunderbares, poetisches, schönes Buch zum Abschied eines Landes, programmatisch  steht dafür auch der Romantitel: wer damals nicht dabei war, wird nur mit Nachschlagen wissen, was „Stern 111“ ist. Nämlich ein altes DDR-Transistorradio.

„Carls Mutter zog einen Handwagen hinter sich her, in dem Carl saß, das Kind, vom Dorf bis zur Autobahn waren es nur zwei Kilometer. Carl-das-Kind hatte ein Kissen im Rücken und das Stern 111 auf den Knien, ihr Kofferradio.“

Teils ist das Buch in der Sprache auch ein Schelmenroman. Im Blick des Sohnes auf die Eltern erinnern vom Humor her manche Passagen an Thomas Brussigs „Helden wie wir“. Insofern würde ich, obgleich Seiler ein verhaltener Spaßmacher ist, diese Prosa teils als Komik lesen, und zwar gerade durchs Dezente als eine guter Variante des Humors, gelingt dies. Vor allem aber ist es ein ostdeutscher Bildung- und Entwicklungsroman. Seiler verbindet diese Elemente aus Poesie der Sprache und Zeitgeschehen zu einer konsistenten und spannenden Geschichte mit herrlicher Pointe, zuweilen auch Kitsch, den ich diesem Buch aber insofern verzeihe, weil der Roman wunderbar erzählt eine Stimmung, eine Zeit, eine Phase anschaulich macht, die ich als Rezensent nicht miterleben durfte. Ich harrte damals in jenen wunderbaren Jahren des frühen Erwachsenendaseins mit Mitte 20 in der guten Denk-Stube und las in der Arbeitsgruppe „Kants Kritik der reinen Vernunft“. Auch so ein Stubenhocker. Aber ohne die Ambition, ein Dichter zu werden.

Lutz Seiler, Stern 111, Suhrkamp Verlag 2020
528 Seiten, 24,00 EUR

Und wer hat einen Tag später als Hegel Geburtstag?

Und als die schöne Gesellschaft da im Hause Hegels am Kupfergraben in Berlin so im Feierüberschwang war und die Gäste und der herrliche Hausherr tranken, da machte der Hausherr den Vorschlag, auch jenen großen Literaten noch zu feiern und es stießen die Gäste auch gleich noch über die Mitternacht in die Nacht hinaus auf jenen großen Dichter zum Geburtstag an und so feierte die Gesellschaft in den nächsten Tag. Es ward ein solches Fest, daß auch die Zeitungen darüber berichteten. So daß der preußische König Friedrich Wilhelm III., über dessen Geburtstag am 3. August in der Zeitung nichts berichtet wurde, sich ärgerte, erboste und fürderhin und künftig verbot. daß über solche Privatfeiern in den Zeitungen nichts mehr berichtet werden dürfe. Wer also war’s, wer hat heute Geburtstag? Kleiner Lektüretip:
„Hohe Bäume zierten den Platz vor ihrem Hause, darunter stellte er seine Sänger; er selbst ruhte auf einer Bank in einiger Entfernung und überließ sich ganz den schwebenden Tönen, die in der labenden Nacht um ihn säuselten. Unter den holden Sternen hingestreckt war ihm sein Dasein wie ein goldner Traum. – »Sie hört auch diese Flöten«, sagte er in seinem Herzen; »sie fühlt, wessen Andenken, wessen Liebe die Nacht wohlklingend macht; auch in der Entfernung sind wir durch diese Melodien zusammengebunden, wie in jeder Entfernung durch die feinste Stimmung der Liebe. Ach! zwei liebende Herzen, sie sind wie zwei Magnetuhren: was in der einen sich regt, muß auch die andere mitbewegen, denn es ist nur eins, was in beiden wirkt, eine Kraft, die sie durchgeht. Kann ich in ihren Armen eine Möglichkeit fühlen, mich von ihr zu trennen? und doch, ich werde fern von ihr sein, werde einen Heilort für unsere Liebe suchen und werde sie immer mit mir haben.“
Und noch eine andere Textstelle, im Hinblick auf die Querelle des Anciens et des Modernes:
„Wohl findet sich bei den Griechen sowie bei manchen Römern eine sehr geschmackvolle Sonderung und Läuterung der verschiedenen Dichtarten, aber uns Nordländer kann man auf jene Muster nicht ausschließlich hinweisen. Wir haben uns andrer Voreltern zu rühmen und haben manch anderes Vorbild im Auge. Wäre nicht durch die romantische Wendung ungebildeter Jahrhunderte das Ungeheure mit dem Abgeschmackten in Berührung gekommen, woher hätten wir einen ›Hamlet‹, einen ›Lear‹, eine ›Anbetung des Kreuzes‹, einen ›Standhaften Prinzen‹?“

