Wirkungslose Linke: Von der Revolte zur Erbauungspredigt Carolin Emckes – Gedanken zum 1. Mai

Vor einer Woche erschein in der Zeit ein Artikel von Verena Friederike Hasel, weshalb es schwierig ist, heute links zu sein. Eine der Gründe ist die Hypermoralisierung von Diskursen. Moral ersetzt gesellschaftskritisches Denken und komplexe Sprechweisen werden durch einen normierten Code verdrängt. In anderem Kontext und eher auf die politische Krise der Linken bezogen, samt den Gründen dafür, bringt Didier Eribon diesen Widerspruch einer kulturalistisch gefärbten Linken in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ auf den Punkt. Einer Linken, die sich für jegliche Minderheit einsetzt – was per se nicht falsch ist –, aber die ökonomische Situation zunehmend aus dem Blick verliert.

Ich nenne dieses Personal der Echokammern die kulturalistische Linke. Was einst unter dem Zeichen der Aufklärung zum Sprung ansetzte, mutierte zu intellektueller und ignoranter Bräsigkeit. Sinnbild für diesen Verfall ist die Rede Carolin Emckes zum Friedenspreis des Buchhandels. (Mehr zu diesem Kitsch der rechten Gesinnung unten.) Die Meinung dieser Leute ist so vorhersehbar, wie die von Alexander Gauland zum Deutschtum. Ihr Arbeitsplatz sind die Medien: Fernsehen, Zeitungen, Kunst, Kulturmagazin, Kulturjournalist. Ob sie heute in Berlin oder morgen in New York und Rom leben, ist ganz einerlei, denn ihre Produktionsstätten sind Schreibtische und ein mobiles Gerät namens Computer. Leicht ist es, wie der Chef von Apple, jener seinerzeit in den 00ern als Guerilla-Firma gehypten Marke, ein sonores Statement gegen die Diskriminierung von Schwulen abzulegen – was per se nicht falsch ist –, während das Management die Produktionsstätten nach China verlagert, wo unter harten Bedingungen und zumal billiger gearbeitet wird. Ebenso einfach ist es, wie Hillary Clinton es tat, dieser kulturalistischen Mittelschicht Puderzucker in den Arsch zu blasen, um dann umgekehrt in den Leitmedien von den kulturell Arrivierten der USA zurückgepudert zu werden mit Wahlempfehlung. Jene, die vor einem Jahr noch Bernie Sanders ins Abseits bugsierten, beklagen sich nun lautstark darüber, ungerecht behandelt zu werden. Der US-Wahlkampf spiegelt gut diese Geschichte eines linken Verfalls wider.

Gleiches in Frankreich: So verwundert es nicht, daß jene Franzosen, die einst Stammwähler der Sozialisten oder der KPF waren, nicht mehr links, sondern Le Pen wählen. Die Versprechen der kulturalistischen Linken sind nicht die der Angestellten. Whitney Biennial oder Venedig Biennale interessieren in diesem Milieu niemanden und gegen denHaß läßt sich gut predigen, wenn der eigene Arbeitsplatz sowieso ein flexibler ist. Dem deutschen heteronormativen Familienvater aus dem Osten, für den damals VEB nur noch hieß, „Vatis ehemaliger Betrieb“ hat für solche Dinge wenig übrig. Frau Emcke und ihresgleichen werden mit jenem Mann kaum um einen Arbeitsplatz bei einer Security-Firma oder bei der Zeitarbeit konkurrieren. Ähnlich in France: Während Le Pen bejubelt wurde, als sie eine Fabrik besuchte, die von der Schließung bedroht ist, wird der neoliberale und eloquente Macron von diesen Arbeitern ausgebuht und kann das Werk nur unter Polizeischutz betreten.

Weshalb sich im politischen Spektrum die Koordinaten verschoben haben, darüber wäre nachzudenken. Die hier gelieferten Thesen sind lediglich Impressionen und Tupfer einer allgemeinen Tendenz. Die sich in den marktwirtschaftlichen Demokratien im Wahlergebnis niederschlägt. Die Angestellten wollen nicht, wie sie sollen. Ein Problem, mit dem schon die sogenannten 68er zu kämpfen hatten: Die Arbeiter der BRD mögen sich von ihren goldenen Ketten nicht so gerne befreien lassen. Man kann das mit Heiner Müllers kurzem Interludens „Die Befreiung des Prometheus“ aus dem Theatertext „Zement“ gegenlesen.

Was also ist links? Eine Frage, die auf Arte einen Fernsehabend füllte. „Mann der Arbeit, aufgewacht!//Und erkenne deine Macht!//Alle Räder stehen still.//Wenn dein starker Arm es will.“? Zumindest in der von Verena Friederike Hasel beschriebenen Variante fällt Linkssein vielen schwer – einmal davon abgesehen, daß Denken und Analyse von Gesellschaft eben etwas anderes sind als bloß eine bequeme Haltung an den Tag zu legen, die sich als Habitus zeigt, um kulturelles Kapitel zu schöpfen, das sich dann auf dem Arbeitsmarkt der kulturalistischen Linken ökonomisch gut zweitverwerten läßt. Was solches Besinnen auf eine vernünftige Praxis betrifft, denke man nur an Adornos hervorragende Reflexionen zum Verhältnis von Theorie und Praxis – zu finden in „Stichworte. Kritische Modelle 2“. Aber solche Zusammenhänge überhaupt noch zu begreifen, scheint heute schwierig. Vielleicht auch, weil dieses Denken in gewissem Sinne eine Radikalopposition zur Gesellschaft voraussetzt – auch zu der der linken Praktiker. Gegenwärtig vertagt sich die Praxis meist ins Klein-Klein, wo dann in der richtigen Haltung und in der richtigen Gesinnung das richtige Leben im falschen sich installieren soll.

„Während Praxis verspricht, die Menschen aus ihrem Verschlossensein in sich hinauszuführen, ist sie eh und je verschlossen; darum sind die Praktischen unansprechbar, die Objektbezogenheit von Praxis a priori unterhöhlt. Wohl ließe sich fragen, ob nicht bis heute alle naturbeherrschende Praxis in ihrer Indifferenz gegens Objekt Scheinpraxis sei. Ihren Scheincharakter erbt sie fort auch an all die Aktionen, die den alten gewalttätigen Gestus von Praxis ungebrochen übernehmen.“

Diese Kritik an Praxis greift ins Grundsätzliche aus, nicht anders als Martin Heideggers Denken des Seyns, das dem Handhabbarmachen sein Unzulängliches attestierte. Freilich aus einer konservativen Position heraus. (Zur Frage der Technik als Geschick allerdings bleibt Heidegger auf eine interessante Weise ambivalent.) Weiter heißt es bei Adorno:

„Was seitdem als Problem der Praxis gilt und heute abermals sich zuspitzt zur Frage nach dem Verhältnis von Praxis und Theorie, koinzidiert mit dem Erfahrungsverlust, den die Rationalität des Immergleichen verursacht. Wo Erfahrung versperrt oder überhaupt nicht mehr ist, wird Praxis beschädigt und deshalb ersehnt, verzerrt, verzweifelt überwertet. So ist, was das Problem der Praxis heißt, mit dem der Erkenntnis verflochten.“

In diesem Sinne bestimmt durchaus auch das Bewußtsein das gesellschaftliche Sein, ohne dabei in jenen schwärmerischen Idealismus zu gleiten. Im Kontexten der Gegenwart freilich eher als Fades. Nur die traurigen Tropen kann der Ethnologe des Eigenen in Fragen links noch konstatieren. Aus diesem Grunde hält sich Theorie am Leben,  weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward, so formuliert Adorno es in der Einleitung zur Negativen Dialektik.

Bei dem Habitus vieler Linker, den Verena Friederike Hasel uns schildert, nämlich soziale Aspekte in einer politisch korrekten Sprechweise zu moralisieren, handelt es sich um eine Tugendmoral, in der zudem die eigene Position verabsolutiert wird. Vielheiten werden lediglich für die eigene Position akzeptiert, Abweichungen werden sanktioniert und diskreditiert. Toleranz und Offenheit gegenüber anderem Denken schleifen sich zunehmend ab, wird aber für die eigenen Position eingefordert, und wer das verweigert, ist schlimmstenfalls ein Hater, den es unschädlich zu machen gilt.

