Berlin, Berlin [Bashing for Bohème]. Facetten des Populären (1)

Marktferne, aber dafür Kunstnähe? Dies war einmal! Heute geht in Berlin beides recht gut zusammen: Stadt als Kunst als Standortfaktor. Vom Wilden und Ungezähmten der Kunst blieben allenfalls die Brachen der Stadt, die sanft ruhen und den Schlaf schlummern. Bis sie erweckt werden. Sie liegen solange brach, bis sich ein für Investoren geeignetes Projekt findet, das sich wirklich lohnt. So wird es – meine Prognose – in 10 Jahren ebenso dem Tempelhofer Feld ergehen. Insofern hatten die Bebauungsgegner – obwohl dem Schein nach die Abstimmung gewonnen – bereits im Mai verloren; denn anstatt heute, im Hier und Jetzt, für eine sinnvolle Bebauung zu votierten, sperrten sie sich komplett. Auch das ist Berlin.

94_TZK_Cover_02_t_w470Die Juni-Ausgabe der „Texte zur Kunst“ widmet dieser Stadt in all seinen Facetten von Kunst, Kommunikation und Kommerz – rtl-alliteriert, freilich von mir, wie Biker, Busen, Büchsenbier – unter dem Titel „Berlin Update“ ein Heft: Vom radikalen Wandel Berlins innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte, der wesentlich durch ökonomische Faktoren bedingt ist, bis zum Kunsthype samt der Kommerzialisierung, vom „Theorie-Design“, das mit dieser Stadt durch drei Universitäten samt ihren Sonderforschungsbereichen verbunden ist sowie dem kulturellen Crossover verschiedener Institutionen wie Theatern, Museen und Kunst-Events (Berlinale, Theatertreffen, Berlin Biennale, Gallery Weekend, Monat der Fotografie, Kunst- und Modemessen usw.), bis hin zu einer Stadt der neuen Medien, für die symbolisch Orte wie das Café Sankt Oberholz oder andere Trendbars, -Restaurants und-Clubs stehen, die genauso schnell wechseln wie sie kamen, samt perfider Arbeitswelten, die den Schein des Authentischen malen, wo Arbeit und Freizeit keinen Unterschied mehr machen, weil Freizeit den Charakter von Arbeit annimmt und Arbeit sich als Freizeit geriert – vom Fitnessprogramm bis zu den Plänen gesunder Ernährung, irgendwelchen Kursen im Creativ Writing und Schreibseminaren.

Berlin bietet für die Kreativ- und Kunstszene in relativ günstiger Weise zwei ökonomisch hoch wertvolle Ressource: Raum und Zeit. Immer noch läßt es sich in dieser Stadt für wenig Geld und gut leben, wenn man seine Essens- und Lebensansprüche gering ansetzt, sich von Nudeln ernährt und dieses Minimale als neue Zünftigkeit propagiert. Insofern ist billiger Wohnraum in guter Lage gewünscht und wird als Anspruch angemeldet. Gerne wird dabei in schäbiger Bude die Aura der Bohème gepflegt. In einer Weise freilich, die mich in diesem Klischee an Aki Kaurismäkis absurd-komischen Film „Das Leben der Bohème“ denken läßt. Ein Schuß Tragik und schönes Scheitern ist naturgemäß ebenso beigemischt, denn was wäre das Leben samt seinen Inszenierungen ohne jene Tragik und sei diese auch nur eine Posse und Simulationseffekt. In einem post-dramatischen, post-aristotelischen Zeitalter, in dem Ort, Zeit und Handlung sprunghaft divergieren können, bleibt das Dividuum.

Das „transgressive Potential von Underground-Parallelwelten“ diente immer schon – seit dem Phänomen des Pop und den läppischen Exzessen der Beat-Generation, allen voran J. Kerouac: keiner wußte das besser als Adorno – der radikalen Ökonomisierung von Gesellschaft. „Mit Danone kriegen wir euch alle!“, drohte die Werbung der 80er Jahre. Oder mit Kunst. Oder mit Pop oder indem sich die Bezirke mischen. Neoliberalismus und Kunst sind zu einem gewissen Teil Komplizen derselben Sache. Selbst da noch, wo letztere sehnend an ihre Autonomie glaubte. In den letzten Zügen der Dialektik rettet sich Kunst in den Pop: in den Bezirk der identitätsstiftenden Erfahrungswelten im turnschuhmiefenden Teenager-Zimmer, wo sich mit diesem oder jenem Musikstück ein besonderer Raum von Existenz und Dasein verband. Das kroch ins Musikstück wie in Prousts Madeleine und im Tee die Erinnerungen sich aufbewahrten, so daß eine Situation inmitten der neuen Unübersichtlichkeiten qua Musik als Gestus und Haltung doch noch als allgemein kommunizierbare zu konnotieren war. So konnte sich das Phänomen Pop zumindest auf der Ebene der Referenzierungen am Leben halten. (D.  Diederichsen beschreibt diese Wirkungen des Pop – ich drücke es mal in meinen Worten aus, man muß das ja bei solch feinen Wortwendungen dazu sagen, sonst denkt jeder, das sei von Diederichsen – als aisthetische Erfahrung auf eine geniale Weise in seinem gleichnamigen Buch. Inwiefern er dieses Phänomen Pop dialektisiert und fruchtbar macht, ist durchaus tricky zu nennen. Aber so kennen wir ihn, dafür lieben wir ihn. Das ist eines dieser interessanten Interferenzphänomene. Affirmativsein ohne Affirmation)