Fridays for Future – Zur Klima-Demo in Berlin

Menschen strömen in den S-Bahnhof Rathaus Steglitz: Kinder, Erwachsene, Jugendliche, auch Lehrer sind mit dabei, es scheinen ganze Schulklassen auf den Beinen. Solche Szenen sah ich eigentlich nur bei Großveranstaltungen oder den großen Friedensdemonstrationen Anfang der 1980er Jahre. Sogar die Berliner S-Bahn beteiligt sich am Klima-Streik. Sie tut, was sie am besten kann: nicht fahren und nicht funktionieren. Die S 7 und andere Züge fielen bis zum Mittag wegen eines Stellwerkfehlers aus. Und wie üblich ließ die S-Bahn ihre Züge im zeitgedehnten Zehn-Minuten-Takt gondeln, während es auf dem Bahnsteig voller und voller wurde und an vielen Stationen die Leute einfach auf dem Bahnsteig warten mußten und auch im nächsten Zug vermutlich nicht mitkamen, weil der nämlich genauso voll war. Damit man einmal auch das Gefühl bekommt, wie es wohl in Tokio sein könnte. In der S-Bahn quetschten sich die Menschenkörper. Irgendein 13jähriger meinte in jenem Penälerhumor trocken „Wenn jetzt jemand furzt, stirbt der ganze Waggon.“ Fast alle wollten zum Brandenburger Tor, viele hatten Plakate und Transparente dabei.

Ein anderer junger Schüler, er mochte 15 oder 16 Jahre sein, erzählte von seinen Reisen in den Hambacher Forst, wie sie von der Polizei schikaniert wurden, wie ihnen die Übernachtung schwierig gemacht wurde, indem das Gelände, wo die Zelte stehen sollten, mit schwerem Gerät umgepflügt wurde, erzählte von Widerstand und Protest und sprach mit Emphase und ein wenig altklug, wie junge Menschen, die gerade die Politik für sich entdecken, manchmal sind. Ich kam mit ihm ins Gespräch. Der Junge schilderte, wie er und Genossen ein Denkmal mit politischen Parolen beschmiert hätten, allerdings mit Kreide, und wie dann die Polizei kam. Der junge Lehrer sagte mit einem süffisanten Lächeln. „Das will ich jetzt lieber nicht gehört haben.“ Eine schöne Atmosphäre, mir lächelte irgendeine Frau zu, so wie an diesem Tag ich häufig von Frauen Ende 30 angelächelt wurde. Ich weiß nicht weshalb, vielleicht lag es an meiner schwarzen Lederjacke und meinem harten Reporterblick. Vielleicht wollten sie auch einen vom Alter her gut situierten Mann. Sie waren bei mir an der falschen Stelle. Kriegsberichterstatter sind einsam. Und sie bleiben es. Wer jetzt keine Nikon hat, der hat sie nimmermehr.

Am Potsdamer Platz stiegen wir alle aus. Es herrschte auch dort ein Drängeln und Schieben. Alle strömten sie hin zum Brandenburger Tor. Massen und immer mehr an Menschen hier in Berlin. Kinder, Jugendliche, Eltern, aber auch Alte und jene Altachtundsechziger und auch Altachtziger wie ich, die schon damals bei den großen Protesten der BRD dabei waren. Fehlt nur noch, daß jemand die Graswurzelrevolution oder die UZ verteilte oder einem die Mitgliedschaft in der SDAJ aufschwatzen will. Linke aber genauso Bürgerliche gehen bei dieser Demo mit, politisch ganz unterschiedliche Menschen kamen hier und heute zusammen, um irgendwie mit ihren Mitteln ein Zeichen zu setzen.

