„Das Schöne kann man nicht malen“. Gerd-Peter Eigner: ein Leben, ein letzter Roman, ein Werdegang

Es gilt mit drei Sätzen aufzutakten:

1. Gerd-Peter Eigner ist einer der großen und verkannten Autoren einer langsam verlöschenden Zeit: des ausgegangenen 20. Jahrhunderts, darin auch die Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten des ehemaligen Reichs eine zentrale Rolle spielt. Freilich nicht revanchistisch-revisionistisch, es ist in Eigners Buch „Der blaue Koffer“ dieses Vertriebensein und das Neuankommen, das Ankommen und Wieder-Aufbrechen jenes krude Faktum – was jedoch ganz wesentlich diese Prosa und wohl auch Eigners Leben mitbestimmte. Dazu aber und zu dem, was wir Erinnerung nennen, später mehr.

2. Gerd-Peter Eigner ist ein in Deutschland – leider – relativ unbekannter Autor. Und das war – leider – schon zu Lebzeiten Eigners der Fall. Was auch daran liegen mochte, daß Eigner ein schwieriger Autor war. Vor allem aber liegt es daran, weil es eine Literatur ist, die aufgrund ihres Formbewußtseins nicht einfach und leicht zugänglich ist. Das schreckt ab. Es bleibt zu hoffen, daß „Der blaue Koffer“ zur Wiederentdeckung Eigners beiträgt.

3. Wer eine schöne und gelungene Würdigung Gerd-Peter Eigners lesen will, der greife zu Alban Nikolai Herbsts Nachwort in „Der blaue Koffer“. Auch sei auf die wunderbare und feine Würdigung von Herbst verwiesen, die in seinem Weblog „Die Dschungel.Anderswelt“ zu lesen ist: „Gedenken an Gerd-Peter Eigner“

Herbst zitiert dort wie auch in seinem Nachwort folgenden Satz:

„Heute muß das Kunstwerk selbst schon die Untat sein. Es ist die Gewalt, die Kunst freisetzt. Erst eine Welt, in der (…) Herrschaft schlechthin aufgehoben wäre, oder genauer: in der Gewaltlosigkeit herrschte, – erst eine solche Welt würde der Kunst von selbst entbehren.“

9783965870420Beim ersten Lesen wusste ich nicht recht, ob diese Passage von Eigner oder von Adorno stammt, so sehr ist sie im Duktus von Adornos Ästhetik gehalten, und auch Herbst weist auf das paraphrasierende, travestierende Moment hin, das Eigner hier einsetzt: Es ist dies jedoch ein Satz Eigners aus dem Anfang seines Schreibens, aus einem Essay von 1976. Und in der Tat hat sich Eigner in diesem Satz das Denken Adornos derart anverwandelt, einverleibt vielleicht sogar, auf alle Fälle aber für sich selbst fruchtbar gemacht, daß der Unterschied fluide wird. In diesem Satz wird das Verhältnis von Kunst und Gewalt thematisch, das gerade für die große Dichtung nicht nur des 20. Jahrhunderts von Bedeutung ist – insbesondere in jenen geschichtlichen Rahmungen, die auch für Adorno zentral waren, wenn wir an seine Überlegungen zur Kunst nach Auschwitz denken. Auch von diesem Punkt her ist die Dichtung Eigners zu denken. Kunst ist Gewalt, Kunst bleibt Gewalt. Aus gesellschaftlichen Gründen, aber auch aus uns Subjekten heraus.

