Die Macht und das Leben der Bilder (3) – Geoffrey Farmer sowie Haris Epaminonda und Daniel Gustav Cramer. Texte zur Documenta (4)

Nun neigt sie sich zum Ende, die Documenta 13, am Sonntag ist Schluß, das eigentümliche Occupy-Camp vor dem Fridericianum ist bereits abgezogen. Und wie es so ist, fällt der Blick in der Rückschau gnädig aus. Es verhält sich da wie mit den abgelebten oder abgelegten Frauen bzw. Männern: Hinterher, wenn die Dinge vorüber sind, lächelt man melancholisch-mild: War doch ‘ne schöne Zeit. (Auch wenn es manchmal eine Scheißzeit war.) Die Linie der documenta, ihr Konzept ließ sich durchaus nachvollziehen, insbesondere über den Begriff der Destruktion. Zitieren wir dazu Walter Benjamin, aus seinem kurzen, aber treffenden Text „Der destruktive Charakter“:

Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall Wege. Wo andere auf Mauern oder Gebirge stoßen, auch da sieht er einen Weg. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen nur mit veredelter. Weil er überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg. Kein Augenblick kann wissen, was der nächste bringt. Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.
Der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohne.“
(
W. Benjamin, Der destruktive Charakter)

Man denke bezüglich dieser Passagen jedoch, gleichsam als Gegenfigur, an jenen Engel der Geschichte in Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen, der hinter sich blickend auf die Trümmer schaut, während vom Paradise her ein Sturm weht. Zerstörung ist ein Begriff, der mehrfach aufgeladen ist. Unheilvoll wie auch Neues bringend. Diesen Widerspruch mußten auch die Avantgarden nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Auschwitz erfahren. Einen unschuldigen Futurismus gibt es nicht, und die Unschuld des aufbauend-zerstörenden Triebes, wie es sich von Heraklit über Novalis bis Nietzsche in der Figur des spielenden Kindes metaphorisiert, gerann zum verblendet-idiotischen Bewußtsein des Privatiers. Wer mit dem Hammer philosophiert, hinterläßt eine Landschaft mit Trümmern.

Obsessiv zerstört und fragmentiert in der Anordnung, aber dann doch zu einem zwangsverpuzzelten mosaikartig gefügten Ganzen komponiert oder in diesem Zusammenhang passender: assoziiert, scheint mir jene Installation des Kanadischen Künstlers Geoffrey Farmer mit dem Titel „Leaves Of Grass“, was sicherlich auch eine Reminiszenz an Walt Whitmans „Grashalme“ darstellt – jenem Gedichtwerk, das als eine Hymne an die USA verstanden werden kann: ihre Landschaften, ihre Städte, ihre Politik des Raumes, der Raumnahme, das Land der Freien: 

Ich hörte, daß ihr nach etwas verlangt, um das Rätsel der Neuen Welt zu lösen
Und euch Amerika zu erklären und seine athletische Demokratie,
Deshalb schick ich euch meine Gedichte, daß ihr in ihnen findet, was ihr verlangt.“
(W. Whitman, Grashalme)

Ideologie der Dichtung.

In einem langgestreckten Raum befindet sich ein Objekt, auf dem eine unüberschaubare Menge an Photographien scherenschnittartig, versetzt, skulpturartig gebaut, verschachtelt, nebeneinander, übereinander, sich überlagernd angeordnet sind. Die ausgeschnittenen Photographien – aufgespießt auf Schilfgrashalmen.

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Diese Bilder zeigen 50 Jahre aus dem Magazin „Life“ – von 1935 bis 1985. „Leaves of Gras“ präsentiert Vielfältiges, Unverbundenes, Gesichter, Objekte, die Konsumwelt, die Geschichte der USA, innerhalb der Bildwelten (des Magazins) den Übergang vom Schwarz/Weiß- zum Farbfilm, die Einschnitte und die Banalitäten der Geschichte; Alltagsleben, Kunst, Objekte, Ereignisse, Sport, prüde Sexualisierungen und alles, was für ein Illustrierten-Magazin von Interesse ist, gerinnen ins ausgeschnittene Bild, die USA: ihre Helden aus dem Film, aus den Comics, Politiker, Sportler, Show und Unterhaltung, Mode, Autos, Werbung, Essen, von Tarzan bis Kennedy, vom Rock’n’Roll bis zum Vietnam-Krieg, Objekte und Subjekte: es präsentiert sich ein Panorama US-amerikanischer (Alltags-)Geschichte aus einer Illustrierten, die den Amerikanern ihr Weltbild und ihre Sicht auf Welt lieferte. Allerdings: etwas fehlt. Nämlich die Welt des Elends, der Slums, der Klassengegensätze, der Rassenkonflikte, daß die einen arbeiten, während die anderen mit sehr gut gefüllten Taschen dasitzen. Es fehlt das Moment des Widerspruchs. Andererseits führt sich in der Anordnung, in die Farmer diese Welt von Alltag, Glanz und seichter Politik bringt, das Ensemble der Bilder selber ad absurdum und erzeugt gerade durch die Aussparung den Widerspruchs innerhalb der Wahrnehmung. Der Blick gleitet über die Dinge und findet nur leere Orte.

Eine solche teils affirmative, aber durch diese Affirmation dann wieder ins ihr Gegenteil umschlagende Hymne in Bildern ist dem Zeitalter des Visuellen und des medial Inszenierten angemessen. Farmer liefert den visuellen Overkill. Es lassen sich Bilder zeigen oder Texte schreiben, wie die von Whitman, doch das Ganze ist in seiner Totalität und in seinen Bestimmungen nie zu fassen ist. Diese Bilder, die Farmer den Betrachtern entgegenschleudert, bleiben zwar einerseits Fragmente und stehen im Raum wie ein Mosaik, das dennoch nicht recht zusammenpassen mag, andererseits geben sie sich in ihrer ausschnitthaften Abfolge wie ein Kinofilm, dem die Bilder in der Montage durcheinandergeraten sind. Es ist dieses Panorama als eine Auflösung des Blickes zu lesen, in dem die Geschichte dekontextualisiert wird. Schnittstellen, im wahrsten Sinne des Wortes und in ihrer vielfachen Bedeutung genommen.

Die Betrachter bewegen sich an dieser Installation entlang, umrunden sie, der eine flüchtig und schnell, während andere in dieser Welt, in dieser Flut aus Photographien versinken und gar nicht weitergehen mögen. Der Betrachter taucht ein, geht unter, verliert sich im Detail all der Photographien aus dem „Life“-Magazin. Es ist ein optischer Spaß, sich an dieser Bilderschau entlangzubewegen. Kopfkino der Kulturindustrie. Es schließt dieser Strom von Bildern an Adornos gleichnamiges Kapitel aus der „Dialektik der Aufklärung“ an und es eröffnet sich ein Archiv der Bilder aus einer Welt der Zeitschriften, die auf diese Weise nicht mehr existiert. Unsere Bildwelten sind die bewegten. Und dennoch frieren auch aus diesen bewegten Bildern Szenen zur Photographie ein. Und andererseits löst Farmer das zweidimensionale Bild aus seinem Raum und positioniert es in der dreidimensionalen, plastischen Weise. Aber in diesen Bildern gleiten die Betrachter zugleich in die Irre. Sie verlieren sich und der Zusammenhang geschichtlicher Kontinuität und Ordnung zerfließt. Es bleibt ein Strom an Bildern, der lediglich in der Reflexion noch aufgefaßt und angeordnet werden kann. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Wesensmerkmal der sogenannten Postmoderne kommt hier auf eine ironisch-gewitzte Weise zu sich selbst. Und was zu diesem Werk „Leaves of Gras“ hinzukommt: es ist an seinen Ort gebunden und wird in dieser Anordnung uns so nicht mehr gezeigt werden können, weil es eine ungeheure Arbeit der Rekonstruktion erforderte, es in genau dieser Anordnung identisch an einem anderen Ort wieder aufzubauen.