„Wozu diese narzisstische Selbstüberhöhung führt, bekam ich neulich in Berlin mit. Im Mauerpark im Bezirk Prenzlauer Berg gibt es einen Abschnitt, in dem die Mitglieder des Mauergarten-Vereins ihre Hochbeete haben. Dort, unter vielen zugezogenen Bullerbü-goes-Berlin-Familien gärtnerte auch ein älterer Herr aus der DDR. Es kümmert sich um den Komposthaufen des Vereins. (…) Er macht Führungen für Schüler aus dem Wedding, von denen viele noch nie eine Tomate an einem Strauch gesehen haben. Vor einigen Monaten dann forderte ein anderes Vereinsmitglied per Mail den Ausschluß dieses älteren Herrn, weil er in der AfD ist. ‚Entnazifizierung‘ stand in der Betreff-Zeile. Er ist kein Björn Höcke. Er hat auf seinem Hochbeet auch nie die AfD-Fahne gehisst. Er hat einfach nur Zucchini angebaut.“

So entwickelt sich aus der Moralblase heraus ein restringiertes Verhalten, das vorab schon Bescheid weiß. Aus den eigenen Echokammern gelangt es nicht mehr hinaus. Dieses Milieu ist, wie die Überschrift von Hasels Artikels titelte, selbstgerecht, intolerant und realitätsfern. Harald Martenstein schreibt gegen den Tugendwächterrat seit Jahren an.

In der NZZ vom 29.4., also kurz vor dem Kampftag, gibt es einen feinen Text von Reinhard Mohr, der zum Nachdenken anregt. Er trägt den Titel „Rebellion gegen linke Sonntagspredig“:

„Ein halbes Jahrhundert später hat sich die Situation komplett gedreht: Der Mainstream in Medien und Politik ist im Zweifel deutlich links der Mitte, emanzipiert, ökologisch, nachhaltig, gendergerecht. Die Grünen, im Nachhall des 68er Protests gegen das bürgerliche Establishment gegründet, sind längst zur alternativlosen Staatspartei mit Hang zur Hypermoral geworden, während der rechte Flügel der konservativ-liberalen Wählerschaft zur offenen Rebellion übergegangen ist – teilweise in roher Form bis hin zu eindeutig rechtsradikalen Positionen. Das Ergebnis ist einigermassen grotesk: Die klassische Sonntagspredigt zur Verteidigung des Wahren, Schönen, Guten – vom Windrad bis zur Willkommenskultur – halten nun die einstigen Rebellen von 68 und ihre links-grünen Adepten, während die radikale Gesellschaftskritik jetzt von rechts vorgebracht wird – ein Hauch von Weimar.

Die moralisch-politische Selbstbeschwörung des links-grünen Milieus setzt dem Protest von rechts die bewährten Prinzipien von Demokratie, Toleranz und Rechtsstaat entgegen, ohne sie nach ihrer praktischen Tauglichkeit zu befragen. Doch genau um diesen schmerzhaften Praxistest geht es: um den Euro als Fehlkonstruktion, das Scheitern der EU in der Flüchtlingskrise, um Fehleinschätzungen bei den Themen Einwanderung, Kriminalität, Terror und Integration, Islam und säkularer Staat.

«Sagen, was ist», die ursozialistische Fortschrittsparole von der anbrechenden Morgenröte, ist heute zur Parole «rechtspopulistischer» Bewegungen in Europa geworden, die die einst linke Strategie der permanenten Provokation als Erfolgsrezept entdeckt haben. Verkehrte Welt. Grosse Teile des linken Milieus werden gleichsam auf dem falschen Fuss erwischt.
(…)
Der «Migrant» ist der grosse Andere, «ein Geschenk», wie die Spitzenkandidatin der deutschen Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sagte. Er ist der Antideutsche, der Antispiesser, eine exotische Projektionsfläche für Ideen und Träume, die man selbst eigentlich schon längst beerdigt hat. «Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich sag euch eins: Ich freu mich drauf!», sagte Göring-Eckardt auf dem grünen Parteitag im November 2015. Kriegs- und Armutsflüchtlinge als Präsent für die europäischen Wohlstandsgesellschaften – auf diesen gepflegten Salon-Rassismus muss man erst einmal kommen.“

Der Hauch von Weimar ist freilich der beliebten (Über-)Dramatisierung geschuldet. Selbst wenn wir in der BRD bei den Rechten eine Figur wie Hitler hätten, sind die Verhältnisse, insbesondere die ökonomischen im Augenblick so gut wie selten, auch bei fortschreitendem und gewolltem Pauperismus. Die Leute am rechten Rand rebellieren nicht, weil sie nichts zu essen haben. Doch der Befund, den Mohr liefert, stimmt. Ich kann nur empfehlen, diesen Artikel komplett zu lesen. Es fällt zunehmend schwer, links zu sein. Insbesondere, wenn man sich eine „linke Sonntagspredigt“ wie die unselige, in Kitsch und Betroffenheit sich spreizende Rede Carolin Emckes zum „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ hört. Sie steht als Sinnbild für jeneBigotterie der kulturalistischen Linken:

„In der Paulskirche, dem historischen Ort der gescheiterten deutschen Revolution von 1848, appellierte sie an die Gemeinde: «Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heisst: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt. Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: die Begabung zum Anfangen. Wir können hinausgehen und etwas unterbrechen. Wir können neu geboren werden, indem wir uns einschalten in die Welt.»

Jenseits der ästhetischen Frage, ob es sich hier um Kitsch handelt, ist die Redundanz der unscharfen, fibelhaften Beschwörungsformeln unverkennbar. Konkrete Probleme, Interessenkonflikte und Widersprüche kommen nicht vor, weder Vergangenheit noch Zukunft, und die Gegenwart scheint so weit weg wie der Mond. Eine Ansammlung zeitloser Kalenderweisheiten aus dem Arsenal der Weihnachtsansprache. Es zählt das gute Gefühl – der fortgeschrittene Zustand einer politischen Selbsthypnose. Aus dem Protest ist die Predigt geworden.“

Intellektuelle Kompetenz und die Analyse dessen, was der Fall ist, wurden zugunsten des guten Gewissens vertagt, und es schwingt, klingt und klingelt der Ton evangelikaler Erbauungspredigt. Bestimmt ist er für die eigenen Gemeinde. Die kulturalistische Linke erfreut sich ihrer selbst. Mit solchen Leuten ist weder Staat noch Veränderung zu machen. Heraus zum roten ersten Mai? Ich bleibe zu Hause.

Die beigefügten Maibilder stammen von einer Demo aus dem Jahre 2014 und wurden hier z.T. schon einmal gezeigt.

 

30 Gedanken zu „Wirkungslose Linke: Von der Revolte zur Erbauungspredigt Carolin Emckes – Gedanken zum 1. Mai

  1. Bersarin, Sie raffen so richtig zusammen:

    “ (…) vieler Linker, den Verena Friederike Hasel uns schildert, nämlich soziale Aspekte in einer politisch korrekten Sprechweise zu moralisieren, handelt es sich um eine Tugendmoral, in der zudem die eigene Position verabsolutiert wird.“

    Sehr gut zum Verabsolutieren, wie in Ihrem Schrebergarten-Beispiel auch, eignet sich Hitler.

    Was auffällt ist, wie sorglos mittlerweile mit dieser Hitler-Münze bezahlt wird.

    Jetzt kuck ich mir mal zwei auf den ersten Blick harmlose Gesellen an: Christoph Mencke und Martin Seel. Sie treiben – ganz im Sinne des von Ihnen oben geschilderten Schreibtisch-Internationalismus den Internationalismus seligen Marx’schen Angedenkens voran. Tenor – von Seel in der NZZ vertreten, von Mencke im Merkur: Die Nation als Besitz ihrer Bürger soll es nicht mehr geben. Der Fortschritt und der Internationalismus (wie gesagt: Das sind die Marxschen Reste, denn nicht wahr: Hoch die I n t e r n a t i o n a l e Solidarität!) – der Fortschritt und der emanzipative Internationalismus sagte ich, sollen nun an die Stelle des nationalstaatlichen Bürgerbesitzes treten – die Beute wird von unseren Helden des Befreiungskampfes der Welt schon mal gerecht verteilt – auf alle. Denn: Alle sind gleich – und daher haben auch alle das gleiche Recht auf Zugang, allüberall.
    Die nationalen Grenzen müssen fallen. Kein Blutrecht mehr, und kein Bodenrecht – Hitler wird jetzt endgültig gtilgt von unseren Helden. Stattdessen: Allen, weltweit!, alles. Also Internationale Solidarität anstelle der nationalstaatlichen Beschränktheiten. Grenzen weg, – und Kriege weg! Brauchen wir nicht mehr. Waffen weg!! – Freiheit auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen!