Allerdings gibt es zu jedem Berlin-Trend genauso den Gegenzug. Daß immer mehr Menschen von Berlin genug haben und ihnen das Gewese um diese Stadt zum Halse heraushängt, haben manche bereits zum Beginn der Blase erkannt. Lange bevor ein New Yorker Magazin namens „Gawker“ Anfang des Jahres verkündete, „Berlin is over“, es ginge mit Berlins Habitus als irgendwie coole Stadt nun zu Ende. Sehr viel früher schon teilte zum Beispiel der großartig bissige Don Alphonso regelmäßig gegen Berlin und insbesondere die sogenannte Berliner Medien-Bohème mit ihrem Jammerton und ihrer Anspruchshaltung aus. Ein Habitus des Digitalen als Flow und Funding, ohne dabei irgend etwas an Kraft und Denk-Arbeit investieren zu wollen oder genauer geschrieben: zu können. Und ebenso früh polemisierte der Don gegen den widerlichen Ranz und das Unansehnliche dieser Stadt, die sich keine schönen Gebäude leisten mag, sondern das Verwildern von Flächen als Stadtplanung ausgibt oder aber Dokumente der Zeit, wie den Palast der Republik, abreißt. [Andererseits ist mir das Verwildern dann auch wieder lieber als eine Stadtpolitik, die nur für ein bestimmtes Klientel Geld in die Hand nimmt – zumal sich die Ödnis und der Dreck ungemein als Kulisse zur Photographie eignen: Die Welt ist bekanntlich seit Nietzsches Satz nur noch als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt – zumindest solange ich in einer solchen Umgebung nicht wohnen muß. Ergänzt sei fürs Heute und für jene, die bei Nietzsche vorauseilend zucken und sich wegducken: als eine Ästhetik des Häßlichen oder als anästhetische Angelegenheit. Andererseits mochte ich in den 90er Jahren ebenso wenig im Rollbergviertel oder im Weserkiez wohnen. Und wer es sich leisten konnte, der zog naturgemäß weg. Organisierte Verwahrlosung von Stadtteilen, so könnte man das gemeinsame Programm aller Berliner Parteien nennen, die den Senat stellten. Dieses Herunterranzen hat sicherlich Gründe. Seit Nietzsche wissen wir freilich, daß die Wahrheit durchaus gute Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen.]

Bei aller berechtigter Kritik an Berlin, sehe ich vieles entspannter als der Don, denke mir daß München doch zu gediegen ist, allenfalls für die Besuche in den einschlägigen Museen geeignet, sicherlich eine Stadt mit schönen Vierteln und hervorragender Küche, viel Mode, gutem Weine sowieso, aber doch zu glatt. München ist wie ein Mann oder eine Frau in den 60ern. Nahe genug an Italien – immerhin. Wenn ich irgendwo leben möchte, dann in Leipzig, vielleicht noch in Essen, Köln oder Duisburg. Gerne in Hamburg wegen des breiten Stroms. Nur eine Stadt mit einem richtigen Fluß als Ader ist eine lebenswerte Stadt. Wir sehen dies an New York und Lissabon. Was ich an Berlin schätze, sind nicht die ungentrifizierten oder mittlerweile aufgewerteten Stadtviertel, die so oder so in ihrem Ranz daliegen, sondern die Weite der Stadt. Alles verläuft sich. Anders als in Hamburg oder Essen. Mein Mitleid mit den Gentrizifizierungsjammerlappen allerdings, für die Lankwitz oder Wilmersdorf Zumutungen sind, hält sich arg in Grenzen. Die Profiteure von gestern sind nun einmal die Verlierer von heute. So geht die Geschichte übers Subjekt hinweg. So funktioniert nun einmal eine über den Markt organisierte Gesellschaft. Seid nicht böse darüber. Es kommen andere Zeiten!

Recht hat der Don freilich, wenn er in witzig-böser Weise gegen die Berliner Medien-Bohème austeilt: Menschen, die irgendwie und irgendwo einmal einen Text geschrieben haben, sei es auf einem (Zeitungs-)Blog oder anderswo, bezeichnen sich ernsthaft als „Journalisten“. Es ist doch eher lachhaft. Menschen, die keine drei Zeilen Foucault, Adorno, Hegel, Marx oder Zizek gelesen haben, führen diese Namen im Munde, als hätten sie zehn Jahre deren Texte beackert. Nichtlesen, aber trotzdem vollmundig darüber sprechen oder in Kurz-Zeichenzahl die Namen als Referenz- und Distinktionsmerkmal fallenlassen, weil’s den kulturellen Mehrwert erzeugt. Trends, trendy. Auf der Ebene der Textfakten nachprüfen können es sowieso nur wenige, weil niemand diese Texte zusammenhängend studierte. Schlagwortsound wird abgesondert.