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Ein weiteres Objekt, das ich den Betrachterinnen und Betrachtern jener letzten Tage der Documenta empfehlen oder an das empfindliche Herz legen möchte, ist jenes spukhafte Haus beim Kasseler Nordbahnhof, in dem – vermittel über die Logik des Raumes, des Ortes, der Zeit und des Bildes – ein Band an Assoziationen und (visuellen) Erzählungen geknüpft wird, die aufeinander verweisen und Perspektivierung sowie Bildlichkeit von Augenblicken verknüpfen. Datierte Bücher liegen dort aus, in denen wie in Greenaways Drowing bei number in der Abfolge  gezählt wird, Ziffer auf Ziffer, auf Weiß gedruckt, Abzählung, Objekte stehen im Raum, die auf die Vermessung und die Konstruktion von Perspektive verweisen. Auch hier lebt, wie bei vielen Objekten der Documenta zu beobachten, das Kunstwerk wesentlich von einer Rezeption, die sich auf das unmittelbar Sinnliche bezieht, in dem Betrachterin und Betrachter sich den Räumen öffnen und nicht bloß ein vereinzelt gehängtes Werk sich anschauen. Die kontemplative Haltung ist zwar einerseits geboten und erwünscht, aber der reflektierende Blick übersteigt doch das bloße Sich-Versenken, weil das Werk auf eine vielschichtige Perspektivierung aufbaut, die das klassische Tafelbild transformiert, wenngleich in diesem Haus immer wieder auf jenes Tafelbild – meist als Photographie – zurückgegriffen wird. Es ist eine Kunst des Reizes, dem sich das Subjekt aussetzt und öffnet, wie es seit einigen Jahrzehnten schon in der Kunst der Spätmoderne zu beobachten ist. Das Schlagwort bildet die Rezeptionsästhetik. Teils mischt sich diese Weise der Kunst mit simplem Happening- oder Unterhaltungscharakter, teils geht es in die Tiefen von Reflexion und sogar in die melancholisch-düstere Versenkung wie in Epaminondas und Cramers Haus-Objekt. Geoffrey Farmers Bild-Skulptur steht dazwischen: es ist eine subtile und doch auch wieder simple Unterhaltung,die in der Konstruktion zugleich auf Fleißarbeit hinausläuft. Aber auf Fleiß beruht am Ende alle Kunst, selbst die eruptiv-dadaistische.

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Lee Miller und Man Ray: Objektwahl sowie „Paare, Passanten“. Texte zur documenta (3)

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Lee Miller (1907-1977) ist eine leider etwas in Vergessenheit geratene Photographin aus dem Kreis der Surrealisten. In der ständigen Sammlung surrealistischer Photographien im Centre Pompidou waren (zumindest in den 80er Jahren) einige ihrer Photos ausgestellt. Ob diese Bilder heute noch dort gezeigt werden, weiß ich nicht. Das Kunstmuseum Wolfsburg machte 2006 eine Ausstellung, die einen Überblick zu ihrem Werk lieferte, und in Berlin gibt es bis zum 6.10. eine Präsentation ihrer Photographien in der Galerie Hiltawsky zu sehen. Diese Ausstellung werde ich mir natürlich anschauen und darüber schreiben, sofern sehenswert.

Lee Miller arbeitete in den 20er Jahren als Modell, ließ sich von Edward Steichen für die „Vogue“ ablichten und 1929, mit 21 Jahren, tat sie das, was eine Frau tun mußte und auch sollte: sie begab sich in die Hände eines Mannes, und zwar, wie passend vom Namen, wenn man den Vornamen französisch spricht: in die Hände von Man Ray, um das Photographieren zu lernen. Es ist immer gut, wenn Frauen lernbegierig sind und von klugen Männer partizipieren. Da hat die allgegenwärtige und böse als Schlachtruf in den Raum geworfene  Heteronormativität des WHM Ray doch mal teleologisch gedacht auch für die Frau ihre guten Seiten. Lee Miller wurde Man Rays Geliebte und seine Muse, aber sie war, wie es sich für eine gute Frau gehört, widerborstig. Denn Lee Miller war eine Frau, die wußte, was sie wollte und die es sich nicht gefallen ließ, nur als Muse der Surrealisten bella figura zu machen. Es wurde eine Liebesbeziehung mit Tücken, Man Ray hatte mit einem Male keine seiner üblichen Musen vor sich, die verspielt und willfährig sich hingaben, sondern eine kreative, hochbegabte und sexuelle völlig autonome Frau stand ihm da gegenüber, daß es ihm unheimlich wurde und zugleich ausgesprochen reizte. Das erträgt nicht jeder Mann, und nur wenige Männer können solche Frauen halten. Wobei ich zugleich hinzufügen muß: es gibt auch nur wenige solcher Ausnahmefrauen, das meiste verbuche ich, wie auch bei den Männern, als unterer Durchschnitt mit Hang zur gehobenen Inszenierung.

Obsession paarte sich bei Lee Miller und Man Ray mit Zerstörung, was wir dann – im Rahmen des Spannungsbogens europäischer Erzählweise – weiter im nächsten Text lesen werden, wenn es um Man Rays Metronom, das „Object of Destruction“, geht. Liebe und Gewalt sind in der Erotik etwas Inspirierendes und Interessantes, wenn beide Parteien gleichberechtigt spielen und sich zudem im Feld der Ästhetik oder der Kunst bewegen. Zu meiner Studienzeit drückte ich 1993 nachts in einer Bar meiner Muse eine Zigarette auf dem Unterarm aus. Wir schauten uns kurz und wild, ich hätte fast geschrieben: mit Glut in die Augen. Dann schlug sie zu. Hinterher flogen wir beide aus der Bar heraus. Die Geschichte eine solchen Verstrickung und einer solchen gegenseitigen kreativen Aufsteigerung der Gewalt und der Zuneigung, die keine des Kuschelns ist, möchte ich gerne nachzeichnen.

Nein, Le Miller war keine passive Muse, die in jenes Muster einer Kreativität der Ausbeutung von Frauen durch Männer fällt, das Klaus Theweleit in seinem „Buch der Könige. Orpheus und Eurydike“ freilegt, sondern eine Photographin und Kriegskorrespondentin mit eigenem Blick, eigenem Willen: Sie landetet mit den Alliierten in der Normandie, zog 1944/45 mit ihrer Kamera durch Europa, schoß Photos für die „Vogue“. Ihre Bilder sah kaum einer. Die von Robert Capa kennt jeder. Das spricht nicht gegen Capas großartige Photographien, zeigt aber, wie unterschiedlich wahrgenommen wird.

Miller war im Zuge der 7. U.S. Army vor Ort, als am 29. Mai 1945 das Konzentrationslager Dachau befreit wurde, und sie reiste einen Tag später nach München, begab sich in Hitlers Wohnung am Prinzregentenplatz, ließ sich dort von ihrem Mann, dem Photographen David E. Scherman, nackt in der Badewanne Hitlers photographieren. Schamlos, schamlos! Aber so sind sie, die surrealistischen Gespielinnen bzw. die Photoreporterinnen mit dem wilden Willen und der zügellosen Phantasie. Um diese Wanne drapierte Miller einige Gegenstände: eine Statue, die dem klassischen Ideal von Schönheit nachgeformt ist, eine Photographie des Führers, Armeestiefel, die vor der Wanne stehen, sowie Kleidungsstücke von einer Uniform der U.S. Army. Ein Szenerie, die inszeniert und zugleich absurd wirkt, die nichts mehr mit einer reinen journalistischen oder historischen Dokumentation zu tun hat; eine Photographie,  die das männliche, aber auch das weibliche Auge trotz des unbekleideten Körpers nur begrenzt erotisch aufstachelt und anregt, sondern es erzeugt sich über diese Positionierung von unterschiedlichen Elementen um einen badenden Körper herum vielmehr ein Assoziationsraum und es verstört sich der Blick.

Kann man in der Wohnung des Führers Bade-Späße machen, wenn man vorher in Dachau war, zudem in einem solch gekonnt inszenierten Arrangement, wo es von der Frauenrundung einer Statue, über den versonnenen Blick samt dieser Handbewegung der Badenden auf die eigene Schulter bis hin zu der Kurve, die der Dusch-Schlauch bildet sowie dem Bild Hitlers, in bezug auf die Blick- und Sichtachsen innerhalb dieser Photographie haargenau paßt? Ja, unbedingt sogar. Und das eben scheint mir das Faszinierendste an diesen vier Photographien, die Miller in verschiedenen Posen in der Badewanne zeigt: nicht das Bild des Führers, das da steht und völlig absurd (eben: surreal) (de-)plaziert wirkt, denn kaum stellten Adolf Hitler oder seine Geliebte Eva Braun sich dieses Bild ausgerechnet an die eigene Badewanne, sondern die klobigen Armeestiefel ziehen vielmehr den Blick auf sich, und zwar insbesondere in der Kombination mit jenem nackten Körper, der doch an den entscheidenden Stellen eben nicht entblößt zu sehen ist, sondern nur in den Andeutungen. Das Ende des Faschismus als eine Farce in die Kunst gebracht und zugleich angesichts des Grauens sich gegen jede Kunst sträubend: jener historische Punkt, jenes Datum, an dem die Klassische Moderne ihr Ende fand.