    Im Prinzip, wenn man sich anschaut, w e r – also: Was für im Grunde vollkommen einflusslose Wichte da den Weltzampano spielen, könnte man darüber lachen. Wenn – ja wenn – sie nicht teil eines Syndroms wären, das nun tatsächlich noch den abgezocktesten Flüchtlings-Schlepper an den Gestaden des Mittelmeers zum Heilsbringer verklärte. – Und, wenn nicht unter der faktischen Knute, die dieser überbordende Idealismus ja auch darstellt, noch der harmloseste und rechtschaffenste Berliner Kleingärtner und eigentlich vernünftigste Kleinbürger, der die komplette Überspanntheit der Weltbefreier wer weiß vielleicht hie und da sogar durchschaut – mit umso größerer Entschlossenheit – – haargenau zum Hitlerdoppelgänger höchstpersönlich umfrisiert würde.

    Alles easy Alter – and the times, they are a-changing!

    Der DGB kämpft heute für mehr Rente. Alles ok. Das ist Brot und Butter, da ist nichts dagegen einzuwenden.

    Ich empfehle zu diesem ersten Mai – auch wegen der Internationalismus-Kritik, und wegen des nationalstaatlichen (!) Genossenschafts (!) -Gedankens: Rolf-Peter Sieferle: Das Migrationsproblem. Über die Unvereinbarkeit von Massenzuwanderung und Sozialstaat. Ein sehr weit herum ausgreifender gescheiter Essay. Lohnt die Lektüre sehr; kostet 16 Euro, 144 Seiten, sehr schön gedruckt und gebunden, übrigens. Eine haptische und optische Wohltat dieses Buch.

  2. Können Sie kurz den Seel-Text aus der NZZ hier verlinken oder schreiben, um welchen es sich handelt? (Gleichfalls bei Menke, ich ahne zwar, welcher es ist, aber sicher ist sicher.)

    Ansonsten zitiere ich mal einen schönen Tweet heute von Don Alphonso, der es ganz gut trifft:

    „Jetzt wäre eine guter Moment, links-konstruktiv-laizistische und bürgerrechtsfreundliche Alternativvorschläge für eine Leitkultur zu machen. Aber auf alte, weisse Männer zu zeigen ist leichter, als sich mit dem Umstand zu befassen, dass Neukölln-Marxloh-Köln-Kulti unbeliebt ist.“

    Rolf-Peter Sieferle steht auf der Lektüreliste. Schon länger hatte ich auf dieses Buch ein Auge.

  3. Es soll sie noch geben, diejenigen, die keinen Zusammenhang sehen zwischen der gendergerecht (selbstgerecht hätte ich beinahe geschrieben) formulierten Forderung nach einer dritten Scheißhaustür und den Wahlerfolgen der neurechten Parteien. Wie kann man da noch hoffen oder gar helfen?

    Die Welt will zugrunde gehen. Und wir müssen zuschauen. Das ist unsere Melancholie. Eigentlich eine gute Zeit für Käuze und andere Philosophen…

    Eines aber kann man immerhin machen: Den Gottfried-Benn-Fehler vermeiden, aus lauter Ärger über Dummlinks ganz rechts zu landen.

    Zuletzt: Dass die neurechten Parteien TROTZ der akzeptablen wirtschaftlichen Lage dennoch Erfolge feiern, ist ganz und gar nicht beruhigend. Vielmehr zeigt es das Potential jenseits der Ökonomie an. Und lässt bei der Vorstellung erschaudern, was mit entsprechendem, ökonomischen Triggern passieren könnte.

  4. @ Bersarin erstmal – mir reicht das schon (hehe)

    I .

    Wg. Don Alphonso und de Maizière und dem Rheinischen Frohsinn als nationales Pflichtprogramm usw.

    Schon gleich eine kleine Zusatzbemerkung, bevor ich auf meine Abschweifung oben zurückkomme – das Leben ist nun mal ein Durcheinander, und keine „reine Mischung“ (Pfeifenraucher Bloch):

    Heute sagt die VHS hier im Städtchen am Bodensee eine Haupt- und Ankerveranstaltung ihres Frühjahrsprogramms ab: Geplant war am achten Mai ein Abend mit Abdel-Hamed Samad im neu eingerichteten Top-Konferenz-Zentrum Bodensee-Forum. Für eine kleine Institution wie die Konstanzer VHS – durchschnittliche Jahresbesucher – fünfstellig… – sei es, heißt es heute morgen im Südkurier, leider nicht mehr „darstellbar“ (!), diese Veranstaltung durchzuführen. Der Personenschutz für Herrn Samad, heißt es dann ein wenig kleinmütiger weiter, umfasse mittlerweile fünf Personen usw. Außerdem habe sich bei genauerer Betrachtung gezeigt, dass auch am Eingang ein aufwendiges Untersuchungsregiment hätte installiert werden müssen. Das alles sei aber nicht mehr „darstellbar“ für KN. Mit großem Bedauern usw.

    Tja. Hier erodiert natürlich etwas – nämich die Substanz, das Herz, der Kern unserer demokratischen Leitkultur. Auf die Landesregierung und die Bundesregierung ist in solchen Fällen gepfiffen: Die sind weit weg. Derlei findet hier unten einfach statt, und wird dann abgehakt.

    Ach Gott, schon wieder Exzellenzcluster: Der Exzellenzcluster Integration der Universität Konstanz wird demnächst eine ganze Batterie von Veranstaltungen bürgeröffentlich durchführen. Alle IS-kompatibel. Alle nicht interessanter als die Auslage einer ganz gewöhnlichen Konstanzer „Back-Boutique“. So Fragen wie: Wie begegne ich dem Fremden in mir – wie verarbeite ich die Fremdheit, die mir in Form anderer Kulturen entgegentritt. Welche Fragen, unsere Identität, unser Selbstsein und Soein betreffend, wirft das multikulturelle Ineinander in sich je unterschiedlicher Fremdheiten auf…

    Ich fordere

    1) die sofortige Auflösung des Konstanzer Ezellenzclusters Integration – aller Exzellenzcluster Integration an allen deutschen Hochschulen und

    2) die Überführung des dafür geeigneten Personals in den bereich Security. Anfallende Umschulungskosten können erstattet werden. Diese Exzellenz-Security diene insbesondere dem Schutz und der Durchführung von Veranstaltungen, die vom IS und angeschlossenen Spitzbubenvereinen bedroht werden.

    Gottzack!

    II.

    Der Don und die Leitkultur oder die einfche Frage: Was wäre „allenfalls“ (Ch-Schnack…) zu tun?

    Naja, der Don – bisschen komisch, er ist ja eine Kunstfigur, und der Rainer Mayer, der sozusagen in ihm steckt, fährt sich grad im sonnigen Süden einen Wolf auf dem Rennrad und schreibt, wenn er abgesteigen ist, so Sachen, wo man manchmal buchstäblich nicht mehr sagen kann, was ist jetzt ernst, und was ist einfach click-bait – er ist ja auch ein raffinierter Spieler…könnte auch sein mit de Maizère..

    Vielleicht haben Sie recht, und er hat das ernst gemeint. Dann bin ich trotzdem ein bißchen pikiert, weil ich ich da nur offene Scheunentore sehe, durch die die Gutwilligen einfach durchzugehen brauchen.
    Ich will so sagen: ich sehe – buchstäblich – überhaupt keinen Klärungsbedarf – ich sehe nur ganz simplen, praktischen Handlungsbedarf.
    Wie wir das hier schon oft durchgenommen haben: Grenzen dicht, ein strenges Einwanderungsverfahren – so wie in der Schweiz, ganz nah, ganz einfach, und natürlich Bildungs- und Akkulturalisationsaktivitäten wie gehabt. Zudem die Moscheen auf deutsch umpolen, wie die Schweizer das ebenfalls ganz entschieden gemacht haben, islamische Religionslehrer hier bei uns an der PHs und an den Unis ausbilden, den ISIlern die Schlapphüte auf die Fersen schicken …Und dann Daumen drücken…

    III. Seel und Menke, zwei Rechtsgelehrte vom Typ Wagner

    (cf. eine alte Schwarte, von der mir der Professor unlängst inmitten der allerschönsten, geradezu plärrend schönen Frühlingskulisse gesagt hat, er erinnere sich nicht mehr daran, um was es im einzelnen überhaupt gegangen sei, aber er wisse noch haargenau, was Goethe in ihm ausgelöst habe: Hass. Er habe diesen Text wirklich gehasst. – Weil er gezwungen gewesen sei, sich „als SchülerIn“ damit zu befassen. – Wahrscheinlich gibt es auch für diese Tortur bald eine Stelle in der Sozialbürokratie, wo man einen Antrag einreichen kann, dann läßt man sich ein Gutachten auf den Leib schreiben wg. seelischer Grausamkeit und mnifester Traumtisierung und deren bis heute virulenten Folgen, und erwirkt so gerüstet eine angemessene Ausgleichszahlung. Sagen wir: 17 000 Emmen, steuerfrei. Zu überweisen von den Aufsichtsbehörden, in diesem Fall vom Regierungsrpäsidium Tübingen.
    Eh – es wird zuverlässig alles immer lustiger.

