Nun neigt sie sich zum Ende, die Documenta 13, am Sonntag ist Schluß, das eigentümliche Occupy-Camp vor dem Fridericianum ist bereits abgezogen. Und wie es so ist, fällt der Blick in der Rückschau gnädig aus. Es verhält sich da wie mit den abgelebten oder abgelegten Frauen bzw. Männern: Hinterher, wenn die Dinge vorüber sind, lächelt man melancholisch-mild: War doch ‘ne schöne Zeit. (Auch wenn es manchmal eine Scheißzeit war.) Die Linie der documenta, ihr Konzept ließ sich durchaus nachvollziehen, insbesondere über den Begriff der Destruktion. Zitieren wir dazu Walter Benjamin, aus seinem kurzen, aber treffenden Text „Der destruktive Charakter“:
„Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall Wege. Wo andere auf Mauern oder Gebirge stoßen, auch da sieht er einen Weg. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen nur mit veredelter. Weil er überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg. Kein Augenblick kann wissen, was der nächste bringt. Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.
Der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohne.“
(W. Benjamin, Der destruktive Charakter)
Man denke bezüglich dieser Passagen jedoch, gleichsam als Gegenfigur, an jenen Engel der Geschichte in Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen, der hinter sich blickend auf die Trümmer schaut, während vom Paradise her ein Sturm weht. Zerstörung ist ein Begriff, der mehrfach aufgeladen ist. Unheilvoll wie auch Neues bringend. Diesen Widerspruch mußten auch die Avantgarden nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Auschwitz erfahren. Einen unschuldigen Futurismus gibt es nicht, und die Unschuld des aufbauend-zerstörenden Triebes, wie es sich von Heraklit über Novalis bis Nietzsche in der Figur des spielenden Kindes metaphorisiert, gerann zum verblendet-idiotischen Bewußtsein des Privatiers. Wer mit dem Hammer philosophiert, hinterläßt eine Landschaft mit Trümmern.
Obsessiv zerstört und fragmentiert in der Anordnung, aber dann doch zu einem zwangsverpuzzelten mosaikartig gefügten Ganzen komponiert oder in diesem Zusammenhang passender: assoziiert, scheint mir jene Installation des Kanadischen Künstlers Geoffrey Farmer mit dem Titel „Leaves Of Grass“, was sicherlich auch eine Reminiszenz an Walt Whitmans „Grashalme“ darstellt – jenem Gedichtwerk, das als eine Hymne an die USA verstanden werden kann: ihre Landschaften, ihre Städte, ihre Politik des Raumes, der Raumnahme, das Land der Freien:
„Ich hörte, daß ihr nach etwas verlangt, um das Rätsel der Neuen Welt zu lösen
Und euch Amerika zu erklären und seine athletische Demokratie,
Deshalb schick ich euch meine Gedichte, daß ihr in ihnen findet, was ihr verlangt.“
(W. Whitman, Grashalme)
Ideologie der Dichtung.
In einem langgestreckten Raum befindet sich ein Objekt, auf dem eine unüberschaubare Menge an Photographien scherenschnittartig, versetzt, skulpturartig gebaut, verschachtelt, nebeneinander, übereinander, sich überlagernd angeordnet sind. Die ausgeschnittenen Photographien – aufgespießt auf Schilfgrashalmen.
Diese Bilder zeigen 50 Jahre aus dem Magazin „Life“ – von 1935 bis 1985. „Leaves of Gras“ präsentiert Vielfältiges, Unverbundenes, Gesichter, Objekte, die Konsumwelt, die Geschichte der USA, innerhalb der Bildwelten (des Magazins) den Übergang vom Schwarz/Weiß- zum Farbfilm, die Einschnitte und die Banalitäten der Geschichte; Alltagsleben, Kunst, Objekte, Ereignisse, Sport, prüde Sexualisierungen und alles, was für ein Illustrierten-Magazin von Interesse ist, gerinnen ins ausgeschnittene Bild, die USA: ihre Helden aus dem Film, aus den Comics, Politiker, Sportler, Show und Unterhaltung, Mode, Autos, Werbung, Essen, von Tarzan bis Kennedy, vom Rock’n’Roll bis zum Vietnam-Krieg, Objekte und Subjekte: es präsentiert sich ein Panorama US-amerikanischer (Alltags-)Geschichte aus einer Illustrierten, die den Amerikanern ihr Weltbild und ihre Sicht auf Welt lieferte. Allerdings: etwas fehlt. Nämlich die Welt des Elends, der Slums, der Klassengegensätze, der Rassenkonflikte, daß die einen arbeiten, während die anderen mit sehr gut gefüllten Taschen dasitzen. Es fehlt das Moment des Widerspruchs. Andererseits führt sich in der Anordnung, in die Farmer diese Welt von Alltag, Glanz und seichter Politik bringt, das Ensemble der Bilder selber ad absurdum und erzeugt gerade durch die Aussparung den Widerspruchs innerhalb der Wahrnehmung. Der Blick gleitet über die Dinge und findet nur leere Orte.