Was weiterhin dieser Photographie jene besondere Bedeutung verleiht und was den Augenblick eines Datums bannt, ja gefrieren läßt – fast ließe sich vom Kairos sprechen –, ist der Umstand, daß fast zur selben Zeit, als Lee Miller sich nachmittags in dieser Badewanne photographieren ließ, in Berlin um etwa 15 Uhr 45 der Führer Adolf Hitler sich in den Kopf schoß und vorher seine Geliebte Eva Braun Gift einnahm. Von der Wolokolamsker Chaussee bis hin nach Berlin, da wo heute die Jägerstraße verläuft, ist es eine Linie. Geschichtsteleologie, eine Tathandlung des Kommandeurs  Momysch-Uly kurz vor Moskau gegen einen überlegenen Gegner.

Jede Lektüre, auch die eines Bildes, muß mit den Anspielungen, den Verweisen und den Verwicklungen rechnen, und jeder Lektüre ist die unendliche Umschrift des Textes eingeschrieben. In jedes Bild siedeln und schleichen sich die unsichtbaren Verweise und die Daten ein. Selbst die absolut unlesbaren Daten, die nur als Singularität und als reines Anzeichen eine Photographie strukturieren. Es ist innerhalb des (Bild-)Textes die Zone der Unbestimmtheit, die lediglich in einer dialektisch-kritischen oder in einer dekonstruktiven Lektüre als Kippfigur oder Konstellation angezeigt werden kann. Vor dem Überborden des Sinns und dem Zusammenhang der Zeichen versagt jede Hermeneutik. Das Kunstwerk, welches seinem emphatischen Begriff gerecht wird, bordet in der Lektüre über, schießt aus dem Rahmen, jene Rahmungen, die Derrida in „Die Wahrheit in der Malerei“ als Rand des Bildes dekonstruiert. Randgänge der Philosophie, Randgänge der Ästhetik. Und aus diesem Grunde ist die gekonnte und gelungene Kunstkritik, die paßt und funktioniert, weil sie sich an ihr Objekt anschmiegt und es zugleich zerlegt, selber ein Kunstwerk, ein ästhetisches Objekt.

An dieser Wand in der Rotunde der Documenta gibt es weitere Photographien zu sehen, die Lee Miller selber gemacht hat – unter anderem ist das befreite Konzentrationslager Dachau zu sehen. Gegenüber dieser Photowand steht nun bedeutungsreich eine Vitrine, in der einige der Objekte ausgestellt werden, die auf den Photos in der Badewanne zu sehen sind bzw. die Lee Miller aus der Wohnung Hitlers mitnahm: so zum Beispiel ein Handtuch mit den eingestickten Initialen A.H., einen Parfumflakon und Eva Brauns Puderdose – also nicht Koks, sondern Schminke. Was um alles in der Welt ist an dieser doch eher banalen Inszenierung von Objekten so interessant? Zum einen korrespondieren in dieser Anordnung ein Kunst- und ein Objektbegriff miteinander. Es gibt Abbilder und es gibt präsentierte „Originale“, die, wie das Bild des geliebten Führers oder der Parfumflakon aus dem Bad, mit einer (freilich eigenwilligen) Aura behaftet sind. Diese Zwischenstellung eines Dings, das in einer bestimmten Form eben doch auch Kunstwerk ist, weil es auf der Documenta ausgestellt wird und nicht bloß als Alltagsobjekt oder als biographie-historisch interessanter Gegenstand fungiert, weist auf das Prekäre, das Fragile von Wahrnehmung. Sie fügt sich den Interpretationsmustern und den Referenzrahmen und setzt zugleich ein Mehr frei: Interpretationswelten. Kunst ist konzeptuell, dies führt Christov-Barkargiev auf dieser Documenta vielfältig vor, und zugleich mehr als bloßes Spiel der Gedanken oder Konzeptkunst: sie ist sinnlich in einer Weise von Aisthesis. (Wenngleich einige der auf der Documenta dargebotenen Kunstwerke es mit der Sinnlichkeit doch arg übertrieben.)

[Hinzuweisen bleibt, daß es verboten war, diesen Komplex Lee Miller/Man Ray zu photographieren, was ich zuerst als ärgerlich empfand, aber dann doch als passend reflektierte: die Kette der Bilder bricht mit einem Male ab. Wobei ich andererseits gegenüber solchen Akten der Zensur allergisch reagiere.]

Ebenso verweisen auch andere Objekte in dieser Rotunde auf die Brüchigkeiten, die in vielfältiger Hinsicht Welt und Subjekte durchziehen: seien es die Muster unserer Wahrnehmungen, die fragil sind, unserer Weisen der Orientierung (L. Weiners Text von der Mitte, der auf jener die Rotunde abtrennenden Glasscheibe steht) und unseres Zeitsinns (Das Metronom von Man Ray); die Ordnung einer bestimmten Gesellschaftsformation kann vielfältig zerstört werden: vom Krieg (jene in der Rotunde präsentierten „Objekte die im libanesischen Bürgerkrieg beschädigt wurden“, eine Ansammlung von geschmolzenem Schrott, für die das Wort „beschädigt“ einen feingewählter Euphemismus abgibt) bis hin zur Revolution, die eine neue alte Ordnung installiert. (Hierzu schaue man sich etwa die Videosequenzen von den Aufständen in Kairo an.)

Ich schreibe zu jenem legendären Ready Made „Object of Destruction“ (dem Metronom) von Man Ray mehr in einem nächsten Teil, der jedoch mit zeitlicher Verzögerung folgen wird, weil ich zunächst über zwei weitere Ausstellungen schreiben muß: einmal in Hamburg die Photographieausstellung „Lost Places“ und dann in Berlin im Martin Gropius-Bau präsentierten Photographien von der großartigen Diane Arbus, wo ich jetzt schon allen Leserinnen und Lesern zurufen will: hingehen und ansehen! Es wird Sie nicht reuen!

Gesamtkunstwerk documenta oder All Along the Watchtower. Texte zur documenta (2)

Wer das Fridericianum betritt, der gelangt zuerst in weiße Räume, durch die eine kühle Brise weht. White Cube und Bewegung der Luft, das ergibt immer eine gute Kombination. Es soll diese Art des Gebläses wohl den Wind darstellen, der den Kopf freimacht. Zugleich birgt die Binnenzirkulation von Raumluft jedoch die Gefahr, daß sich Viren verbreiten. Auch eine schöne Metapher für die Kunst. Die vielfältigen Weisen viraler Invasion bilden die Kriegsform der Post-Postmoderne. Und so weht der Wind. Dazu eingespielt eine Geräuschkulisse. Ganz lustig, wenn man so etwas mag. Als (Sinn-)Bild freilich eher dünn. Aber wie man es macht, so macht man es im Auftakt falsch. Ich hatte meine Englandjacke an der Garderobe freiwillig abgegeben und die Umhängetasche abgeben müssen. Fröstelnd ging ich ohne Jacke weiter. Andererseits enthält der Anfang an sich bereits den Gang des Denkens, die Bewegung des Begriffs in sich, folgt man Hegels „Wissenschaft der Logik“.