    Das da sind die links.

    enrechtExzelllenzforschungsprojekt in Frankfurhttp://www.nzz.ch/meinung/kommentare/wertegemeinschaft-ohne-rechte-sind-werte-nichts-wert-ld.118416t )

    https://www.merkur-zeitschrift.de/2016/06/29/zurueck-zu-hannah-arendt-die-fluechtlinge-und-die-krise-der-mensche/

    Der Menke-Text ist so verzopft und indirekt, dass selbst Leute, die politisch einer Meinung mit Menke sind, zum Teil nicht dahinter kamen, was der will! – (Ich hab den letztes Jahr ein wenig rumgeschickt..). Kurios und gnadenlos… aber auch diese Exzellenzcluster-Mühlen mahlen natürlich – und machen die Blase für einen kleinen Teil der akademischen Jugend durchaus attraktiv. Denn bei Philosophen wartet für nicht wenige die Theke, oder das Nagelstudio oder sowas, die Hausaufgabenhilfe… – und verglichen damit sind die Jobs in den schalltoten Echokammern der Cluster dann doch wieder von etlicher Anziehungsraft. Außerdem will eine Illusion genährt werden mit diesen Anstrenugungen, und Illusionen finden einfach ihre Wirtstiere, das ist sozusagen ihre Aufgabe – und insgesamt eine uralte Geschichte. Diese Mühlen malen also solange trefflich vor sich hin – wie man sie nicht anhält. Ich finde, man soll ihnen den Stecker ziehen – ruhig erst mal so wie hier: Virtuell.

  5. In der Tat, Herwig, gibt es bisher und bei dem gegenwärtigen Personal der AfD keinen Grund, diese Partei zu wählen.

    Das Problem in vielen dieser Debatten ist das reflexhafte Reagieren. Für Philosophen eine gute Zeit. In der Tat. Man muß die Begriffe nehmen und drehen. Aber das gilt auch für einen Begriff wie den der Leitkultur. Er ist nicht schlecht. Nur eben: die Linke sollte sich mal dranmachen, ihn mit Inhalten zu füllen. Sie können es aber nicht. (Stichwort Islam und der dreifache Kotau davor.)

  6. @ Dieter Kief: Ja, virtuell diesen Mühlen und Kanälen den Stecker ziehen, wäre eine gute Idee. Oder zumindest, denn es soll ja keine Redeverbote geben, gegen dieses Unisono-Gesabbel anschreiben. Ich könnte Ihnen hier mühelos 20 bis 30 Leute nennen, die innerhalb dieser kulturalistischen Linken allesamt dasselbe sagen und denken. Bringt die FAZ am Girl’s Day (mit Berechnung und klug gemacht!) keinen einzigen Artikel von einer Frau, dann kommt von jenen XYZdas übliche, das erwartbare strunzen- und blunzendumme Gendergejammere. Sie sitzen da und zählen die Texte nach Quote aus. Sie machen alle in Kultur. Aber wie es so ist und mit Karl Kraus:

    „Wenn die Sonne der Kultur tief steht, werfen selbst die Zwerge lange Schatten.“

    Na ja, der Don Alphonso, ich mag den schon sehr. Einer der wenigen, die sich nicht eindeutig positionieren lassen, auch wenn bei ihm manchmal ein merkwürdiges Kommentariat aufschlägt.- Aber das gibt es anderswo auch. Was nun die Ernsthaftigkeit des Don betrifft, so schreibt er: „Don Alphonso ist eine Kunstfigur, die ihrem Verfasser nicht vollkommen unähnlich ist.“

    Die Sache mit Abdel-Hamed Samad in Konstanz wollte ich hier im Diskussionsstrang auch schon verlinken. Was für entsetzliche Feiglinge! Als eines der vielen schönen Beispiele für Pluralität und die gepriesene Vielheit und natürlich alles und immer wieder gegen den Haß.

    Nein, ich wähle nicht AfD. Aber ich wünsche diesem Gesindel einmal ein Wahlergebnis, daß ihnen die Ohren sausen und es dann darin klingeln läßt. Ich fürchte nur, daß es auch dann keine Besserung gibt.

    Den Seel und den Menke lese ich mir mal durch. Danke für die Links. Wobei ich ja Menke als ästhetischen Theoretiker mit seinem Buch zu Adorno und Derrida sehr geschätzt habe. Und bei Seel habe ich studiert.

  7. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Walter Benn Michaels beschäftigt sich schon seit langem mit der Thematik der „neoliberal left“ wie er es bezeichnet.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Benn_Michaels

    Er hat schon 2005 ein interessantes Buch zu der Thematik geschrieben:

    http://us.macmillan.com/thetroublewithdiversity/walterbennmichaels/9781250099334

    „left neoliberals” are people who don’t understand themselves as neoliberals. They think that their commitments to anti-racism, to anti-sexism, to anti-homophobia constitute a critique of neoliberalism. But if you look at the history of the idea of neoliberalism you can see fairly quickly that neoliberalism arises as a kind of commitment precisely to those things.
    One of the first major works of neoliberal economics by an American is Becker’s [The] Economics of Discrimination, which is designed precisely to show that in competitive economies you can’t afford to discriminate. Foucault sort of marks the beginning of neoliberalism in Europe with the horror at what the Nazi state did and the recognition that you can legitimize the state in a much more satisfactory manner by making it the guardian of competitive markets rather than the guardian of the German volk. And today’s orthodoxy is the idea that social justice consists above all in defense of property and the attack of discrimination. This is at the heart of neoliberalism and right-wing neoliberals understand this and left-wing neoliberals don’t.
    When you begin to produce these massive multi-racial or multi-national or as we would call them today multi-cultural workforces, you obviously need technologies to manage these work forces. … there is a certain sense in which the internationalism intrinsic to the neoliberal process requires a form of anti-racism and indeed neoliberalism has made very good use of the particular form we’ve evolved, multiculturalism.”

    http://jacobinmag.com/archive/issue1/wbm.html

    Das ist übrigens auch ein Autor für dich, Bersarin. Er schreibt lange Afsätze zur Ästhetik der Fotografie:

    http://nonsite.org/article/neoliberal-aesthetics-fried-ranciere-and-the-form-of-the-photograph

  8. Ich danke Dir für den Hinweis. Den Bezug der kulturalistischen Linken zum Neoliberalismus muß man in der Tat einmal nachgehen. Was Foucault betrifft, ist die Sache etwas vertrackter. Zwar werden Teile seines komplexen Denken auch von Neoliberalen in Anspruch genommen, wie ich bereits vor einiger Zeit las, aber die Achsen und Stränge von Foucaults Theorie sind nicht so leicht auf eine Position hin dingfest zu machen. Das eben macht ihn als Philosophen interessant. Auch an den Stellen, wo er irrt.

  9. Es gibt den liberalen, gegen den korporatistischen Staat argumentierenden Hayek-Foucault durchaus. Sonst würde ich mich ja – wann war das – vor zwei Monaten – hier auf dem Blog? – geirrt haben.

    Im übrigen ist die Sozialgeschichte Europas so voll von korporatistischen Fehlschlägen, dass es eigentlich vernachlässigenswert ist, was nun haargenau Foucault dazu sagt.

    Interessanter scheint mir zu schauen, wieviele der Emanzipationstheoretiker die systemische Interdependenz der Interessen von 1) Beschäftigten und Unternehmern, von 2) Unternehmern und Staat überhaupt begreifen.

    Ohne dieses Verständnis bleibt fast alles, was – sozusagen obenhin – zu diesen Dingen gesagt wird, – – von geringer Aussagekraft.

    Ah ja: cf. Luhmann für die soliden Bezüge. Aber auch cf. griechische Wirtschaft z. B. , wo in manchen Städten zwei Drittel aller insgesamt Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung oder im öffentlichen Auftrag tätig waren. Das läuft solange, – bis es zusammenkracht: The problem with socialim is, that you eventually run out of other people’s money – sagte – – noch so ein Hayek-Geist wie der – – dochdoch: Des späten Foucault.

    Der Vergleich ist da wichtig, Kennziffern über die Effizienz der öffentlichen Dienste. Und über die Korruptionsanfälligkeit (Griechenland sehr schlecht).

    Naja, wenn der Krug dann bricht, aus dem alle getrunken haben, und die Hafenverwaltungen irgendwann – von mir aus: In chinesischer Hand landen, ist das Gejammer riesig, aber dann ist es zu spät.

