„Die Ursache bin ich“ – Thomas Bernhard zum 90. Geburtstag

Heute hat Thomas Bernhard seinen 90. Geburtstag. Er gehört für mich zu den Autoren, die mich und mein Lesen maßgeblich prägten – zusammen mit Flaubert, Kafka, Thomas Mann, Beckett, Benn, Celan, Jünger, Sartres „Der Ekel“ und „Die Wörter“ (auf keinen Fall seine Dramen!) und Brecht (nur manche seiner Dramen). Dieser aufsteigernde und zugleich retardierende, um sich kreisende, in sich kreisende, musikalische und verstörende Thomas-Bernhard-Sound, diese Art von Schreiben – man lese nur den Anfang der Erzählung „Gehen“, dann begreift man – hat mich bereits in den jungen Lesejahren ergriffen und fasziniert. Der Daseinsirrsinn, die Vergeblichkeit, die ungeheure Komik, die zugleich darin lag und auch die Kälte, bereits in manchem Titel: „Frost“, „Auslöschung“, „Die Kälte“; „Der Untergeher“: die Spät-Moderne als Gefrierschrank, darin auch die klassische Moderne irgendwie ein- und festgefroren ablagert.

Und vielleicht, weil ich dachte, man darf und kann es auch noch aufsteigern und im Ton noch irrer machen, hat mich dann Anfang und Mitte der 1980er Jahre auch die Prosa von Rainald Goetz fasziniert – von dem man leider inzwischen ebensowenig liest und hört: Sterne steigen und fallen. Da stand im Ton und im Gestus, wenn auch in anderer Weise, ein legitimer Nachfolger, der dieser Art der alten Literatur, den Großkopfeten, den Schriftstellern als Zuständigkeitsbeamte für die gesamte Epoche, das Land und darüber hinaus den Erdkreis, eine Absage erteilte. Funktionswandel der Literatur. Leitzordnerliteratur nannte Bernhard in einer Figurenrede in der „Auslöschung“ einmal Thomas Mann.

Es gibt Bücher, die haben ihre Zeit. Das ist sicherlich auch bei Bernhard so – der große Kult der 1980er und auch 1990er Jahre ist vorüber. Keine deutsche Bühne, die Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre bis in die Mitte hinein nicht pro Saison  mindestens ein Bernhard-Stück gab. Die herrliche „Beton“-Lesung im Deutschen Schauspielhaus 1992 mit dem starken Peter Fitz, ein zweiter Bernhard Minetti. Oder „Der Theatermacher“, mit dem ebenso wunderbaren Ulrich Wildgruber in der Hauptrolle oder ebenfalls mit Peter Fitz dort „Die Macht der Gewohnheit“: „Morgen Augsburg“.

In einer seltsamen Analogie und als Beobachtung würde ich sagen: Mit dem Tod von Heiner Müller im Dezember 1995 verlosch auch die Bernhard-Euphorie zunehmend, der Betrieb switchte auf Goetz, auf Techno, auf den Kult des Augenblicks im Tanz-Club. Rave, Darkroom, Stroboskopblitze, Celebration, Celebrities, Abfall für alle: Die Musik der Sprache, von Bernhard zu Goetz, wandelte sich, wurde kruder, härter, schneller, gewann diesen Pop-Ton. Manchmal nervte es. Am meisten jedoch nervten jene Bernhard- und Götz-Jünger, die ihre imitatio christi taten. „Könnt ihr nicht einfach die Fresse halten!“, dachte ich oft. Aber es gehört eben diese ostentativ zur Schau gestellte Bewunderung zugleich zu dieser Jugend dazu, und mir sind jene Leute damals immer noch lieber als diese Gesellen heute vom Hohen Spatz der Identären, die Kunstwerke identitätspolitisch abklopfen und über die Literatur den Sensitivy-Reading-Filter laufen lassen, oder jene von  „54 Buchinquisitionen, dem Faulton im Internet“. Bei den Texten von Peter Hintz und Johannes Franzen denke ich mir, das sind Bengels, denen man einfach mal die Ohren langziehen muß.

Von Bernhard zumindest konnte man, wenn man wollte, das Verachten lernen und die Freude an der Bosheit gegenüber der sich einstellenden Borniertheit. Jede Literatur hat jedoch ihre Zeit und jene Bernhard-Feuer enthusiasmieren nicht mehr wirklich. Es war schön damals, nun ist es anders. Wir werden damit leben müssen – das eben ist die einzige Haltung, die man im Sinne Bernhards dazu einnehmen kann. Es gibt Literatur, die hat ihre Zeit und wirkt punktgenau in dieser bestimmten Phase und sie tut es vielleicht Jahrzehnte später wieder. Und ich denke, daß die Zeit Bernhards lange noch nicht vorüber ist. Es finden sich bei ihm Tendenzen, die auch heute wieder en vogue sind: vom autobiographischen Schreiben angefangen – man denke an seine Tetralogie (siehe sogleich unten) -, aber auch die politisch-unpolitische Kritik Bernhards an den politischen Verhältnissen. „Heldenplatz“  Bernhards letztes Drama – ist ein Theaterstück, das in seinen Übertreibungsexzessen teils auch heute noch gut und passend ist.

„In diesem fürchterlichsten aller Staaten haben Sie ja nur die Wahl zwischen schwarzen und roten Schweinen
ein unerträglicher Gestank breitet sich aus von der Hofburg und vom Ballhausplatz und vom Parlament über dieses ganze verluderte und verkommene Land
ruft aus
Dieser kleine Staat ist ein großer Misthaufen“ 

Es ist traurig und man muß doch lachen dabei. Nichts ist komischer als das Unglück, wie einmal ein anderer großer Dramatiker schrieb. Aber nicht nur das ist es. Ebenso, die große Melancholie des Rückkehrers, jenes Gelehrten, der eine Parodie auf einen Gelehrten zugleich ist:

„er wollte die Kindheit wiederhaben
Aber die Wiener waren nicht mehr so wie er sie in Erinnerung gehabt hat
die Österreicher waren nicht mehr so nichts war mehr so
Aber die Erinnerung täuscht immer
die Erinnerung ist immer ein total falsches Bild“

Was bleibt, ist vielmehr nichts. Und da muß man vorher das beste daraus machen. Dieses Bernhardsche Lachen dazu, etwa in seinen Mallorca-Monologen, wenn Bernhard von der Weltverfinsterung sprach und da in diesem herrlichen Café saß, das es in dieser Form nicht mehr gibt und das renoviert wurde und als Bernhard das erfuhr setzte er nie wieder einen Fuß in dieses Café in den Jahren, die ihm noch verblieben.

Ansonsten hier noch einmal mein Text, den ich bereits vor einem Jahr im Blog brachte, in Ermangelung an Zeit, keinen neuen schreiben zu können. Eine kleine Würdigung

***

Bernhard kam am 9. Februar 1931 in Heerlen (Holland) zur Welt. Von diesen frühen Jahre schreibt er in fünf, freilich schmalen Büchern. Fünf Romane, die zwischen 1975 und 1982 nicht bei Suhrkamp, sondern im Residenz Verlag erschienen, was Siegfried Unseld ärgerte: „Die Ursache. Eine Andeutung“, „Der Keller. Eine Entziehung“, „Der Atem. Eine Entscheidung“, „Die Kälte. Eine Isolation“ und „Ein Kind“. Der letzte Text dieser autobiographisch geprägten Romane beschriebt von der Chronologie her den Anfang dieses Lebens, nämlich die Jahre der frühen Kindheit bis zum Eintritt ins Salzburger Internat, der dann in „Die Ursache“ den Auftakt bildet. Eine Kreisbewegung vollzieht und vollendet sich.

„Mein Großvater griff sich an den Kopf und sagte: wie gut, daß es nicht Passau ist, daß ich Salzburg für Dich bestimmt habe.“

So der Schlußsatz von „Ein Kind“. Zum Ende des letzten, eigentlich harmonisch ausklingenden Teils wird der Leser jedoch wieder in die Verstörung geworfen, weil er nach der Lektüre des ersten Bandes „Die Ursache“ inzwischen weiß, was in Salzburg geschah. Und insofern ist diese vermeintliche Harmonie umso perfider, weil wir an diesem Punkt der ausgehenden Kindheit und wo es dann ins Internat geht, schon genau wissen, was dann geschehen wird. Das Verstörende einer Existenz, die das Ende der Kindheit bedeutete, ist zum Beginn des Romans „Die Ursache“ an eine Stadt gekoppelt und wird eins mit ihr: Salzburg. Salzburg bildet den Auftakt des Textes. Das fängt mit einer Zeitungsmeldung über das Bundesland Salzburg vom 6. Mai 1975 an, die – ganz vom Allgemeinen, dem Gesellschaftlichen herkommend – als Zitat voranstellt ist. Darin heißt es, daß Salzburg gegenüber allen übrigen österreichischen Bundesländern die höchste Selbstmordrate aufweise. Man dachte, es wäre Kärnten, aber tatsächlich ist es Salzburg. Das ist traurig und durch den konstruierten Kontrast witzig zugleich.

„Die Ursache“ beginnt sodann mit furiosem Einsatz. Es prescht die Prosa durch, von der Konstruktion her taumelnd und atemlos gebaut – beim bekanntermaßen schlechten Wetter Salzburgs anfangend –, eine Kaskade, eine Tirade des begründeten Hasses auf diese Stadt und seine Menschen, ein Sprachstrom der Verzweiflung und der Aufwallung, welcher auf die Umstände und vor allem auf diese, so Bernhard, durch und durch katholische und nationalsozialistische Menschenvernichtung, die mit Salzburg, der Mozartstadt, und mit den Erinnerungen des Protagonisten verkoppelt ist, reflektiert: Die nationalsozialistische Erziehungsanstalt, in welche der Protagonist wie aus dem Nichts und für ihn völlig unbegreiflich 1943 hineingeworfen wurde, die dann nach 1945 mühelos zum katholischen Internat sich wendete. In diesem Sinne ist die Prosa Bernhards immer auch politisch.

Sieben Sätze über zwei Seiten! Es treibt sich in dieser Sprache vermittels des Stils eine Subjektivität als Furor voran und immer weiter und übers Weiter hinaus, und das eben meint etymologisch genommen das Wort „extrem“, wenn nicht extremistisch gar: die Art nämlich, wie sich diese Sprache geriert, ist das Äußerste, und sie weist auf dieses. Aber sie bleibt darin nicht stehen und pocht nicht auf ihre Unmittelbarkeit in Wahrnehmungs- und Wut-Exzessen. In ihrem Extrem bringt die Sprache Bernhards es ebenso gesellschaftlich auf den Punkt, zeichnet das politische Milieu dieser Zeit. In der maßlosen Übertreibung dieser ungehemmten Subjektivität liegt die Wahrheit, denn die Begebenheiten sind maßlos – die Wahrheit jenes durch und durch verlogenen, katholischen, nationalsozialistischen Österreich, das durch diesen in den Augen des Erzählers faschistischen Mechanismus eben die Menschen bricht. Der nahtlose Übergang vom Nationalsozialistischen zum Katholischen. Dieses Zerbrechen geht soweit, daß die, welche nicht mitkommen, sich in den Tod stürzen, auf die asphaltierte Müllner Hauptstraße, die vom Protagonisten Selbstmörderstraße genannt wird.

Bernhards Literatur ist über die Jahrzehnte hinweg immer auch eine politische Prosa gewesen, – nur eben in der Weise, daß sie dies nicht im Engagement, sondern in einer kalkulierten Wut der Österreichbeschimpfung herausstieß – die schwarzen, wie auch die roten Schweine, die Korruption, die Cliquenwirtschaft, der Klüngel. Eine Wut, die aufs Politische unter dem Neigungswinkel der eigenen Existenz und damit von einem subjektiven Standpunkt her blickte. Oder aber als Gesellschaftsminiatur in „Der Stimmenimmitator“, wo im Stile von Zeitungsmeldungen absurde, klägliche wie auch entsetzliche oder einfach nur traurige Schicksale als Prosa-Miniatur erzählt werden.

Zum Anfang von „Die Ursache“ ist da ein „Er“, auf das der Erzähler blickt, das beschrieben wird inmitten dieser Welt der Verzweiflung, eine Kindsverzweiflung, in die Welt des Internats hineingeschleudert,  wo eine Geistes- und Gemütszersetzung des Kindes, das sich gerade in dieser Phase in seiner Reifezeit bewegt, stattfindet. Diese Stadt ist in allen ihren Aspekten und Ausprägungen ein Todesort, in den der Heranwachsende, der 13-Jährige mit einem Male und unvermittelt gestoßen wird. Und im Fluß der Sprache gerät dieses Er, das da rückblickend in der Außenperspektive der abgelebten und doch fortwirkenden Vergangenheit gesehen wird, zum Ich; es reflektiert in sich hinein und zieht das Geschehene im Akt des Erinnerns hervor. Es sind diese Sätze samt der anfänglichen Distanzierung, die nicht „Ich“ schreiben kann, zugleich eine furchtbare, aber notwendige Vergewisserung des Selbst, der eigenen Existenz, der Künstlerexistenz, welche am Ende und im Gang der Reflexionen und Spiegelungen die einzig mögliche ist. Annäherung durch Abspaltung der subjekteigenen Teile. Intuitiv ahnte der 13-Jährige dies bereits. Kunst ist Entfremdung, sich fremd werden, um sich näher zu kommen oder auch, um Schreckliches zu schauen. Kunst ist ein Integral. In diesem Sinne ist die Autobiographie ein für den Schriftsteller wesentliches Genre.

Schon dem Jugendlichen bot diese Kunst den einzigen Ort des Rückzugs. Exemplarisch wird dies an der widerwärtigen Schuhkammer des Internats vorgeführt, die der Zögling zum Geigespielen und -üben zugewiesen bekommt. Diese Kammer ist – ganz objektiv – ein Selbstmord-Ort, ein Verzweiflungsort und zugleich das Gegenteil davon und eben auch eine Metapher, in ihr durchdringen sich reale Zustände und ins Übertragene gewendete Bilder. Diese Kammer ist der Ort, wo in der äußersten physischen Enge sich das Vergessen des Daseins in der Musik einstellt, dieses Schopenhauersche Motiv seiner Kunstmetaphysik: wenn das Subjekt (realiter in extremer Enge) aus sich heraustritt, sich aus der Welt der Vorstellungen entläßt – und es hat insofern seine Gründe, weshalb Schopenhauer, neben Novalis, einer der für Bernhard so bedeutsamen Philosophen ist. Wobei diese Philosophen und Philosophien bei Bernhard eher als Denkbewegungen stehen, die eine bestimmte Art des Bernhardschen Schreibens und Denkens illustrieren sollen, und so stehen diese Namen zugleich als Stellvertreter. Sie sind Metaphern.

In jener Kammer zumindest geschieht solch eine Art von Transsubstantiation. Kunst ist Entfremdung, Verfremdung und Rettungsort in einem. Im Erzählen distanzieren wir und werden frei. Aber Kunst ist nicht einfach nur solche Ich-Therapie, denn dann wäre jede Autobiographie auf ihre Weise irgendwie gleichgut. Das ist aber nicht der Fall.