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X Hier trägt einen sogleich die Kette der Assoziationen fort: Kunst verweist auf Kunst und Kunst bringt die Selbstreferenz der Kunst als sequenzielle Wiederholung ins Bild. Einen solchen Zusammenhang stiftet diese documenta – pars pro toto – mit einer kleinen, witzigen Anordnung, die eine Referenz an die Vergangenheit darstellt. Sie befindet sich im rechten Raum des Erdgeschoß-white cubes. Einmal stehen dort die drei kleinen Skulpturen von Julio Gonzáles, welche bereits auf der 2. documenta 1959 gezeigt wurden (sozusagen die Kunst der gealterten Moderne), und es ist eine Photographie zu sehen (ebenfalls der Kunst der gealterten Moderne angehörend), auf der eine Betrachterin und ein Betrachter in ganz unterschiedlicher Weise sich diesen Objekten nähern. Kunst ist in Kunst als Photographie gebannt. Die Photographie ordnet und sistiert diese zwei doch sehr verschiedenen Weisen der Rezeption: ein distanzierter und wahrscheinlich sehr reflektierter Mann sowie eine barfüßige Frau, die sich die Hand an das Kinn hält: vor Erstaunen, vor Schreck: das ist schwierig zu sagen. Sowieso taugt die Photographie nur bedingt zur soziologischen Analyse – allenfalls in einem Verfahren der Qualitativen Sozialforschung, das Raum für Assoziationen und unwillkürliche Verknüpfungen läßt, mag das gehen. Das Bild wurde von einem unbekannten Photographen: wie sagen wir kriegslüsternd: geschossen; man fand es im documenta-Archiv. Die Idee, innerhalb dieses White Cubes samt seinem Breath of the cool ein solches Spiel mit der Vergangenheit zu treiben, ist gewitzt, zumal Betrachterinnen und Betrachter in dieses Spiegelspiel von Bildlichkeit einbezogen sind – es kann das Photo des Photos vom Photo gefertigt werden, und es erinnert diese Anordnung zudem ein wenig an die Museums-Photographien von Thomas Struth. Dieses Werk zeigt im Zusammenspiel mit dem Wind innerhalb dieses White Cubes, daß Kunst keine Konserve ist: das Bild oder das klassische Werk der Spätmoderne haben sich transformiert. Von der Kälte getrieben geht es weiter im Gang durch die Kunst, und zwar, wie es der folgsame und ordnungsgemäße Besucher macht, hin zum Zentrum, das kein Zentrum ist: Die Rotunde im Fridericianum (sehr unglücklich, sehr subjektzentriert als „Brain“ bezeichnet), welche, laut Christov-Bakargiev, als Ort der Verknüpfungen und der Synapsen funktioniert. Es ist ein durch eine Glasscheibe von den übrigen Ausstellungsräumen abgezirkelter Ort. Auf dieser Glasscheibe eingeschrieben, die als Trenn- und Demarkationslinie fungiert, steht ein Satz des Konzeptkünstlers Lawrence Weiner: THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE. Direkt und nicht spiegelbildlich lesbar, wenn man sich innerhalb dieser Rotunde befindet oder von oben von der Galerie darauf herabschaut. Und auch von diesem Galerieplatz aus kann man die Betrachter der Kunst beim Betrachten sich ansehen. Die Mitte der Mitte ist nicht das Zentrum, sondern ein möglicher Ort unter vielen. Die documenta ist zugleich ein Ort der Beobachtung zweiter Ordnung. Es ist eine Frage des Blickes, fast möchte ich schreiben einer im Sinne Nietzsches konzipierten Perspektivität, wie die Kunst im Stadium ihres Ablebens in den Blick fällt. Du mußt nicht mehr die Laufrichtung, sondern vielmehr die Blickrichtung ändern, so könnte die Grinsekatze bei „Alice“ antworten. Aber der Standort ist eben am Ende hin doch nicht relativ, sondern in den Systemen und den Registern der Wahrheit verortet und lokalisiert. Es gibt in der Ordnung des Diskurses kein Draußen, kein anderes des Diskurses. Die Wahrheit der Kunst gründet sich nicht in den Perspektiven oder in den Resonanzformen.   Die Rotunde selbst funktioniert zugleich nach dem ökonomischen Prinzip der Verknappung, mithin auf eine marktwirtschaftlichen Weise von Angebot und Nachfrage. Es können aufgrund des beengten Raumes nicht mehr als 50 Personen diesen Bezirk betreten, um zu schauen. So bildet sich eine Schlange, die in schlechten Zeiten über mehrere Etagen sich streckt. Alle wollen sehen und warten darauf, sehen zu dürfen. Diese sogenannte Zentrale oder Organisationseinheit, als Vielfalt gedacht, präsentiert ganz unterschiedliche Objekte: Kunstwerke, Gebrauchsgegenstände, Photographien, einen Film, ein ethnologisches Objekt, und zwar die sogenannten „Baktrischen Prinzessinnen“ (auch „Gestreckte Prinzessinnen“). Schrieben wir Texte über Kunstwerke von unserer bloßen Subjektivität her, dann könnte einer beim Anblick dieser faszinierenden Objekte womöglich ausrufen: „Prima, Frauen ohne Beine – Frauen, die nicht fortlaufen können!“ Dem subjektiven, mithin dem beliebigen Blick gerät es, wie es ihm gerade gefällt: Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall, wie es so schön heißt. Das paßt ein wenig auch zur documenta selbst. Es ist ein Treiben und Flanieren zwischen den Unterschieden. Insofern bleibt die Frage berechtigt, ob eine solche Form, Werke zu präsentieren, noch zeitgemäß ist. Die documenta folgt dem bürgerlichen Diktum. Aber es ist als Gegenausstellung zugleich keine Alternative, das Happening zur Kunst zu erheben, sowie es bei der diesjährigen Berlin Biennale inszeniert wurde, nämlich ein Occupy-Camp als Gleitcreme zwischen Kunst und Politik, sozusagen zoon-politikon-mäßig auszustellen. Die documenta 13 macht das dann etwas halbherziger über die Aktionen von „And And And“, u. a. ganz hinten am Südbahnhof, da wo es über die Gleise geht, jene Gleise, die bereits bei der (sehr politischen) documenta 10 bedeutsam waren. Weiterhin siedelt ein Occupy-Camp vor dem Fridericianum. Diese Figuren der „Baktrischen Prinzessinnen“ fallen aus der Zeit, sie fallen auch aus der Zeit der Kunst als bürgerlicher, die sich ihre Autonomie von der Religion und von jedem äußeren Zwang fürstlicher Willkür verschaffte. Die „Baktrischen Prinzessinnen“ stammen aus dem zweiten Jahrtausend v. Chr. und verweisen auf eine Region, in der einst eine Hochkultur ihren Platz hatte: Baktrien, zu dem auch Teile Afghanistans gehörten, und ich schrieb es: Afghanistans bzw. Kabul nimmt in dieser documenta eine wichtige Rolle ein. Soweit so gut. Aber dann biege ich um die Ecke und sehe die Photographien von Lee Miller, wie sie in der Badewanne von Hitler in seiner Münchener Wohnung sitzt. Aber bevor ich darauf eingehe und im nächsten Teil etwas zur Konstellation Lee Miller und Man Ray schreibe sowie einige Worte zu Lee Miller (1907-1977) verliere, noch ein paar Bemerkungen zur documenta selbst. Zentraler Topos der documenta 13 sind die Räume und Plätze, die sich mit Geschichte, mit Biographie mit dem Moment des Subjektiven und der historischen Notwendigkeit aufladen. Vielfältig präsentiert sich Afghanistan als Nicht-Ort. Dieser Bezug zu Afghanistans zeigt sich etwa an Mariam Ghanis Film (außerhalb der Rotunde) über zwei zerstörte und wieder aufgebaute Orte, denen vielfältige symbolische Bedeutung zukommt: sei es im Sinne politischer Identität oder aber als kulturelles Kapitel: Das nach dem 2. Weltkrieg wiederaufgebaute Fridericianum und der zerstörte Darul-Aman-Palast in Kabul, der wieder aufgebaut werden soll. Dieser Film spielt mit den Ebenen, stellt die Geschichte dieser beiden Gebäude dar und es durchdringen sich zwei sehr unterschiedliche Orte, die mit einem Male Gemeinsamkeiten aufweisen. Ghani präsentiert ein (Film-)Objekt, an dem sich der Blick löst, indem er in Regionen schweift, von denen das Denken und Sehen selten Notiz nimmt. Allenfalls als ein Land, wo Hochzeitsgesellschaften und Zivilisten in den Tod gebombt werden. Aber läßt sich ein Raum wie diese Rotunde überhaupt anders als durch den Blick eines flanierenden, betrachtenden, in sich gekehrten Subjekts wahrnehmen? Teils, teils: Die Kraft zur Subjektivität ist Anlaß, aber nicht Abschluß. Es stellt sich nicht einmal die Frage, ob es sich bei diesen Objekten wie den „Baktrischen Prinzessinnen“, die ein Hybrid aus Kunstwerk und kultischem Gegenstand sind, überhaupt um etwas handelt, dessen Bedeutung wir lesen oder sehen könnten. Die Kunst schwingt in den Mühlen der Zufälligkeit, der Kontingenz von Lebenswelten und der unwillkürlichen Bezüge. Alles ist möglich, alles kann auch ganz anders ausfallen. Doch ist das, was zunächt als relativ und kontingent erscheint, kein Grund, in den unreflektierten oder in den fröhlichen Relativismus zu verfallen. Andererseits geht es in einem ersten Anlauf nicht anders als im Modus der Pluralität, bei einer documenta, die derart viel Unterschiedliches zeigt. Daran hat die ästhetische Kritik ihre Arbeit. Wollte man es mit zwei Namen aus der Philosophie ausdrücken bzw. mit zwei Prinzipien benennen, so lauteten diese Namen Hegel und Nietzsche. Und so beginnt der Flug der Eule erst in der Dämmerung, wenn eine Gestalt des Lebens gealtert ist. Solange am Ende der Betrachtungen und des Fluges nicht Ästhetikschmonzes der Halbbildung herauskommt wie: In der Kunst erfahren wir uns selbst und das andere davon. Im dritten Teil der Schau geht es weiter durch die Rotunde.