Parolen wie „Ich sag Kohle, ihr ruft ‚Ausstieg‘“ sind ganz und gar nicht meine Sache, ebensowenig die Mitmachprogramme mit Herumhüpfen und Hände heben. Irgendwann sang von der Bühne Dota Kehr. Ich mag viele ihrer Lieder, auf den Text habe ich nicht gehört, aber die Melodie und die Art des Singens klangen schön. Ich hoffe, es war kein politisches Lied, denn da sind die Texte leider oft garstig-gräßlich und entbehren nicht eines gewissen Kitsches. Leider waren die Reden der unterschiedlichen Redner viel zu lang. Manche Zuhörer begannen schon mit den Füßen zu scharren.

Amüsant auch die Ansage vom (separaten) Lautsprecherwagen der Intersektionalisten und Queerfeministinnen: Bis sie zu Anfang ihrer politischen Ansprache all die Minderheiten aufgezählt hatte, war die Demo fast schon wieder vorbei. Ich wollte noch dazurufen: „Ihr habt Schlitzäugige vergessen und Menschen mit schiefen Zähnen“ ließ es aber dann doch um des lieben Friedens willen bleiben und weil ich weiß, daß man als Photograph am besten ungestört Photos macht, wenn man sich neutral verhält und ins politische Geschehen nicht weiter sich einmischt.

Eigentlich bin ich bei Demos immer unbehelligt geblieben, sei es von Seiten der Demonstranten oder der Polizei. Diesmal aber erwischte es mich, und das ausgerechnet auf einer solchen Veranstaltungen. Ich gehe seit 39 Jahren auf Demonstrationen, ich photographiere dort, ich habe Heftiges erlebt, ich kam in manche bedrohliche Lage, etwa wenn neben mir Polizisten zu Boden gingen, weil sie von Feuerwerkskörpern getroffen wurden oder wie ich in Bonn 1985 hinter einer Polizeikette lief und in einen Stein- und Tomantenhagel von Autonomen geriet, ohne daß mich was traf, zum Glück. Heute jedoch, bei einer Demo mit vielen Kindern, mit Erwachsenen, Lehrern, Angestellten, jungen und alten Menschen unterschiedlichster Prägung ist es mir passiert, daß ein Jugendlichen-Black-Block, es waren fast noch Kinder, mich beim Thomas-DehlerHaus, also der Parteizentrale der FDP, erwischte. Mit einem Farbbeutel, der neben mir aufschlug. Die gute Nikon D 600 schmutzig, die Hose rotrosa gesprenkelt, die Lederjacke fleckig. Na ja, dafür habe ich dann zehn Minuten später eine Verhaftung veranlaßt. Die Männer vom Greiftrupp wissen immer gut, wen sie holen müssen. (Nein, war ein Spaß – ich habe nur weiter aufmerksam beobachtet und bin mitgelaufen bis zum Ende und dort, wo es spannend sein könnte, daß abends dann die Knochen weh taten.)