Es soll in dieser Buchkritik aber gar nicht so sehr um Eigners Poetik gehen, und auch streifen wir die Frage nach der Identität, die bei ihm eine zentrale Rolle spielt, nur am Rande. Eigner schrieb fünf Romane, angefangen mit seinem Erstlingswerk „Golli“ (1978 bei DVA erschienen) und dann 1985 mit seinem großen Wurf „Brandig“, bei Hanser, der in der Kritik der ZEIT 1986 gut besprochen wurde. Aber das nützte nichts. Eigner blieb jener Außenseiter des Betriebs. Nun also, sechs Jahre nach seinem Tod, ein monumentales Buch aus dem Nachlaß, erschienen im Arco Verlag, wofür man dem Verleger Christoph Haacker, zusammen mit Alban Nikolai Herbst zugleich Herausgeber, nicht genug danken kann. Denn solches Werk zu produzieren, bedeutet unweigerlich und immer auch ein verlegerisches Risiko, was viele der großen Verlage lange und leider schon nicht mehr bereit sind einzugehen. Der Arco Verlag aber tut es. Aber das ist wiederum ein anderes Thema – wenngleich auch diese Frage nach dem Verlagswesen ganz in Eigners Sinne wäre.

Bei Eigner finden wir ein Erzählen, und deshalb auch dieser Hinweis auf jenes Motiv der Gewalt, das schonungslos und zugleich doch lakonisch und ohne jegliche moralische Belehrung oder als Tendenzliteratur jene Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg uns nahebringt. Doch zum Beginn versetzt uns der Autor zunächst einmal in die Wahrnehmungswelt eines Kindes und es scheint in solchem Anfang ein zentrales Motiv auf: „Die Frau im Rücken, die er liebt, setzte er den Stift an, um das Gaswerk mit möglichst geraden und genauen Stichen auf das Blatt zu bannen, das sie ihm mit dem Stift auf das Fensterbrett gelegt hat.“ So geht der erste Satz und es ist die Frau, die er liebt, nicht die Mutter. Das Kind ist sieben Jahre: der Schrecken des Flüchtlingslagers 1949 in Wilhelmshaven, „hier in der zerbombten See- und Marinestadt“, „eine derartige Hölle“:

„In den Monaten, die sie schon da sind, gibt es alles an Geräuschen, was man sich denken kann. Und was man noch nie vernommen hat. Schrilles Gelächter, dumpfe Schläge. Stöhnen, Schreie, Flüche, Verwünschungen, Gelalle. Und vor allem, in der Nacht wie am Tag, jene rhythmisch anschwellenden Obertöne, Jubel und Schmerz, er kann es nicht unterscheiden, aus heiseren Frauenkehlen, ein Röcheln, Ersticken, Verebben, Ersterben. Alles gleichsam greifbar in unmittelbarster Nachbarschaft hinter den seitlichen Laken. Man könnte hinüberspähen durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Durch ein Loch. Aber die Geräusche, nicht allein der Zank, die Flüche, das Keifen, das Wimmern und Weinen und Gurgeln machen dem Kind Angst.“

So heißt es gleich zu Beginn auf der zweiten Seite, wenn der Erzähler die Leser in die Welt dieser Flüchtlingslager der Vertriebenen einführt: Sie waren nach dem verlorenen Krieg nicht willkommen, als sie aus Danzig, aus Königsberg, aus Ostpreußen oder, wie Eigners Mutter mit der Tochter und dem Sohn, aus Schlesien in den Westen flohen, aber sie waren eben da. Sie waren mitten im protestantischen Norden an der Küste, wie so viele Flüchtlinge, und sie waren katholisch. Auch das spielte, man darf das aus jenen Jahren heraus nicht vergessen, eine erhebliche Rolle im gesellschaftlichen Miteinander der neuen Bundesrepublik – wenngleich es Eigner nicht darum geht, einen Außenseiterroman zu schreiben, was die soziale Lage betrifft. All diese Aspekte wie die Vertreibung, Katholizismus, Kunst, Rebellion sind zwar Thema, aber sie werden nicht bekenntnisartig ausgebreitet: Eigner schreibt keine Thesenliteratur, sondern er erzählt. Und das eben macht dieses Buch so stark.