Documenta scheiße, Sex geil! Wilde Nächte in Kassel – Texte zur documenta (Part 1)

Sind die dick, Mann, Kai!: Aisthesis goes „Bild“X

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Tja, als wärst Du dabei, Kai. So ist das nun mal mit den Headlines: wenn die Kunst umfassend wird und ein ubiquitärer Begriff derselben um sich greift. Da gerät dann alles in den Bann der Kunst: jede (im wahrsten Sinne des Wortes) „Regung“. Soziale Plastik, so scheint es mir, gibt einen guten Begriff für die ausgedehnte lustvolle Praktik ab, wenn sich sinnlicher Alltag und die Kunst entgrenzen. Aber lang ist (leider) das Leben und kurz nur die Kunst, insofern zurück zur Ästhetik.

Nachdem ich seit bald zwei Wochen Texte zur documenta versprochen habe, folgt nun endlich etwas. Ich stellte mir beim Betrachten die Frage, ob das Konzept der documenta überhaupt noch zeitgemäß ist. Es resultiert aus den 50er Jahren, als der Begriff der Avantgarde sich zu den Avantgarden wandelte, als es im mit dem „avanciertesten ästhetischen Material“ (Adorno) schwieriger wurde und als die Kunst in eine Phase der Pluralität eintrat, die am Ende und als Konsequenz diese herkömmliche Kunst zum Verschwinden brachte. Insbesondere ging es der ersten documenta von 1955 darum, die nachzuholende Moderne ins Bild und ins Bewußtsein der aufstrebenden BRD zu bringen – die Vielfalt einer modernen Kunst zu präsentieren, die aus unerfindlichen Gründen eine lange Zeit von der Bildfläche in Deutschland verschwand.

Seit über dreißig Jahren jedoch registrieren wir, um mit einem Aufsatztitel von Peter Bürger zu sprechen, das „Altern der Moderne“. Es befällt uns Unbehagen: Alles schon einmal irgendwie gesehen, dagewesen und es zeigt sich in der Bildenden Kunst ausgesprochen wenig Innovatives. Es bröckelt und kriselt an allen Enden. Der Besucher läuft mit abgeklärtem Kopfnicken oder -schütteln durch die diversen Ausstellungen. Und insofern konditionieren sich Betrachterin und Betrachter mittlerweile eher rezeptionsästhetisch: das Kunstwerk wird als Stimulans begriffen, soll sinnliches Vergnügen bereiten, die Besucherinnen und Besucher anspringen.

Die documenta (13) bietet einige Kunstwerke, die auf der Ebene vielfältiger Rezeption und über das Vorstellungsvermögen funktionieren, so wie etwa in der Karlsaue die Geräusche des Waldes von Jane Cardiff/George Bures „for a thousend years“. Die Spaziergänger der Karlsaue können sich in einem abgezirkelten Waldgebiet hinsetzen und einer Audiokomposition zuhören, in der verschiedene Geräusche, die mit dem Wald zu tun haben, dargeboten werden: Mehr als dreißig in der Naturszenerie plazierte Lautsprecher produzieren eine ungewöhnliche Klangcollage: Umfallende Bäume, Stürme, Kriegsgeräusch, dumpfes Atmen, sphärisch-kitschige Gesänge, Tiere des Waldes.

Wer will, kann sich in der Karlsaue die verschiedenen Sorten Mangold anschauen, und zwar von Christian Philipp Müller „Die Mangoldfähre (Der Russe kommt nicht mehr über die Fulda)“, indem der Betrachter über einen Ponton schreitet, auf dem Saatkästen ausgestellt sind, in denen verschiedene Arten von Mangold gepflanzt sind. Da kriegen die Besucher Hunger. Wie schon geschrieben: Die Reflexion kann sich an allem entzünden, und wer es mit der Natur hält, der schlendert weiter durch die Karlsaue oder begibt sich ins Ottoneum. Das Verhältnis von Natur und Subjekt ist zumindest eines der Themen der documenta. Auch ein Blutgerüst lädt zum Klettern und Betrachten ein: Sam Durant (Gallows Composite), gut plaziert auf einer der für den Englischen Park so wichtigen Sichtachsen.

Gibt es, was das Konzept dieser documenta betrifft, Verbindungslinien, Zusammenhänge, so wie Carolyn Christov-Bakargiev es in bezug auf die verschiedenen Orte und ihre Konnotationen im Katalogtext feststellt? Es sollen (auch) Plätze und Bereiche zum Austragungsort einer documenta werden, die sich entziehen und die die wenigsten je erreichen werden. Präsenz konzipiert sich als Nicht-Präsenz. Eines der Themen dieser documenta ist – damit korrespondierend – Zerstörung und Aufbau, weshalb Kabul als paradigmatischer Ort ausgewählt wurde, der zur documenta gehört. Verschiedene ausgestellte Werke auf der documenta befassen sich mit dem Aufbau und der Zerstörung von Dingen, so etwa im Fridericianum das Projekt „The Repair from Occident to Extra-Occidental Cultures“ von Kadar Attia, indem er den westlich-kolonialen Blick auf Afrika, die Reparaturarbeiten an Afrikanischen (Ritual-)Gegenständen wie Masken und Fetischen sowie die Operationstechniken an und die Wiederherstellungsmöglichkeiten von Kriegsversehrten nach dem Ersten Weltkrieg in eine Anordnung von Objekten bringt, zu denen es eine Diaschau gibt. Er beschreibt dies als „kulturelle Rückaneignung“. Insbesondere die deutlich sichtbaren Spuren der Reparatur an diesen afrikanischen Objekten verliehen diesen Dingen einen eigenwilligen Status, der zwischen Kunst, Kolonialismus, Fetisch und Fragmentierung changiert. Mit diesen Objekten werden in jener Diaschau Bilder von Kriegsoperierten in Korrespondenz gesetzt.

Immerhin und das wurde ziemlich vergessen: dieser Erste Weltkrieg tobte auch in Afrika auf dem Boden der ehemaligen Kolonien. Überhaupt ist diese documenta international, es läßt sich nicht sagen, daß die Perspektive der Schau sich auf eine bestimmte Form von Kunst oder eine bestimmte Region fokussiert.

Eine große Rolle spielen zudem die Aufstände in der arabischen Welt: so zeigt Rabih Mroué in seiner Arbeit „Pixelated Revolution“ Handyfilm-Sequenzen von Menschen, die in Syrien ihre eigene Erschießung filmten. Eine sehr eigenwillige Arbeit, und die sich daran anschließenden, in einem Film gezeigten Reflexionen des Künstlers zu den Weisen des Blickes, dem anonymen Gesicht des Todesschützen, das sich in der Projektion auf eine weiße Leinwand immer mehr ins Nichts auflöst, sind gewöhnungsbedürftig. Diese Präsentation hat allein aufgrund des Sujets etwas Verstörendes. Die Frage, ob eine solche kunsttheoretisch-poltisch-ästhetische Reflexion angesichts des realen Todes von Menschen erlaubt sei, schießt einem natürlich sofort durch den Kopf. Aber das Wesen eines Kunstwerkes sollte es sein, das Denken in eine andere Bahn zu bringen. Die Achsen des Blickes, der Gewehrlauf, die Kamera, der eigene Tod: nicht anders als in Chile 1973, wo der argentinischen Kameramanns Leonardo Henrickson seine eigene Ermordung filmte. Zur Verklärung und zur Ästhetisierung taugen diese Dinge nicht, wohl aber zur Reflexion.

Soviel sei als eine erste Sichtung gegeben.