    Die Chinesen sind in diesen Dingen, wenn sie mal gekauft haben, absolut an der Funktionalität ihrer neuen Besitztümer ausgerichtet. Sehr strikt. Sehr unsentimental.

    Eigentlich, nach Marx, hätte die Chose ja umgekehrt sein müssen: Die Griechen, als weit entwickelte kapitalistische Wirtschaft, hätten den Chinesen – unter empörtem Protest von Berlin Mitte usw. – die Häfen wegkaufen müssen. Im pro-Kopf-Vergleich mit China in Bezug auf Vermögen oder Besitz sind sie noch immer absolute Krösusse.
    Aber das nutzt ihnen nichts, weil die griechische Gesellschaft (der Staat) auf diese Mittel keinen Zugriff hat.
    Und so ist halt die Arbeitslosigkeit im – wie gesagt: vergleichsweise – steinreichen Griechenland weitaus höher als in China…

    Aber tja, so ist das mit Prognosen: Manchmal sind sie richtig, und manchmal ist es genau andersrum.

    Oh – wo bin ich hier gelandet?!

  10. Na ja, ich bin bei so generalisierenden Behauptungen zunächst mal vorsichtig. Ich möchte da immer ganz gerne die konkreten Textstellen lesen und die Bezüge kennen. Was ich in den einschlägigen Büchern von Foucault las – von „Wahnsinn und Gesellschaft“, „Die Geburt der Klinik“, „Die Ordnung der Dinge“ „Die Ordnung des Diskurses“, „Überwachen und Strafen, bis hin zu den drei Bänden von Sexualität und Wahrheit finde ich da weniges zum Neoliberalismus und ebenso steht da wenig, womit man an den Neoliberalismus andocken könnte. Foucault bewegt sich ja wesentlich auf den Achsen Wissen, Wahrheit, Subjekt, Macht.

    Was nun die konkrete Ökonomie sowie das Auslesen und Interpretieren der Daten betrifft, sind dazu sicherlich andere Autoren relevanter. Zumal es Foucault oder eben auch Luhmann um eine Metaebene und um Funktionsweisen geht. Das ist ein völlig andere Blick als z.B. politische Ökonomie zu bereiben.

  11. http://www.lesinrocks.com/2012/11/12/actualite/foucault-a-ete-fascine-par-le-neoliberalisme-qui-a-fait-echo-a-ses-propres-questionnements-11322078/

    Das ist ein wenig obenhin, aber freundlich

    https://lectures.revues.org/18649

    Das da ist ein wenig steif, aber es geht die Frage an, was Foucault am Syndikalismus und am Korporatismus der alten Linken so gestört hat

    „Bevölkerung, Sicherheit, Territorium“ und die irreführenderweise so genannte „Geburt der Biopolitik“ sind zwei Texte, wo der – ich bleibe dabei, liberale Foucault zum Vorschein kommt, jener Foucault nota bene, der die Aporien der kommunistischen (= totalitären) Welterlösungsversprechen (endlich…) kapiert – und hinter sich gelassen hatte.

    Habermas hat von dieser Wende Foucaults bereits gesprochen – aufgrund seiner persönlichen Begegnungen. Wenn ich derzeit eine Frage an Habermas hätte, dann die, ob er auch über die Sozialpartnerschaft mit Foucault gesprochen hat. Nicht auszuschließen. Jedenfalls ist diese strukturell (in ihrer Funktionalität) der alten, auf Konfrontation gepolten, von mir aus auch: Paranoisch gefärbten kommunistischen Weltsicht, deutlich überlegen.

    Und nicht vergessen: Der Liberalismus ist keine Entdeckung Foucaults, das ist von seiner Seite nur eine nachgeholte Lektion. Aber immerhin: Er war lernfähig – auch in Fällen wo es galt, alte Gewissheiten über Bord zu werfen. Das ehrt ihn.

    Indem Luhmann die Funktionskreisläufe seziert, seziert er auch Verwaltungs- Wirtschafts- und Regierungshandeln. Er war schließlich nicht nur Jurist, sondern auch Verwalter und Verwaltungswissenschaftler – bevor er Soziologe wurde.

  12. Richtig, Foucault, den Linken, störte vieles an der (oder im Sinne ihrer Pluralität muß man eher schreiben DEN) Linken. Nicht anders als Adorno. Nur resultiert aus dieser Kritik eben kein (neo)liberaler Foucault, nur weil er gegen das Zwangskorsett opponierte. Solches Labeln ist insbesondere bei Foucault ganz verfehlt: Ich stehe nicht da, wo ihr mich sucht, sondern ich bin hier, von wo aus ich euch lachend anblicke, so schrieb er, sinngemäß zitiert, in der „Archäologie des Wissens“. Schon in den 60ern hegte Foucault gegenüber dem studentischen wie auch gegenüber dem Arbeitermarxismus in den orthodoxen Varianten erhebliche Vorbehalte. Foucaults „Die Ordnung der Dinge“ und „Die Ordnung des Diskurses“ argumentieren explizit nicht hegelianisch oder marxistisch. Von Habermas trug ihm das im „Philosophischen Diskurs der Moderne“ (und auch in anderen Schriften der 80er) den Vorwurf des Neokonservatismus ein. Jedoch: Einer Position ließ Foucault nie sich zuschlagen, sondern ganz im Sinne Kants dachte Foucault immer auch transzendental, indem er die Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaft sowie auch die Kritik an dieser in den Blick nahm. In dieser Form des Denkens bedient auch Foucault einen der Stränge der Aufklärung. Diese Kritik von Gesellschaft brachte ihn in die Nähe der frühen kritischen Theorie, nur daß bei Foucualt das Rüstzeug dort weniger Hegel war, sondern die Phänomenologie – auf die sich freilich auch Adorno bezog – und vor allem der Strukturalismus sowie deren Sprachphilosophie und das Denken Heideggers und Nietzsches – das wiederum auch Adornos Philosophie und Ästhetik beeinflußte.

    In den Vorlesungen zur Gouvernementalität Ende der 70er Jahre beschäftigt er sich in der Tat mit dem Neoliberalismus. Nur nimmt er deshalb noch lange nicht dessen Position ein. So wie Marx eben sich wesentlich mit dem Kapitalismus beschäftigte, ohne dabei Kapitalist zu sein und sich diesem gegenüber rein affirmativ zu verhalten. Diese Vorlesungen muß man bei Foucault immer auch mit seinem Projekt „Sexualität und Wahrheit“ sowie den Überlegungen zu einem Subjektbegriff im Sinne einer (leider in der Postmoderne totgerittenen) Ästhetik der Existenz lesen. Daß dabei, wie auch bei Adorno in der „Negativen Dialektik“, der Begriff der Freiheit eine zentrale Rolle einnimmt, ist wohl wahr. Aber das ist weder bei Foucault noch bei Adorno die Freiheit ungehemmt Geschäfte machen zu dürfen. Und schon gar nicht der strunzen- und blunzendumme, M. Thatcher zugeschriebene Ausdruck, es gäbe keine Gesellschaft, sondern nur Individuen.

  13. Martin Beddeleem in Lectures, oben verlinkt:

    Plus que sur la subjectivité ou la sexualité, ces passerelles sont convaincantes quand elles pointent vers l’invention d’une nouvelle politique sur le modèle de la critique kantienne, que Foucault associe très clairement au néolibéralisme comme « manière d’être et de penser » (p. 386). Sa générosité envers la philosophie du néolibéralisme le rend cependant aveugle, et c’est bien là une impasse majeure de la perspective foucaldienne, à son déploiement effectif sur le mode d’un projet idéologique largement réactionnaire.

    Foucault hat also seine Anhänger geschockt, weil er auf einmal reaktionär erschien.

    Nun ja, wenn man die Scheißhaustürenobession (cf. H. Finkeldey) in ihrem beschränkten – huu – Radius (+/- 90 Grad, hehe) reflektiert, wird man nicht undankbar sein, dass Foucault die Sache der Herrschaftskritik und der Sexualitätsunterdrückung usw. nicht einfach forgeführt hat. Er hat dadurch seinem eigenen Verfall ein Schnippchen geschlagen, denn natürlich sind ein gut Teil der Scheißhaustürenfraktion „Foucauldians“.

    Meine Prognose: Der herrschaftskritische Diskurs ist mit PC und QGLBT an seine sozusagen natürliche Grenze gestoßen. Wie die Auguren aus den USA melden, sind dort nicht nur Goffman, Foucaults Vorgägner in Sachen Institutionenkritik, sondern auch Foucault selber nicht mehr der „ganz heiße Scheiß“ (Göring-Eckardt). Gut so! Endlich!