„Die Schuhkammer ist mit hunderten von schweißausschwitzenden Zöglingsschuhen in morschen Holzregalen angefüllt und hat nur eine knapp unter der Decke durch die Mauer geschlagene Fensteröffnung, durch welche aber nur die schlechte Küchenluft hereinkommt. In der Schuhkammer ist er allein mit sich selbst und allein mit seinem Selbstmorddenken, das gleichzeitig mit dem Geigenüben einsetzt. So ist ihm der Eintritt in diese Schuhkammer, die zweifellos der fürchterlichste Raum im ganzen Internat ist, Zuflucht zu sich selbst, unter dem Vorwand, Geige zu üben, und er übt so laut Geige in der Schuhkammer, daß er selbst während des Geigenübens ununterbrochen fürchtete, die Schuhkammer müsse in jedem Augenblick explodieren, unter dem ihm leicht und auf das virtuoseste, wenn auch nicht exaktesten kommende Geigenspiel geht er gänzlich in seinem Selbstmorddenken auf, in welchem er schon vor dem Eintritt in das Internat geschult gewesen war, denn er war in dem Zusammenleben mit seinem Großvater die ganze Kindheit vorher durch die Schule der Spekulation mit dem Selbstmord gegangen.“ (Bernhard, Die Ursache)

Spekulatives Denken als Form der Phantasie gerät – fast antiidealistisch – zur Verzweiflungstat, weil die Augenblicke der Wirklichkeit entstellt und deformiert sind. Die Musik wird dem Zögling zum Mittel des Rückzugs, frühreifer ästhetischer Eskapismus, der noch nicht weiß, was er ist und wohin es ihn treibt. Durch die Musik gelingt es diesem Ich, sich abzusondern – von den Mitschülern, von der Welt. Diese Kammer dient ihm zur einzigen Fluchtmöglichkeit, wie es einige Zeilen später heißt. Diese Kammer ist nicht einfach nur Kammer, sondern sie transformiert sich zum Ort der Verdichtung, der Auflösung, des Seinsgewinns. Was im ausströmenden Klavierspielen des Hanno Buddenbrook an jener berühmten Stelle des Buches noch den Orgasmus evozierte, so daß sich Musik(-Spiel) und Sexualität verbanden, wird hier zum Spiel mit und zugleich gegen den Tod. Aber es heißt im Französischen die Umschreibung für den Orgasmus schließlich La petite mort, und das erotische Moment ist diesen musikalischen Todesmomenten der Entrücktheit nicht fern. Das Todesmotiv wird dann qua einer schrecklichen Erkrankung bei Protagonisten auch im weiteren Lauf der Zeit eine wesentliche Rolle spielen. Doch zunächst ist diese Schuhkammer ein Raum der Engführung, einer Verklammerung von Selbstreflexion, Todesmotiv und Musik:

„Sein Eintritt in die Schuhkammer bedeutete gleichzeitiges Einsetzten seiner Selbstmordmeditation und das intensivere und immer noch intensivere Geigenspiel eine immer intensivere und immer noch intensivere Beschäftigung mit dem Selbstmord.“

Hier aber gerät die Kammer schließlich zur Rettung, weil sich eine Möglichkeit für den Zögling offenbarte, die stärker als jede Regung des beschädigten Lebens sich erweist: nämlich die Kunst. Diesen Weg zur Kunst und zum Subjekt, das seine Versehrtheit, die es erfuhr, jedoch niemals mehr verlieren kann, durchschreiten diese fünf Romane. Sie sind, um es ganz emphatisch zu schreiben, große Literatur und mehr als eine Autobiographie – die freilich, weil sie am Ende eben doch Literatur und als Literatur gewirkt ist, zugleich immer Fiktion bleiben muß. Und insofern gelten auch für solche Textformen der in den 1970er Jahren sich etablierenden Neuen Subjektivität, die einst antrat, um die gescheiterten Hoffnungen kämpferischer 68er ins Ich zu verlagern, die Kriterien für literarische Form und die Maßgaben für die ästhetisch gelungene Gestaltung des Inhalts. Die Autonomie der Kunst macht auch vorm Subjekt keinen Halt.

Der Literaturwissenschaftler Ralf Schnell schreibt in „Die Literatur der Bundesrepublik“:

„Salzburg bildet den Hintergrund dieses desaströsen Lebensberichtes aus der Feder, aus dem Denken, aus dem Empfinden eines Österreichers, der erst im letzten Band seiner Autobiographie Distanz zum eigenen Weg zu finden beginnt, einfacher, sachlicher, unprätentiöser schreibt, gleichsam im Grade einer versöhnlichen Besinnung auf die früheste Kindheit die späteren Obsessionen und Manierismen preisgebend. Denn dies ist zumal für die ersten drei Bände festzuhalten: Thomas Bernhards Besessenheit durch die einmal und grundlegend erfahrenen Erschütterungen reißt in seinem Werk wie ein Strudel das Treib- und Sperrgut österreichischer Ungleichzeitigkeit unablässig und in immer neuen Facetten in sich hinein, um es wieder herauszuschleudern und abzustoßen, um es abermals, verändert und verstört, aufzugreifen und umzuwälzen, ein Prozeß der gleichzeitigen Hervorbringung und Vernichtung von Erfahrung durch Sprache, ebenso obsessiv wie unabschließbar.“

Den ersten Satz kann ich so nicht teilen, sofern der Satz nicht nur deskriptiv, sondern als Wertung gedacht ist. Denn gerade in diesem Zorn, einer Thymos-Energie, deren Aufsteigerung als Haß Karl Heinz Bohrer kürzlich in einer Studie untersuchte (siehe meine Rezension hier), gerade in den Wucherungen und dem Wüten inmitten der Welt, in der Sprache sowie in der Gesellschaft liegt die Stärke insbesondere des ersten Bandes. Durch die hypotaktische Struktur der Bernhardschen Sätze mit diesen Kaskaden, den Aufsteigerungen und Wiederholungen, in denen Motive angespielt, abgebrochen, wieder neu durchgespielt werden, entsteht einerseits dieser Klang, jene Musikalität der Sprache, die dann in der späteren Prosa Bernhards sich erst zur Meisterschaft entfaltet (und leider eben auch einen oft imitierten Bernhard-Sound schuf, so daß sich die Prosa dann teils selbst persiflierte), und zugleich erzeugen diese Hypotaxen das Atemlose und Furiose. Es entsteht eine monologische und monadologische Struktur, ein innerer Monolog, wie ihn die ästhetische Moderne bisher nicht kannte, und zwar in bezug auf die Krankheit als konkretes Phänomen, das nicht bloß Thomas-Mannsche Metapher fürs Künstlertum bildet, sondern ganz real eine Krankheit als Lebensvernichtungsmöglichkeit zeigt. Todesform, Rausch, Musikalität, Emphase, Haß, Hinabziehen und Herausstoßen des Erfahrenen bilden eine Melange von ganz eigener Art und erzeugen so den typischen Stil Bernhards, nämlich eine reflektierte Wutprosa in Form eines Sich-frei-Schreibens im Thymos, die diesem ersten Band bereits zum Beginn seine Struktur gibt – eben das, was zuweilen jener grandiose Bernhard-Sound genannt wird.

Zorn und Verzweiflung des Protagonisten treiben sich in dieser Sprachaufwerfung ins Unermeßliche. Was einmal romantische Unendlichkeit war, wandelt sich zur unendlichen Wut am Immanenzzusammenhang. Ein Entrinnen gibt es nur in der künstlerischen Form, in der Formung und Durcharbeitung jener beschissenen Faktizität – indem es zur Schrift gerinnt, zur Literatur wird. Hier, im Schreiben findet sich der Rettungsort, die einzige Möglichkeit des Daseins, ja zuweilen erreicht der Protagonist dabei sogar eine Form von Ruhe, wenn man die späteren Bände dieser Autobiographie liest, darin ist Schnell rechtzugeben, um sie in späterer Prosa freilich in kunstvollere Bilder und Sätze der Unruhe zu treiben. Hyperbolische Texte: „Übertreibung“ heißt das rhetorische Stilmittel. Die „Auslöschung“, Bernhards letzter Roman, entfaltet das in seiner vollendeten Weise. Ein Höhe- und leider auch Endpunkt, denn drei Jahre später verstarb Bernhard. Künstlerische Urszene aber bleibt diese Schuhkammer mitsamt dem, was sich darin abspielte – als Ort von Erfahrung. Und so bildet sich eine Korrespondenz von Sprache, Musik, Todesbewußtsein und Kunst. Samt dem Denken, sein eigenes Ich wegzuwerfen: „Die Ursache bin ich.“ Tathandlung in jedem Falle.

Unbedingt muß man Bernhards fünf Romane zugleich als eine Reaktion auf die Literaturproduktion und die Tendenz dieser 70er Jahre lesen, welche für gewöhnlich unter dem Begriff der „Neuen Subjektivität“ eingeordnet wird; jene oben beschriebene Literatur der Innerlichkeit, des Inwendigen, teils auch der Fluchten ins Private, der Selbstvergewisserung. Das reichte von der Knast- über die Arbeiter- bis hin zur Frauenliteratur. Im schlechtesten Falle entstanden grausliche Befindlichkeitstexte, für die einzig das Wort Empfindungskitsch zutrifft. Kulminierend in „Der Tod des Märchenprinzen“. Im besten Falle gelangen genaue Beobachtungen der Innenwelt, die zugleich eine Außenwelt darstellen – wie im Falle Bernhards.

Charakteristisch für die Literatur dieser Jahre ist – grosso modo – das autobiographische Schreiben: sei dies, um die besten des Faches zu nennen, Max Frisch mit seinen Tagebüchern und der Novelle „Montauk“, Walter Kempowskis „Tadellöser & Wolff“ samt den daran anschließenden Romanen über die DDR und die Zeit im DDR-Knast, Günter Grass mit „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“, vor allem aber Peter Handkes „Der kurze Brief zum langen Abschied“ und „Wunschloses Unglück“.

Doch Bernhards Autobiographie weisen übers Faktuale hinaus. Innerhalb seines Werkes nehmen diese Texte eine Zwischenstellung ein. Die bereits in seinen früheren Romanen wie „Frost“ und „Verstörung“  angespielten Motive wie das Spazierengehen, die grenzenlose Welt, die Kälte und die Daseinsverachtung, die (scheiternden, absurden) Geistesmenschen wie in „Beton“, die nie abschließbare, nie abgeschlossene Geistesarbeit, diese Menschen der Kunst und der Philosophie treten in der Autobiographie verdichtet und verändert wieder auf, und es stellt sich damit zugleich durch diese Neujustierung in der Autobiographie für die in den 80er folgenden späte Dichtung Bernhards ein Wandel in der Durchführung dieser Motive ein. Es wird heiterer, es wird entspannter. Eine Art Lust am Untergang. So wie Bernhard in seinen Mallorca-Interviews (zu sehen auf der Suhrkamp-DVD „Die Ursache bin ich“) mit einem Lächeln und dem Schalk im Auge Untergang, Unglück und Verzweiflung des Menschenlebens beschreibt.

Der Klang und der Rhythmus änderten sich in dieser späteren Prosa gegenüber dem Ton, der das Frühwerk durchzog, die Sprache fuhr eine neue Richtung. Die hypotaktische Struktur verband sich mit dem Iterativen und Ausufernden. Bernhards Prosa lebt von der spielerischen, durchgespielten Wiederholung, die als Inszenierung auftritt. Deshalb eben ist Bernhard zugleich ein großartiger Dialog- und Theaterschriftsteller. Zu mutmaßen freilich, es ginge in seinen Romanen und Theaterstücken nun heiterer zu als vormals, wäre sicherlich übertrieben, aber das ironischem witzige Moment, die Gebrochenheit auch der Tragik sowie eine Form von zynisch bis ironischer Gelassenheit gewinnt mehr Raum, seine Figuren sind tragische Komödianten bzw. komödiantische Tragiker. Ich schrieb es an anderer Stelle schon einmal: Auch für Bernhards Figuren, insbesondere die seiner Theaterstücke, trifft der Satz Becketts aus dem Endspiel zu, daß nichts komischer als das Unglück sei.

Die monadologisch-monologische Verfaßtheit des Subjekts tritt in diesem Spiel der Bernhardschen Protagonisten jedoch nicht zurück, sondern sie verstärkt sich, und zwar gerade durch das Moment der Komik. Herrschte im „Endspiel“ zwischen Ham und Clov bzw. Nell und Nagg noch das Moment von Kommunikation und – wenn auch nicht gelingender, aber doch versuchter – Intersubjektivität, so ist das bei Bernhard ausgeschaltet. Der Theatermacher betreibt sein ganz privates ureigenes Endspiel in jenem Gasthof in Utzbach mit dem Hitlerbild an der Wand, wo jenes Welttheaterstück – Theatrum mundi – aufgeführt werden soll: „Das Rad der Geschichte“, welches eine Menschheitskomödie ist und wohl nicht zufällig auch an das Rad des Ixion erinnert. Was bleibt, ist der Moment, wo auf der Bühne das Licht ausgeht, jegliches Licht, sogar das Notlicht im Theater, was seinerzeit einen kleinen Theaterskandal am Wiener Burgtheater auslöste, denn ein Notlicht muß im Theater nun einmal vorhanden sein und dem Zuschauer in der Katastrophe den Ausweg weisen. In den ach so geordnet-unordentlichen Verhältnissen muß es wenigstens das Notlicht noch geben.

Bernhard starb am 12. Februar 1989, drei Tage nach seinem 58. Geburtstag. Alt ist er also nicht geworden und er hatte in seinem Kampf gegen jene „Krankheit zum Tode“ mit den Mitteln der Kunst recht. Lebte Bernhard länger, man könnte sich kaum vorstellen, was noch an Theaterstücken, Erzählungen oder Romanen käme. Andererseits will ich sein Frühwerk nicht geringschätzen – „Frost“ und „Verstörung“ etwa. Eine Freundin und ich hatten vor mehr als 25 Jahren darin die Strukturen einer „Dialektik der Aufklärung“ ausgemacht.

Das zu rekonstruieren, bekomme ich leider nicht mehr hin. Und sowieso ist es nun an der Zeit den Text zu beenden. Es sind diese Gedanken bereits zu lange her und geschahen in einer Zeit, welche ich die wunderbaren Jahre nenne – eine Zeit, in der die Daseinsverfinsterung eigentlich ein Spiel war, während wir beim Rauchen unserer Zigaretten und beim Trinken des vielen Weines dachten, es wäre der große Ernst. Heute ist es anders herum.

[Dieser Text ist eine erweiterte und überarbeitete Fassung eines Blogbetrags vom 9.2.2011]

„Die Ursache bin ich“ – Thomas Bernhard zum Geburtstag

Gestern hatten wir Thomas Bernhards 89. Geburtstag, und vor einem Jahr gab es dazu vom Deutschlandfunk eine lange Thomas-Bernhard-Nacht, die man freilich nun nur noch nachlesen kann.

Bernhard kam am 9. Februar 1931 in Heerlen (Holland) zur Welt. Von diesen frühen Jahre schreibt er in fünf, freilich schmalen Büchern. Fünf Romane, die zwischen 1975 und 1982 nicht bei Suhrkamp, sondern im Residenz Verlag erschienen, was Siegfried Unseld ärgerte: „Die Ursache. Eine Andeutung“, „Der Keller. Eine Entziehung“, „Der Atem. Eine Entscheidung“, „Die Kälte. Eine Isolation“ und „Ein Kind“. Der letzte Text dieser autobiographisch geprägten Romane beschriebt von der Chronologie her den Anfang dieses Lebens, nämlich die Jahre der frühen Kindheit bis zum Eintritt ins Salzburger Internat, der dann in „Die Ursache“ den Auftakt bildet. Eine Kreisbewegung vollzieht und vollendet sich.

„Mein Großvater griff sich an den Kopf und sagte: wie gut, daß es nicht Passau ist, daß ich Salzburg für Dich bestimmt habe.“

So der Schlußsatz von „Ein Kind“. Zum Ende des letzten, eigentlich harmonisch ausklingenden Teils wird der Leser jedoch wieder in die Verstörung geworfen, weil er nach der Lektüre des ersten Bandes „Die Ursache“ inzwischen weiß, was in Salzburg geschah. Und insofern ist diese vermeintliche Harmonie umso perfider, weil wir an diesem Punkt der ausgehenden Kindheit und wo es dann ins Internat geht, schon genau wissen, was dann passieren wird. Das Verstörende einer Existenz, die das Ende der Kindheit bedeutete, ist zum Beginn des Romans „Die Ursache“ an eine Stadt gekoppelt und wird eins mit ihr. Salzburg bildet den Auftakt des Textes. Das fängt mit einer Zeitungsmeldung über das Bundesland Salzburg vom 6. Mai 1975 an, die – ganz vom Allgemeinen, dem Gesellschaftlichen herkommend – als Zitat voranstellt ist. Darin heißt es, daß Salzburg gegenüber allen übrigen österreichischen Bundesländern die höchste Selbstmordrate aufweise. Man dachte, es wäre Kärnten, aber tatsächlich ist es Salzburg.