Ich kann nicht ganz verstehen, wieso auf einer friedlichen Demonstration mit vielen Kindern ein Black-Block, diesmal in Grün-Lila allerdings, Bengalos zündet, mehrfach, bis dann ab dem Holocaust-Mahnmal ein Zug Bereitschaftspolizei den Block begleitet. Woraufhin sich in Rufen und Lautsprecherdurchsagen über die „Bullen“ und deren aggressive Art beschwert wird. Protestler, die ein Transparent wie „SUV-Macker abfackeln“ mit sich führen: mir ist nicht ganz klar, wie und inwiefern sich solche Personen mit Argumenten gegen rechtes Hatespeech positionieren wollen. Und wenn dann beim FDPHaus gerufen wird „Ganz Berlin haßt die FDP!“, so kann man das machen, wenn man das glaubt. Ich hätte denen am liebsten erwidert „Hier in Berlin werde ich sie bei der nächsten Wahl wählen!“ Es war ein ärgerlicher, selbstgefälliger und naiver Block. Vielleicht kann man diese Dummheit ihrem Jugendlichsein zugutehalten und dem damit verbundenen politischen Überschwang. Die Welt ist für sie schwarz/weiß, Differenzierungen und unterschiedliche Farben und Töne existieren in diesem Denken nicht – ich weiß eigentlich gar nicht recht, wie dieses instrumentelle Denken mit der Lektüre von Foucault und Adorno zusammengehen soll: wo man bei der Gesellschaft eine Differenziertheit einfordert, die man selbst jedoch nie bereit ist zu leisten. Verwunderlich ist das freilich nicht, das ragt bis in die Mitte, wenn Fernsehclowns wie Jan Böhmermann sich engagieren. Jedoch: zu meiner Zeit war es nicht anders. Aber ich schweife ab.

Wenn dann Gegenstände und Farbbeutel in Richtung des FDP-Hauses fliegen, fingen mit dem Krawall nun freilich nicht die „Bullen“ an, sondern der Jung-Black-Block. Sich hinterher darüber beschweren, daß Greiftrupps jene Leute, die solche Dinge machen oder ebenso im Zug gegen das Vermummungsverbot verstießen, später zu einem geeigneten Zeitpunkt herausholen, scheint mir nicht ganz unwahrscheinlich und irgendwie auch berechenbar. So zog der Zug sich hin. Zum Glück war diese Form des Protestes nur ein sehr kleiner Ausschnitt und allüberall bei dieser Demonstration ging es friedlich zu.

Im Anschluß an jene Fridays for Future-Proteste gab es vom Potsdamer Platz ausgehend noch eine Demonstration der Berliner Club-Betreiber. Unter dem Motto „No future no dancefloor“. In ihrem Aufruf zum Rave-Aufstand hieß es:

„Wir feiern viel, gern und verschwenderisch. Aber statt rassistischen Unsinn von Überbevölkerung zu labern, lieben wir es eng, laut, stickig und voll. Statt nationale Ausgrenzung wollen wir alle dabeihaben, egal woher sie kommen, wie sie lieben, begehren oder aussehen.

Unsere Nebelmaschinen ballern bis es von der Decke tropft und wir tanzen wie entfesselt. Aber wir sind nicht so vernebelt zu glauben, dass unser hedonistischer Ausnahmemoment die Welt zugrunde richtet und nicht der allesfressende kapitalistische Normalzustand.

Für nachhaltigen Feierexzess recyceln wir den letzten Schrott.“

Daß jene Leute das Klima retten wollen, scheint mir unglaubwürdig. Ich denke, die Raver samt ihren Gästen bekommen nicht einmal die basale Hygiene auf einer ihrer Club-Toiletten in den Griff.