Gleiche gilt für die Internetphänomene. Es werden Banalitäten zu riesigen Wolken und Gebirgen gebauscht, und dabei plustert man sich selber gleich mit auf wie’s Vögelchen im Walde. Und immer mal wieder geschieht im Schwung der Tage ein Paradigmenwechsel, Post-Privacy und Meme treten auf den Plan, werden wieder abbestellt, vielleicht springt morgen ein digitaler Platonismus aus dem Schächtelchen. Pseudo-Kenntnis der Philosophie und Medienwissen aus dem Kindergarten als Halbbildung spielen sich als Wissensformen auf: sozusagen als intrinsische Qualität des zugereisten Berlin-Bewohners. Insbesondere hier sehen wir, welchen Schaden das Studium der Kulturwissenschaften auf breiter Flur anrichtete. [Ende vom ersten Teil des kulturellen Narrativs]
 
 
OLYMPUS DIGITAL CAMERA
 

Die Befreiung der Wirklichkeit in den Bildern – Helmut Lethens „Der Schatten des Fotografen“

U1-Lethen_Der Schatten des Fotografen_LT.indd Jede Photographien bedeutet und zeigt uns etwas – mag sie auch noch so banal erscheinen. Aber was bildet sie ab? Die Dinge, wie sie sind? Die Objekte, die Szenen, die Menschen im Portrait oder in Bewegung, gleichsam in ihrer Wesentlichkeit, in ihrem bloßen bzw. antlitzhaften So-Sein? Dokumentiert sie wie eine Industriephotographie der Bechers ein Objekt in seiner Gegenwart, ohne den Gegenstand wie im Neuen Sehen oder in der Subjektiven Photographie in die Exzentrik zu bringen? Inszeniert sie die Szenen, wie in Jeff Walls Bildern, oder legt sie die Drastik als Voyeurismus des Photographen und als obszönes, anteilnahmsloses Spiel bloß wie die Photographien von Miron Zownir, der die Versehrten, die Outlaws, die Krüppel und die Halbwelt als Trash-Ästhetik in schwarz/weiß darbietet und damit die Betrachter seiner Bilder ebenso zum Voyeur macht? (Jene Beispiele stammen nicht aus Lethens Buch, wenngleich es ansonsten reich an Beispielen ist.) Zeigt eine Photographie das Objekt oder die Szene in ihrem So-Sein? Meistens nicht, wir mißtrauen diesem Essentialismus des Mediums.

Oder ist jede Photographie bereits kodiert und überdeterminiert von der symbolischen bzw. gesellschaftlichen Ordnung, in der sie erscheint bzw. gelesen wird und in der sie ihren (Interpretations-)Ort zugewiesen bekommt? Dies ist die zentrale Frage, die Lethen in seinem Buch „Der Schatten des Fotografen“ stellt.

Vielleicht aber zeigt uns die Photographie lediglich das Vergehen der Zeit an. Die Zeit, die vorüber floß. Zwischen jenem Augenblick, in dem Licht auf einem Trägermaterial gebannt wurde, und dem Moment, wo ein Betrachter seinen Blick auf die Photographie wirft. So mag es – zu einem Teil zumindest – für die Photographien gelten, die in die Privatalben gebannt werden.

Vielfach wurde in Anlehnung an die etwas alberne sprachphilosophische Wende der Philosophie, die Rorty als Linguistic Turn deklarierte, so als habe sich die Philosophie vor Frege und Wittgenstein nie mit Sprache beschäftigt, von einem Iconic Turn gesprochen, um die Bildwissenschaft als eine Art Metatheorie zu installieren, die sich nicht mehr nur mit den hehren Produkten der Kunstgeschichte ikonographisch, ideologiekritisch oder in einer ihrer vielen Methoden befaßt, sondern nun gerieten ebenfalls sämtliche Bildformen in den Blick der Theorie: Vom Werbeplakat, über die Photographien, den Film bis hin zum Comic, von den Bildern der Naturwissenschaften bis hin zu den kulturellen Patterns, die ebenfalls eine Form von Bildlichkeit beinhalten.

Wenn im Zusammenhang mit dem Iconic Turn unter anderem Professoren wie Gottfried Boehm, Horst Bredekamp und  Bazon Brock  mit dem Bunte- und Focus-Verleger Hubert Burda in Kumpanei gehen und wenn auf einer Internetseite über ein Kolloquium zur „Bedeutung der Bilder“ Sätze zu lesen sind wie „Die heutigen Wunderkammern sind nicht mehr die von Dresden, sondern das sind Google und Facebook“, so Dr. Burda dann scheint mir nicht nur eine unheilvolle Verquickung von Wissenschaft und Wirtschaft samt Affirmation dessen, was sowieso schon der Fall ist, am Werk, sondern es wäre der Begriff des Iconic Turn genauer zu befragen. Wenn zudem alter Wein in neue Schläuche verpackt und wie schon beim Linguistic Turn als dernier cri herausgeblasen wird, dann sollte Theorie einen gewissen Abstand wahren und kritischen Blickes sein, was da eigentlich besprochen wird.  Doch zurück zu Lethens Buch, der das Thema des Iconic Turn lediglich am Rande berührt, sich in dieser Hinsicht nicht eindeutig festlegt, wenngleich er dem Medium Bild für unsere übervisualisierte Gesellschaft große Bedeutung einräumt.

Lethen nähert sich dem Wesen der Fotografien, dem Sein der Objekte, derer die Photographie habhaft werden möchte, sowie der Wirklichkeit der Medien in der Weise eines Bildungsromans: wie es nämlich dazu kommen kann, eine Sache in genau dieser Weise in den Blick zu nehmen und zu analysieren, was „Bilder ihrem Wesen nach sind“ und wie sich das mit den eigenen Lektüren von ganz bestimmten Büchern zum Medium Photographie oder auch zum Film paart. Dabei spart Lethen seine eigenen Voraussetzungen, seine Initiationsmomente sowie das Biographische, das ihn in eine bestimmte Richtung brachte und es ihm ermöglichte, ganz spezifische Fragen zu stellen, nicht aus – unüblich selbst für die Wissenschaftsprosa, welche sich nicht an die Fachmenschen, sondern ans allgemein interessierte Publikum wendet.