„Die Ursache“ beginnt sodann mit furiosem Einsatz. Es prescht die Prosa durch, von der Konstruktion her taumelnd und atemlos gebaut – beim bekanntermaßen schlechten Wetter Salzburgs anfangend –, eine Kaskade, eine Tirade des begründeten Hasses auf diese Stadt und seine Menschen, ein Sprachstrom der Verzweiflung und der Aufwallung, welcher auf die Umstände und vor allem auf diese, so Bernhard, durch und durch katholische und nationalsozialistische Menschenvernichtung, die mit Salzburg, der Mozartstadt, und mit den Erinnerungen des Protagonisten verkoppelt ist, reflektiert: Die nationalsozialistische Erziehungsanstalt, in welche der Protagonist wie aus dem Nichts und für ihn völlig unbegreiflich 1943 hineingeworfen wurde, die dann nach 1945 mühelos zum katholischen Internat sich wendete.

Sieben Sätze über zwei Seiten! Es entäußert sich in dieser Sprache vermittels des Stils eine Subjektivität als Furor, und das eben meint etymologisch genommen das Wort „extrem“, wenn nicht extremistisch gar: die Art nämlich, wie sich diese Sprache geriert, ist das Äußerste, und sie weist auf dieses. Aber sie bleibt darin nicht stehen und pocht nicht auf ihre Unmittelbarkeit in Wahrnehmungs- und Wut-Exzessen. In ihrem Extrem bringt die Sprache Bernhards es ebenso gesellschaftlich auf den Punkt, zeichnet das politische Milieu dieser Zeit. In der maßlosen Übertreibung liegt die Wahrheit, denn die Begebenheiten sind maßlos – die Wahrheit jenes durch und durch verlogenen, katholischen, nationalsozialistischen Österreich, das durch diesen in den Augen des Erzählers faschistischen Mechanismus eben die Menschen bricht. Der nahtlose Übergang vom Nationalsozialistischen zum Katholischen. Dieses Zerbrechen geht soweit, daß die, welche nicht mitkommen, sich in den Tod stürzen, auf die asphaltierte Müllner Hauptstraße, die vom Protagonisten Selbstmörderstraße genannt wird.

Bernhards Literatur ist über die Jahrzehnte hinweg immer auch eine politische Prosa gewesen, – nur eben in der Weise, daß sie dies nicht im Engagement, sondern in einer kalkulierten Wut der Österreichbeschimpfung herausstieß – die schwarzen, wie auch die roten Schweine, die Korruption, die Cliquenwirtschaft, der Klüngel. Eine Wut, die aufs Politische unter dem Neigungswinkel der eigenen Existenz und damit von einem subjektiven Standpunkt her blickte. Oder aber als Gesellschaftsminiatur in „Der Stimmenimmitator“, wo im Stile von Zeitungsmeldungen absurde, klägliche wie auch entsetzliche oder einfach nur traurige Schicksale erzählt werden.

Zum Anfang von „Die Ursache“ ist da ein „Er“, auf das der Erzähler blickt, das beschrieben wird inmitten dieser Welt der Verzweiflung, eine Kindsverzweiflung, in die Welt des Internats hineingeschleudert,  wo eine Geistes- und Gemütszersetzung des Kindes, das sich gerade in dieser Phase in seiner Reifezeit bewegt, stattfindet. Diese Stadt ist in allen ihren Aspekten und Ausprägungen ein Todesort, in den der Heranwachsende, der 13-Jährige mit einem Male und unvermittelt gestoßen wird. Und im Fluß der Sprache gerät dieses Er, das da rückblickend in der Außenperspektive der abgelebten und doch fortwirkenden Vergangenheit gesehen wird, zum Ich; es reflektiert in sich hinein und zieht das Geschehene im Akt des Erinnerns hervor. Es sind diese Sätze samt der anfänglichen Distanzierung, die nicht „Ich“ schreiben kann, zugleich eine furchtbare, aber notwendige Vergewisserung des Selbst, der eigenen Existenz, der Künstlerexistenz, welche am Ende und im Gang der Reflexionen und Spiegelungen die einzig mögliche ist. Annäherung durch Abspaltung der subjekteigenen Teile. Intuitiv ahnte der 13-Jährige dies bereits. Kunst ist Entfremdung, sich fremd werden, um sich näher zu kommen oder auch, um Schreckliches zu schauen. Kunst ist ein Integral. In diesem Sinne ist die Autobiographie ein für den Schriftsteller wesentliches Genre.

Schon dem Jugendlichen bot diese Kunst den einzigen Ort des Rückzugs. Exemplarisch wird dies an der widerwärtigen Schuhkammer des Internats vorgeführt, die der Zögling zum Geigespielen und -üben zugewiesen bekommt. Diese Kammer ist ein Selbstmord-Ort, ein Verzweiflungsort und zugleich das Gegenteil davon und eben auch eine Metapher, in ihr durchdringen sich reale Zustände und ins Übertragene gewendete Bilder. Diese Kammer ist der Ort, wo in der äußersten physischen Enge sich das Vergessen des Daseins in der Musik einstellt, dieses Schopenhauersche Motiv seiner Kunstmetaphysik: wenn das Subjekt (realiter in extremer Enge) aus sich heraustritt, sich aus der Welt der Vorstellungen entläßt – und es hat insofern seine Gründe, weshalb Schopenhauer, neben Novalis, einer der für Bernhard so bedeutsamen Philosophen ist. Kunst ist Entfremdung, Verfremdung und Rettungsort in einem. Im Erzählen distanzieren wir und werden frei. Aber Kunst ist nicht einfach nur solche Ich-Therapie, denn dann wäre jede Autobiographie auf ihre Weise irgendwie gleichgut. Das ist aber nicht der Fall.

„Die Schuhkammer ist mit hunderten von schweißausschwitzenden Zöglingsschuhen in morschen Holzregalen angefüllt und hat nur eine knapp unter der Decke durch die Mauer geschlagene Fensteröffnung, durch welche aber nur die schlechte Küchenluft hereinkommt. In der Schuhkammer ist er allein mit sich selbst und allein mit seinem Selbstmorddenken, das gleichzeitig mit dem Geigenüben einsetzt. So ist ihm der Eintritt in diese Schuhkammer, die zweifellos der fürchterlichste Raum im ganzen Internat ist, Zuflucht zu sich selbst, unter dem Vorwand, Geige zu üben, und er übt so laut Geige in der Schuhkammer, daß er selbst während des Geigenübens ununterbrochen fürchtete, die Schuhkammer müsse in jedem Augenblick explodieren, unter dem ihm leicht und auf das virtuoseste, wenn auch nicht exaktesten kommende Geigenspiel geht er gänzlich in seinem Selbstmorddenken auf, in welchem er schon vor dem Eintritt in das Internat geschult gewesen war, denn er war in dem Zusammenleben mit seinem Großvater die ganze Kindheit vorher durch die Schule der Spekulation mit dem Selbstmord gegangen.“ (Bernhard, Die Ursache)

Spekulatives Denken als Form der Phantasie gerät – fast antiidealistisch – zur Verzweiflungstat, weil die Augenblicke der Wirklichkeit entstellt und deformiert sind. Die Musik wird dem Zögling zum Mittel des Rückzugs, frühreifer ästhetischer Eskapismus, der noch nicht weiß, was er ist und wohin es ihn treibt. Durch die Musik gelingt es diesem Ich, sich abzusondern – von den Mitschülern, von der Welt. Diese Kammer dient ihm zur einzigen Fluchtmöglichkeit, wie es einige Zeilen später heißt. Diese Kammer transformiert sich zum Ort der Verdichtung, der Auflösung, des Seinsgewinns. Was im ausströmenden Klavierspielen des Hanno Buddenbrook an jener berühmten Stelle des Buches noch den Orgasmus evozierte, so daß sich Musik(-Spiel) und Sexualität verbanden, wird hier zum Spiel mit und zugleich gegen den Tod. Aber es heißt im Französischen die Umschreibung für den Orgasmus schließlich La petite mort, und das erotische Moment ist diesen musikalischen Todesmomenten der Entrücktheit nicht fern. Und das Todesmotiv wird dann qua einer schrecklichen Erkrankung bei Protagonisten auch im weiteren Lauf der Zeit eine wesentliche Rolle spielen. Doch zunächst ist diese Schuhkammer ein Raum der Engführung, einer Verklammerung von Selbstreflexion, Todesmotiv und Musik:

„Sein Eintritt in die Schuhkammer bedeutete gleichzeitiges Einsetzten seiner Selbstmordmeditation und das intensivere und immer noch intensivere Geigenspiel eine immer intensivere und immer noch intensivere Beschäftigung mit dem Selbstmord.“

Hier aber gerät die Kammer schließlich zur Rettung, weil sich eine Möglichkeit für den Zögling offenbarte, die stärker als jede Regung des beschädigten Lebens sich erweist: nämlich die Kunst. Diesen Weg zur Kunst und zum Subjekt, das seine Versehrtheit, die es erfuhr, jedoch niemals mehr verlieren kann, durchschreiten diese fünf Romane. Sie sind, um es ganz emphatisch zu schreiben, große Literatur und mehr als eine Autobiographie – die freilich, weil sie am Ende eben doch Literatur und als Literatur gewirkt ist, zugleich immer Fiktion bleiben muß. Und insofern gelten auch für solche Textformen der in den 1970er Jahren sich etablierenden Neuen Subjektivität, die einst antrat, um die gescheiterten Hoffnungen kämpferischer 68er ins Ich zu verlagern, die Kriterien für literarische Form und die Maßgaben für die ästhetisch gelungene Gestaltung des Inhalts. Die Autonomie der Kunst macht auch vorm Subjekt keinen Halt.

Der Literaturwissenschaftler Ralf Schnell schreibt in „Die Literatur der Bundesrepublik“:

„Salzburg bildet den Hintergrund dieses desaströsen Lebensberichtes aus der Feder, aus dem Denken, aus dem Empfinden eines Österreichers, der erst im letzten Band seiner Autobiographie Distanz zum eigenen Weg zu finden beginnt, einfacher, sachlicher, unprätentiöser schreibt, gleichsam im Grade einer versöhnlichen Besinnung auf die früheste Kindheit die späteren Obsessionen und Manierismen preisgebend. Denn dies ist zumal für die ersten drei Bände festzuhalten: Thomas Bernhards Besessenheit durch die einmal und grundlegend erfahrenen Erschütterungen reißt in seinem Werk wie ein Strudel das Treib- und Sperrgut österreichischer Ungleichzeitigkeit unablässig und in immer neuen Facetten in sich hinein, um es wieder herauszuschleudern und abzustoßen, um es abermals, verändert und verstört, aufzugreifen und umzuwälzen, ein Prozeß der gleichzeitigen Hervorbringung und Vernichtung von Erfahrung durch Sprache, ebenso obsessiv wie unabschließbar.“

Den ersten Satz kann ich so nicht teilen, sofern der Satz nicht nur deskriptiv, sondern als Wertung gedacht ist. Denn gerade in diesem Zorn, einer Thymos-Energie, deren Aufsteigerung als Haß Karl Heinz Bohrer kürzlich in einer Studie untersuchte (siehe meine Rezension hier), gerade in den Wucherungen und dem Wüten inmitten der Welt, in der Sprache sowie in der Gesellschaft liegt die Stärke insbesondere des ersten Bandes. Durch die hypotaktische Struktur der Bernhardschen Sätze mit diesen Kaskaden, den Aufsteigerungen und Wiederholungen, in denen Motive angespielt, abgebrochen, wieder neu durchgespielt werden, entsteht einerseits dieser Klang, jene Musikalität der Sprache, die dann in der späteren Prosa Bernhards sich erst zur Meisterschaft entfaltet (und leider eben auch einen oft imitierten Bernhard-Sound schuf, so daß sich die Prosa dann teils selbst persiflierte), und zugleich erzeugen diese Hypotaxen das Atemlose und Furiose. Es entsteht eine monologische und monadologische Struktur, ein innerer Monolog, wie ihn die ästhetische Moderne bisher nicht kannte, und zwar in bezug auf die Krankheit als konkretes Phänomen, das nicht bloß Thomas-Mannsche Metapher fürs Künstlertum bildet, sondern ganz real eine Krankheit als Lebensvernichtungsmöglichkeit zeigt. Todesform, Rausch, Musikalität, Emphase, Haß, Hinabziehen und Herausstoßen des Erfahrenen bilden eine Melange von ganz eigener Art und erzeugen so den typischen Stil Bernhards, nämlich eine reflektierte Wutprosa in Form eines Sich-frei-Schreibens im Thymos, die diesem ersten Band bereits zum Beginn seine Struktur gibt – eben das, was zuweilen jener grandiose Bernhard-Sound genannt wird.

Zorn und Verzweiflung des Protagonisten treiben sich in dieser Sprachaufwerfung ins Unermeßliche. Was einmal romantische Unendlichkeit war, wandelt sich zur unendlichen Wut am Immanenzzusammenhang. Ein Entrinnen gibt es nur in der künstlerischen Form, in der Formung und Durcharbeitung jener beschissenen Faktizität – indem es zur Schrift gerinnt, zur Literatur wird. Hier, im Schreiben findet sich der Rettungsort, die einzige Möglichkeit des Daseins, ja zuweilen erreicht der Protagonist dabei sogar eine Form von Ruhe, wenn man die späteren Bände dieser Autobiographie liest, darin ist Schnell rechtzugeben, um sie in späterer Prosa freilich in kunstvollere Bilder und Sätze der Unruhe zu treiben. Hyperbolische Texte: „Übertreibung“ heißt das rhetorische Stilmittel. Die „Auslöschung“, Bernhards letzter Roman, entfaltet das in seiner vollendeten Weise. Ein Höhe- und leider auch Endpunkt, denn drei Jahre später verstarb Bernhard. Künstlerische Urszene aber bleibt diese Schuhkammer mitsamt dem, was sich darin abspielte – als Ort von Erfahrung. Und so bildet sich eine Korrespondenz von Sprache, Musik, Todesbewußtsein und Kunst. Samt dem Denken, sein eigenes Ich wegzuwerfen: „Die Ursache bin ich.“ Tathandlung in jedem Falle.

Unbedingt muß man Bernhards fünf Romane zugleich als eine Reaktion auf die Literaturproduktion und die Tendenz dieser 70er Jahre lesen, welche für gewöhnlich unter dem Begriff der „Neuen Subjektivität“ eingeordnet wird; jene oben beschriebene Literatur der Innerlichkeit, des Inwendigen, teils auch der Fluchten ins Private, der Selbstvergewisserung. Das reichte von der Knast- über die Arbeiter- bis hin zur Frauenliteratur. Im schlechtesten Falle entstanden grausliche Befindlichkeitstexte, für die einzig das Wort Empfindungskitsch zutrifft. Kulminierend in „Der Tod des Märchenprinzen“. Im besten Falle gelangen genaue Beobachtungen der Innenwelt, die zugleich eine Außenwelt darstellen – wie im Falle Bernhards.

Charakteristisch für die Literatur dieser Jahre ist – grosso modo – das autobiographische Schreiben: sei dies, um die besten des Faches zu nennen, Max Frisch mit seinen Tagebüchern und der Novelle „Montauk“, Walter Kempowskis „Tadellöser & Wolff“ samt den daran anschließenden Romanen über die DDR und die Zeit im DDR-Knast, Günter Grass mit „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“, vor allem aber Peter Handkes „Der kurze Brief zum langen Abschied“ und „Wunschloses Unglück“.