Ansonsten aber, das muß man unbedingt dazu schreiben: Es war eine gute, eine wichtige und auch eine mächtige Demo, die da um 12 Uhr vorm Brandenburger Tor stattfand und dann über viele Stunden durchs Regierungsviertel zog. Und sie war vor allem friedlich. Und eben nicht nur in Berlin, sondern auf der ganzen Welt fanden diese Proteste statt. Man sollte keinem Alarmismus huldigen. Aber wenn eine Situation ernst ist, sollten man den Ernst der Lage nicht nur kennen, sondern auch benennen und sichtbar machen. Solche Aktionen sind symbolisch, sicherlich, und es konfligieren dabei unterschiedliche Ansätze und Forderungen; von Veganern über Bürgerlich-Liberale bis hin zu harten Kapitalismuskritikern und eben Kindern und Jugendlichen, die ganz einfach Angst um ihre Welt haben. Solch bunte Gemengelage ist nichts Neues, es gab sie bei den 1968ern schon, 1982 zu Friedensdemo-Zeiten gegen den Nato-Beschluß und sie existierte beim Anti-AKW-Protest jener 70er und 80er Jahre in Wyhll am Kaiserstuhl, in Brokdorf an der Elbe und in der Oberpfalz in Wackersdorf, als Bürger und Autonome zusammen demonstrierten, und auch zu der großen Fukushima-Demo 2011 in Berlin warʼs der Fall. Gerade dieser Protest lieferte 2011 ein wichtiges politisches Zeichen. Schön, daß so viele Menschen heute weltweit auf der Straße waren. Bei bei solchen Protesten geht es nicht unbedingt darum, Fachfragen zu debattieren. Sie sollen vielmehr politisch ein Zeichen setzen. Gehen genügend Menschen hin und sind es wie in Berlin gut 200.000 Menschen, dann muüssen auch SpOn und die Tagesschau darüber berichten. Schön wäre es, wenn man auch für Julien Assange, Edward Snowdon und Chelsea Mannings derart viele Menschen auf die Beine bekäme, denn auch dann müßte die „Macht um acht“ über solches berichten.

[Eine zweite Serie mit Photographien kommt morgen.]

 

Berliner Sumpf im Märkischen Sand (2)

Man könnte meinen, AISTHESIS setzte die Trends und Themen, wenn ich an meinen Bericht vor einer Woche denke: „Berlin, Berlin …“. Die SpON-Kolumne vom inzwischen immer mehr geschätzten Jan Fleischhauer vom 16.8.18 geht so:

„Leben in Berlin Das Venezuela Deutschlands

Tote kommen nicht unter die Erde, Geburtsurkunden dauern Monate, jeder Behördengang ist eine Qual: Wer Sehnsucht nach einer linken Sammlungsbewegung hat, sollte sich den Alltag im rot-rot-grün regierten Berlin anschauen.“

„Der Kolumnist Harald Martenstein füllt seine Kolumne im „Tagesspiegel“ mittlerweile mühelos mit Begebenheiten aus dem Verwaltungsalltag. Manches ist so kurios, dass man es nur glaubt, weil es in der Zeitung steht. Um die chronischen Verspätungen bei der S-Bahn zu beheben, kamen die Verkehrsbetriebe auf die Idee, nicht mehr an jeder Haltestelle zu stoppen. Der Plan wurde erst nach Protesten aufgegeben. Die Bezirksämter schaffen es nicht, Geburtsurkunden zeitnah auszustellen, berichtet der Chronist, Tote dürfen nicht unter die Erde, weil Ämter überlastet sind. Heiratswillige sollten ihr Vorhaben weit in die Zukunft legen.“

Aber leider ist vieles davon nicht neu, seit Jahrzehnten bekannt auch der Berliner Sumpf im Märkischen Sand. Macht aber nichts, denken viele, und solange man nichts vom Amt will, ist es ok, meinen manche.

Zum Photographieren bietet diese Stadt allerdings anregendes Ambiente. Alles was zählt – zumindest für den leicht anreizbaren Ästhetiker. Andererseits ist das bei jeder Stadt irgendwie der Fall, noch der langweiligste oder der sauberste Ort bietet Motive: ein guter Photograph findet genau die Plätze und Szenen, die er haben will und bringt sie ins Bild.

Fleischhauers ansonsten treffender Artikel wird allerdings ein wenig getrübt durch seine Kritik an der linken Sammelbewegung. „Aufstehen“ ist nun gerade keine Partei, und es ist diese Bewegung schon gar nicht r2g, sondern eigentlich das, was die gute alte PDS und die SPD mal waren. Diesen Parteien ist ihr alter Wählerstamm teils abhanden gekommen. Dieses Potential muß wieder gesammelt werden. Keine Partei ist derzeit dazu in der Lage oder willens. In der Linken toben Grabenkämpfe um No-border-no-nation-Parolen, die realiter kaum eine Chance auf Erfüllung haben, was auch gut so ist. Freilich: ob der Protest durch „Aufstehen“ gelingt, muß man abwarten. Man kann halt was tun oder man schaut einem System beim Krachen zu. Vielleicht wird es doch nicht so schlimm, vielleicht auch schlimmer. Keiner weiß. Man kann freilich all dies nur abwarten und schauen, niemand besitzt eine Glaskugel und kann hellsehen.