„Der blaue Koffer“ heißt im Untertitel „Ein Werdegang“. Geschrieben in der dritten Person Singular. Damit aber stellt sich zugleich die Frage, wer da erzählt und spricht. Und damit tut sich weiterhin die Frage nach dem Genre dieses Buches auf. Ist es ein Roman, ist es eine Autobiographie? Ob diese Dichtung, diese Wahrheit eines Lebens nun Eigners sechster, fragmentarischer Roman ist, sei dahingestellt. Obwohl in der dritten Person geschrieben. Auf alle Fälle ist dieses Stilmittel eine Form von Distanznahme. Da es aber doch die Lebensgeschichte des Autors ist, die Eigner aufschreibt, kann man es genauso eine Autobiographie nennen, die freilich mit literarischen Mitteln arbeitet: dichterisch, teils in einer wunderbar mäandernden, fesselnden Sprache, wie da eine Kindheit und eine Jugend in Wilhelmshaven erzählt wird, wie sich die Familiengeschichte langsam herausschält: der Vater, ein Reichsbahner, 1945 von der Roten Armee erschossen. Die Fragen des Sohnes an die Mutter nach seiner Tätigkeit als Reichsbahner, wenn man an die Frachtraten vom Deutschen Reich und den eroberten Gebieten nach Polen denkt. Die unwirsche Antwort der Mutter. Die Flucht der Mutter vor der Roten Armee und die Schwierigkeit, auf der Flucht sich das nötigste zu beschaffen, ohne mit den Kindern zu verhungern, das Bombeninferno von Dresden:

„Er erinnert sich an das Feuerwerk, das er aus der Kellerluke beim Onkel Friedel in Dresden verfolgt hat, während die anderen, seine Mutter, die Schwester, die Frau des Onkel Friedel und noch verschiedene mehr, am Boden hockten und sich ganz klein machten, während es zugleich einige gab, die es nicht am Boden hielt und die mit verschränkten Händen im Rücken unruhig hin und her gingen in dem niedrigen, feuchten und eiskalten Raum. Eine seiner frühesten Erinnerungen, von der er nicht genau weiß, ob sie tatsächlich Erinnerung oder letztlich vielleicht doch eher den Erinnerungen der Mutter abgelauscht ist. Er erinnert sich an das, was sie Feuersturm nannte.“

Erinnerungen, immer wieder Erinnerungen, in eine dichterische Sprache gebracht und nicht einfach nur, um Leben zu erzählen, sondern es stellt sich die Frage, wie wir in dieser frühen Phase unseres Lebens uns erinnern. Überhaupt das Phänomen Zeit, da im zerstörten Wilhelmshaven und jener BRD des Wiederaufbaus:

„Fort Rüstersiel und Fort Mariensiel, die sie mit dem Fahrrad von der Goethestraße aus in etwa gleicher Zeit erreichen, Fort Schaar, das näher liegt, der Junge kennt sie alle. Er kennt die Unterschiede ihrer Anlage, ihre Grundrisse und bauliche Trutzburggestalt. Gewissermaßen trägt er Gestalt und Erscheinung in sich. Während er selbst außerhalb von etwas ist. Dem nämlich, das er nicht sehen und anfassen kann. Und das ist die Zeit. Er wird sie vergessen. Nicht nur die, die verstreicht, während er über den Sand und die Gräser, den jungen Sanddorn und die knospenden Sträucher streicht, sondern auch die, die einmal gewesen sein wird; das einmal Vergangene. Wie lange dauerte es an? Wirklich zwei Jahre? Drei? Wann genau begann es? Und wann hörte es auf? Haben sie, er und der Steineklopfer, sich zuerst über die Berge von Schutt und Gemäuer des Forts Schaar oder über das Fort Rüstersiel oder Mariensiel hergemacht? Er wird es nicht wissen, vergessen.“