Doch Bernhards Autobiographie weisen übers Faktuale hinaus. Innerhalb seines Werkes nehmen diese Texte eine Zwischenstellung ein. Die bereits in seinen früheren Romanen wie „Frost“ und „Verstörung“  angespielten Motive wie das Spazierengehen, die grenzenlose Welt, die Kälte und die Daseinsverachtung, die (scheiternden, absurden) Geistesmenschen, die nie abschließbare, nie abgeschlossene Geistesarbeit, diese Menschen der Kunst und der Philosophie treten in der Autobiographie verdichtet und verändert wieder auf, und es stellt sich damit zugleich durch diese Neujustierung in der Autobiographie für die in den 80er folgenden späte Dichtung Bernhards ein Wandel in der Durchführung dieser Motive ein. Es wird heiterer, es wird entspannter. Eine Art Lust am Untergang. So wie Bernhard in seinen Mallorca-Interviews (zu sehen auf der Suhrkamp-DVD „Die Ursache bin ich“) mit einem Lächeln und dem Schalk im Auge Untergang, Unglück und Verzweiflung des Menschenlebens beschreibt.

Der Klang und der Rhythmus änderten sich in dieser späteren Prosa gegenüber dem Ton, der das Frühwerk durchzog, die Sprache fuhr eine neue Richtung. Die hypotaktische Struktur verband sich mit dem Iterativen und Ausufernden. Bernhards Prosa lebt von der spielerischen, durchgespielten Wiederholung, die als Inszenierung auftritt. Deshalb eben ist Bernhard zugleich ein großartiger Dialog- und Theaterschriftsteller. Zu mutmaßen freilich, es ginge in seinen Romanen und Theaterstücken nun heiterer zu als vormals, wäre sicherlich übertrieben, aber das ironischem witzige Moment, die Gebrochenheit auch der Tragik sowie eine Form von zynisch bis ironischer Gelassenheit gewinnt mehr Raum, seine Figuren sind tragische Komödianten bzw. komödiantische Tragiker. Ich schrieb es an anderer Stelle schon einmal: Auch für Bernhards Figuren, insbesondere die seiner Theaterstücke, trifft der Satz Becketts aus dem Endspiel zu, daß nichts komischer als das Unglück sei.

Die monadologisch-monologische Verfaßtheit des Subjekts tritt in diesem Spiel der Bernhardschen Protagonisten jedoch nicht zurück, sondern sie verstärkt sich, und zwar gerade durch das Moment der Komik. Herrschte im „Endspiel“ zwischen Ham und Clov bzw. Nell und Nagg noch das Moment von Kommunikation und – wenn auch nicht gelingender, aber doch versuchter – Intersubjektivität, so ist das bei Bernhard ausgeschaltet. Der Theatermacher betreibt sein ganz privates ureigenes Endspiel in jenem Gasthof in Utzbach mit dem Hitlerbild an der Wand, wo jenes Welttheaterstück – Theatrum mundi – aufgeführt werden soll: „Das Rad der Geschichte“, welches eine Menschheitskomödie ist und wohl nicht zufällig auch an das Rad des Ixion erinnert. Was bleibt, ist der Moment, wo auf der Bühne das Licht ausgeht, jegliches Licht, sogar das Notlicht im Theater, was seinerzeit einen kleinen Theaterskandal am Wiener Burgtheater auslöste, denn ein Notlicht muß im Theater nun einmal vorhanden sein und dem Zuschauer in der Katastrophe den Ausweg weisen. In den ach so geordnet-unordentlichen Verhältnissen muß es wenigstens das Notlicht noch geben.

Bernhard starb am 12. Februar 1989, drei Tage nach seinem 58. Geburtstag. Alt ist er also nicht geworden und er hatte in seinem Kampf gegen jene „Krankheit zum Tode“ mit den Mitteln der Kunst recht. Lebte Bernhard länger, man könnte sich kaum vorstellen, was noch an Theaterstücken, Erzählungen oder Romanen käme. Andererseits will ich sein Frühwerk nicht geringschätzen – „Frost“ und „Verstörung“ etwa. Eine Freundin und ich hatten vor mehr als 25 Jahren darin die Strukturen einer „Dialektik der Aufklärung“ ausgemacht.

Das zu rekonstruieren, bekomme ich leider nicht mehr hin. Und sowieso ist es nun an der Zeit den Text zu beenden. Es sind diese Gedanken bereits zu lange her und geschahen in einer Zeit, welche ich die wunderbaren Jahre nenne – eine Zeit, in der die Daseinsverfinsterung eigentlich ein Spiel war, während wir beim Rauchen unserer Zigaretten und beim Trinken des vielen Weines dachten, es wäre der große Ernst. Heute ist es anders herum.

 

[Dieser Text ist eine erweiterte und überarbeitete Fassung eines Blogbetrags vom 9.2.2011]

Im Neigungswinkel der Existenz – Zum Tod von Thomas Bernhard (2)

„‚Ich würde mich nicht so leicht in alles fügen‘, sagte Siebenkäs, ‚wenn mir nicht doch ahnete, daß ich dir bald einmal wieder begegnen werde; ich bin nicht wie du; ich hoffe zwei Wiedersehen, eines unten, eines oben. Wollte Gott, ich brächte dich auch zu einem Sterben wie du mich, und wir hätten dann unser Wiedersehen auf einem Bindlocher Berge, blieben aber länger beisammen!‘
Wenn die Leser sich bei diesen Wünschen an den Schoppe im Titan erinnert finden: so werden sie betrachten, in welchem Sinne das Schicksal oft unsere Wünsche auslegt und erfüllt. Leibgeber antwortete bloß: ‚Man muß sich auch lieben, ohne sich zu sehen, und am Ende kann man ja bloß die Liebe lieben; und die können wir beide täglich in uns selber schauen.‘“
(Jean Paul, Siebenkäs)

Daß ich irgendwann wieder von meinem seligen Friedhofsort hinab mußte, war gewiß. Hatte ich doch für den Sonntag noch eine weitere Aufgabe, nämlich für eine deutsche linke Wochenzeitung eine Reportage über den Böhmischen Prater zu machen, den nicht ganz so bekannten, den anderen Prater von Wien, was also etwas Recherchearbeit nach sich zog. Aber das wieder ist eine neue Geschichte, die hier nicht erzählt werden kann. Auch nicht, daß ich aus lauter Autoren-Pflicht zum Abend noch kränker wurde und meine Parkett-Karte für ein Horváth-Stück im feinen Burgtheater verfallen lassen mußte. Fritz J. Raddatz hätte sich das auf sein Honorar draufgeschlagen. Ich aber bekomme Fixum und nach Zeilen bezahlt. Lebenspech. Theoretisieren wir also ein wenig weiter.

Wie wir von uns oder von anderen erzählen, ist die zentrale Frage der Literatur, es ist eine Frage der Form, in der sich der Inhalt sedimentiert – inzwischen im postmodernen Erzählen auch selbstreferenziernd. Wie wir eine Geschichte bauen, die gute Literatur ist. Zwar bleibt selbst angesichts all der gelungenen Literatur der Gedanke: Am kühlen Grab oder besser, darin, denn darüber war es ein warmes Grab in Septembersonne, ist es ganz gleich geartet – da dringt kein Ton mehr hinein. Und keiner heraus vor allem. So ist all unser Schreiben nur vergänglich. Wir haben da unten vom Ruhm nichts mehr.  Doch wo wir in Büchern wirken und schreiben, da ist etwas in die Welt gebracht und dauert – trotz der Beteuerung des Protagonisten Reger in „Alte Meister“, daß der einzig geliebte Mensch durch kein Kunstwerk zu ersetzen sei, so sinniert Reger vor jenem altern Tintoretto-Meisterbild im Kunsthistorischen Museum. Ein Vergleich aus der Verzweiflung geboren. Er stimmt. Und er stimmt nicht.

Dennoch bleib auch von solcher Kunst etwas: als Bild, als Schrift, als Literatur. Als Bezug zur Zeit und als eine Form des Andenkens. So wie von meinem datierbaren Bernhard-Besuch am 30.9.2018 in Wien-Grinzing mit Grabeszwiegespräch ein freundlicher Blogtext in dieser Welt überwintert. Und ich erinnerte mich da in Grinzing an die traurige Friedhofsszene in Jean Pauls „Siebenkäs“: An Siebenkäs‘ Pseudo-Beerdigung und wie ihm dieser Schein-Tod die Freiheit von seinem doch zugleich geliebten und zänkischen Weib Lenette bescherte. Und als er sich dann des einen Males in sein altes Dorf Kuhschnappel schlich, um zu schauen, was da ist, wo sein altes Leben einst war, auch über den Friedhof spazierend, und wie Siebenkäs da harrte und plötzlich vor seinem eigenen Grabe stand:

„Endlich kam er vor den Bettschirm der Grab-Sieste, vor seinen Leichenstein, dessen Inschrift er mit einem kalten Schauer herunterlas. »Wenn nun diese steinerne Falltüre auf deinem Angesichte läge und den ganzen Himmel verbauete?« sagt‘ er zu sich – und dachte daran, welches Gewölke und welche Kälte und Nacht um die beiden Pole des Lebens, so wie um die beiden Pole der Erde, herrsche, um den Anfang und um das Ende des Menschen – er hielt jetzt seine Nachäffung der letzten Stunde für sündlich – der Trauerfächer einer langen, finstern Wolke war vor dem Monde ausgebreitet – sein Herz war bang und weich, als plötzlich etwas Buntes, was nahe an seinem Grabe stand, ihn ergriff und seine ganze Seele umkehrte.

Es stand nämlich darneben ein neues, lockeres Grab in einer hölzernen, übermalten Einfassung, ähnlich einer Bettlade; auf diesen bunten Brettern las Firmian, solang‘ es sein überströmendes Auge lesen konnte: »Hier ruht in Gott Wendeline Lenette Stiefel, geborne Egelkraut aus Augsburg. Ihr erster Mann war der wohlsel. Armenadvokat St.F. Siebenkäs.“

Jean Paul ist ein Meister der Suspense, der unerwarteten Wendung, des feinen Witzes und tiefer Traurigkeit.

In Paul Celans Büchnerpreisrede „Der Meridian“ steht eine Passage, wo Celan davon spricht daß man als Dichter unter dem „besonderen Neigungswinkel der eigenen Existenz“ schreibe. Zwar verschwindet das private, das öffentliche Ich, das Lebens-Ich in jenem Text, den wir Literatur und Lyrik nennen – der Text, in dem ein jegliches zugleich fiktiv und real in einem aufscheint und darin sich wandelt –, doch geschieht dort, in dieser Transsubstantiation des Ichs als Dichtung, die „Sprache eines Eigenen“, so Celan. (Der Anklang an Hölderlin und an den freien Gebrauch des Eigenen ist nicht zu überhören.) Und dieses Eigene verwandelt wiederum.

Auch auf Thomas Bernhard trifft dieser „Neigungswinkel der eigenen Existenz“. Ein Winkel aber ist zugleich eine Veränderung der Richtung, ein Bruch in der Linie, und von diesem Bruch her schrieb Bernhard: nämlich vom Tod, von der Krankheit, von dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod, der (s)ein Leben begleitet. Bernhard war seit Kindheit an sterbenskrank. Todkrank. Man kann das in seiner biographischen Tetralogie nachlesen: „Die Ursache“ „Der Keller“, „Der Atem“, „Die Kälte“ bzw. seiner Pentalogie, wenn man „Ein Kind“ mit in diese Reihe nimmt. Siebziger Jahre, Ich-Texte. Der von Bernhard aber ist besonderer Art und nicht bloß die öde Bekenntnisprosa der Subjektlosen, die sich, weil sie keines haben, aufs Subjekt kaprizieren: Bei manchen sei es eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen. Nicht bei Bernhard.

Atemwegserkrankung. Auch dieses Atemlose in Bernhards Prosa wurde unter dem „besonderen Neigungswinkel der eigenen Existenz“ geschrieben. Dieser Thomas Bernhard-Sound, der als nicht endenwollendes Satzstakkato und als Musik gleichermaßen ins Ohr schießt und dort nicht mehr hinausgelangt. Wenn es schlecht und epigonal verläuft, verstopft er schließlich den Gehörgang. Nichts als ein unendlich sich wiederholender, kreisender Text.

Auch Heidegger, den Thomas Bernhard in seinem vorletzten, heiter-traurigen Roman „Alte Meister“ mit einer grandiosen Beschimpfung (in Figurenrede versteht sich!) versah, wußte davon: Im Sterben nicht, sondern im Tod erst konstituiert sich die Ganzheit des Daseins, so heißt es in „Sein und Zeit“. Doch dieses Wissen kann an diesem Schnitt-Punkt nicht mehr gewußt werden. Götterdämmerung, ohne Gott, Weltverfinsterung. Das Schwarz der Schwärze. Bernhard ist all dies bekannt und es wird von ihm mit einem halkyonischen Lachen ausgesprochen. Er schrieb Dichtung.

Er führte die Form des literarischen Textes in Umkreisung sowie in musikalischer Wiederholung, um im Schreiben einen Punkt anzusteuern, der niemals erreicht werden kann: So wie der Zirkusdirektor mit seinen Komparsen niemals das Forellenquintetts zustande bringt, der Protagonist in „Beton“ niemals die Geistesarbeit schlechthin, also jenen unendlich beziehungs- und denkreichen Text über Mendelssohn Bartholdy fertig scheiben wird und Brusconi niemals seine Weltmenschheitskomödie „Das Rad der Geschichte“ wird aufführen können: „Utzbach, ausgerechnet Utzbach“. Es kreist die Prosa um die leere Mitte, abwesendes Zentrum, nie zu bewältigende Aufgabe, aber so, als wäre dieses Zentrum präsent und im Denken wenigstens noch irgendwie zu vergegenwärtigen, zumindest als Mystik – aber Bernhard ist nur bedingt ein Mystiker, soviel sei verraten –, als wäre diese Geistes- und Schreibaufgabe in irgend einer Weise schreibend zu schaffen, obwohl im Schreiben dieses unendlichen und alles im Denken erfassenden Textes nicht einmal der erste Schritt getätigt wurde. Es haftet bei den Bernhardschen Geistesmenschen alles auf Anfang. Und in der Krankheit: Morbus Boeck. Schreiben: ein Akt der Auslöschung.

Daß Bernhards Text immer wieder Novalis nennt, dürfte kein Zufall sein. „Was soll Echo machen, die nur Stimme ist?“, so Novalis in den Fichte-Studien. Gegenstand und Gegensatz bestimmen sich in der Schrift. Bernhard machte die Novalissche Philosophie zur Selbstverschleifung einer Antiromantik: dem Gemeinen wird nicht mehr der höhere Sinn und dem Gewöhnlichen kein geheimnisvolles Ansehen gegeben, sondern Gemeines und Gewöhnliches erscheinen als das, was sie sind, und es wird der Weltekel im Kreiseln der Sätze mehr und mehr. Aber lachend, im Modus der Ironie, eines tobenden Witzes, eines Furors, zweifelnd und verzweifelnd im Taumeln als Existenz. Und das ist durchaus auch gesellschaftlich gegründet. „Wechselerhöhung und Erniedrigung“ schreibt Novalis in seinen Fragmentsammlungen.

Wer aber Bernhards Text als bloße Überdrußhandlung des Weltschmerzjünglings liest, dem die Welt in euphorischen Verzückungsspitzen zuwider ist, der liest an Bernhards Text vorbei und verkennt das System dieses Textes: Ästhetische Form als Ausdruck inhaltlich konzentrischer Kreise in kalter Analytik des sprachlichen Daseins. Denn zugleich existiert bei Bernhard jener Bezug zur sprachanalytischen Philosophie Wittgensteins. Und nomen est omen: „Ich gehe zu keinem Doktor Frege mehr!“ heißt es in „Ritter Dene Voß“. Zu der Frage, ob die Welt auch als Tautologie in der Wahrheit gerechtfertigt sei, bleibt die Antwort: Kreisend.

Thomas Bernhards Schreiben kam von der Musik her, diese Herkunft hört man seiner Prosa an. Es strömen die ausufernden Perioden, die einerseits das Ewig-Kreisende, andererseits das Suchende beteuern. Fast in einer onomatopoetischen Anmutung geschieht das in seiner Erzählung „Gehen“, die in genau diesem Klang selber ein Stück Gehen, gehetztes, ständig fortschreitendes Gehen ist. Und ganz ähnlich klingt dieses Überschlagen und in der Wiederholung Vorantreibende der Sprache in der Erzählung „Goethe schtirbt“, die zuerst in „Die Zeit“ von 1982 und dann 2010 in dem gleichnamigen Erzählungsband erschien. Es ist das monologisch-monadologische Sprechen einer Ich-Instanz, die sich ihrer selbst und ihrer Welt in eben jenem Sprechen vergewissern möchte und die dabei bemerken muß, daß all diese Versuche ganz und gar vergeblich sind. In hora mortis: das Aussetzen der Sprache ist der Tod der Prosa, der Tod dieses Subjekts. Das liest man ebenfalls aus Bernhards Gedichten heraus, die bisher seltsam unentdeckt geblieben sind.