Beim Hartz IV-Dransal bis hin zu den Schrank- und Wohnungskontrolleuren und den Schröder-Gesetzen zur Freisetzung des Arbeitsmarktes bzw. genauer geschrieben zur Pauperisierung breiter Schichten im Niedriglohnbereich oder dem Abdrängen von Menschen in Ich-AGs regte sich kein nennenswerter Straßenprotest. Böse könnte man nun sagen, die Leute bekommen, was sie verdienen. Und auch bei den nächsten Wahlen. Da wird man dann, wenn manche an „Aufstehen“ schon im Vorfeld herumkritteln, eben mit 15 oder 20 oder 25 % AfD leben müssen.

Eigentlich sollte es die Aufgabe von Politik sein, Wähler, die einst die SPD oder die Linke wählten, von dort wieder abzuholen. Klug wäre es von den etablierten Parteien und auch von der identitären Zeitungs- und irgendwas-mit-Medien-Linken allerdings, sich ein paar Gedanken zu machen. Sofern man nicht kampflos 15 % AfD hinnehmen möchte, muß man deren Wähler erreichen. Das tut man nicht, indem man sie als Nazis und Dummköppe tituliert oder indem etwa der politisch dumpfe Leo Fischer „liegenbleiben“ hashtagwitzelt. Eindimensionale Menschen. Inzwischen gönne ich manchen dieser pseudoprogressiven Linken, manchen dieser Sessellinken, die hier bequem in ihrem Berliner Biotop hocken, ihre mindestens 30 % AfD. Denn wie es so ist: erst echter Widerstand von rechtsaußen macht wohlstandsverwahrloste Identitätslinke vielleicht doch einmal kreativ und treibt zum Nachdenken, wie man weitere Kreise als den eigenen Sperr- und Kleindenkbezirk erreicht. No-border-no-nation könnte da unvorhergesehen schnell sehr eng werden. Ein arg begrenzter Ort.

Egal wie, das alles wollte ich gar nicht schreiben, sondern eigentlich nur auf einen Artikel verweisen, um meine Photographien vom Anfang des Jahres bei einem Spaziergang in Kreuzberg sowie Friedrichshain und an der Spree zu zeigen. (Teil 1 der Serie gibt es an dieser Stelle, und Anfang der Woche kommt dann einmal wieder eine Buchkritik, und zwar, passend zum Thema womöglich, zu Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse)

 

Buchhandlungen in Berlin (2) – b_books in Kreuzberg

Die Serie über Berliner Buchhandlungen schlief ein, so daß die geneigte Leserin den Eindruck bekommen könnte, ich ginge lediglich einmal im Jahr Bücher kaufen. Das ist nicht der Fall.

Letzte Woche reiste ich in den mir unliebsamsten Stadtteil von Berlin; unliebsam vor allem wegen seiner Rumpeligkeit. Ich fuhr ins linke Herz des „Reichshauptstadtslums“, wie Don Alphonso Berlin gerne und despektierlich tituliert: nach Kreuzberg, genauer SO36, und zwar zu b_books, einer Buchhandlung mit einem angegliederten Verlag, der Bücher zu Stadtsoziologie, politischer Philosophie, Kunsttheorie, Postcolonial Studies, Film sowie zur Queer-Theorie macht. Ähnlich sind auch die Regale der Buchhandlung sortiert, erweitert noch um Pop und eine kleine Ecke mit Belletristik. Die typische Atmosphäre eines linken Buchladens, wie ich sie früher aus den 80ern kenne. Nicht ganz so angeranzt zwar und Anti-AKW-Badges gibt es auch nicht mehr zu kaufen – zumindest fand ich keine –, aber noch ranzig genug, daß die Street Credibility nicht schwindet. Vom Ladendesign das Gegenteil der vor einem Jahr genannten Buchhandlung Ocelot im ersten Teil der unterbrochenen Serie.