Im zweiten Teil meiner Serie schreibe ich ein wenig über das „Zentrum“ der documenta, das Christov-Bakargiev mit dem etwas eigenwilligen Titel „The brain“ belegt, wo sich die Verbindungslinien bündeln bzw. wo sich die mehr oder weniger rhizomartigen Verzweigungen hin zu den verschiedenen Austellungsobjekten der documenta öffnen. In diesem sogenannten „Brain“, das sich in der Rotunde des Fridericianums befindet, gibt es vor allem das großartige Arrangement um die Photographin Lee Miller zu sehen. Und wir verraten es schon einmal vorab, aber psst nicht weitersagen: Es exponieren sich da auch Devotionalien und Gegenstände aus dem Badezimmer von Hitlers Wohnung in München und dazu mit dem Datum 30.4.1945 verknüpfte Bild/Objekt-Korrespondenzen. Und die Assoziationskette Liebe, Tod, Verstrickungen, Fragmente manifestiert sich ziemlich gekonnt in Man Rays Ready Made des Metronoms, an dem das ausgeschnittene Auge von Man Rays Geliebter befestigt ist: Eben Lee Miller. Zu ihr mehr im zweiten Teil. Neben Geoffrey Farmers genialem „Leaves of Grass“ (wird ebenfalls besprochen), Thomas Bayrles Autobahnfragmentfilm sowie seinen kynetischen Objekten, die in technisch-funktionaler Weise Gebete reproduzieren – er bekam dafür den Arnold Bode-Preis der documenta 13)

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halte ich jenes begehbare Haus-Objekt am Nordbahnhof, das Haris Epaminoda und Daniel Gustav Cramer schufen, für ästhetisch gelungen. Ein Raum der Erinnerungen, der mit der Phantasie und den Möglichkeiten zur ausschweifenden Imagination spielt. Fast wie ein Spukhaus, fast wie Bates Motel in „Psycho“, in dem sich der Betrachter gut und gerne verlieren kann. Assoziationen zur Perspektive und zur Melancholie gleichermaßen sind erlaubt, ja fast würde ich sagen: erwünscht. Jene Kugeln auf dem Dachboden, als geometrisches Objekt weckt den Anklang an Dürers Stich, und zugleich ist das nur einer von vielen Bezügen, die sich einstellen.

Nachtrag: Den Titel dieses Beitrages, das will ich nicht verschweigen, der stammt so nicht ganz von mir, sondern es half mir der Nörgler ein wenig auf die Sprünge.

Kassel – Hymne auf eine mittelwestdeutsche Stadt

Reisen als eine Art der Kunst betrachtet: Wenn einem nichts mehr bleibt, verklären sich die kläglichen Handlungen und die Lebensvollzüge in einem Akt der Ästhetik. Ich reise für ein Wochenende zur documenta. Der ICE fährt vom Berliner Hauptbahnhof bereits um 6 Uhr 30 ab. Ich unternehme diese Fahrt entgegen meiner geliebten und gehegten Gewohnheit nicht mit dem Auto. Nebel liegt über den Wiesen und Wäldern vor Berlin. Die Sonne durchbricht ihn. Ihr schlaftrunkener Blick, ihr sommerlanges blondes Haar. The boys and the girls. Wolfsburg, der Zug hält in Wolfsburg. Etwas Traurigeres kann es nicht geben. Die Imaginationen, die ein Ort hervorrufen kann, an den sich die Korrespondenzen knüpfen. „Du richtest Dich in einem grausigen Spukschloß ein!“, so sagte eine Freundin zu mir. Sie hat recht. Ich bin der Spezialist für Einrichtungsgegenstände, Abteilung Innendekor. Schlittschuhlaufen bei den Allerwiesen, verzaubert eingefroren, die Erlen- und Birkenwälder. Ich versuchte, es in die Vorstellung zu bringen. Das Naturschöne und das Subjekt. In Kassel wird es uns in der Karlsaue in Form von Kunstwerken begegnen. Das Naturschöne – vom Subjekt konstruiert, überformt, erzeugt. Und so schweifen die Erinnerungen ab.

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Wer aber meint, daß es im Zug – anders als beim Autofahren – ruhig und gemächlich zuginge, daß man sich während einer solchen Fahrt durch die Landschaft ungestört seinen Gedanken oder der FAZ hingeben könnte, der irrt. Es reicht ein einziger verblödeter, ewig quengelnder vierjähriger Junge mit einer furchtbaren Mutter aus, um sich auf gar nichts mehr konzentrieren zu können. Schreien, heulen, zetern, maulen, kichern, brabbeln – das ganze Repertoire eines Rotzblags, von der Mutter immer nur kurz eingeworfen: „Nun sei doch mal ruhig!“ Mit einer Stimme, einer Stimmlage, spandauerisch gehaucht, in der das Kind mitnichten still sein wird. Ich bin ein großer Anhänger von König Herodes I samt seiner Methodeneffizienz. Dann endlich, als es auch der Mutter reicht, wird energischer geschimpft. Und nun heult das Rotzblag erst richtig laut, ruft, daß es zu Papa wolle. Könnte man jetzt nicht einfach und ganz nonchalant dem Kind entgegnen: „Papa ist in Afghanistan für das Vaterland gefallen! Er kommt nicht mehr.“? Das Kind verfiele zumindest für Sekunden in eine Mucksmäuschenstille. Die Tricks der Phantasie und des Imaginären helfen jedoch wenig. Das Schreien des halslosen blonden Ungeheuers endet nicht: „Ich will zu Papaaaaa!“ Nach einer Weile stehe ich auf und setze mich um. Eine Frau, die eine Reihe hinter dem Kind tapfer harrt, lächelt mir zu, wir hatten beide den gleichen Gedanken, für Sekunden, und das legte sich als Lächeln auf unsere Lippen. Ich schaute in ihre Augen und auf ihren Mund, um zu sehen, ob da bei mir etwas funkte. Nichts.

Ich esse Himbeeren. Aber nicht so wie Gustav von Aschenbach in Viscontis „Der Tod in Venedig“ am Strand die legendäre Erdbeere verzehrt. Jedoch, auch ich trage eine beigefarbene Hose, allerdings eine Jeans von Levi’s, keinen hellen Anzug, und ein schwarzes Hemd von Joop. Nach drei Stunden Fahrt erreiche ich Kassel-Wilhelmshöhe.

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Werktätige hatten unter Anweisung Höhergestellter diesen Bahnhof weit von Kassels Zentrum entfernt gebaut, denn Kassel – das war vermutlich die Devise der modernen Sozialdemokratie-Technokraten – muß märchenhaft abseits liegen, unerreichbar für den gewöhnlichen Reisenden, der mit dieser Stadt nicht weiter behelligt werden soll, denn die Geheimnisse von Kassel ergründen sich nun einmal nicht im Vorbeifahren oder gar dem flüchtigen Blick des umsteigenden Reisenden, und um dieses Refugium namens Kassel zu bewahren und nicht den begierigen Blicken preiszugeben, errichteten die sozialdemokratisch wählenden Arbeiter einen Bahnhof – weit von der Stadt entfernt. Es ist für Kassel der Flaneur gefragt. Von Wilhelmshöhe schaukelt die Regionalbahn in die Stadt hinein.

Ja, Kassel ist eine Reise wert. Mehr als nur alle fünf Jahre. Ich steige aus dem Zug, sehe den Bahnhofsvorplatz, drehe mich um und da liegt der Hauptbahnhof in meinem Rücken. Jenes Gebäude mit dem aus der Zeit gefallenen Charme des Abgelebten. Vor mir bilden das „Spiel Casino Kassel“, die „Stern Apotheke“ samt der Fassade eines Hauses, auf dem als Hinweis oder als Werbung „Medicum“ mirakelt, eine Wand. Und in der Bahnhofshalle selber sieht es (fast) noch so aus, wie früher einmal die Bahnhofshallen waren, lediglich die zwei oder drei sich darin befindenden Geschäfte sind den heutigen Standards angepaßt. Es kann im Bahnhof sogar ein Café existieren und womöglich gedeihen, das nicht zu einer Kette gehört. Allerdings links daneben: Burger King. Und auch auf dem Weg zu meinem Hotel betrachte ich Gebäude, die mir in ihrer unprätentiösen Art und Bauweise gefallen. Ich bin sofort begeistert, und ich mag diese Stadt. Wer sich für die Architektur der 50er, 60er oder 70er Jahre interessiert, der ist in Kassel gut aufgehoben. Es prägen keine Fachwerkhäuser das Stadtbild, oder ein irgendwie kenntliches Zentrum hübscht als Angebot zur heimatlichen Identifikation die Funktionalität des angestellten Daseins auf. Nur wenig postmoderner Schnickschnack existiert. Lediglich die Passage am Königsplatz, welche den witzigen Namen „City Point Kassel“ trägt, zeigt die Anmutungen und baulichen Reize der Zweiten Moderne. Ansonsten gibt es eine Einkaufszeile namens „Obere Königsstaße“ mit den üblichen Geschäften, die sich in jeder Stadt befinden und einige Einkaufspassagen, die mir in die Jahre gekommen erscheinen. Die Menschen in Kassel agieren oder besser reagieren allesamt ausgesprochen träge und behäbig. Einkäufe und Bestellungen in Restaurants gestalten sich sehr mühsam und langwierig. Der Kasseler ist schnell überfordert, aber dabei doch freundlich. Der Bibelsatz aus dem Prediger Salomo wird in Kassel von den Eingeborenen ausgesprochen wörtlich genommen: Alles hat seine Zeit.