Auf Schritt und Tritt begegnet uns dieser Tod – mal als Entzugs, als dieses letzte Mal, wo wir nach einem Abendmahl, einem Abschied oder einem Streit einen Menschen zum letzten Mal in unserem Leben sehen, jene, der wir hernach nie mehr wiederbegegnen werden. Oder als letztes Mal unsere selbst, als letzter Atemzug, ganz real, so daß nur noch jener kalte und versteinerte Körper mit dem eingefrorenen letzten Zug verbleibt. Der Tod, der Tod, der Tod und das Mädchen, der Tod und das Subjekt, der Tod und die Literatur, der Tod und die Liebe. Der Tod als Lebenshintergrund. Bei Bernhard war er in drastischer Weise präsent und schaute zu: wie man in seiner autobiographischen Tetralogie nachlesen kann.

Ja, Goethe stirbt: es ist der Tod, in dessen Angesicht am Ende alles lächerlich erscheint. Nichts bleibt. Und so ging es, wenn man Thomas Bernhards Prosa glauben darf, am Sterbebett des Geistesriesen-Mannes aus Weimar in einem Akt humanistischer Weltverfälschung zu:

„Und kurz darauf jene zwei Wörter, die seine berühmtesten sind: Mehr Licht! Aber tatsächlich hat Goethe als Letztes nicht Mehr Licht, sondern Mehr nicht! gesagt. Nur Riemer und ich – und Kräuter – waren dabei anwesend. Wir, Riemer, Kräuter und ich einigten uns darauf, der Welt mitzuteilen, Goethe habe Mehr Licht  gesagt als Letztes und nicht Mehr nicht!  An dieser Lüge als Verfälschung leide ich, nachdem Riemer und Kräuter längst daran gestorben sind, noch heute.“ (Thomas Bernhard, Goethe schtirbt)

Es braucht am Ende die Verfälschungen der Literatur. Mehr Licht statt Mehr nicht. Die wenigstens können letzteren Satz ertragen. Thomas Bernhards Prosa, seine Lyrik und der dramatische Text haben diesen Umstand begriffen. Und die Weisheit des Silen hat Bernhard niemals verschwiegen. Und gelacht.

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Die Werke Thomas Bernhards sind bei Suhrkamp als Gesamtausgabe erhältlich: „Neun Romane, fünf autobiographische Bücher, vier Bände Erzählungen, sechs Dramenbände, ein Gedichtband, zwei Bände mit Journalistik, alles von Thomas Bernhard jemals, in Buchform wie in Zeitungen und Zeitschriften, Veröffentlichte“

[Dieser Text ist die stark überarbeitete, erweiterte Fassung eines Blogbetrags aus dem Jahr 2014]

Im dreißigsten Jahr: Zum Tod von Thomas Bernhard (1)

„Das Wesentliche an einem Menschen komme erst dann, wenn wir ihn als für uns verloren anschauen müssen, in der Zeit, in welcher dieser Mensch nur noch von uns Abschied nimmt, zum Vorschein. Er könnte auf einmal in allem, was an ihm nur noch Vorbereitung auf seinen endgültigen Tod sei, auf seine Wahrheit hin identifiziert werden.“ (Thomas Bernhard, Verstörung)

Die Schrecksekunde, als ich es vor dreißig Jahren in der Zeitung las: Thomas Bernhard tot. Internet gab es damals nicht und keine „Zeit“, keine „FAZ“, die minutengenau zur Punktlandung Thema Tod aufsetzten. Also geschah es naturgemäß, wie der Lauf der Medienzeit – der alten, der guten – damals sich gerierte, in den Zeitungen einen Tag später: Nachrichten waren langsam. Zumindest vom Heute aus gesehen.

Da also am 12.2.1989, an einem Sonntag im düsteren Februar einer der heimlichen (und hier auch heimischen) Hausheiligen dieses Blogs Todestag hat, muß es eine Hommage an Thomas Bernhard geben. Und zwar als Spaziergang in luftige Höhen, mit Krankheitsschub. Versteht sich. (Wer exzessiveres Gehen mag, lese die Bernhard-Erzählung gleichen Titels: Ein Wortschub, wie ein rasender Spaziergang.) Es war letztes Jahr in Wien. Ich besuchte zum ersten Mal Bernhards Grab, das nicht, wie die meisten annehmen, auf dem Zentralfriedhof ist, wo bekanntlich alle Prominenten Österreichs begraben liegen, oder zumindest fast alle Prominenten, sondern vielmehr auf dem ebenso abseits gelegenen, aber deutlich unbekannteren Grinzinger Friedhof, wo Bernhard sich klammheimlich und in aller Stille neben seinem Lebensmenschen beerdigen ließ.

Raus ging es also von der Josefstadt zu Fuß durch die Alservorstadt und dann mit der Tramlinie 38 weiter hinauf. Herrlicher Herbstsonntag über Wien. Und als ich in jenem beschaulichen Bezirk ankam, da Bernhard begraben liegt und wo die Weinseligkeit hängt und es fein, nein böse, derbe, grantelig, melancholisch im guten alten Wienerlied beim Heurigen tönt und klingt – es „muß ein Stück vom Himmel sein“, das ist in Wien so –, schlenderte ich bergan. Bei ziemlicher Hitze, trotzdem es bereits der letzte Tag im September war, nämlich der 30. Leider nicht vom Wein trunken, sondern derangiert durch eine Erkältung. Keine süße Herbstmelancholie, im milchigen Nebellicht die Blätter glänzen, sondern eine gleißende Pan-Sonne sticht über dem halborientalen Wien.

Hoher Mittag. Und ich kämpfte mich den Hügel hinauf, an den sich der Friedhof schmiegte, ich betrat das Tor, in der Hoffnung, es auch wieder zu verlassen und nicht womöglich in ein ausgehobenes Grab zu stürzen und dort vor Schwäche oder an gebrochenem Erkältungsherz zu verenden. Es geschah dies zwar nicht, aber eine noch stärkere, sich zunehmend einstellende und erheblich sich steigernde Erschöpfung, die auch die Lungen in Mitleidenschaft zu ziehen schien, ließ mich schier verzweifeln, eine Erschöpfung nicht nur durch die Hitze und die mehr und mehr zum Kopfe gestiegene Erkältung, sondern auch eine Ermattung durch innere Unruhe, denn es geschah das, was ich nicht für möglich hielt: Ich fand das Grab nicht. Ich hatte mir aus dem Internet die Lage notiert, hatte mir die Gestalt des Grabmals eingeprägt, aber trotz Suche fand und fand ich das Grab an dieser markierten Stelle nicht. Nicht daß das Grab leer wäre, sondern es war gar nicht erst da. Nichts. Menschen, Tote zwar, aber kein Bernhard-Toter. Die wenigen Menschen, die da Sonntag-Mittag auf dem Friedhof spazierten, konnten mir ebensowenig helfen. Du mußt die Blickrichtung ändern, dachte ich mir. Irgendwas funktioniert beim Schauen nicht. Und in der Tat – ich hatte aus dem Internet eine Grabtafel mit mehreren Namen im Kopf, darunter eben auch der von Bernhard, darüber der von Hedwig Stavianicek, seines Lebensmenschen. Nur, daß es sich hierbei um eine aufklappbare Tafel aus Metall, Bronze oder was auch immer handelte. Und heute war sie eben zugeklappt. Nur der scharfe Such-Blick, nun auch auf die am Boden eingelassenen Grabsteine rettete mich. Da war er: der Geistesheroe, der Wortschmied, der Satzmacher, der Stimmenimitator, der Untergeher. Der Tod ist tückisch – in vielerlei Hinsicht, er narrt noch im Angesicht des Todes.

So schaute ich versonnen aufs Grab, freute mich, ganz und gar erschöpft, dachte mir meinen Teil, dachte an die herrlichen Bernhard-Zeiten der 80er Jahre in Hamburg, dachte ans Leute-Bezichtigen, als das Internet noch nicht da war, dachte an die Figuren-Reden in Wut und Verachtung auf das Polit-Gesindel – „die roten wie die schwarzen Schweine“, eigentlich nicht anders als damals, identitäre Gesinnung hüben wie drüben und die Banalität der Blöden. Dachte in die wundervolle „Beton“-Lesung mit Peter Fitz 1992 im Deutschen Schauspielhaus zu Hamburg: wie er mit dieser für Peter Fitz typischen Intensität diesen Bernhard-Text vortrug und ihm qua Intonation einen ganz eigenen Schwung mit auf dem Weg gab: das war ein Ereignis für sich, ein neuer Bernhard Minetti, dachte ich mir, nachdem ich in der Theaterkneipe mit einer Freundin Muscheln und Grünen Veltliner verzehrte, reichlich Veltliner, reichlich, bis über Mitternacht hinaus ging es, im dunklen herrlichen „Dorf“, es muß im Januar 1992 gewesen sein, so tranken wir, tranken viel, wie üblich, weiter gegen zwei Uhr, morgens ins „Erikas Eck“, trunken mit Mett-Brötchen, irgendwelche Studenten sangen provokant die DDR-Nationalhymne und die Metzger standen auf und schmissen die Jungspunde kurzerhand hinaus, soviel zur aktivistischen Propaganda der Tat des Arbeiters, ich lachte dazu. Inzwischen waren wir zum stärkenden Kaffee gewechselt, das unendliche Plaudern und Debattieren ging bis in den frühen Tag, neun Uhr, mit Kaffee, Brötchen und Reden, wenn der Morgen erwacht und dann gegen 10 Uhr mit dem Fahrrad zur Uni, ohne Schlaf, und die HiWi-Stelle, ich dachte überm Grabstein an die Inszenierung „Die Macht der Gewohnheit“, wo es Peter Fitz als Zirkusdirektor niemals gelang, mit seiner schwachmatischen Mannschaft das Forellen-Quintett aufzuführen, dachte an den lauten, markanten, großartigen Schauspieler Ulrich Wildgruber im „Theatermacher“, den ich gut zu imitieren wußte:  „Morgen Augsburg!“, „Utzbach das ist sicher eine reizender Ort hat sie auf der Fahrt hierher gesagt und wie sie Utzbach gesehen hat, ist sie in Ohnmacht gefallen. Eine Theatermacherin natürlich“, all das zitiert in dieser unnachahmlichen Wildgruber-Aussprache:

„Was hier
in dieser muffigen Atmosphäre
Als ob ich es geahnt hätte.“

So gingen die ersten Zeilen aus diesem meinem damaligen Lieblingsstück von Bernhard.

Zeiten, Zeiten, wunderbare Zeiten und vergangen. Auch Thomas Bernhard verschwand von den deutschen Bühnen, andere Autoren traten auf den Plan. Vielleicht gut so, daß ein solch literarisches Gewicht sich wieder reduziert und weg von den Anbetungsaltären, es gab zu viele Proselyten. Es nervte irgendwann, ist nicht anders als mit den ebenso zu dieser Zeit grassierenden Goetz-Jüngern. Doch war es eine schöne Zeit. Nur daß eben alles das sterben und irgendwann auch wieder hinab muß, so dachte ich mir im frühen Herbst 2018 auf dem Grinzinger Friedhof mit dem herrlichen Blick über Bernhards geliebtes und gehaßtes Wien.

„Wer existiert
hat sich mit der Existenz abgefunden
wer lebt
hat sich mit dem Leben abgefunden
so lächerlich kann die Rolle gar nicht sein
die wir spielen
daß wir sie nicht spielen.
(Thomas Bernhard, Der Theatermacher)

Existenzexzeß, Theatrum mundi.

Doch leises Tönen da am Hang, die Grinzinger Erde wisperte: „Bring im Winter den Bernhard-Nachruf in zwei Teilen und nicht in einem Stück“, schallte es aus der Gruft überm sonnigen Herbstwien: „Deine Texte sind zu lang!“

[Ende des ersten Teils]

Über das Gehen in der Sprache, das Gleiten und Auslöschen und daß uns der Verlust des einzig geliebten Menschen, gar des Lebensmenschen durch rein gar nichts ersetzt werden könne – Thomas Bernhard zum 85. Geburtstag

Als ich mit meinen Gedanken zu Ende war, so sprach ich zu Reger und zu Oehler, während diese mir im selben Augenblick vorhielten, daß ich der schlechteste aller bisher aufgetretenen Stimmen- und Bernhard-Imitatoren sei, die es in der Blogwelt wie auch in der Daseinswelt des Realen und Faktischen gebe und ich Reger wie Oehler einerseits innerlich zustimmte, aber doch ein wenig verärgert über deren vorschnellen beim Gehen zum Mittagsstammtisch unserer Billigessensgehergemeinschaft geäußerten ungeheuren Verdacht, und mich also dahingehend äußerte, daß man über die Einsamkeit glücklich sein müßte und daß sich doch und dennoch mit diesem Satz das Unglück nicht zum Glück machen ließ, entgegnete der ebenfalls mitgehende Koller in harschem Ton, daß Sprache vor allem „aus Wörtern gleich Gewichten bestehe, von welchen die Gedanken fortwährend herunter und zu Boden gedrückt und dadurch in keinem einzigen Falle in ihrer ganzen Bedeutung und tatsächlichen Unendlichkeit offenbart werden können. Die Sprache belaste das festzuhaltende Denken in unglücklichster Weise und reduziere es in jedem Falle auf einen fortwährenden Schwächezustand des Geistes, mit welchem sich der Denkende aber abzufinden habe. Denken sei noch niemals in seiner Vollkommenheit und Unendlichkeit wiedergegeben worden, so Goldschmidt zu Koller. Daran werde sich solange die Wiedergabe des Denkens auf Sprache angewiesen sei, nichts ändern.“ Dem mochte Bersarin nichts entgegenhalten, und als sie im Ganymed am Schiffbauerdamm angelangt waren, aßen sie sprachlos ihr Essen miteinander. Fünfmal Frittatensuppe.

***

thomas_bernhards_viele_gesichter_bernhard20110202200301Thomas Bernhard ist ein Schriftsteller, dem man – zunächst und auf den  ersten Blick zumindest – am wenigsten die Tradition der Romantik zutraut oder ihn damit in Verbindung brächte. Eher schon mit den Dauerschimpftiraden, der Wut auf Österreich, mit den zwanghaften Marotten, die aber nicht einmal mehr gut freudianisch neurotisch zu nennen sind, sondern eine paranoide Schleife drehen. („Ich gehe zu keinem Doktor Frege mehr“: Sprache in Sprache, in Sprache). Aber die unendliche Schlechtheit von Welt oder die schlechte Unendlichkeit einer Beckettschen unendlichen Annäherung, asymptotisch und doch immer erfolglos wie der Versuch, nur einmal das Forellenquintett einzuspielen oder den ersten Satz einer Arbeit über Mendelsohn-Bartholdy zu beginnen, erweist Thomas Bernhard, grosso mode, mutatis mutandis, als einen der legitimen Nachfolger romantischer Theorie und Literatur. In die heillose Moderne transformiert, die die Romantiker lediglich mit leichtem Schrecken und Schaudern ahnen mochten. So retteten sie sich in die Transzendentalpoesie und ins unendliche Poetisieren von Welt. Ein Bilderreigen Blüthenstaub.