Das Unansehnliche in linken Szenezusammenhängen behagte mir noch nie. Einmal in meinem Leben … – und nun mache ich das, was ich im Journalismus unangemessen finde und worüber ich mich belustige: wenn ein Autor von seinen Befindlichkeiten her schreibt, die niemanden wirklich interessieren, es sei denn, ihm gelänge irgendwie aus der Subjektivität heraus wieder die Biege zum Inhalt. Grauenvoll, wenn Hannah Lühmann über Rammsteinkonzerte oder über Heidegger-Kongresse kolumnisiert, wenn sie in der „Welt“ uns ihre Eindrücke von der Stadt Siegen schildert, wo es eigentlich um Heidegger gehen sollte, und sie jammert, wie öde die Stadt sei, mit der weltmännischen Geste der Bolleberlinerin, eine Haltung, um die es im Grunde nicht vieles besser als um die von ihr beschriebene Stadt Siegen steht. Oder wenn Quengelbengel Clemens Setz auf Zeit-Freitext sich beklagt, daß er bei einem Konzert von Keith Jarrett angemessen ruhig sich zu verhalten habe und keine Photos erwünscht seien. Lauter Zeugs, das nichts mit der Musik selbst und dem Eigensinn des Ästhetischen zu tun hat. Befindlichkeitsjournalismus, statt daß die Sache selbst Relevanz besäße. Das wird leider Mode. Lühmann immerhin kommt dann doch auf Heidegger zu sprechen – leider etwas mager zwar, aber wir erfahren: da war was in Siegen.

Das Unansehnliche in linken Szenezusammenhängen behagte mir noch nie. Einmal in meinem Leben bewegte ich mich in die Rote Flora in Hamburg, Anfang der 90er Jahre, weil eine Freundin dort im Kollektivladen Äpfel und Kartoffeln kaufen wollte. Ich begleitete sie aus Solidarität und weil wir beide vorher Hegels „Phänomenologie“ lasen. Hinab stiegen wir auf einer dunklen Kellertreppe. Steine, die mit Zeichen beschmiert waren. Bizarres Bauwerk, auf engen Treppen stiefeln, in gedrängtem Raum, und nun verstand ich, wie es sich nach dem Krieg angefühlt haben mußte, wenn Menschen auf dem Schwarzmarkt in einem zerbombten Gebäude Dinge erstanden hatten, die nötig waren. Nein, ich möchte in solchen Geschäften keine Lebensmittel kaufen. Nicht einmal aus Solidarität mit irgendwas.

16_07_24_P_5_6985b_book jedoch ist gut betretbar, allenfalls für Menschen mit Gehbehinderung dürften die ziemlich steil in den oberen Bereich führenden Stufen ein Hindernis darstellen. Die Buchhandlung ist klein, es läßt sich darin gut stöbern, wenn nicht zu viele Menschen gleichzeitig anwesend sind. Im Ressort Theorie steht viel Rancière im Regal, wenig Zizek. Viel Adorno, etwas Benjamin, kaum Marx, viel Foucault, einige Bücher von Jean-Luc Nancy. Um sich inspirieren zu lassen, auch für abseitige Themen, scheint mir diese Buchhandlung bestens geeignet, und wer einem Ort linker Politik etwas Gutes und Geld zukommen lassen mag, der kaufe seine Bücher dort – zumal der angegliederte Verlag interessante Bücher bietet: wie etwa  Helmut Draxlers „Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst.“ Für Herrn Dercon, dem designierten Intendanten der Volksbühne scheint mir dieses Zitat daraus angemessen, das er sich auf der Zunge zerschmelzen lassen sollte:

„Vor allem der globale Erfolg von Kunst im Kontext neoliberaler, bio- wie geopolitischer Strategien scheint mir mehr Reflexion darüber zu erfordern, wie ‚smart‘ Kunst einerseits innerhalb dieser veränderten gesellschaftlichen Bedingungen funktioniert und andererseits, wie die in ihrem privilegierten Namen eingerichteten gesellschaftlichen Freiräume auch für andere soziale und politische Praktiken besetztbar sein könnten. Kunst scheint mir sogar zunehmend aus dem Widerspruch heraus zu leben, dass ihre kritische Beanspruchung nicht zwingend in einem Gegensatz dazu steht, eine der exemplarischen Funktionsweisen der neuen kulturalisierten Ökonomien geworden zu sein. Darin liegt freilich auch die Chance, die Analyse von Kunst mehr im Sinn einer gesellschaftspolitischen Symptomatik zu betreiben, ohne doch einen grundsätzlich sympathisierenden Zug aufzugeben.“

Ich griff mir im Laden einige Bücher, stapelte, schaute weiter, betrachtete, stöberte, wie ich es in Buchläden gern tue – auch um mich inspirieren zu lassen, worüber ich denken und schreiben könnte. Da erspähte ich ein Buch aus dem Fink Verlag: Willem van Reijen Der Schwarzwald und Paris. Heidegger und Benjamin. Ein altes Buch, 1998 erschienen, und ein fixer Gedanke kreiste im Köpfchen: Das Buch ist bereits vergriffen. Es ist eine Rarität, schoß es durch meinen Kopf. Es kann nicht anders sein, denke ich mir und steigere mich weiter in Kauflaune – das Buch ist angeblättert, die untere Ecke arg schmutzig. Aber für den Preis und vergriffen ist das völlig in Ordnung. Dabei gerate ich beim Auswählen in eine klassische win-lost-Situation, die mir erspart geblieben wäre, besäße ich eines jener Geräte, die sich Smartphone nennen. Mit dem Telephon recherchierte ich in wenigen Sekunden, daß dieses Buch beim Fink Verlag immer noch bestens erhältlich ist und ich für diesen Preis ein Buch in besserem Zustand hätte erstehen können. Ich kaufte und freute mich über mein scheinbares Schnäppchen und ärgerte mich zu Hause vorm Rechner beim Betrachten der Verlagsseite. Aber was soll es: Solidarität zahlt und zählt. Auch im Geld. Das Nichts nichtet.

Wer in Berlin lebt oder wer als Besucher nach Kreuzberg reist, einen Abstecher ins pittoresk-wilde Milieu machen will, zwischen Graffiti, ausrangierten, zertretenen Computern oder Schränken, die auf dem Bürgersteig abgestellt werden (Bürgersteig – ein so schönes Wort aus der Kindheit. Gibt es denn noch Bürger und Proletarier? Wo aber gehen die Proletarier? Wollen auch die Arbeiter Bürger sein? Fragen eines lesenden Arbeiters), zwischen Einheimischen und Touristen, die schauen, Türken, Kurden, Dealern am Görlitzer Park, Armen, Ausgestiegenen, Normalen, Andersnormalen und Irgendwas-mit-Medien-Menschen, wer also all das Leben sich betrachten will, der fahre nach Kreuzberg, ins alte SO 36, flaniere die Skalitzer Straße hinunter, zum Lausitzer Platz, wo die 1. Mai-Demos beginnen, und biege dann in die Lübbener Straße, hin zur Nummer 14. b-books ist eine Institution. Wohnte ich dichter dran, ginge ich sicherlich auch zu einer der Veranstaltungen, die der Buchladen bietet, obgleich ich in Kreuzberg nach drei Stunden wieder froh bin, draußen zu sein. „Denn bleiben ist nirgends“ Da kannte Rilke die entfesselten Städte noch nicht richtig. Bei Kuchen Kaiser hingegen ist es gemütlich und das Stück Torte schmeckt. Kein Schnickschnackkaffee. Die Bilder der Stadt sind immer Denkbilder, die wir uns entwerfen. Das wußte Walter Benjamin gut. Deshalb lebe ich lieber im tiefen Westen von Berlin. Unweit von Dahlem, nicht fern von Potsdam.