Dieses Schreiben vom eigenen Herkommen – sicherlich an Roland Barthes geschult, dem Lethen einige Kapitel seines Textes widmet – befremdete zunächst, weil die meisten Leser ein Buch über die Ordnung der Photographie, über die Funktion von Bildern und Medien erwarteten. Stattdessen schildert uns Lethen zum Beginn des Buches einen April-Tag im Jahre 1952 in seiner Vaterstadt Mönchengladbach, als die Frau des Küsters auf eine eher unübliche Weise verschwand. Anhand dieses Erlebnisses illustriert Lethen, wie Erinnerung und Fakten voneinander abweichen können und wie Medien zugleich die „hautnahe Berührung mit der Wirklichkeit“ erzeugen und auf diese Weise ein ganz eigenes „Bild“ von der „Welt“ und den darin vorkommenden Sachverhalten liefern. Dabei stehen sich zwei Positionen der Deutung gegenüber: Eine essentialistische, die zuweilen als naiver Realismus bezeichnet wird, der das Medium als einen Träger sieht, der uns direkt zu den Dingen führt, und eine konstruktivistische Lesart, die die Welt als eine durch Medien vermittelte ansieht: Es existiert kein unverstellter Zugang zu den Objekten, diese sind in ihrem Sein, aber ebenso in ihrer Darstellung in eine symbolische Ordnung eingebettet.

Wenn wir von der Wirklichkeit sprechen – was immer diese sein mag und ob sie durch Medien vermittelt ist oder ob sie sich im Medium zeigt, wie sie ist: als Faktum, nackt und unverstellt –, so sollten wir dabei nicht vergessen, daß in dem Begriff „Wirklichkeit“ das Verb „wirken“ steckt. Das gilt insbesondere für die statischen Bilder. Fotografien wirken gerade aufgrund ihrer Unbeweglichkeit auf uns ein, sie brennen sich als Szene ein, ziehen die Betrachter in den Bann, sie konstituieren einen kollektiven Unterstrom, der wiederum die daran anknüpfende Wahrnehmung bestimmt, und sie werden zugleich selber von einem kollektiven Unterstrom, der als kulturelles „Bewußtsein“ fungiert, erzeugt, so wie jene Fotografien aus Abu Ghraib, die den Wahnwitz der US-Folterer zeigen. Und doch wirken diese Photographien aus dem Irak zugleich wie eine Kunstperformance, als wohne man einer ins Bild gebannten Inszenierung von Marina Abramović bei. Diese von Laien getätigten Photographien aus Abu Ghraib reichen an das Geschehen nicht einmal annähernd heran und dennoch treffen sie es exakt – vielleicht gerade deshalb, weil sie nicht mit Déformation professionnelle des Photographen getätigt wurden. Es sind eben keine Reporterbilder, sondern in einer brutalen Direktheit geschossene Schnappschußaufnahmen von Soldaten. Lethen geht in seinem Buch zwar nicht auf diese Photographien ein, sehr wohl aber auf undramtatisch-dramatische Photographien von Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg entstanden; Photographien von Wehrmachtsoldaten beim Überfall auf die UdSSR. (Dazu mehr im zweiten Teil dieser Besprechung)

Ebenfalls eingeprägt ins kollektive Bildgedächtnis haben sich jene in die Photographie gebannten fliegenden und dennoch dem Gesetz der Schwerkraft folgenden Menschen, die am 11.9. aus dem World Trade Center sprangen und jenes vor der US-Army flüchtende vietnamesische Mädchen, während im Hintergrund der Rauch der Brandbomben aufsteigt, die das Dorf in Schutt legten, jener Junge mit den erhobenen Händen im Warschauer Ghetto: diese Fotografien brannten sich ein, und es sind Geschichten, die im Medium des Bildes erzählt werden. Wirklichkeit bedeutet insofern ein Geschehen, das Codierungen unterliegt. In der Beobachtung erster Ordnung lassen sich diese Codierungen jedoch nicht in den Blick bekommen. In dieser Ordnung zeitigen sich lediglich die Wirkungen eines Bildes.

Bilder – und das sind nicht nur Photographien, sondern auch die Fetzen der Erinnerung, die Archive unserer visuellen Welten, die als Bilder abgespeichert werden – bleiben im Gedächtnis lange haften, schreibt Lethen, länger als manches Erlebnis, wie das von Liebe, Schmerz, Wut oder Trauer, und es fragt sich, was diese Bilder, die auf solch eine intensive Weise sich in uns eingraben, ihrem Wesen nach sind. Zeigen uns diese Bilder die Wirklichkeit? Lethen geht es um Bilder, die Folgen für uns haben. Die Auswahl solcher Bilder bzw. Photographien bleibt zwar einerseits subjektiv, denn jeder trägt sein eigenes imaginäres Museum in sich, andererseits sind diese Fotografien durch die Medien vermittelt und wir teilen sie im Strom des kollektiven Unterbewußten. Wenngleich sich Lethen in diesem Buch zumeist der Photographie widmet, sind diese bloß eines von vielen Trägermedien:

„Bilder, auch die der Verlassenheit, sind Nomaden, die ihre Zelte in verschiedenen Medien aufschlagen. Dieser Satz von Hans Belting begleitet mein Unternehmen. Woher die Bilder kommen, ist rätselhaft. In jedem Fall zirkulieren sie durch heißere und kühlere Zonen unserer Einbildungskraft.“

 

Im zweiten Teil dieses Textes wird es dann um Beispiele gehen, die Lethen für die Macht der Bilder und ihr Wirken anführt.