Es sind Umwege, Abwege, Besessenheit. Endlosschleifen wie letzte Bänder gespult und verheddert wie nur Magnetbänder sich ineinanderwinden können. Bandsalat im Trägermaterial. Das kann man ebenso auf die Sprache als Medium übertragen. Eigentümlich eigentlich, daß Thomas Bernhard im Internetzeitalter der Echokammern, des Dauer-Mimimi, der uferlosen Dispute ohne Sinn und ohne Verstand und vor allem der Blasenwelt nicht viel mehr wieder ins Bewußtsein rückt und – wie noch in den 80er Jahren und in den frühen 90ern – nicht mehr auf den Spielplänen der Bühnen steht. Ein fast vergessener Österreicher ist er sicherlich nicht, wie etwa Gert Jonke oder der legendäre Werner Schab – so ganz übergewichtig und in Unform aus dem Leben geschieden, aber in seiner Bedeutung, in seiner Realismushärte keinesfalls unwichtig. (Die Mariedl macht es halt ohne: die Widerlichkeit der Welt: eine Kloschüssel, die rein ohne Gummihandschuhe gesäubert wird.) Ja, Filterblasenwelten. Nur daß deren Bewohner im Netz in den kommunikativen Solipsismus von Facebook oder Twitter sinnlos und zeitraubend sich verkapseln, während es in der Bernhardschen Sprachwelt wuchernder und wilder zugeht. Ich und sie und Solipsie. Solipsismus der Sprache, das Gefängnis, aus dem sich nicht ausbrechen läßt. Eine Art „Verstörung“, ein Buch, gemacht ganz aus Sprachreflexion. Filterlos, bruchhaft, im Vakuum der Existenz, abgeschieden. Ein Lebens-, Denk- oder Schreibexzeß, der sich in einer unendlichen beschränken Aufgabe manifestieren. Sei dies auch der einzige und perfekte Satz, aus dem sich das Ganze der Welt evoziert, die Welt selbst, ihre Ausdrucksform hervorgezogen wird. Verdichtet, nicht darstellbar fast, AUfgbe der Kunst eben, dieser Wahnsinn in Sprache kurz vor den Mauern von Steinhof. „…möglichst alles an einem einzigen Gedanken von weit unter dem Horizont aus dem Nichts heraufzuziehen, …“ („Verstörung“)

Der eine und einzige Gedanke war Bernhards Obsession, musikalisch in Sprache Kreise ziehend, Loops drehen, wissend, daß dieser eine Gedanke als metaphysica specialis und generalis in einer Trasse, als Ausdruck, als Denken, womöglich als intellektuelle Anschauung unerreichbar, tentativ, nur in Konstellation machbar, denkbar, spielbar ist oder als ein Bild-Mosaik in einem Kaleidoskop aufblitzt, um sodann wieder sich zu entziehen und zu verlöschen. Wer diese Gipfel besteigt, kann sich nur dem Scheitern aussetzen. Am Ende ist es der Vollzug selbst, der zählt: mal als bloßes Abbruch, wie im Forellenquintett, das der Zirkusdirektor Caribaldi in „Die Macht der Gewohnheit“ mit den seinen zu spielen sich abmüht. Es geht in diesen Szenen schon lange nicht mehr um die perfekte Aufführung, sondern einzig um den Akt des Musizierens selbst, um die Performanz, um die Aufführung einer Aufführung, die zudem noch mit absoluten Dilettanten, sozusagen mit Bajazzos stattfindet, um auf Thomas Mann zu weisen, dem Bernhard in „Auslöschung“ Leitzordnerliteratur konzedierte. Oder ein „Scheitern als Chance“: Selbstreferenz des Theaters, die Bernhard in unterschiedlichen Varianten, bis zum Verlöschen des unabdingbaren Notlichts bei „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ ausspielte. Wenn wir in seinem Deklamieren und in seinem Furor jenen Theatermacher, den Staatsschauspieler Bruscon, betrachten; in seinem donnernden Größenwahn, der im Dörfchen Utzbach sein Theater-Spiel treiben muß: theatrum mundi, Weltentragödie, Weltenkomödie, mit Bismarck und Napoleon als Rollenspiel. Während im Hinterzimmer des Wirtshauses, wo gastiert werden soll, ein Hitlerbildchen hängt. Das Lamento ist die Aufführung als solche. Sprache kann sich einzig annähern.

Es sind die Details, vielleicht manchmal auch das Spiel oder die Übertreibung um der Übertreibung willen; die Fragmente, worin wir die höchste Lust haben, wie der um seinen Lebensmenschen trauernde Reger in „Alte Meister feststellt. Das Gefühl der Lust und Unlust als das rezeptionsästhetische Lebenserhaltungsmaschinerie und Regung im Subjekt. Aber diese Szenen auf jener Bank im Kunsthistorischen Museum zu Wien weisen zugleich auf den Objektfetischismus und insbesondere auf die Fixierungen, die das Werk Bernhards tragen: Die samtene Museumsbank, auf der Reger jeden zweiten Tag bis auf Montag hockt, auf der er seine geliebte Frau, einen Lebensmenschen eben, kennenlernte. Um die Fixierungen aufzubrechen, erzeugten die Romantiker eine Funkenschweif aus Bildern, einen Strom, in dem das eine Bild sich aufs andere bezieht, eines zugleich das andere übersteigt, durchstreicht, auflöst, überblendet. Aber nicht in der Weise dialektischer Aufhebungen undVermittlung, sondern als das, was bei Hegel die schlechte Unendlichkeit heißt. Diese finden wir auch in Bernhards Werk. Und erst die Fragmente, die Bruchstücke, die den Fluß bilden, gewährleisten Leben:

„Erst wenn wir immer wieder darauf gekommen sind, daß es das Ganze und das Vollkommene nicht gibt, haben wir die Möglichkeit des Weiterlebens. Wir halten das Ganze und Vollkommene nicht aus.“ („Alte Meister“)

Ein jeder Engel ist schrecklich, wußte der Österreicher Rilke zu dichten. Thomas Bernhard ist aktueller denn je.

Bild: (c) Johann Barth/ (c) Sepp Dreissinger, entnommen: Die Presse.com

Vienna Calling – Rückkopplungen und Rückreise

Gut erholt trifft der Blogbetreiber aus einer der Filialen des Grandhotels Abgrund – nämlich: Wien, Loge der Dekadenz samt des verblaßten Glanzes – wieder in Berlin ein. Vom vorgestrigen Tage bekam ich in Wien wenig mit. Etwas Geschrei und Gejohle und das war es dann. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. In vier Jahren werden dieselben Debatten aufkeimen.

Wie ich lese, starb das letzte der „Ramones“-Mitglieder – Tommy Ramone nämlich. Nun ist es vorbei. Wie alles. Ebenso starben der Künstler On Kawara, der die Zeit in Zeichen, Reflexion und Imagination verwandelte, sowie der Schauspieler Gert Voss, exakt während ich in Wien mich aufhielt. Einen Tag zuvor fragte mich eine Freundin: „Was macht eigentlich Gert Voss?“ Gute Frage. Thomas Bernhard schrieb ein ganzes Theaterstück über jene drei Schauspieler: „Ritter, Dene, Voss:

 VOSS: Wir können nicht denken, wenn wir an Menschen und ihre Bedürfnisse gebunden sind.
(Th. Bernhard, Ritter, Dene, Voss)

Nie mehr zum Doktor Frege zu gehen. „Ich gehe zu keinem Doktor Frege mehr hin.“ Krankheit zum Tode. Denken, Gehen, sich in den Büchern bewegen, sie wie die Nahrung in einem Wirtshaus aufnehmen. Nahe am Wahnsinn. Die Ekstase der Existenz als Text. Der Geistesmensch als jene tragikomische Gestalt, eine Art kranker Don Quichotte, der sich im Bewußtseinsinnenraum verrennt, an den Projekten immer wieder scheiternd, lustvoll und in Qual zugleich, immer nahe am Steinhof wohnend, hausend, denkend– jener Irrenanstalt bei Wien.

Heimgekehrt: Um mehrere Kilo schwerer von Wein und Wurst, Schnitzel und Gemischtem Satz oder Grünem Veltliner komme ich nach Hause. (Ich wüßte es genauer, wenn ich mich wöge.) Und naturgemäß auch das da: Frittatensuppe.

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WIRT
Frittatensuppe sagten Sie
BRUSCON
Selbstverständlich
Das einzige
das hier gegessen werden kann
ist Frittatensuppe
Aber nicht zu fett
immer diese Riesenfettaugen in der Suppe
selbst in der Frittatensuppe
feiert die Provinz ihre Triumphe
(Th. Bernhard, Der Theatermacher)

Der Transitraum, Wartesäle und Aufenthaltsbereich des Menschen der (Post-)Moderne. Hektisch die Finger am Handy, am Smartphone, auf dem Tablett-PC oder am Laptop. Manchmal auch schlafend und ruhend. Wie in einem Marthaler-Stück. Eine eigentümliche Bewegungslosigkeit herrscht manchmal an den Nicht-Orten, die lediglich Durchgangsstationen bilden.

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Wien – Berlin: die aufkommende Moderne zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Jahrhundertwende. Berggasse: die dritte narzißstische Kränkung fürs Subjekt: daß das Ich im eigenen Hause nicht mehr der Herr sei. Ich besah das Wartezimmer von Freuds Praxis, das Behandlungszimmer, Freuds Arbeitszimmer, in dem eines der bedeutendsten Werke der Jahrhundertwende entstand: „Die Traumdeutung“. Aber es lassen mich diese Dinge, die Stuhl-Objekte, die Bilder, die Sofas kalt. Nichts besitzt eine Aura. Es ist alles simuliert. Ein Museum eben. Das einzige, was mich bewegte, waren die Gemälde im „Kunsthistorischen Museum“. Die Kaffeehäuser: Karl Kraus und Peter Altenberg. Aber ich bin aus dem Alter heraus, stundenlang im Kaffeehaus zu sitzen: ich kann mich dort nicht konzentrieren, mag weder schreiben noch lesen, weil ich von den Menschen, von ihrem Treiben, von der Unruhe abgelenkt bin, und wir sind in einer fremden Stadt sowieso nur Touristen; da hat es etwas Albernes, den Wiener Schmäh und die Wiener Kaffeehaus-Tradition nachzuahmen oder irgendwie schriftstellerisch-philosophisch zu simulieren. Neun Tage sind zudem eine viel zu kurze Zeit, um in irgend einer Weise in einer Stadt als Bewohner und Lebewesen anzukommen. Der Mensch bleibt Tourist, solange er reist und sich von seinem Zuhause, seinem Wohnort fortbewegt. Die meisten tun so, als gehörten sie dazu, wenn sie einen oder zwei Monate irgendwo leben.

Allenfalls könnte ich in einem der vielen, meist in altmodischem Interieur gehaltenen oder gediegen auf alt gemachten Kaffeehäusern die Menschen beobachten – vielleicht in der Weise, wie Thomas Bernhard es über seinem Freund Paul Wittgenstein in dem Text „Wittgensteins Neffe“ beschreibt:

„Im Sommer hatten wir unseren Stammplatz auf der Terrasse des Sacher und existierten die meiste Zeit aus nichts anderem als aus unseren Bezichtigungen. Gleich was vor uns auftauchte, es wurde bezichtigt. Stundenlang saßen wir auf der Sacherterrasse und bezichtigten. Wir saßen bei einer Schale Kaffee und bezichtigten die ganze Welt und bezichtigten sie in Grund und Boden. Wir setzten uns auf die Sacherterrasse und setzten unseren eingespielten Bezichtigungsmechanismus in Bewegung hinter dem Arsch der Oper, wie Paul sich ausdrückte, denn sitzt man vor dem Sacher auf der Terrasse und schaut geradeaus, schaut man genau auf die Hinterseite der Oper. Er hatte seine Freude an solchen Definitionen wie dem Arsch der Oper, wohl wissend, daß er damit nichts anderes als das Hinterteil seines wie nichts auf der Welt geliebten Hauses am Ring bezeichnete, aus welchem er so viele Jahrzehnte mehr oder weniger alles, das er zum Existieren brauchte, bezog.“
(Th. Bernhard, Wittgensteins Neffe).

 Demnächst mehr zu Wien, in Wort und Bild – auf diesem Blog.

Thomas Bernhard – zum 25. Todestag. Der Tod als Weltverfinsterung, als Lebensteil in den halkyonischen Sphären

thomas-bernhard-kaelte100~_v-image512_-6a0b0d9618fb94fd9ee05a84a1099a13ec9d3321 Was von diesem Absterben gehört Dir
und was ist mein Teil an diesem Absterben?
Ich ertrüge Dich nicht ohne zu wissen,
Du oder Ich
oder irgendein Schläfer meines Namens,
Du, der mich mit einem anderen verwechselte,
der mich aufweckte für einen andern
Du, der mich ausschloß aus ihrer Eitelkeit,
Du, der mich erfand, Du, meine einzige
Poesie …
(Thomas Bernhard, in: Ave Vergil)

Es gibt Umstände, für die es keinerlei Sprache und Ausdruck gibt. [Allenfalls den Somatischen, den des Körpers.] Der Tod ist ein solcher Umstand.

Es ist die Sprache, die Poesie, der Text, in dessen Struktur der Schreib-Körper sich einbettet und hineinbegibt. Unter dem „besonderen Neigungswinkel der eigenen Existenz“, wie es bei Paul Celans heißt, verschwindet das Ich in jenem Text, den wir Literatur und Lyrik nennen – der Text, in dem ein jegliches zugleich fiktiv und real in einem aufscheint und darin sich transformiert. Auf Thomas Bernhard trifft dieser „Neigungswinkel der eigenen Existenz“ insbesondere zu. Er schrieb sich von genau diesem her: vom Tod, von der Krankheit, von dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod, der ein Leben begleitet.

Götterdämmerung, ohne Gott, Geistesheroen, Weltverfinsterung. Das Schwarz der Schwärze. Und alles dies mit einem halkyonischen Lachen ausgesprochen.

Thomas Bernhard ist einer der radikalsten Schriftsteller des letzten Jahrhunderts; er führte die Form des literarischen Textes in eine Schreibweise der unendlichen Umkreisung sowie der vom Sound her musikalischen Wiederholung, um im Schreiben und Denken einen (imaginären oder auch imaginierten) Punkt anzusteuern, der niemals erreicht wird: So wie der Zirkusdirektor mit seinen Komparsen in „Die Macht der Gewohnheit“ niemals das Forellenquintetts zustande bringen, der Protagonist in „Beton“ niemals die Geistesarbeit schlechthin über Mendelssohn Bartholdy als Text fertig scheiben wird und Brusconi niemals seine Weltmenschheitskomödie wird aufführen können: „Utzbach, ausgerechnet Utzbach“. Es kreist die Prosa um jene leere Mitte, jenes abwesende Zentrum, jene nie zu bewältigende Aufgabe, so als wäre dieses Zentrum präsent und im Denken noch irgendwie zu vergegenwärtigen, als wäre diese Geistes- und Schreibaufgabe in irgend einer Weise schreibend zu schaffen, obwohl im Schreiben dieses unendlichen und alles im Denken erfassenden Textes nicht einmal der erste Schritt getätigt wurde. Es haftet bei den Bernhardschen Geistesmenschen alles auf Anfang und in der Krankheit: Morbus Boeck. Schreiben: ein Akt der Auslöschung.

Unvergeßlich, naturgemäß unvergeßlich bleibt diese Prosa, unvergeßlich bleibt die Lyrik, unvergeßlich bleibt das Drama (dazu zählt auch die Komödie!) von Thomas Bernhard. Und unverbesserlich gelungen ebenso die im wahrsten Sinne atemberaubende Konstruktion seiner Sätze. Auch dieses Atemlose in Bernhards Prosa wurde unter dem „besonderen Neigungswinkel der eigenen Existenz“ geschrieben. Dieser Thomas Bernhard-Sound, der als nicht endenwollendes Satzstakkato und als Musik gleichermaßen ins Ohr schießt und dort nicht mehr herausgelangt. Wenn es schlecht und epigonal verläuft, verstopft er schließlich den Gehörgang. Wie viele angehende Autoren waren in den 80ern und in den 90ern nach seinem Tod mit diesem Ton berührt, versaut und verträufelt. Es ist dieses Bernhardsche Textgestrüpp eine besondere Weise die ästhetischen Form im Modus der Iteration als schlechte Unendlichkeit zu organisieren und im selben Moment zu dekonstruieren, artifiziell gebaut, eine geschickte Weise, einen Klang sowie eine Satzmelodie zu erzeugen, die unverwechselbar sind. Nichts mehr als ein unendlich sich wiederholender, kreisender Text. Nicht nur, um des spielerischen Effektes willen, sondern durchaus in der Sache gegründet.