Wer abseits der üblichen Geschäfts-, Handels- und Verkehrswelt den Zauber von Kassel erfahren will, der muß ein wenig  schlendern und vom Weg abkommen. Dort erschöpft sich der Blick in der Fülle, verliert sich im Detail – eine Welt, die in sich ruht, von der keiner etwas will, die niemand mag, die einfach nur da ist, unabänderlich, unveränderlich. Für Kassel lohnt sich nicht einmal die monetäre Investition ins sagenhafte Betongold, um der klassischen Moderne sowie der aufs Funktionale reduzierten Bauweise zu entkommen. Hier ein postmodernes Erkerchen, da eine Glasfassade. Nichts dergleichen. Kassel ist eine metaphysische Stadt. Verlassene Orte, wie ich sie liebe. Was Turin für Giorgio de Chirico, das ist Kassel für mich, und so bringe ich – freilich mit leichten kunstgeschichtlichen Abwandlungen – in Kassel die Pittura metafisica als Photographien ins Bild. Ja, diese Stadt ist eine Lebenseinstellung. Und vor der Kunst(betrachtung) sowie der ästhetischen Kritik kommt die Umgebung, kommt die Phänomenologie des Urbanen. Leserinnen und Leser mögen voll Gier auf meinen Bericht zur documenta drängen, aber wie heißt es bereits bei Max Horkheimer: „Wer von Kassel nicht reden will, der möge auch von der documenta schweige!“ Im Laufe der Woche wird es dann aber eine erste Sichtung und Kritik dieser Großkunstschau geben. Zuerst jedoch muß ich die Ergebnisse eines Flaneurs in Kassel präsentieren. Es folgt morgen ein zweiter und letzter Teil. Die Bilder stehen in der Reihenfolge, in der sie aufgenommen wurden. Ich hätte die Anordnung ändern können. Aber ich denke, daß jenes Gelb der Zitrone zum Anfang und das Gelb des documenta-Aufstellschildes am Schluß der Serie eine dennoch lesbare Korrespondenz ergibt, auch ohne das eine Bild an das andere zu koppel, indem ich sie nebeneinander setzte. Es verhält sich bei diesen Photographien mit dem Zusammenhang der Verweisungen nicht anders als bei der documenta, wo zahlreiche Linien und Bezüge sich kreuzen und bestimmte Themen anspielen – um hier eine erste kleine Geste in die Richtung  jener Großausstellung hin zu unternehmen.

documenta diary – Modelle zu einer Theorie der ästhetischen Reproduktion – (1)

Fein alliteriert, denke ich mir. Doch auch diesen Titel vor der Parenthese gibt es bereits. Alles ist erleuchtet, alles ist assoziiert, gestohlen und in den Raum der Beliebigkeit gestellt. Auch die Kunst oder das, was von ihr noch blieb. Die Bildende Kunst ist an ihr Ende gekommen, ich wiederhole mich da, sie kreist selbstreferentiell in sich und bedient zumeist das System „Kunst“, welches Niklas Luhmann in seinem Werk „Die Kunst der Gesellschaft“ systemtheoretisch und mit dem Blick des kalten Positivisten analysierte: Wie funktioniert Kunst? Und nicht: Was ist die Wahrheit der Kunst? Worin liegt die Wahrheit eines Gemachten? – was bisher die zentrale Frage aller Ästhetik bildete. Für diese kalte Sicht bewundere ich Luhmann, wenngleich er den (Kierkegaardschen) Ästhetiker verstören muß, beraubt dieser Blick doch der Lust- und Flanier(t)räume. Insofern mäandert der Text des Ästhetikers, wenn es gut läuft, zwischen der Ästhetischen Theorie Adornos, die den Anspruch auf die Wahrheit eines Kunstwerkes emphatisch verteidigt, und Luhmanns kaltem Seziermesser funktionaler Theorie, dem es um die Kunst als ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium geht, wenngleich Luhmann in bezug auf Kunst nicht direkt davon schreibt.

Die diesjährige 13. documenta leitet Carolyn Christov-Bakargiev, und wenn ich im Katalog den Ankündigungstext von ihr lese, so befällt mich der Verdacht, diese Sätze könnten auch aus dem Versandkatalog eines Esoterik-Kaufhauses stammen:

„Die dOCUMENTA (13) widmet sich der künstlerischen Forschung und Formen der Einbildungskraft, die Engagement, Materie, Dinge, Verkörperung und tätiges Leben in Verbindung mit Theorie untersuchen, ohne sich dieser jedoch unterzuordnen. Dabei handelt es sich um Gebiete, in denen Politisches untrennbar ist von einem sinnlichen, energetischen und weltgewandten Bündnis zwischen der aktuellen Forschung auf verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Feldern und anderen, historischen ebenso wie zeitgenössischen Erkenntnissen. Die dOCUMENTA (13) wird von einer ganzheitlichen und nichtlogozentrischen Vision angetrieben, die dem beharrlichen Glauben an wirtschaftliches Wachstum skeptisch gegenübersteht. Diese Vision teilt und respektiert die Formen und Praktiken des Wissens aller belebten und unbelebten Produzenten der Welt, Menschen inbegriffen.“

Gut gemeint und gut gemacht differieren oft erheblich und ich nenne gerne und wiederhole diesen zu Tode zitierten Satz aus der Suppenküche des Wirtschaftsdarwinismus: das Gute ist der Feind des Besseren. Was aber Quatsch ist, denn in einer aporetischen Situation existiert kein Besseres, sondern einzig der Modus der bestimmten Negation und der Kritik. So auch in der Ästhetik und in der ästhetischen Theorie. Dieser Aspekt motivierte die Überschrift zu diesem Text, und sie ist sehr an jene These vom Ende der Kunst gekoppelt.

documenta goes fair trade art. Aber warum nicht? Lassen wir uns doch überraschen, was in Kassel ausgestellt und in eine Anordnung gebracht wird. Allerdings interessierte es mich brennend, wie „die Formen und Praktiken des Wissens“ jener „unbelebten Produzenten der Welt“ vorzustellen seien und wie dieses Wissen sich äußern mag. Wird es auf der documenta Seminare geben „Ich spreche mit den Steinen und höre ihnen zu“? Und nachts: „Die Steine feiern jetzt ein Fest und Du bist eingeladen. Für nur Fünfundzwanzig Euro achtzig – zzgl. Vorverkaufsgebühr!“? Weiterhin nicht ohne Witz bleiben die „ganzheitlichen Visionen“ – ohne jetzt den vielzitierten Satz von Helmut Schmidt zu bemühen. Vielleicht stellen die sich ein, wenn ich in der Karlsaue von Hildegard Bingeschen Kräutern oder aus dem Blumenbeet jener Künstlerin nasche, deren Name mir entfallen ist, oder wenn ich ein Wässerchen aus dem Aueteich süffele. Wobei ich nichts gegen Hildegard von Bingen gesagt haben will, denn die kann nichts für ihre ganzheitlich-emphatiegesättigten Liebhaberinnen und Liebhaber rund 900 Jahre später. Schlimm an diesen Dingen ist nicht das, worauf sich berufen wird, sondern dieser unreflektierte Jargon, welcher sich mit Kunst verquickt.

Richtig ist es jedoch, Kunst nicht der Theorie unterzuordnen und sie ins Joch zu zwängen, denn jene existiert nicht um dieser willen. (Freilich bedeutet das keine allzu neue Erkenntnis.) Bildende Kunst zeigt den Überschuß des Sinnlichen, liefert Formen von Wahrnehmung und Weisen des Ausdrucks, die das Diskursive übersteigen. Kunst läuft in einem anderen Kommunikationsmedium. Ihr Film spielt nicht zeitgleich zur Theorie und arbeitet mit anderen Mitteln. Aber zugleich gibt es keinen anderen Modus, um über Kunst nachzudenken und zu schreiben, als Essay, Text, Schrift und damit eben: Theorie und Wissen. Kein Konzept zu haben, wie Christov-Bakargiev es für die documenta proklamiert, bedeutet keine „Form des Widerstands gegen den Wissenskapitalismus“ wie sie es in einem Interview in der taz sagte, sondern ist entweder ein Kokettieren oder aber Kapitulation einer Kuratorin.