Eine Glosse, Aric Sigman und der medizinische Blick

 In der Berliner Zeitung vom 27.2.: eine einerseits sehr gute, spaßige Glosse von Harald Jähner, den Zusammenhang von Geselligkeit und Einsamkeit sowie die neuen Medien betreffend. Andererseits geht sie an Aric Sigmans Einwand vorbei, und sie ist  polemisch abgefaßt, was aber das Wesen einer Glosse sein darf und manchmal auch sein muß. Die Einschätzung Aric Sigmans, daß virtuelles Leben im „social networking“ nicht nur einsam, sondern auch krank macht, muß insofern separat dazu gelesen werden, um sich ein angemessenes Bild machen zu können.

Dieses Plädoyer Jähners für die (zeitweise) Einsamkeit gilt jedoch – etwas Nietzscheanisch (1) beiseite gesprochen – nur für die Wenigen, sollte der Befund von Sigman zutreffen. Da sich aber zu jeder Stimme eine Gegenstimme erheben wird und dort mit anderen medizinischen Fakten, Details und Untersuchungsergebnissen das Gegenteil des gerade Ausgesagten beweisen wird, so kann es hier durchaus bedeutsam sein, den Blick vom Streit der Meinungen und von den sich widersprechenden, widerstreitenden Fakten einmal abzuheben und auf etwas ganz anderes zu richten.

Es sollte der Blick auf die Bedingungen gerichtet werden, die es überhaupt erst ermöglichen, gesellschaftliche Praktiken mit dem medizinischen Feld zu koppeln. Es müßte also untersucht werden, auf welche Weise ein Diskurs strukturiert ist, der es ermöglicht, gesellschaftliche Phänomene in den medizinischen Blick zu überführen. Was sind die Bedingungen, unter denen er entstehen kann? (Ja, Foucault, ganz genau und richtig entschlüsselt.) Warum schließen wir soziale Phänomene wie den Umgang mit dem Internet mit medizinischen Kategorien zusammen?

Verhält es sich doch, mit dem 19. Jahrhundert beginnend, zunächst einmal so, daß mit dem Aufkommen von neuen Medien und neuen Techniken sowie ihrer größer werdenden Verbreitung und sozialen Relevanz vermehrt kritische Stimmen auftauchen; immer wieder werden soziale Praktiken an die Medizin angeschlossen: von der individuellen Regung, im Feld des Körpers, hinsichtlich der Onanie, die zu Schwachsinn und dergleichen führe, oder um nur ein Beispiel von vielen in bezug auf Entwicklungen der (industriellen) Technik zu nennen: So bei der Eisenbahn, mit der es die in der menschlichen Geschichte noch niemals dagewesene Möglichkeit gab, die räumliche Distanz in sehr kurzer Zeit vermittels einer Maschine zu überwindenden. Es ist dieser Moment die Stunde der (gesteigerten) Geschwindigkeit in der menschlichen Fortbewegung (2). Mit dem Aufkommen dieser neuer Transportmöglichkeiten gab es zugleich Untersuchungen, die diese Beschleunigung des Körpers als etwas Unverhältnismäßiges und damit Krankmachendes auswiesen. Und auch heute wird die Sucht nach Entfernung und Reisen in fernste Regionen, die wir unter normalen Umständen eigentlich nie zu Gesicht bekommen würden, unter Gesichtspunkten der Psychologie, aber auch der Medizin betrachtet.

(Wie fasziniert und befremdet zugleich man seinerzeit von dieser Beschleunigung war, läßt sich vielleicht exemplarisch an dem Bild „Regen, Dampf, Geschwindigkeit“ von William Turner zeigen. Dazu auch der Aufsatz von Monika Wagner, „ Wirklichkeitserfahrung und Bilderfahrung“, in: „Moderne Kunst 1“, Reinbek b. Hamburg, 1991, die Eisenbahn als Medium eines neuen, anderen Sehens der Landschaft. Aber auch die Bilder der Romantik verarbeiten diese Erfahrung, so etwa bei Carl Blechen, wo Objekte der frühen Industrialisierung mit einer lieblichen Landschaft korrespondieren. Vom vielfältigen Ausdruck der Industrialisierung in der Literatur ganz zu schweigen, angefangen bei Goethes Faust II.)

Es wurde hier etwas abgewichen, ein Umweg gegangen, von einer Glosse, die von der Einsamkeit als Refugium und als Bedingung von Kultur handelte, hin zur Koppelung von sozialer Praxis und medizinischem Blick. Schließen wir also mit einem Zitat Jähners und begeben uns heute am Samstag ein wenig noch hinaus unter Menschen:

„Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft geht einher mit dem Anwachsen von Einsamkeit. Sie fördert die Sehnsucht und Fantasie, die Brief- und Schreibkultur, die Malerei, die Begabung, sich auszudrücken. So gerüstet, kann man unter die Menschen gehen.“

_______________________________________________

(1) Man muß hier und in solchen Zusammenhängen mit Nietzsche allerdings sehr vorsichtig sein, denn schnell werden aus den Wenigen auch die Auserlesenen, die Elite und was dergleichen Geschwafel mehr zu hören ist im Umfeld  des Neonietzscheanismus. Diese Konnotation möchte ich hier jedoch vermeiden.