Daß Bernhards Text immer wieder Novalis nennt, dürfte kein Zufall sein. „Was soll Echo machen, die nur Stimme ist?“, so Novalis in den Fichte-Studien. Gegenstand und Gegensatz bestimmen sich in der Schrift. Bernhard machte die Novalissche Philosophie zur Selbstverschleifung einer Antiromantik: dem Gemeinen wird nicht mehr der höhere Sinn und dem Gewöhnlichen kein geheimnisvolles Ansehen gegeben, sondern Gemeines und Gewöhnliches erscheinen als das, was sie sind, und es wird der Weltekel im Kreiseln der Sätze mehr und mehr. Aber lachend, im Modus der Ironie, zweifelnd und verzweifelnd im Taumeln als Existenz. (Und das ist durchaus auch gesellschaftlich gegründet.) „Wechselerhöhung und Erniedrigung“ schreibt Novalis in seinen Fragmentsammlungen. Wer aber Bernhards Text als bloße Überdrußhandlung des Weltschmerzjünglings liest, dem die Welt in euphorischen Verzückungsspitzen zuwider ist, der liest an Bernhards Text vorbei und verkennt das System dieses Textes: Ästhetische Form als Ausdruck inhaltlich konzentrischer Kreise. Denn zugleich existiert bei Bernhard jener Bezug zur sprachanalytischen Philosophie Wittgensteins. Zu der Frage, ob die Welt auch als Tautologie in der Wahrheit gerechtfertigt sei. Auch in dieser Frage: Kreisend.

Thomas Bernhards Schreiben kam von der Musik her und diese Herkunft hört man seiner Prosa an. Es strömen die nicht endenden, ausufernden, sich überschlagenden Perioden, die einerseits das Ewig-Kreisende, andererseits das Suchende und Apodiktische beteuern. Fast in einer onomatopoetischen Anmutung geschieht das in seiner Erzählung „Gehen“, die in genau diesem Klang selber ein Stück Gehen, gehetztes, ständig fortschreitendes Gehen ist. Und ganz ähnlich klingt dieses Überschlagen und in der Wiederholung Vorantreibende der Sprache in der Erzählung „Goethe schtirbt“, die zuerst in „Die Zeit“ von 1982 und dann 2010 in dem gleichnamigen Erzählungsband erschien. Es ist das monologisch-monadologische Sprechen einer Ich-Instanz, die sich ihrer selbst und ihrer Welt in eben jenem Sprechen vergewissern möchte und die dabei bemerken muß, daß all diese Versuche ganz und gar vergeblich sind. In hora mortis: das Aussetzen der Sprache ist der Tod der Prosa, der Tod dieses Subjekts. Bernhard war – biographisch gesehen – nahe an diesem Tode dran. Aus gutem Grunde schätzte Bernhard die Essais des Michel de Montaigne. Denn philosophieren heißt bekanntlich, sterben lernen.

Es läßt sich an diesem Umstand des unwiderruflichen Todes, diesem Sterben-müssen, das als unaufhebbares Faktum zugleich im Wunsch und als Utopie abzuschaffen wäre, wie Adorno es formulierte, ja gar nicht vorbeischreiben. Die Utopie allen Lebens: den Tod abzuschaffen. Tocotronic singen es sehr fein auf den Punkt: Abschaffen, abschaffen, abschaffen.

Auf Schritt und Tritt begegnet uns dieser Tod – mal als Metapher im Sinne des Entzugs, als dieses letzte Mal, wo wir nach einem Abendmahl, einem Abschied oder einem Streit einen Menschen zum letzten Mal in unserem Leben sehen oder hören, den wir hernach nie mehr wiederbegegnen werden. Oder als letztes Mal unsere selbst oder eines anderen, als letzter Atemzug, ganz real, so daß nur noch jener kalte und versteinerte Körper mit dem eingefrorenen letzten Zug verbleibt. Der Tod, der Tod, der Tod und das Mädchen, der Tod und das Subjekt, der Tod im Straßenverkehr, der Tod und die Literatur, der Tod und die Liebe. Der Tod als Lebenshintergrund. Bei Bernhard war er es in drastischer Weise, wie man in seiner autobiographischen Tetralogie „Die Ursache“ „Der Keller“, „Der Atem“; Die Kälte“ bzw. Pentalogie, wenn man „Ein Kind“ mit in diese Reihe nimmt, nachlesen kann.

Ja, Goethe stirbt: es ist der Tod, in dessen Angesicht am Ende alles klein und lächerlich erscheint und nur weniges bleibt. Und so ging es, wenn man Thomas Bernhards Prosa glauben darf, am Sterbebett des Mannes aus Weimar in einem Akt humanistischer Weltverfälschung zu:

„Und kurz darauf jene zwei Wörter, die seine berühmtesten sind: Mehr Licht! Aber tatsächlich hat Goethe als Letztes nicht Mehr Licht, sondern Mehr nicht! gesagt. Nur Riemer und ich – und Kräuter – waren dabei anwesend. Wir, Riemer, Kräuter und ich einigten uns darauf, der Welt mitzuteilen, Goethe habe Mehr Licht  gesagt als Letztes und nicht Mehr nicht!  An dieser Lüge als Verfälschung leide ich, nachdem Riemer und Kräuter längst daran gestorben sind, noch heute.“ (Thomas Bernhard, Goethe schtirbt)

Es braucht am Ende die Verfälschungen der Literatur. Mehr Licht statt Mehr nicht. Die wenigstens können letzteren Satz ertragen. Thomas Bernhards Prosa, seine Lyrik und der dramatische Text haben diesen Umstand begriffen und in eine Anordnung gebracht. Aber die Weisheit des Silen hat Bernhard niemals verschwiegen.

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„Es ist alles Lächerlich, wenn man an den Tod denkt“ – Thomas Bernhard zum 80. Geburtstag

Wenn ein Blog einige Zeit lang existiert, kann man – anders als beim Feuilleton einer Zeitung, da funktioniert das nicht – gut auf seine alten Texte verweisen, indem man einen Link setzt. Denn dort wurde bereits Wesentliches besprochen und für all die jungen und neuen Leserinnen (vor allem) und Leser, welche den Blog aufmerksam verfolgen, denen aber das Vergangene entgangen ist, bietet sich auf diese Weise eine Gelegenheit, in die Archive zu steigen, um eine ältere Würdigung des Schriftstellers Thomas Bernhard zu lesen. Hier ist sie.

Andererseits möchte ich mich nicht langweilen und zudem meinen Leserinnen und Lesern Neues anbieten: Sie nicht mit den alten Dingen abspeisen, zumal sich über Bernhard manches und vieles schreiben läßt. Da mag es zu seinem 80. Geburtstag naheliegen, einen Blick auf die autobiographischen Romane zu werfen, so daß vermittels diese Textes der Geburtstag in einer essaiistischen Form gewürdigt wird. Es sind ihrer fünf Romane, die zwischen 1975 und 1982, nicht bei Suhrkamp, was Unseld sehr ärgerte, sondern im Residenz Verlag (und dann bei dtv), in jener Reihenfolge erschienen: „Die Ursache. Eine Andeutung“, „Der Keller. Eine Entziehung“, „Der Atem. Eine Entscheidung“, „Die Kälte. Eine Isolation“ und „Ein Kind“. Der letzte Text dieser autobiographisch geprägten Romane beschriebt von der Chronologie her den Anfang dieses Lebens, nämlich die Jahre der Kindheit bis zum Eintritt ins Salzburger Internat, der dann in „Die Ursache“ den Auftakt bildet. Eine Kreisbewegung vollzieht sich dabei und vollendet sich.

„Mein Großvater griff sich an den Kopf und sagte: wie gut, daß es nicht Passau ist, daß ich Salzburg für Dich bestimmt habe.“ So der Schlußsatz des Romans „Ein Kind“. Zum Ende des letzten, eigentlich harmonisch ausklingenden Teils hin wird der Leser wieder in die Verstörung geworfen, weil er weiß, was folgt. Es ist dieses Ende (der Kindheit) von der Strukturierung her konsequent komponiert.

Das Verstörende einer Existenz, die das Ende der Kindheit bedeutete, ist zum Beginn des Romans „Die Ursache“ an eine Stadt gekoppelt und wird eins mit ihr. Es ist Salzburg, das den Auftakt des Textes bildet; genauer gesagt ist es eine Zeitungsmeldung über das Bundesland Salzburg vom 6. Mai 1975, in der es heißt, daß Salzburg gegenüber allen übrigen österreichischen Bundesländern die höchste Selbstmordrate aufweise. Man dachte, es wäre Kärnten, aber tatsächlich ist es Salzburg. Dieser Roman beginnt – nach jener Zeitungsmeldung, die aus der Schreibgegenwart Bernhards stammt – mit furiosen Sätzen, von der Konstruktion her taumeln und atemlos gebaut – beim bekanntermaßen schlechten Wetter Salzburgs anfangend –, eine Tirade des begründeten Hasses auf diese Stadt und seine Menschen, ein Sprachstrom der Verzweiflung und der Aufwallung, welcher auf die Umstände und vor allem auf diese, so Bernhard, durch und durch katholische und nationalsozialistische Menschenvernichtung, die mit Salzburg und mit den Erinnerungen des Protagonisten verkoppelt ist, reflektiert: Die nationalsozialistische Erziehungsanstalt, in welche der Protagonist wie aus dem Nichts und für ihn völlig unbegreiflich 1943 hineingeworfen wurde, die dann nach 1945 mühelos zum katholischen Internat sich wendete.

Zum Anfang von „Die Ursache“ ist es ein „Er“, auf das der Erzähler blickt, das beschrieben wird inmitten dieser Welt der Verzweiflung, in die Welt des Internats hineingeschleudert, wo eine Geistes- und Gemütszersetzung des Menschen, der sich in seiner Reifezeit bewegt, stattfindet. Diese Stadt ist in allen ihren Aspekten und Ausprägungen ein Todesort, in den der Heranwachsende, der 13-Jährige mit einem Male und unvermittelt gestoßen wird. Und im Fluß der Sprache gerät dieses Er, das da rückblickend in der Außenperspektive der abgelebten und doch fortwirkenden Vergangenheit gesehen wird, zum Ich; es reflektiert in sich hinein und zieht das Geschehene im Akt des Erinnerns hervor. Es sind diese Sätze samt der anfänglichen Distanz, die nicht „Ich“ schreiben kann, zugleich eine furchtbare, aber notwendige Vergewisserung des Selbst, der eigenen Existenz, der Künstlerexistenz, welche am Ende und im Gang der Reflexionen und Spiegelungen die einzig mögliche ist. Intuitiv ahnte der 13-Jährige dies bereits. Schon dem Jugendlichen bot diese Kunst den einzigen Ort des Rückzugs; exemplarisch wird dies an der widerwärtigen Schuhkammer des Internats vorgeführt, die der Zögling zum Geigespielen und -üben zugewiesen bekommt.Diese Kammer ist ein Selbstmordort, ein Verzweiflungsort und zugleich das Gegenteil davon, der Ort, wo in der äußersten physischen Enge sich das Vergessen des Daseins in der Musik einstellt, dieses Schopenhauersche Motiv seiner Kunstmetaphysik: wenn das Subjekt aus sich heraustritt, sich aus der Welt der Vorstellungen entläßt (und es hat insofern seine Gründe, weshalb Schopenhauer, neben Novalis, einer der für Bernhard so bedeutsamen Philosophen ist.)

„Die Schuhkammer ist mit hunderten von schweißausschwitzenden Zöglingsschuhen in morschen Holzregalen angefüllt und hat nur eine knapp unter der Decke durch die Mauer geschlagene Fensteröffnung, durch welche aber nur die schlechte Küchenluft hereinkommt. In der Schuhkammer ist er allein mit sich selbst und allein mit seinem Selbstmorddenken, das gleichzeitig mit dem Geigenüben einsetzt. So ist ihm der Eintritt in diese Schuhkammer, die zweifellos der fürchterlichste Raum im ganzen Internat ist, Zuflucht zu sich selbst, unter dem Vorwand, Geige zu üben, und er übt so laut Geige in der Schuhkammer, daß er selbst während des Geigenübens ununterbrochen fürchtete, die Schuhkammer müsse in jedem Augenblick explodieren, unter dem ihm leicht und auf das virtuoseste, wenn auch nicht exaktesten kommende Geigenspiel geht er gänzlich in seinem Selbstmorddenken auf, in welchem er schon vor dem Eintritt in das Internat geschult gewesen war, denn er war in dem Zusammenleben mit seinem Großvater die ganze Kindheit vorher durch die Schule der Spekulation mit dem Selbstmord gegangen.“ (S. 12, München 1977)

Spekulatives Denken gerät – fast antiidealistisch – zur Verzweiflungstat, weil die Augenblicke der Wirklichkeit vollständig entstellt und deformiert sind. Die Musik wird dem Zögling zum Mittel des Rückzugs, frühreifer ästhetischer Eskapismus, der noch nicht weiß, was er ist und wohin es ihn treibt. Durch die Musik gelingt es diesem Ich, sich abzusondern – von den Mitschülern, von der Welt. Diese Kammer dient ihm zur einzigen Fluchtmöglichkeit, wie es einige Zeilen später heißt. Diese Kammer transformiert sich zum Ort der Verdichtung. Was im ausströmenden Klavierspielen des Hanno Buddenbrook an jener berühmten Stelle des Buches noch den Orgasmus evozierte, so daß sich Musik(-Spiel) und Sexualität verbanden, wird hier zum Spiel mit und zugleich gegen den Tod. Aber es heißt im Französischen die Umschreibung für den Orgasmus schließlich La petite mort, und das erotische Moment ist diesen musikalischen Todesmomenten der Entrücktheit nicht fern. „Sein Eintritt in die Schuhkammer bedeutete gleichzeitiges Einsetzten seiner Selbstmordmeditation und das intensivere und immer noch intensivere Geigenspiel eine immer intensivere und immer noch intensivere Beschäftigung mit dem Selbstmord.“ (S. 13) In diesem biographischen Roman gerät die Kammer schließlich aber zur Rettung, weil sich eine Möglichkeit für den Zögling offenbarte, die stärker als jede Regung des beschädigten Lebens sich erweist: die Kunst. Diesen Weg zur Kunst und zum Subjekt, das seine Beschädigungen und die Versehrtheit, die es erfuhr, jedoch niemals mehr verlieren kann, entfalten die fünf Romane. Diese fünf Bücher sind, um es ganz emphatisch zu schreiben, große Literatur und mehr als eine Autobiographie, die immer Fiktion ist und bleiben muß.

Ralf Schnell schreibt in „Die Literatur der Bundesrepublik“:

„Salzburg bildet den Hintergrund dieses desaströsen Lebensberichtes aus der Feder, aus dem Denken, aus dem Empfinden eines Österreichers, der erst im letzten Band seiner Autobiographie Distanz zum eigenen Weg zu finden beginnt, einfacher, sachlicher, unprätentiöser schreibt, gleichsam im Grade einer versöhnlichen Besinnung auf die früheste Kindheit die späteren Obsessionen und Manierismen preisgebend. Denn dies ist zumal für die ersten drei Bände festzuhalten: Thomas Bernhards Besessenheit durch die einmal und grundlegend erfahrenen Erschütterungen reißt in seinem Werk wie ein Strudel das Treib- und Sperrgut österreichischer Ungleichzeitigkeit unablässig und in immer neuen Facetten in sich hinein, um es wieder herauszuschleudern und abzustoßen, um es abermals, verändert und verstört, aufzugreifen und umzuwälzen, ein Prozeß der gleichzeitigen Hervorbringung und Vernichtung von Erfahrung durch Sprache, ebenso obsessiv wie unabschließbar.“ (S. 261, Stuttgart 1986)

Den ersten Satz kann ich so nicht teilen, denn gerade in diesem Zorn, in den Wucherungen und dem Wüten in der Welt, in der Sprache sowie in der Gesellschaft liegt die Stärke insbesondere des ersten Bandes. Durch die hypotaktische Struktur der Bernhardschen Sätze mit diesen Kaskaden, den Aufsteigerungen und Wiederholungen, in denen Motive angespielt, abgebrochen, wieder neu durchgespielt werden, entsteht einerseits dieser Klang, jene Musikalität der Sprache, und zugleich erzeugen diese Hypotaxen das Atemlose und Furiose. Es entsteht eine monologische und monadologische Struktur, ein innerer Monolog, wie ihn die ästhetische Moderne bisher nicht kannte. Rausch, Musikalität, Emphase, Haß, Hinabziehen und Herausstoßen des Erfahrenen bilden eine Melange von ganz eigener Art, die diesen ersten Band bereits zum Beginn seine Struktur gibt – eben das, was zuweilen jener grandiose Bernhard-Sound genannt wird.