Eigner reflektiert aufs Erzählen, aber es ist dies kein Reflexionsroman oder irgendein postmodernes Spiel mit Identitäten oder mit den Namen – jener Gerd-Peter Eigner, der ursprünglich Sobczyk hieß, aber polnische Namen ließ man im deutschen Westen besser weg und nannte sich anders –, sondern immer wieder dieses erlebte Leben, was da aus jeder Zeile sich auftut: detailreich und auf eine wunderbare Weise besessen fast erzählt Eigner davon, wenn es um seine Kindheit geht. Die Spanne dessen, was Eigner berichtet, reicht von der Zeit des Zweiten Weltkrieges bis ins Jahr 1976: die neue Wohnung, der neue Lebensgefährte der Mutter, der aber nur Mitbewohner genannt wird – Geschlechtsverkehr zwischen ihm und der Mutter oder irgendwelche Zärtlichkeiten werden niemals erwähnt. „‚Nennt ihn Onkel‘, sagt die Mutter. ‚Onkel Walter.‘“ Der Junge verachtet im Lauf der Jahre diesen Mann namens Walter. Das Spielen der Kinder auf der Straße, in den Ruinen und Trümmern, in der Nachkriegszeit in Wilhelmshaven, das Sich-herumtreiben, Kinder, die sich selbst überlassen waren, des Jungen Amt als Messdiener in der katholischen Kirche, seine Wunsch, Priester zu werden, was die Mutter ihm – im Blick auf mögliche Mädchenbekanntschaften – wohlweislich ausredete, die ungeheure Hingabe des Jungen an dieses Kirchenamt, die Sorgen der Mutter um die Schulleistungen des Jungen, die zunehmend erbärmlicher wurden, eine unerfreuliche Schulzeit, sein Sitzenbleiben, seine Beharrlichkeit, wenn es darum ging, den eigenen Willen durchzusetzen, und vor allem: die ersten Bekanntschaften mit den Mädchen, Fummeln, anfassen, Feuchtigkeit im Schenkelinnenbereich und eine Zeit mit Freunden im Erwachsenenalter, die sich für Literatur begeistern, was den Jungen prägen wird: jener schwule Dramaturg am Theater, der sich auch für den Jungen interessiert, aber auf einer Ebene des Anschauens, nicht des Berührens – dieser falsch verstandene Sinn von „platonisch“. Insofern eine Erziehung des Herzens und des Körpers auch, darin die Bisexualität des Autors eine Rolle spielt. Jungs, die sich an Jungs ausprobieren. Aber manchmal, später, auch Männer. Genauso aber und viel mehr noch die Mädchen. Seine Lust nach Sport als Turmspringer und Boxer, aber auch seine musische Art: Das Spielen von Geige und Klavier, zaghafte Versuche des Schreibens, später dann. Und ein Lehrer, der das Talent dieses Jungen erkennt, während viele andere Lehrer, jene aus der alten Zeit, die nun in der neuen sind, es übersehen – auch das wird für Eigner eine Rolle spielen, später dann, wenn er als Lehrer in Bremen mit devianten Jugendlichen arbeitet. Zunächst aber Eigners Ausbruch aus der häuslichen Enge, ein Sommerurlaub in Frankreich mit Trampen, Abbruch des Abiturs, raus wieder nach Frankreich für ein Jahr, in Paris in ärmsten Verhältnissen in einer Mansarde unterm Dach lebend, dann die Rückkehr nach Deutschland, das Wirtschafsgymnasium und ein Studium der Soziologie, und später dann, als er bereits als Lehrer wirkt, wieder ein Ausbruch, nach Nordafrika: die Geschichte reicht bis ins Jahr 1976, als der Autor auf dem Bremer Marktplatz aus seinem ersten Roman „Golli“ rezitiert und er es mit der Polizei zu tun bekommt, weil solche Kundgebungen und Lesungen auf einem öffentlichen Platz in Bremen verboten sind – zumal mit einem Klingelbeutel daneben. Was bleibt, ist eine Geldstrafe, zu zahlen an das Land Bremen. Diese Schuld aber mochte der junge Dichter nicht begleichen. Denn er ist stur und bollig.