 (2) Die Steigerung von Geschwindigkeit und das Begehren nach Geschwindigkeit sind natürlich nicht neu. So war diese Erhöhung von Geschwindigkeit bereits hinsichtlich der Kriegstechnologien in der Signalübertragung (man denke an die optischen Telegrafen aus der Napoleonischen Zeit) oder bei der Übermittlung von Nachrichten in der Antike bedeutsam. Daß es diese Steigerung der Geschwindigkeit in Ansätzen also bereits lange vorher gab, widerspricht dem oben ausgeführten aber nicht, da durch das Aufkommen der Dampfmaschinen (und die Eisenbahn ist eine Form derselben) eine völlig neue Qualität der Geschwindigkeit erreicht wurde. Die Steigerung von Quantität führt insofern zu einer vollkommen neuen Qualität, die, so könnte man fast mit Heidegger sprechen, eine planetarische Umwälzung verursachte. Im Zusammenhang mit einer Geschichte der Geschwindigkeit sei noch auf den amerikanischen Pony Express verwiesen, der innerhalb kürzester Zeit Postsendungen durch die USA beförderte und trotz seiner Kurzlebigkeit von 1860 bis 1861 zu einer Legende wurde.

Markus Lüpertz und die Photographie

 Heute in der „Welt“: ein Interview mit Markus Lüpertz. Was er hier als Bestandsaufnahme und als Analyse zur Photographie sagt, das ist nicht ganz falsch und nicht völlig von der Hand zu weisen. Photographen sollten sich an seinen Worten schon messen lassen und diese als Herausforderung begreifen:

M. Lüpertz: „Fotografie wird viel mehr Unterhaltung, viel mehr Kabarett, viel mehr Zirkus. Es geht in Richtung dieser – und das sage ich mit allem Respekt – Halbseidenheit von Fotografie. Sie wird ein großes Unterhaltungspotenzial erfüllen müssen, aber das sind alles Dinge, die die Fotografie von der Kunst wegtransportieren. Im Gegensatz zur Malerei hat die Fotografie keine Oberfläche, sie hat nur Inhalte. Sie hat Stimmungen, sie hat Spannungen, sie hat Verblüffungen. Das sind durchaus ehrenwerte Kriterien. Die Fotografie füllt inzwischen gigantische Formate. Aber das ist das, was sie letztendlich ruinieren wird: Sie hat verheerende technische Möglichkeiten.“

Lüpertz: „Das höchste, was es für mich gibt, ist das Bildermalen. Es ist sehr viel einfacher, mit irgendwelchen Hilfsmitteln etwas zu erzeugen, als mit dieser furchtbaren Einsamkeit von Pinsel und weißer Leinwand und der Konkurrenz von Bildern aus 2000 Jahren Bilder zu malen, die heute überhaupt noch einer wahrnimmt – das sind gigantische Leistungen. Und davor gehen die Studenten laufen. Den Alltag zu fotografieren, das ist das Einfachste der Welt. Und wenn ich das dann noch geschickt aufmotze, sind das wunderschöne Arbeiten. Aber das kann nicht die Tiefe, nicht die Wertigkeit von Malerei haben.“

 Die Schlüsse, die er aus dem Gesagten zieht, sind jedoch falsch. Es kommt ganz darauf an, was der Photograph aus seinem Bild macht, wie er vorgeht und mit dem Vorgefundenen umgeht. Aus dem gegenwärtigen Status der Photographie jedoch abzuleiten, sie sei als künstlerisches Medium weniger tauglich als die Maler bedeutet nur, eine alte, eigentlich überwundene Dichotomie neu zu eröffnen. (Das gesamte „Beiwerk“ einer Philosophie der Photographie, vom großartigen Walter Benjamin angefangen, soll hier einmal ruhen gelassen werden.)

Ein weiterer Aspekt, warum die Photographie so schrecklich vernutzt ist, besteht darin, daß wir in einer Welt der Übermedialisierung und Überästhetisierung leben. Bis etwa in die 60er, 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein waren es einige wenige Bilder, die von Photographen geschossen und in Zeitungen und Zeitschriften (oder dem Fernsehen) veröffentlicht/gezeigt wurden. Man denke nur an die Kriegsphotographien vom Vietnamkrieg, die prägten und im Gedächtnis bleiben. Photographien im „Stern“ etwa waren etwas Besonderes. Eine Wochenzeitschrift wurde zwar auch konsumiert, die Qualität des Konsums war jedoch eine andere, weil es eben nicht diese Vielzahl gab.

Ein Bild erfordert Zeit zum Betrachten. Wir werden jedoch beständig von und mit Bildern beschossen; der Betrachter hat kaum noch Kriterien an der Hand und ist nicht in der Lektüre eines Bildes geschult; ihm fehlt der ikonographische Blick, um Bilder einzuordnen, Wahrheit von Propaganda zu unterscheiden und Zeichen zu lesen. Es glaubt und meint ein jeder, etwas über eine Fotografie sagen zu können. Sie ist uns selbstverständlich geworden, weil sie das allgemein Sichtbare geworden ist, das uns alltäglich umgibt. Wir nehmen aber kaum noch wahr, daß Kriegsphotographien teils gar nicht mehr von unabhängigen Photographen, sondern von „ebadded journalists“ geschossen werden und das allein dadurch bereits eine Verfälschung des Blickes geschieht.