Zorn und Verzweiflung des Protagonisten treiben sich in dieser Sprachaufwerfung, diesen Wortaufschüttungen ins Unermeßliche. Was einmal romantische Unendlichkeit war, wandelt sich zur unendlichen Wut am Immanenzzusammenhang. Ein Entrinnen gibt es nur in der künstlerischen Form, in der Formung und Durcharbeitung jener beschissenen Faktizität – indem es zur Schrift gerinnt, zur Literatur wird. Hier, im Schreiben findet sich der Rettungsort, die einzige Möglichkeit des Daseins, ja zuweilen erreicht der Protagonist dabei sogar eine Form von Ruhe, wenn man die späteren Bände dieser Autobiographie liest. Darin ist Schnell rechtzugeben. Künstlerische Urszene aber bleibt diese Schuhkammer mitsamt dem, was sich darin abspielte – als Ort von Erfahrung. Und so bildet sich eine Korrespondenz von Sprache und Musik.

Zu diesem Beginn des Romans 2Die Ursache“ werden einem auf den ersten Seiten bereits die Sätze geradezu um die Ohren geschlagen. Es entäußert sich in dieser Sprache vermittels des Stils eine extreme Subjektivität, die aber nicht darin stehen bleibt und auf ihre Unmittelbarkeit pocht. In ihrem Extrem bringt die Sprache Bernhards es auf den Punkt, in der maßlosen Übertreibung liegt die Wahrheit, denn die Begebenheiten sind maßlos – die Wahrheit jenes durch und durch verlogenen, katholischen, nationalsozialistischen Österreich, das durch diesen faschistischen Mechanismus eben die Menschen bricht. Der nahtlose Übergang vom Nationalsozialistischen zum Katholischen. Dieses Zerbrechen geht soweit, daß die, welche nicht mitkommen, sich in den Tod stürzen, auf die asphaltierte Müllner Hauptstraße, die vom Protagonisten Selbstmörderstraße genannt wird.

In jedem Falle muß man Bernhards fünf Romane zugleich als eine Reaktion auf die Literaturproduktion und die Tendenz dieser 70er Jahre lesen, welche für gewöhnlich unter dem Begriff der „Neuen Subjektivität“ eingeordnet wird; eine Literatur der Innerlichkeit, des Inwendigen, teils auch der Fluchten ins Private, der Selbstvergewisserung. Das reichte von der Knast- über die Arbeiter- bis hin zur Frauenliteratur. Im schlechtesten Falle entstanden grausliche Befindlichkeitstexte, für die einzig das Wort Empfindungskitsch zutrifft. Kulminierend in „Der Tod des Märchenprinzen“. Im besten Falle gelangen genaue Beobachtungen der Innenwelt, die zugleich eine Außenwelt darstellen.

Charakteristisch für die Literatur dieser Zeit ist – grosso modo – das autobiographische Schreiben: sei dies nun, um die besten des Faches zu nennen, Max Frisch mit seinen Tagebüchern und der Novelle „Montauk“, Walter Kempowskis „Tadellöser & Wolff, Grass mit „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ oder Handkes „Der kurze Brief zum langen Abschied“.

Doch Bernhards fünf Romane weisen über das Autobiographische hinaus, und innerhalb seines Werkes nehmen diese autobiographischen Texte eine Zwischenstellung ein. Sie bilden den Übergang zu seinem Spätwerk. Die in seinen früheren Romanen bereits angespielten Motive wie das Spazierengehen, die grenzenlose Welt und Daseinsverachtung, die (scheiternden, absurden) Geistesmenschen, die nie abschließbare, nie abgeschlossene Geistesarbeit, diese Menschen der Kunst, der Philosophie treten in der Autobiographie verdichtet und verändert wieder auf, und es stellt sich durch diese Neujustierung für die in den 80er folgenden Romane ein Wandel in der Durchführung dieser Motive ein.

Der Klang änderte sich gegenüber dem Ton, der das Frühwerken durchzog, die Sprache fuhr eine neue Richtung. Die hypotaktische Struktur verband sich mit dem Iterativen und Ausufernden. Bernhards Prosa lebt von der spielerischen, durchgespielten Wiederholung, die als Inszenierung auftritt. Deshalb eben ist Bernhard zugleich ein großartiger Dialog- und Theaterschriftsteller. Zu schreiben, es ginge in seinen Romanen und Theaterstücken nun heiterer zu als vormals, wäre sicherlich übertrieben, aber das ironische Moment, die Gebrochenheit auch der Tragik sowie eine Form von zynisch bis ironischer Gelassenheit gewinnt mehr Raum, seine Figuren sind tragische Komödianten bzw. komödiantische Tragiker. Ich schrieb es an anderer Stelle schon einmal: Auch für Bernhards Figuren, insbesondere die seiner Theaterstücke, trifft der Satz Becketts aus dem Endspiel zu, daß nichts komischer als das Unglück sei.

Die monadologisch-monologische Verfaßtheit des Subjekts tritt in diesem Spiel der Bernhardschen Protagonisten jedoch nicht zurück, sondern sie verstärkt sich, und zwar gerade durch das Moment der Komik. Herrschte im „Endspiel“ zwischen Ham und Clov bzw. Nell und Nagg noch das Moment von Kommunikation und – wenn auch nicht gelingender, aber doch versuchter – Intersubjektivität, so ist das bei Bernhard ausgeschaltet. Der Theatermacher betreibt sein ganz privates ureigenes Endspiel in jenem Gasthof in Utzbach mit dem Hitlerbild an der Wand, wo jenes Welttheaterstück aufgeführt werden soll: „Das Rad der Geschichte“, welches eine Menschheitskomödie ist und wohl nicht zufällig an das Rad des Ixion erinnert. Was bleibt, ist der Moment, wo das Licht ausgeht, sogar das Notlicht im Theater, was seinerzeit einen kleinen Theaterskandal am Wiener Burgtheater auslöste, denn in den ach so geordneten Verhältnissen muß es wenigstens das Notlicht noch geben.

Thomas Bernhards letzter Roman heißt „Auslöschung“. Es ist eines der besten Bücher. Lebte Bernhard länger, man könnte sich kaum vorstellen, was noch an Theaterstücken, Erzählungen oder Romanen käme. Andererseits will ich sein Frühwerk nicht geringschätzen – „Frost“ und „Verstörung“ etwa. Eine Freundin und ich hatten vor mehr als 20 Jahren darin die Strukturen einer „Dialektik der Aufklärung“ ausgemacht. Das zu rekonstruieren, bekomme ich leider nicht mehr hin und sowieso ist es nun an der Zeit den Text zu beenden. Es sind diese Gedanken bereits zu lange her und geschahen in einer Zeit, welche ich die wunderbaren Jahre nenne – eine Zeit, in der die Daseinsverfinsterung eigentlich ein Spiel war, während wir beim Rauchen unserer Zigaretten und beim Trinken des vielen Weines dachten, es wäre der große Ernst. Heute ist es anders herum.

Christian Wulff

wurde erst in der neunten Stunde gewählt. Das ergibt eine lange Strecke, wenn man bedenkt, daß der Verurteilte in Kafkas Strafkolonie, dem jene Maschine das Gebot mit einer kunstvoll konstruierten Egge in den Leib schreibt, bereits in der sechsten Stunde jenes Gebot, welches er übertrat, entziffern kann und ihm in der Schrift etwas aufgeht:

„Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloss an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund als horche er.“ (F. Kafka, In der Strafkolonie, S. 36, Berlin 1975)

Bundespräsident Wulff will in seinem Bundespräsidentenpalast, sprich im Schloß Bellevue, im Bundespräsidentenzimmer eine Krabbel- und Spielecke für sein zweijähriges Kind einrichtet. Die Prenzlauerbergisierung und die Bugabooverseuchung Berlins schreitet unaufhaltsam voran bis in die höchsten Staatsämter. Herrschte früher die gediegene Strenge des Amtes, so dringt heute allüberall fröhlicher Kinderschall ans Ohr.

Wenn Sie, liebe Leser, womöglich in Prenzlauer Berg oder an einem anderen Ort, wo Kinder den Frieden und die Ruhe stören, am Samstag in Ruhe dieses entscheidende Fußballspiel sehen wollen, dann machen Sie es doch einfach wie dieser Mann in den USA:

„Ein Mann, der sich beim Fußball-WM-Spiel USA gegen Ghana von seiner weinenden Tochter gestört fühlte, hat das Kind totgeschlagen. Der 27-Jährige aus Texas habe gestanden, zweimal mit der Faust auf den Brustkorb der Zweijährigen gehauen zu haben, weil sie während des Spiels schrie, berichtete die Zeitung The Monitor. Die Mutter habe ihre Tochter nur noch tot vorgefunden als sie nach Hause kam.“ (aus: Berliner Zeitung, 30. Juni 2010, Vermischtes)

Fast eine Geschichte wie aus Hebels „Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds“. Und im Zusammenhang mit diesem Zeitungsartikel möchte ich zugleich auf Thomas Bernhards kleines feines Buch „Der Stimmenimitator“ mit jenen kurzen, teils aberwitzigen Prosastücken aufmerksam machen und es warm an das trübe Leserherz legen. Diese Prosa ist im Duktus und vom Sujet her teilweise ganz ähnlich wie jener Zeitungsartikel. Etwas anders zwar vom Thema und weniger gewalttätig liest sich dieser Text Bernhards:

Moospruggers Irrtum

Der Professor Moosprugger sagte, er habe einen Kollegen vom Westbahnhof abgeholt, welcher ihm nur vom korrespondieren her und nicht persönlich bekannt gewesen sei. Er habe tatsächlich einen anderen erwartet, als den, welcher tatsächlich auf dem Westbahnhof angekommen sei. Als ich Moosprugger darauf aufmerksam gemacht hatte, daß immer ein Andere ankommt, als der, den wir erwartet haben, stand er auf und ging allein zu dem Zwecke weg, alle Kontakte, die er in seinem Leben geknüpft hatte, abzubrechen und aufzugeben.“ (Th. Bernhard, Der Stimmenimitator, S. 56, Frankfurt 1978)

Zweiter Platz

„Die ekstatische Zeitlichkeit lichtet das Da ursprünglich.“
Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 351

Heute möchte ich den zweiten Preis im Heidegger-Look-alike-Wettbewerb verteilen. Einer der bekanntesten österreichischen Schriftsteller schickte mir einen Text zu Martin Heidegger. Ich fasse dies als eine ziemliche Ehre auf, und ich will diesen Beitrag meinen Blog-Leserinnen und -Lesern natürlich nicht vorenthalten. Zwar geht es bei diesem Text nicht darum, Heidegger möglichst ähnlich zu werden, und deshalb verfehlt der Text die Wettbewerbsbedingungen um ein Geringes. Es handelt sich jedoch um eine furiose Heidegger-Beschimpfung. Deshalb präsentiere ich sie an dieser Stelle:

„Tatsächlich erinnert mich Stifter immer wieder an Heidegger, an diesem lächerlichen nationalsozialistischen Pumphosenspießer. Hat Stifter die hohe Literatur auf unverschämte Weise total verkitscht, so hat Heidegger, der Schwarzwaldphilosoph Heidegger, die Philosophie verkitscht, Heidegger und Stifter haben jeder für sich, auf seine Weise, die Philosophie und die Literatur heillos verktischt. Heidegger, dem die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen nachgelaufen sind und den sie mit widerwärtigen und stupiden Doktorarbeiten überhäuft haben schon zu Lebzeiten, sehe ich immer aus seiner Schwarzwaldhausbank sitzen neben seiner Frau, die ihm in ihrem perversen Strickenthusiasmus ununterbrochen Winterstrümpfe strickt mit der von ihr selbst von den eigenen Heideggerschafen heruntergeschorenen Wolle. Heidegger kann ich nicht anders sehen, als auf der Hausbank seines Schwarzwaldhauses, neben sich seine Frau, die ihn zeitlebens total beherrscht und die ihm alle Strümpfe gestrickt und alle Hauben gehäkelt hat und die ihm das Brot gebacken und das Bettzeug gewebt und die ihm selbst seine Sandalen geschustert hat. Heidegger war ein Kitschkopf genauso wie Stifter, aber doch noch viel lächerlicher als Stifter, der ja tatsächlich eine tragische Erscheinung gewesen ist zum Unterschied von Heidegger, der immer nur komisch gewesen ist, ebenso kleinbürgerlich wie Stifter, ebenso verheerend größenwahnsinnig, ein Voralpenschwachdenker, wie ich glaube, gerade recht für den deutschen Philosophieeintopf. Den Heidegger haben alle mit Heißhunger ausgelöffelt jahrzehntelang, wie keinen anderen und sich den deutschen Germanisten- und Philosophenmagen damit vollgeschlagen. Heidegger hat ein gewöhnliches, kein Geistesgesicht, war durch und durch ein ungeistiger Mensch, bar jeder Phantasie, bar jeder Sensibilität, ein urdeutscher Philosophiewiederkäuer, eine unablässig trächtige Philosophiekuh, die auf der deutschen Philosophie geweidet und darauf ihre koketten Fladen fallen gelassen hat. Heute ist Heidegger noch immer nicht ganz durchschaut, die Heideggerkuh ist zwar abgemagert, die Heideggermilch wird aber noch immer gemolken. Heidegger in seiner verfilzten Pumphose vor dem verlogenen Blockhaus in Todtnauberg ist mir ja nurmehr noch als Entlarvungsfoto übriggeblieben, der Denkspießer mit der schwarzen Schwarzwaldhaube auf dem Kopf, in welchem ja doch nur immer wieder der deutsche Schwachsinn aufgekocht worden ist. Wenn wir alt sind, haben wir ja schon sehr viele mörderische Moden mitgemacht, alle diese mörderischen Kunstmoden und Philosophiemoden und Gebrauchsartikelmoden. Heidegger ist der Kleinbürger der deutschen Philosophie, der der deutschen Philosophie seine kitschige Schlafhaube aufgesetzt hat, die kitschige schwarze Schlafhaube, die Heidegger ja immer getragen hat, bei jeder Gelegenheit. Heidegger ist der Pantoffel- und Schlafhaubenphilosoph der Deutschen, nichts weiter.“

Ich danke Thomas Bernhard für seine Zuschrift, für diese ausführlichen Zeilen und belohne ihn mit dem zweiten Preis. Es wurden zwar die Kriterien nicht ganz erfüllt, doch für den zweiten Platz reicht‘s allemal.

Auch freue ich mich, daß Thomas Bernhard regelmäßig diesen Blog liest und am Wettbewerb teilgenommen hat.

„Aistheis zu lesen bietet naturgemäß in der größtmöglichen Intensität den höchsten Erkenntnisgewinn, und es ist ein Leben ohne diesen Blog eigentlich für einen Geistesmenschen überhaupt nicht mehr vorstellbar, sagte ich mir, nachdem ich auf dem beschwerlichen Weg zum Steinhof hinauf größere Mengen Prednisolon eingenommen hatte, um der Erkrankung entgegenzuwirken und wenigstens für den Abend schmerzfrei und unbeschwert diese Zeilen schreiben zu können.“
Thomas Bernhard