Die Regungen, die somatischen Impulse, das Moment des Anspringens durch ein Werk bleiben als solche und unmittelbar in ihrer physischen Weise genommen stumm. Die Kraft der Sprache und die des Ausdrucks im Kunstwerk korrespondieren. Nicht anders als im Werks selbst in bezug auf Inhalt und Form: ästhetische Form ist sedimentierter Inhalt. Kurz, thesenhaft und damit etwas verdinglicht ausgeführt. Es gibt kein Werk ohne Form, wohl aber ohne Theorie, wobei das Werk dann gleichsam in einem Status des An-sich verharrt. Etwas fehlt, so wie eine Ästhetik ohne den konkreten Nachvollzug von bestimmten Werken blind bleibt. Theorie als ästhetische Praxis bedeutet den Nachvollzug, die Komposition des Werkes – noch einmal. Und mit dem repetitiven Moment paart sich das der Kreativität in der Darstellung als Text.

Um aber kurz das Programm von Christov-Bakargiev vorzustellen, nur soviel: Die dOCUMENTA (13) artikuliert sich durch vier zentrale Positionen, so der Text Christov-Bakargievs im Ausstellungskatalog. Diese Positionen entsprechen vier möglichen Bedingungen, unter denen Menschen und insbesondere Künstler sowie Denker heute agieren. Diese vier Positionen und Bedingungen sind, in der Sicht Christov-Bakargievs, folgende:

„– Unter Belagerung. Ich bin umlagert vom anderen, belagert von anderen.

– Auf dem Rückzug. Ich bin zurückgezogen, ich beschließe, die anderen zurückzulassen, ich schlafe.

– Im Zustand der Hoffnung oder des Optimismus. Ich träume, ich bin das träumende Subjekt der Antizipation.

– Auf der Bühne. Ich spiele eine Rolle, ich bin ein Subjekt im Akt der Wiederaufführung.“

(Das Buch der Bücher. Katalog 1/3, S. 35, Ostfildern 2012)

Diese vier Positionen wiederum stehen in einem Verhältnis zu den vier Orten, an denen die documenta sich präsentiert und auftritt: Traditionell Kassel, dann Kabul, Alexandria/Kairo und Banff. Eine Vielzahl von Standorten, wie es sie bisher nicht gab. Dabei sollen die Assoziationen, die mit diesen Orten verknüpft sind, zugleich gelöst bzw. „aufgetaut“ werden. Anhand von Kabul wird dies wohl am deutlichsten. Aber es gilt ebenso für die anderen Orte, die in Bezugssysteme gebetet sind. Zudem stehen diese vier Positionen in einer spezifischen Beziehung zur Zeit, so Christov-Bakargiev: das Gefühl des Belagerungszustandes verdichtet die Zeit zu einem Punkt, so daß es „jenseits der Elemente des Lebens, die eng an uns gebunden sind, keinen Raum mehr gibt“, der Rückzug hebt die Zeit auf, die Hoffnung stiftet eine Zeit, die sich eröffnet und nicht enden will, die Präsenz auf der Bühne verdichtet sie und erzeugt eine lebhafte lebendige Zeit des Hier und Jetzt (als erfüllte Anwesenheit). Wieweit diese Verbindungen von Zeit und Raum, von Zuständen und Positionen eingelöst werden können und nicht nur Postulat bleiben, muß man sehen. Insofern: laut Ankündigungstext im Katalog geht es ganz so konzeptlos anscheinend doch nicht zu.

An diesem Programm von Christov-Bakargiev läßt sich vielfache Kritik üben: Mit der Kritik der Sprache angefangen, weil hier ein poststrukturalistisch-esoterischer Sound angestimmt wird, den ich für ein Versatzstück halte, wenngleich manche Details dieses Ansatzes – insbesondere im Hinblick auf eine Topologie und die Verschiebung von Bedeutungen – Orte und Objekte einer vielschichtigen Perspektivierung öffnen. Wieweit solche Verzahnungen angesichts der Fülle des ausgestellten Materials und der daran andockenden Diskurse gelingen, dürfte schwierig zu beurteilen sein. Andererseits scheint es mir bei all der Programmatik doch eher so: Der einzig legitime Satz zu einer documenta wäre im Grunde: „Kunst sagt nichts, mache Sie sich ein Bild!“ Ja, ich weiß es selber, es ist nicht leicht, die Sprache der Ästhetik, die Texte poststrukturalistischer Philosophinnen und Philosophen weiterzutreiben und dies zugleich in einer Weise von Spiel und Leichtigkeit anzugehen, ohne daß es epigonal wirkt.

Die gleiche Kritik gilt für das Programm von Christov-Bakargievs favorisiertem Projekt einer Emanzipationstheorie als Quintessenz jener documenta 13. Das Projekt kann nicht gelingen, es öffnet sich vielmehr (unfreiwillig) dem Scheitern. Diese Aporie und jenes Verhältnis von Anspruch und Abbruch gründet sich genau darin: es wird etwas angestrebt, das objektiv nicht zu erreichen ist, weil hierfür keinerlei entgegenkommende Bedingungen vorhanden sind. Dennoch gibt es zuweilen jene subversiven Räume und jene aufblitzenden Momente. Aber: es handelt sich bloß um Momente, gleichsam wie eine Apparition wirkend – aufscheinend, gleißend, intensiv, verglühend. Ob die Anordnung, die Auswahl der Kunstwerke auf der documenta 13 dies erreichen und was sie erreichen, das werde ich am Wochenende sehen. Und auch ein solcher Besuch bleibt Moment und ein Teil.

Weiterhin als Kritik und im Detail: das träumende Subjekt der Antizipation stellt als (rhetorische) Trope eine steile Figur dar. Es läßt sich nichts mehr antizipieren, und das Subjekt ist eine durch und durch unbrauchbare Kategorie, auf die eine(r) besser nicht rekurriert. Aber diesen Fehler machen nach Foucault und Derrida leider viel zu viele: da sei ein intaktes und unverstelltes Wesen, man müsse es nur in eine andere Sprache bringen, und dazu noch die Steine, die Hunde, die tausend Blumen sprechen lassen. Anthropozentrismus schlimmster Art innerhalb der Kunst-(Theorie). Ich hoffe, wir erleben am Wochenende in Kassel nicht noch einen Auftritt von Joan Baez.

Carolyn Christov-Bakargiev macht es Leserin und Leser in ihrem Ankündigungstext nicht leicht, diese documenta sowie die Kunst ernst zu nehmen; viele Passagen schrammeln an der Grenze zum Kitsch vorbei oder gerinnen zur Floskel. Den Dingen oder Lebewesen ohne Sprache, wie etwa Tieren und Pflanzen, zum Ausdruck zu verhelfen, bleibt nicht nur grenzwertig, sondern fällt in das Projekt Anthropozentrismus. Es werden Tiere vermenschlicht, denn wir sind es, die ihnen diese Sprache und die Bedürfnisse verleihen, über die wir im Grunde jedoch weniger als nichts wissen. Freiheit zum Objekt, auf die Christov-Bakargiev wohl abzielt, sieht anders aus. Das gut Gemeinte reicht da nicht hin.

„Die dOCUMENTA (13) vollzieht daher eine räumliche oder, genauer gesagt, ‚standortbezogene‘ Wende, indem sie die Bedeutung eines physischen Ortes betont, gleichzeitig jedoch auf die Verlagerung und Schaffung anderer und partieller Perspektiven abzielt, ungefähr so wie jener abwesende präsente Meteorit [El Chaco in Argentinien, der für 100 Tage neben Walter de Marias „Vertical Earth Kilometer“ gebracht werden sollte, Hinweis Bersarin] – eine Erforschung von Mikrogeschichten in wechselnden, die die lokale Geschichte und die Wirklichkeit eines Ortes mit der Welt verbinden. Sie öffnet sich wie die Matrjoschka-Puppe, um verborgene Räume und Erzählungen hinter, in und unter der Oberfläche zu offenbaren. Sie spricht in einem Bauchrednerakt von innen nach außen – eine zweite Stimme, die aus dem Bauch, aus dem Inneren des Körpers kommt.“ (S. 36)

Ob die documenta 13 dies einzulösen vermag, wird aufgrund der Fülle des Materials und der teils abgelegenen Orte kaum einer der Besucherinnen und Besucher beurteilen können. (Allein deshalb, weil eine Reise nach Kabul schwierig sich gestaltet.) Man wird die documenta 13  als Ideenwerk und Fragment  lesen müssen, in dem Allgemeines und Besonderes, das einzelne Werk und seine Verortung sowie der Zusammenhang, in dem es steht, in ein spezifisches Verhältnis treten, das sich je nach der Blickachse in verschiedenen Weisen bestimmt und ästhetischer Kritik öffnet.