Jener Werdegang des Erzählers weist zugleich auf das Motiv der Entwicklung, auch wenn diese Prosa im klassischen Sinne kein Bildungsroman ist, der Plan ist hier allenfalls der Zufall des Lebens und eine Ablehnung des Autors gegenüber bestimmten Autoritäten, die er nicht anerkennen kann. Sondern vielmehr schildert in dieser Prosa ein Autor, wie er zu dem wurde, was er ist: nämlich ein Schriftsteller. Der Weg dorthin freilich war ein mühsamer. Und es endet das Buch ähnlich absurd-lächerlich wie Flauberts „LʼÉducation sentimentale“:

„Der Schriftsteller begleitet Ingo in dessen Vereinslokal, drückt ihm einen Fünzigmarkschein in die Hand, bittet ihn, den genannten geschuldeten Betrag an die Landeshauptkasse, 28 Bremen 1, Schillerstraße 22 (Haus des Reichs – Anbau) zahlen zu gehen oder zu überweisen und übernimmt die gemeinsame Zeche. Dann ist er erneut und, abgesehen von einem kurzen Besuch wenige Jahre darauf, um den Koffer zu holen, für immer weg.“

Herrliche Lakonie. Was aber bleibt, ist dieser blaue Koffer mit den Erinnerungen darin – auf ihn komme ich später noch zu sprechen.

Das Ungeheuerliche dieser Geschichte besteht gar nicht so sehr in den einzelnen Episoden jener Kindheit, einer Jugend in Nachkriegsdeutschland, wie sie im ersten und zweiten Teil geschildert wird, sondern in der detaillierten Erinnerung. Ist all das erzählt und erfunden, erzählt und wahrgesprochen? Eine bloße Fiktion zumindest ist es nicht, es ist eine Autofiktion, es ist im Grunde das, was man dem Genre Biographie zuschlägt, aber doch in eine besondere sprachliche Form gebracht, für die bei Eigner unabdingbar das Wort Dichtung zu gebrauchen ist, eine Art des Erzählens, die insbesondere in den 1970er Jahren im Kontext jener Literatur der Neuen Subjektivität Konjunktur besaß. Auch Eigners Buch fällt dort hinein, wenngleich später geschrieben und postum veröffentlicht. Deren Gegenpol in der polemischen Aufladung, aber ebenso detailreich doch wie bei Eigner, sind Thomas Bernhards Kindheitserinnerungen. Was Eigner schreibt, ist erlebte und gelebte Kindheit, freilich in eine besondere literarische Form gebracht: mäandernde, fließende Sätze und Satzperioden hypotaktischer Struktur wechseln mit einem parataktischen Stil, eine Art Stakkato, das Effekt erzeugt, aber Eigner strapaziert diesen Ton nicht über, hier bei der Kinderlandverschickung der Schwester: „Die Mütter küßte die Schwester. Die Schwester stieg in den Bus. Sie saß schmal, die beiden geflochtenen braunen Zöpfe traurig an ihren Ohren hinunterhängend, am Fenster. Ihr Mund noch kleiner und dünner als sonst. Als fürchtete sie, niemals zurückzukehren.“ Das ist dieser knappe Hemingway-Stil, auf den der Erzähler immer einmal wieder zu sprechen kommt, wenn es um seine Schreibversuche und ums Nennen seiner literarischen Helden geht. Wozu auch der leider vergessene Hans Henny Jahnn gehört – was in den Fragen des Schwulseins und der Berührung mit schwuler Kultur in diesen Jahren keine unerhebliche Rolle spielen mag. Literatur und lesen, Dichtung, schreiben und leben spielen für den Erzähler von früh an schon eine wichtige Rolle. Das Kind ist ein genau beobachtendes Kind.