Deshalb eben ist es nicht das Einfachste, sondern das Schwierigste, den Alltag adäquat zu photographieren, eine Sicht zu entwickeln, die mehr zeigt als das, was sowieso da ist. Photographie als kritisches Reflexionsmedium und als künstlerisches Gestaltungsmedium von Wirklichkeit ist durch dieses Inflationäre eher schwieriger geworden. Vielleicht ist sie sogar gerade deshalb schwieriger geworden, weil heute jeder ein Foto erzeugen kann. Auch im Bereich des Technischen ist es einfach geworden: es ist kein schwierig und zeitintensiv zu erwerbendes Wissen mehr nötig, um Fotos zu erzeugen und (digital) nachzubearbeiten, dies zeigt etwa der Umgang mit „Photoshop“ (wobei hier noch eine gewisse Komplexität herrscht) und andere Bildbearbeitungsprogramme. Es gibt verfremdete, montierte, in jeder Form präparierte Fotos und Photographien. Wo früher noch ausgesuchte Photographien geschossen wurden, weil Film und Photopapier teuer waren, so ermöglicht es die digitale Technik, einen Strom von unendlich vielen, niemals abreißenden Bildern zu erzeugen; Speicherplatz ist billig zu haben. Insofern ist eigentlich ein reduziertes und konzentriertes Arbeiten und ein spezifisches Sehen erforderlich, um Photographie wieder zu dem zu machen, was sie einmal war. Ob dies allerdings angesichts der Rezeptionsverhältnisse ausreichend ist, bleibt abzuwarten.

Hier liegt, zugleich mit und gegen Lüpertz gesprochen, die Herausforderung für die Photographie.

Embedded Art (Teil 2)

 Dokumentierte Systeme der Überwachung.  Oder: ich sehe was, was du nicht siehst

Etwas benommen zwar, aber im ganzen doch gut beisammen, taucht der Besucher aus den Katakomben heraus und begibt sich sogleich zum zweiten Teil der Ausstellung. Am Cafetrakt vorbeigehend und nicht der Versuchung erliegend, sich auch eine der gerade vorbeigetragenen nicht-virtuellen schönen dampfenden Suppen zu bestellen.

Bevor der Besucher in die abgedunkelten Räume der nun ungeführten Ausstellung tritt, muß er an einem Fernseher vorbei. Dieser ist aufgebaut wie in einem Wohnzimmer, das wohl die Hölle eines Wohnzimmers darstellen soll, denn an den drei Seiten stehen jeweils die gleichen unansehnlichen billigen Schrankwandteile, wie man sie in Möbelhäusern erstehen kann, die schlecht verarbeitete Möbel feilbieten. Der Sinn dieser Einrahmung im Zusammenspiel mit der Vorführung im Fernseher scheint etwas beliebig. Und ein Zusammenhang mit dem Video ist nicht sofort ersichtlich. Dafür ist das gezeigte Video interessant. Teils mit Musik von Stockhausens „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“ begleitet, teils mit Originalton wird die Vorführung eines Tasers gezeigt, bei der sich Polizisten zu Testzwecken mit dieser nicht letalen Waffe gegenseitig beschießen. Man sieht den vor Schmerzen zusammensackenden von seinen Kollegen aufgefangenen Polizisten. Dann ist der nächste an der Reihe: Schmerzverzerrtes Gesicht und Schreie, Auffangen durch Kollegen, das Auf-den-Boden-legen des „Opfers“, usw.: der nächste bitte. Bekannt ist diese Waffe durch Nachrichtenbilder aus den USA, wo bei einer normalen Fahrzeugkontrolle dieser Taser brutal zum Einsatz kam.

Die Bilder haben ihren Reiz: man könnte zwar aufstehen, weil nach dem zweiten Durchgang bereits klar ist, was auch beim nächsten geschehen wird, doch fällt es schwer, sich diesen Bildern zu entziehen. Auch entbehren die Bilder nicht einer gewissen Komik, weil die Schreie der „Opfer“ wie gekünstelte Schreie eines Schauspielers wirken und das Hinabfallen mehr einer Inszenierung gleicht. Die Schreie und das Zusammenfallen des Körpers sind aber real, und immer wieder muß man sich vor Augen führen, daß diese Waffe zur Anwendung kommt; auch in Deutschland. Aus dieser Spannung und aus dem sich wiederholenden, seriellen Moment heraus bezieht dieses Video seine Stärke; und die Grenze zwischen dem ästhetischen Gebilde als Artefakt und der Dokumentation wird offener. Gerade einmal die Schrankwände erinnern in ihrer Ungemütlichkeit daran, daß man sich nicht in einer Dokumentation befindet. Vielleicht ist dies ja die Stärke der Schrankwände. (Gut eigneten sie sich, um eine nette Einraum-Hochhauswohnung in der Leipziger Straße (Ost) einzurichten.)