    Noja: Und, vorwärts, klar, und auch das nicht vergessen: Foucaults Herrschaftskritik hatte wie Derridas Diskursunterminierung ihr Gutes und ihre – seufz:tatsächlich historische Notwendigkeit! – da sie mittaten, den autoriären Stalin- und Prolo-Kult der französischen Kommunisten zu erledigen.

    Ansonsten gilt hier das nicht unebene Wort Nr. 716 aus den nun wirklich unsterblichen Maximen und Reflexionen Goethes: „Einer neuen Wahrheit ist nichts schädlicher als ein alter Irrtum.“

  14. Daß Foucault sich nicht festlegen läßt, als Philosoph, ist seinem Denken angemessen.. Philosophie ist allerdings keine Abfolge von richtigen Erkenntnissen, die irgendwann zu falschen werden. Insofern ist Goethes Satz lebenspraktisch tauglich, aber nicht für die Philosophie gedacht. (Oder zumindest nur bedingt.) Ansonsten gilt auch für die philosophischen Positionen jenes hegelsche Diktum vom Flug der Eule der Minerva, die ihren Flug erst mit einbrechender Dämmerung beginnt, wenn eine Gestalt des Lebens als geworden ist.

    Daß Foucault von bestimmten Gendertröten in Anspruch genommen wird, entbehrt nicht des Witzes. Ach und dazu, ja dazu sind doch die WCs wie geschaffen. Ich habe schon während meines Studiums Ende der 80er und tief in die 90er hinein gewitzelt über die Klotür, bei Derrida die clôture, die Geschlossenheit. Und nun gelangt, Pointe der Geschichte des Trötismus, der Begriff sozusagen zur Wirklichkeit. Gegen, aber irgendwie auch wieder mit dem von mir geschätzten Derrida muß man sagen: Die hegelsche Metaphysik ist nicht totzukriegen.

  15. Noja, und die Metaphysik wie wir sie kennen, entstammt der Metaphysikkritik. Das kommt ja doch von sehr lange her. Und erscheint in pragmatischen Gefilden als Einigkeit im Widerspruch (man könnte das dann, unschuldig wie die Kinder/ auf dunklen Brunnenrändern,/ die verwittern – – zur Conditio sine qua non der Intersubjektivität adeln – indes von Fern die Käuzchen rufen – – ich meinte grad‘ eins zu hörn – oder wars ein Kuckuck?).
    In diesem Sinn: Guten Flug alleweil!

  16. Foucault, ebenso wie Bourdieu und Baudrillard (und, als Filmemacher, Goddard) entwickelten ihre Positionen im Binnenhorizont einer damals maoistischen französischen Linken. Maoistisch nicht im Kontext der stalinistischen Herrschaftspraxis des chinesischen Systems, sondern im Sinne von westlichen sozialrevolutionären Interpretationen der chinesischen Kulturrevolution – die Revolution der Jugend gegen die alte Funktionärselite innerhalb eines kommunistischen Regimes, die Entmachtung der Bürokraten durch revolutionäre Massen. Wenn Foucault an Heidegger und Nietzsche anknüpfte, dann nicht im Sinne einer Übernahme von deren Ansichten, sondern im Sinne einer Anwendung als Methode zur Dekonstruktion damals dominanter Denkmodelle. Detlef Hartmann und Karl-Heinz Roth interpretieren Foucault als letztlich anarchistisch.

  17. @ Dieter Kief: Aber Sie wissen schon: die Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes. Und klar, Metaphysik ist immer auch deren Kritik. Siehe nur Kant. Und im Grunde schon Aristoteles. Und bei Hegel aber auch in der Derridaschen Metapyhsik der differánce ist sie die nicht-ursprünglich ursprüngliche Spaltung.

  18. @ che: Anarchisch, allerdings nicht im politischen Sinne, paßt gut zu Foucaults Denken und paßt auch wieder nicht, denn Foucault war in seinen unterschiedlichen Phasen und in seiner Methode immer ein systematischer Denker, der seine Thesen in einer im Vergleich zu Derrida oder Lacan diskursiv relativ nachvollziehbaren Sprache entfaltete. (Wobei das eben noch kein Kriterium für gute oder schlechte Philosophie ist.) Foucault ist in der Tat durch viele Denker geprägt – was auch seine unterschiedlichen Phasen motivierte, bis hin zu seiner späten Wendung aufs Subjekt – und wie es gute Philosophen machen, trieb er von diesen Denkern ausgehend eine neue Philosophie hervor. Von Nietzsche übernahm er den Anarchismus des Denkens – der Denker mit der Maske, der sich auf keine Position festlegen läßt –, sowie die Methode der Genealogie. Allerdings betätigte sich Foucault ebenso an der Dekonstruktion des Arbeitermarxismus. Zur Heidegger-Lektüre muß man sagen, und Foucault hat das in einem Interview selber zugegeben, daß er nicht viele Texte von Heidegger kannte. Auszüge aus „Sein und Zeit“ sowie „Was ist Metaphysik“ und den Humanismusbrief. Die Heidegger-Rezeption in Frankreich war selektiv.

    Was Godard betrifft, so schätze ich seine Filme, mithin seine ästhetischen Positionen. Seine politischen Proklamationen sind mir fremd und es zeigt sich da wieder einmal, wie empirischer und ästhetischer Charakter auseinanderklaffen können.

    Wie man als Intellektueller sich am Denken und an der Brutalität eines tausende Kilometer entfernt wütenden totalitären Regimes sich ergötzen kann, ist absurd. Zumal diese Leute, die sich im Westen Maoisten nannten, allesamt von der Kultur Chinas und dem Leben dort nicht die geringste Ahnung hatten. Ich bewerte übrigens jene Maoisten nicht anders als ich jene bewerte, die sich auf die Methoden der SA und der SS berufen. (Welches Vorgehen schlimmer ist, darüber ist eigentlich ein Streit müßig, weil es in solchen Dingen keine Quantifizierung gibt. Denn dann tut man das, was jene Totalitären selber beständig machen: Quantifizieren. Bei den Linken freilich ist es am Ende jedoch schlimmer, weil sie immerhin vorgeben, sich gegen solches Verdinglichen zu richten. Langes Thema)

    Was für Stroh muß im Kopf dieser Leute gewuchert haben. Selbst bei Foucault. Sich irgendeinem Ismus anzuschließen sollte eigentlich bereits das analytische und philosophische Denken verbieten. Und es zeigt sich hier, wie gefährlich es ist, sich an Ideen zu orientieren wie der Klammeraffe und ihnen blind zu folgen. Denker wie Adorno, Derrida und auch Roland Barthes waren vor solchem Humbug gefeit und sie taten das einzig richtige: Sie betrieben Theorie.

    Was das Politische also betrifft, stehe ich im Denken auf der Seite von ästhetischen Individualisten wie Camus. Und wer nach André Malraux‘ Reise in die UdSSR und nach Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ noch einen Ismus in den Mund nahm, dem ist eigentlich nicht mehr zu helfen. Insofern waren dann wieder für die französische Philosophie solche wie André Glucksmann und Bernard-Henry Lèvy Glücksfälle, weil sie in den 70ern den Finger auf die Wunde Totalitarismus legten, wenngleich man über ihre Theorien streiten kann. Aber das ist die lange Geschichte der linken Misere.

    Foucault ist – natürlich nachrangig zur Theorie – auch als ästhetisches Phänomen interessant: von seinem Habitus her, der Lebensform. Schwul, halbwegs links, gegen das Establishment gerichtet und die konventionelle französische Philosophie – dieser Protest macht den Reiz an jenen Intellektuellenbiographien aus, nicht anders als bei Sartre. Ich denke, es sind bei bestimmten Denkern nicht nur die Texte, sondern ein sich um diese herum gruppierende Habitualisierung. Sozusagen ein popkulturelles Phänomen. Während Adorno und Horkheimer als Intellektuelle eher langweilig und bürgerlich erschienen, umgab jene Franzosen eine Aura von Glamour. Das sorgte sicherlich in den 80er an deutschen Universitäten auch für den Reiz der french theory. Gut nachzulesen ist über diese Merve-Generation bei Philipp Felsch in „Der wilde Sommer der Theorie“. Ein gutes Buch über den Gründer des Merve Verlags und über den Verlag selbst.

    Was die Irrtümer einer falsch angewandten Theorie betrifft, kann ich noch folgende Anekdote aus meinem Studium beisteuern. Philosophieseminar, Flurgang, die junge A. hockte da am Boden, malte an einem Plakat. Mit leichter Ironie oder Spott in der Stimme, fragte ich sie, ob wieder einmal Studentenstreit sei. „Nein“, sagte sie, „das ist im Nachklang zu einem Foucault-Seminar. Plakate zur Freilassung der Gefangenen“. Sie hatten also im Kontext von „Überwachen und Strafen“ gerade die Aufsätze aus der Mikrophysik der Macht gelesen. Die Anmerkung „Nachdem dann alle Gefangenen frei sind, auch die Vergewaltiger, malt Ihr sicherlich dann das Plakat ‚Vergewaltiger wir kriegen euch!‘“ sparte ich mir.