Eine solche teils affirmative, aber durch diese Affirmation dann wieder ins ihr Gegenteil umschlagende Hymne in Bildern ist dem Zeitalter des Visuellen und des medial Inszenierten angemessen. Farmer liefert den visuellen Overkill. Es lassen sich Bilder zeigen oder Texte schreiben, wie die von Whitman, doch das Ganze ist in seiner Totalität und in seinen Bestimmungen nie zu fassen ist. Diese Bilder, die Farmer den Betrachtern entgegenschleudert, bleiben zwar einerseits Fragmente und stehen im Raum wie ein Mosaik, das dennoch nicht recht zusammenpassen mag, andererseits geben sie sich in ihrer ausschnitthaften Abfolge wie ein Kinofilm, dem die Bilder in der Montage durcheinandergeraten sind. Es ist dieses Panorama als eine Auflösung des Blickes zu lesen, in dem die Geschichte dekontextualisiert wird. Schnittstellen, im wahrsten Sinne des Wortes und in ihrer vielfachen Bedeutung genommen.
Die Betrachter bewegen sich an dieser Installation entlang, umrunden sie, der eine flüchtig und schnell, während andere in dieser Welt, in dieser Flut aus Photographien versinken und gar nicht weitergehen mögen. Der Betrachter taucht ein, geht unter, verliert sich im Detail all der Photographien aus dem „Life“-Magazin. Es ist ein optischer Spaß, sich an dieser Bilderschau entlangzubewegen. Kopfkino der Kulturindustrie. Es schließt dieser Strom von Bildern an Adornos gleichnamiges Kapitel aus der „Dialektik der Aufklärung“ an und es eröffnet sich ein Archiv der Bilder aus einer Welt der Zeitschriften, die auf diese Weise nicht mehr existiert. Unsere Bildwelten sind die bewegten. Und dennoch frieren auch aus diesen bewegten Bildern Szenen zur Photographie ein. Und andererseits löst Farmer das zweidimensionale Bild aus seinem Raum und positioniert es in der dreidimensionalen, plastischen Weise. Aber in diesen Bildern gleiten die Betrachter zugleich in die Irre. Sie verlieren sich und der Zusammenhang geschichtlicher Kontinuität und Ordnung zerfließt. Es bleibt ein Strom an Bildern, der lediglich in der Reflexion noch aufgefaßt und angeordnet werden kann. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Wesensmerkmal der sogenannten Postmoderne kommt hier auf eine ironisch-gewitzte Weise zu sich selbst. Und was zu diesem Werk „Leaves of Gras“ hinzukommt: es ist an seinen Ort gebunden und wird in dieser Anordnung uns so nicht mehr gezeigt werden können, weil es eine ungeheure Arbeit der Rekonstruktion erforderte, es in genau dieser Anordnung identisch an einem anderen Ort wieder aufzubauen.
Ein weiteres Objekt, das ich den Betrachterinnen und Betrachtern jener letzten Tage der Documenta empfehlen oder an das empfindliche Herz legen möchte, ist jenes spukhafte Haus beim Kasseler Nordbahnhof, in dem – vermittel über die Logik des Raumes, des Ortes, der Zeit und des Bildes – ein Band an Assoziationen und (visuellen) Erzählungen geknüpft wird, die aufeinander verweisen und Perspektivierung sowie Bildlichkeit von Augenblicken verknüpfen. Datierte Bücher liegen dort aus, in denen wie in Greenaways Drowing bei number in der Abfolge gezählt wird, Ziffer auf Ziffer, auf Weiß gedruckt, Abzählung, Objekte stehen im Raum, die auf die Vermessung und die Konstruktion von Perspektive verweisen. Auch hier lebt, wie bei vielen Objekten der Documenta zu beobachten, das Kunstwerk wesentlich von einer Rezeption, die sich auf das unmittelbar Sinnliche bezieht, in dem Betrachterin und Betrachter sich den Räumen öffnen und nicht bloß ein vereinzelt gehängtes Werk sich anschauen. Die kontemplative Haltung ist zwar einerseits geboten und erwünscht, aber der reflektierende Blick übersteigt doch das bloße Sich-Versenken, weil das Werk auf eine vielschichtige Perspektivierung aufbaut, die das klassische Tafelbild transformiert, wenngleich in diesem Haus immer wieder auf jenes Tafelbild – meist als Photographie – zurückgegriffen wird. Es ist eine Kunst des Reizes, dem sich das Subjekt aussetzt und öffnet, wie es seit einigen Jahrzehnten schon in der Kunst der Spätmoderne zu beobachten ist. Das Schlagwort bildet die Rezeptionsästhetik. Teils mischt sich diese Weise der Kunst mit simplem Happening- oder Unterhaltungscharakter, teils geht es in die Tiefen von Reflexion und sogar in die melancholisch-düstere Versenkung wie in Epaminondas und Cramers Haus-Objekt. Geoffrey Farmers Bild-Skulptur steht dazwischen: es ist eine subtile und doch auch wieder simple Unterhaltung,die in der Konstruktion zugleich auf Fleißarbeit hinausläuft. Aber auf Fleiß beruht am Ende alle Kunst, selbst die eruptiv-dadaistische.
X
X