Überhaupt scheint in dieser Ausstellung das Moment des Artifiziellen, des künstlerisch Gemachten zurückzutreten zugunsten des Dokumentierenden, welches in manchen Passagen Mitmachcharakter entwickelt. So im ersten Raum: hier besteht die Möglichkeit, seinen Finger in einen Scanner zu legen, um den Fingerabdruck zu erfassen. Getestet werden soll hier – laut Tafelauskunft der Aussteller – die Bereitschaft, sich dieser Prozedur zu unterziehen. Der Besucher läßt sich gerne testen. Nach Einlegen des Fingers erscheint auf der Videowand eine fortlaufend gezählte Nummer, sodann generiert sich auf der Videowand ein Zufallsbild aus Mustern. So steht dort ein Muster neben dem anderen als Serie der Bereitwilligen. Wenn es doch im richtigen Leben auch so leicht und spielerisch wäre

Auch kann man sich in diesem Raum an einem anderen Objekt mittels Tastaturbefehlen in virtuellen Gängen eines Gebäudes, das den Charakter eines Sicherheitstraktes oder des „Flures“ von einem Raumschiff hat, bewegen: Der Blick des Besuchers „geht“ mittels Tastatur auf einer Videowand in Gängen umher, der Blick richtet sich, wenn die Kamera einigermaßen korrekt zentriert ist, auf eine Tür. Dort ist eine Frage mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten; sodann öffnet sich die Tür wie im Raumschiff Enterprise und es geht weiter zu einer nächsten Tür. Auch dort eine Frage, Antwort mit „ja“, Antwort mit „nein“: es ist eigentlich gleich, wie man antwortet, die Enterprise-Tür öffnet sich. Die Tastatur ist bewußt ungemütlich angeordnet und erschließt sich nicht intuitiv: nicht einfache Pfeiltasten symbolisieren Bewegungsrichtungen, sondern man muß sich diese Richtungen erschließen und probieren. Dies soll Konzentration in Anspruch nehmen. Ziel dieser (spielerischen) Veranstaltung ist es – laut Tafel des Ausstellers , daß der Teilnehmer sich in einem virtuellen Raum bewegen soll, dabei aber in diesem seinem Tun, in den Bewegungsrichtungen und seinen Blicken wiederum den Blicken und Beobachtungen der anderen ausgesetzt ist.

In einem weiteren Raum löst sich das Rätsel der Kameras aus dem Kellerbereich Sie dienen dazu, die Bilder ins Parterre zu übertragen, wo man die Räume, die Kunstwerke, die Besucher auf Großmonitoren in Ruhe überwachen und betrachten kann. Bilder sind da zu sehen und Menschen, die dort stehen, wenn eine eingebettete Führung stattfindet. Bis hin zu jenem „War Room“, in dem nun eine Beobachtung dritter Ordnung stattfindet.

Sinnfällig wird bei „Embedded Art“ eine Ordnung der Blicke, wie ich es im ersten Teil bereits genannt hatte, die zum Ende der Ausstellung hin in einen computer-spielerischen Umgang mit dem Benthamschen Panopticon mündet, welches Foucault in „Surveiller et punir. La naissance de la prison“ darstellte.

Es ist aber nicht nur eine Ordnung des Blickes und eine Ordnung des auf den Punkt zentrierten und festgestellten Subjekts, das – dann im transzendentalen Sinne wiederum als Grund der Ermöglichung von Beobachtung überhaupt fungiert, wie man es zunächst aufgrund all der Weisen von Beobachtung meinen könnte, mit denen der Besucher konfrontiert wird, sondern das Ziel und Feld ist gleichzeitig die rein praktische Anwendung: nämlich die (folternde, marternde) Zurichtung des gefangenen Körpers. Denn mit all den Blicken und Beobachtungen sind immer Handlungen verbunden, die Beobachtungen sind nicht (ästhetischer) Selbstzweck, sondern münden, als entsprechende Strafe für Devianz, in die Praktiken der Züchtigung. Dies zeigt die Ausstellung drastisch in den Kellerräumen, aber auch zu ebener Erde, wenn etwa hörspielartig der polizeiliche Umgang und die Verwendung von (Kampf)-Hunden gezeigt wird.

Es handelt sich bei den in der Ausstellung gezeigten Exponaten gerade vermittels dieses Moments des Dokumentarischen um engagierte Kunst, die – und dies ist ein generelles Problem der engagierten Kunst – jedoch in ihrer Darstellung einseitig wirkt. Der Doppelcharakter der Überwachungssysteme und der Kriegstechnologien als Gefährliches und (teilweise) Notwendiges wird in dieser Ausstellung viel zu wenig herausgestellt. Und in all den „Erschütterungen“, denen der Betrachter ausgesetzt wird und die am Ende doch als berechenbar sich erweisen, hätte man sich durchaus wenigsten zwei bis drei Werke gewünscht, die einen anderen Blick zulassen als den des linkspolitisch eingeübten common sense hinsichtlich der Themen. Am Ende sieht man das, was man sowieso schon ahnte und wußte. Und dabei dachte der Besucher, daß Kunst neue Sichtweisen auf und neue Zugänge zur Welt eröffnen sollte.  Dem ist hier leider nicht immer so. Doch trotzdem ist diese Ausstellung sehenswert und jedem zu empfehlen. „Embedded Art“ bietet Anregungen, um sich mit den Themenblöcken Terrorismus, Kriegstechnologien und Überwachung tiefergehend zu befassen. Hingehen ist zu empfehlen.

Möglicherweise wird es demnächst noch einen dritten, abschließenden Teil geben, in dem ich einige grundsätzliche Erörterungen zu diesem Themenblock vornehmen werde.