  19. Ich muß allerdings dazusagen, che, wenn ich solche Bilder sehe, hat das für mich immer noch, so als betrachtete ich die Szenerie wie von früher her, eine Reiz. Eben als Ereignis. Eruptiv.

  20. Intersubjektivität und Einigkeit im Widerspruch ohne Totalitarismen wg. Archipel Gulag – um den Archipel Gulag herum tobte in Frankreich die Entscheidungsschlacht (ähnlich heilsam, aber nicht mit dieser durchschlagenden Wirkung: „Wie eine Träne im Ozean“).

    Ismen per se abzulehnen heißt im Elfenbeinturm verharren – das ist im Grunde eine Reinheitsphantasie (der Beschmutzungswunsch folgt stante pede wie dem Herrchen der Hund mit dem Verweis auf Autonomen-Händel).
    Das muss so sein (es könnte bei anderen – im Seminarflur treulich malenden – leichter zu entziffern sein. Es ist – das i s t ihr Comédie-humaine Anteil (cf. der geniale Molière) – bei anderen leichter zu entziffern).

    In Top-Form ist heute, nach einem schwachen Verweis auf Danisch am Dienstag, glaubich, in Sachen Klimadebatte/Wissenschafts-/Erkenntnisthorie, Michael Klonovsky.

    Die DDR-Fotos – mit der Mittelformat (?) Zenit zeigen die DDR so rein und unverdorben, dass man gleich wieder bei – – Klonovsky – – nämlich grade dieser Woche nachlesen muss, wie die reine Oberfläche in der DDR hergestellt wurde – – nämlich mit dem, gerechnet pro Kopf der Bevölkerung – höchsten Geheimdienstaufwand, den es auf deutschem Boden gab.

    Und das will schon was heißen, „Genossen“!

    Wer mir 1 Satz zitiert, wo Adorno dagegen direkt hehe, sich ausgesprochen hätte, kriegt einen Ehrenplatz in meinem online-Archiv. Also einen Adorno-Satz ausdrücklich gegen die Stasi.

  21. Zunächst einmal muß Adorno sich gegen gar nichts aussprechen. Und zwar weil, wer zu lesen versteht, eigentlich aus jeder Zeile von Adornos Philosophie, relativ mühelos herausbuchstabieren kann, was Adorno vom Machtbereich der Sowjets hielt. Und das schließt die DDR mit ein. In einem Briefwechsel mit Horkheimer nannte er die UdSSR ein einziges großes Arbeitshaus. Zum zweiten besteht nirgends ein Bekenntnis-, Beicht- oder ein Entsagungszwang. Weshalb sollte sich also Adorno von etwas distanzieren, zu dem er sich nie bekannt hat?

    Sich gegen Ismen zu sträuben ist kein Reinheitsgebot, sondern schlicht ein Gebot des Denkens um der Sache willen. Und wir erinnern uns dabei gerne an den Marx-Satz: Wenn ich eins nicht bin, dann Marxist. Das eint Derrida und Adorno, die sich bei aller Differenz in der Methode in dieser Frage nahe waren. Es geht auch nicht darum, Ismen per se abzulehnen, sondern das Standpunktdenken seiner Unsinnigkeit, weil Ungenauigkeit zu überführen. Von Standpunkten aus kann man sich Meinungen bilden, aber kein Wissen generieren. Und das will Philosophie nun einmal als Reflexionsmedium.

    Die Photos in der DDR wurden mit einer Zenit-Kleinformat gemacht. Auf Diafilm (West). Zur DDR muß man wissen: Das ist Ostberlin im Zentrum. Bereits ein paar Kilometer weiter hinaus sah es dort etwas anders aus. Von Halle und Leipzig, nicht gerade kleine Städte, ganz zu schweigen. Jeder wußte, wie es im Osten aussah. Ob Fassade oder Firma in der Magdalena. Aber die DDR bekam auch kein Geld aus dem Marshallplan in den Arsch geblasen. Der Mythos von den fleißigen Deutschen, die in heroischer Arbeit da so strebsam ihr Land aufbauten, verschweigt leider die ökonomischen Umstände. In der BRD sähe es ohne Amikohle dann nämlich genauso aus wie in England und im Mund mancher Engländer: Keine Zähne im Maul und nichtmal Paloma pfeifen.

    Magdalene, Magdalena, ach Magdalene, übrigens eines der wenigen guten Lieder von Bettina Wegener. („Wenn meine Lieder nicht mehr stimmen, hör ich auf zu singen“, so Wegener. Die Jungs von der Titanic damals baten darum, und ich habe es gut verstanden. Aber dieses Stück war gut):

  22. Und was für eine Ironie: Bettina Wegner schrieb dieses Lied lange bevor Erich Mielke vor der Volkskammer jenen Satz sagte: Ich liebe doch alle.

  23. Ich meine so: Die Praxis ist ein Ort eigenen Rechts – und wer meint, dort werde kein Wissen generiert, der steht auf schlechtem Fuß mit der Lebenswelt. Bzw.dem materiellen Substrat der Theorie (Bloch).
    Oh – ich lese Ihren Kommentar so, es sei Ihnen kein Zitat bekannt, das zeigte, dass Adorno sich gegen die Stasi ausspreche.
    Stattdessen zitieren Sie einen Satz, der Solschenizyn vermutlich sehr unbeherrscht hätte werden lassen (wg. Verharmlosung der Sowjetrepressionen).
    Oh, jetzt noch: Wenn es in GB so schlimm war, warum bloß wollten die DDR-Bürger da hin?

    Ahja: Ich war zu DDR-Zeiten in u. a. Leipzig. Es gab natürlich diese frisch fromm föhlich DDR die Ihre Zenit-Bilder zeigen. Und damit auch das klar ist: Ich finde, sie zeigen diese DDR gut (liegt sicher auch am West-Diafilm – die Ost-Fabrfilme Typ ORWO waren schlecht).

    Jetzt noch was von Klonovsky, aus „Schilda wird täglich bunter“: „…dass in Zeiten der Völkerwanderung j e d e Grenze besser ist als keine. (…) krass formuliert (…) was wäre im Ernstfall schlimmer: DDR oder Kalifat?“

    Nicht vergessen: Die DDR fand, Klonovsky sei nicht würdig, als ausgebildeter Maurer, den man ihn hat werden lassen, zu arbeiten, er musste unqualifizierte Hilfsdienste leisten. Und klar: Die Maurer-Ausbildung selber war bereits eine Unterdrückungsmaßnahme.

  24. Können Sie mir mal erklären, weshalb sich Adorno gegen die Stasi hätte aussprechen sollen? Zumal die Stasi in der BRD (wg Globke undso und Auschwitzprozeß 19!!! Jahre nach Auschwitz) für einen deutschen Juden nicht primär das Problem war. Oder irren wir uns da? Adorno hat sich ansonsten mehrfach zum diktatorischen Regime der UdSSR geäußert. Adornos Äußerungen im Rahmen der „Dialektik der Aufklärung“ so im Vorwort zum Begriff der Freiheit und der Humanität sprechen in diesem Sinne eine deutliche Sprache. Lesen Sie es, dann brauchen Sie nicht mehr nach Zitaten zur Stasi zu stöbern.

    Können Sie mir im übrigen Sätze zeigen, wo sich Adorno für die Stasi aussprach oder für die UdSSR? Das wäre ganz gut, denn dann erst hätten wir eine Grundlage dafür, weshalb Adorno sich gegen die Stasi aussprechen sollte.

    Na ja, für manche DDR-Bürger kam in England dann zu einer netten Gesundheitsfalle werden. Was man will und was man bekommt sind zweierlei. DIESE Diskrepanz in ökonomischen zusammenhängen bringt der wunderbare DDR-Text vom Nörgler, auf den che verlinkte, gut auf den Begriff. Und überhaupt: VEB. Das war dann Vatis ehemaliger Betrieb. Schauen Sie sich im übrigen den Dokufilm „Goldrausch“ zur Treuhand von Kriminellen wie Birgit Breuel tummelten. Der Nörgler-Text ist ganz großartig. Danke an che nochmal, das wieder hervorgeholt zu haben.

    Nein, nein, nein. Die Orwo-Filme waren künstlerisch gut. Weil sei schlecht waren. Das ist diese geile Ostdialektik, für die ich als Wessie einen ästhetizistischen Faible habe.

  25. Jajaja – die Farben Ihrer Fotos sind gut.
    (Sagten sie nicht selbst weiter oben, das sei ein West-Film gewesen – ich komme nicht ganz darauf, welcher. Kodak?
    Fink oder Kodak, hehe.

  26. Ja, das war ein Westfilm, ein Diafilm. Ansonsten habe ich s/w gemacht. Ilford, Kodak, Orwo, Tura – je nachdem.

  27. Das dialektische Verhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit und dessen unfreiwillige Ironie, Quell des spezifischen Ossi-Humors der mit der DDR untergegangen ist („Mit dem nächsten 5-Jahres-Plan werden wir den Westen überflügeln!“ „Unn wann jibts endlich Glopapier?“) sollte sich nach der Wende fortsetzen: Kohl versprach blühende Landschaften im Osten und meinte damit den Klatschmohn, auf den Industriebrachen wächst.

    Zu dem Film von der Antifa-Demo: Ja, so was war zwei Jahrzehnte Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, einige davon habe ich mitorganisiert.

    Was die Begeisterung westlicher Linker für die chinesische Kulturrevolution angeht: Das war eine hochabstrakte, sehr idealistische Angelegenheit, die überhaupt nicht rückgekoppelt war an die realen Ereignisse. Das Modell ging so: In einem kommunistischen Staat erhebt sich die Jugend gegen die Apparatschiks und setzt diese ab, wodurch die Revolution sich insgesamt erneuert und eine erstarrte Diktatur basisdemokratische Züge annimmt, im Grunde die äußerste Zuspitzung von Trotzkis „permanenter Revolution.“ Diese Illusion hatte mit der Wirklichkeit so wenig zu tun wie des jungen Hegels Begeisterung für Napoleon als dem „Weltgeist zu Pferde“, wurde aber intensiv geglaubt. So intensiv, dass die westlichen Studenten sich selbst mit den Roten Garden unmittelbar identifizierten, und zwar so unmittelbar, dass Detlef Michel in seinem Beitrag „Maos Sonne über Mönchengladbach. Die Sehnsucht der Intellektuellen nach dem Einfachen“ schrieb, der existenzielle Unterschied, ob man als Partisan mit dem MG ums Überleben kämpft oder sich in Berlin, Paris, New York, Tokio mit der Polizei prügelt wurde nivelliert. Immerhin übernahmen die westlichen Studierenden sogar Aktionsformen der Roten Garden wie die allenthalben vorhandenen Wandzeitungen an die ich mich noch gut erinnern kann. Und in denen durchaus ein Element von Basisdemokratie lag – an der allmächtigen Zensur vorbei schufen die Roten Garden eine neue Öffentlichkeit. Die Illusion, von der Kulturrevolution sei tatsächlich insgesamt so etwas wie Basisdemokratie ausgegangen strahlte nicht nur nach Europa und USA aus sondern auch in den Iran, wo sich bis heute Linke mit diesem Gedankengut gehalten haben, in der Theorie Mao, in der Praxis eher Anarchosyndikalisten.

    BtW Die Geschichte der Kulturrevolution auf Basis einer verlässlichen Quellenauswertung wurde noch nicht geschrieben. Die gängige Vorstellung, diese wurde von Mao persönlich betrieben um seine Widersacher in der Partei zu beseitigen liest sich wie eine Verschwörungstheorie aus sehr westlicher Sicht.

  28. China ist sicherlich noch einmal eine gesonderte Betrachtung wert. Ein weiteres Land, wo man mit der Totalitarismusforschung sowie der Ideologiekritik ansetzen kann. Und man sieht einmal wieder: Aus unmittelbar richtigen Intuitionen oder Reflexen, aus berechtigten Reaktionen auf soziales Unrecht bzw. auf Unterdrückung und Knechtschaft erwächst selber Unrecht. Gewaltverhältnisse, die sich perpetuieren. Am Ende weiß man eigentlich nicht, ob das Vorher oder das Nachinein nun besser oder schlechter war. Aber Geschichte schreitet immer weiter voran. Auch über die Berge der Leichen hinweg. Hitler-Tote, Weltkriegstote, Stalintote, Maotote. In 100 Jahren ist dies alles Stoff für die Geschichtsbücher.

    Im Augenblick sind einige Mao-Biographien auf dem Markt. Neuestens Helwig Schmidt-Glintzer: „Mao Zedong. ›Es wird Kampf geben‹“. Das Buch scheint allerdings nonchalant über ein paar 10 Millionen Tote hinwegzuschreiten, wie ich der Kritik von Arno Widmann in der BLZ entnehme.

    Richtig ist allerdings: Was die Komplexität von Diktaturen anbelangt, reicht es eben nicht aus, sie an nur eine Person zu binden.

  29. Wobei das nicht nur eine Frage der Komplexität von Diktaturen ist – die Kulturrevolution war der meines Wissens historisch einzige Versuch, den Kommunismus im Hier und Jetzt zu erreichen. Das Resultat waren aber neue Barbarei, furchtbares Chaos, dann eine Militärdiktatur, die Willkürherrschaft der Viererbande und ironischwerweise schließlich die Rückkehr der alten Bürokratie. Alle älteren Darstellungen der Kulturrevolution sind entweder aus der Sicht dieser Funktionärsdelite oder aus westlicher Geheimdienstbrille geschrieben.

  30. 1) Die Kulturrevolution und der Neoliberalismus und die alte chinesische Bürokratie und die Immigrationspolitik Angela Merkels und analer Sex (ausdrücklich, aus zartem Twen-Mund: Es ist schwierig sich mit jemandem zu verabreden, wenn man über die Dinner-Einladung in ein Gespräch darüber verwickelt wird, über wen man denn da arbeite, und dann die Tatsache zur Sprache kommt, dass derjenige ausdrücklich analen Sex propagiert) – ok, dann noch 2) das Verhältnis Steve Bannons zur kalifornischen Oberschichts-Jugend – und das alles unter 3) im Hinblick auf Steve Bannons und Donald Trumps laut Perlentaucher (z. B.!) nicht gerade prosemitischen Einstellungen – diese Aspekte aber nun kombiniert (und noch ein paar Sachen, die ich jetzt aufeinander beruhen lasse – sozusagen), schießt hier zusammen mit der Mikrologie der Macht und der erstaunlichen Karriere einer nicht einmal dreißigjährigen Amerikanischen Philosophin, die, zum Entsetzen – zum Entsetzen nicht zuletzt, weil sie „immer sehr nett war“ – also zum wirklichen Entsetzen ihrer FreudnInnen und Weggefähten und ehemaligen MitschülerInnen – hier auch deswegen, weil sie über Foucault geschrieben hat – und jetzt aber bei Donald Trump im Weißen Haus arbeitet – und zwar zusammen mit Daonld Tumpp und Steve Bannon: Gegen die Immigrationsolitik Angela Merkels.

    Find the whole thing there:

    http://www.unz.com/isteve/intercept-harvard-westlake-school-is-alt-right-madrassa/

    Achso: Der stets herumgebotene Quark, Trump und Bannon seien Antisemiten ist in diesem Falle von Bedetuung, weil Julia Hahn, um die es oben geht, nicht nur aus einer sehr reichen kalifornischen Nachbarschaft stammt, wo es eigentlich selbstverständlich ist, dass man sich liberal bis progressiv äußert, sondern weil die Sache in ihrem Fall noch insofern speziell ist, dass ihr sehr liberales reiches kalifornisches Elternhaus mit Julia Hahn offenbar eine – wie soll ich sagen: Junge Frau einwandfrei jüdischen Glaubens hervorgebracht hat, die sich nun Trump zuwandte.

    Komisch aber wahr: Der von Steve Sailer zitierte längliche Skandalbericht aus dem linken Intercept wg. Foucault und Trump weiß ausgerechnet von diesem Faktum nichts zu berichten.

    Ich schätze man verhält sich da ein wenig taktisch, weil die nächste Attacke auf die Menschheitsfeinde Bannon / Trump nicht gefährdet werden soll.

    PS
    Es scheint, als sei unsre obige Auseinandersetzung wg. einer sozusagen nicht-progressiven Lesart Foucaults zukunfstbehaftet gewesen – und habe sich gar – like it or not – in der Schaltzentrale der Weltmacht USA – auch noch in wirklich charmanter Gestalt… – personifiziert.

    PPS

    Just in case, somebody doesn’t like it: There reallly is something about this whole Julia Hahn-affair, that in my opinion definitely i s to like. Namely: That Foucault-Expert Hahn is definitely outspoken against Angela Merkel’s big immigration mistakes.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..