Fein und genau auch beschrieben wird das Trampen des Erzählers mit einem Schulfreund in den Ferien von Wilhelmshaven durch Deutschland und dann nach Frankreich, gelobtes Land, nach Paris und von dort an die Mittelmeerküste. Und wie ein Münchhausenstück wirkt die Rückreise des jungen Erzählers, als er jenen Millionär trifft, der ihn, einmal wieder an der Straße trampend, diesmal zerlumpt und ausgeraubt zudem von Arabern am Strand von Nizza, im roten Cabriolet-Sportwagen, einem Chevrolet Corvette, mitnimmt, mit ihm nach Italien, nach Genua und dann nach Venedig fährt und ihn in die mondäne Welt jener 1950er Jahre einführt. Sie teilen in einem der Luxushotels ein Zimmer, der Chevrolet Corvette-Mann macht erotische Avancen. Aber auf angenehme Art.

Es handelt dieses Buch also auch von variablen sexuellen Präferenzen, aber ohne daraus ein Gewese zu machen: Es wird erzählt, es geschieht, beiläufig und in diesem Sinne vor allem: normal. Am Ende dieser wunderbaren Tramp-Reise in den Sommerferien, mit 17 Jahren, geht es erst per Zug von Venedig nach München und dort mit dem Flugzeug, Zwischenlandung in Düsseldorf, nach Hamburg, wo das Flugzeug in erhebliche Turbolenzen gerät. Und er „sagte sich, daß er, wenn sie denn schon alle gemeinsam abstürzen müßten, er wenigstens etwas von seinem Leben gehabt habe.“ Das zumindest kann man von dieser Reise sicherlich sagen. Ein Schelmenstück, sich durchzuschlagen, zusammen mit einem Freund, aber auch eine schicksalhaft traurige Liebesverwicklung mit einer wunderbaren Frau, die nicht verraten werden soll. Und wie das so ist, wenn ein junger Mann sich in eine Frau verliebt, älter als der Erzähler und schon mit einem Kind, eine Französin und wenn der junge Mann dann nach jener Trennung, weil er nach Hause und wieder zur Schule muß, endlich nach Paris zurückkehrt und nicht das vorfindet, was er sich erwartet hat. Und vor allem: Ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte des Aufbruchs, Ende der 1950er Jahre, wie sie in dieser Form nicht alltäglich sich zuträgt und wie sie als Ausbruch aus einer Welt der Enge und der Begrenzung sich dennoch vielfach in dieser Form zugetragen hat, wenn ich mich an die Eltern einer Freundin erinnere, die aus der Generation der 1940er sind: die nach Spanien und nach Frankreich sich aufmachten.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert, davon der dritte Teil zum Ende hin teils fragmentarisch ausfällt und die Spannungsbögen doch mit einigen Auslassungen und willkürlich aufgebaut sind. Da das Buch keine von Eigner autorisierte Fassung ist, stand sicherlich noch eine Überarbeitung durch den Autor an – wozu Eigner nicht mehr gekommen ist, da er 2017 starb. Aber dieses Skizzen- und Tagebuchhafte des letzten Teils gereicht dem Buch keineswegs zum Nachteil. Anschaulich wird diese Phase des Lebens gerade durch den Detailreichtum und das genaue Erzählen von Eigner, ein schier unerschöpflicher Vorrat an Erinnerungen wird aus jenem blauen Koffer hervorgeholt. Vor allem im dritten Teil, wo Eigner die abenteuerliche Zeit in Frankreich erzählt.

Was aber ist nun dieser ominöse blauer Koffer? Er ist real – denn es gibt ihn –, aber er ist auch eine Chiffre fürs Aufbewahren, fürs Erinnern und für das Erzählen. Es ist ein kleiner Koffer, eher schon von der Größe einer Aktentasche, der Koffer ist alt und aus harter Pappe, die Kanten der Pappecken mit Metall vernietet, dazu zwei Metallschlösser. Und im Koffer befinden sich Notizen und Erinnerungen der Mutter aus der Zeit vor der Flucht – von der wir allerdings nicht viel erfahren, allenfalls in Andeutungen und über jene Familiengeschichten.

„Er ging zur Mutter hinüber, fragte sie, was das für ein alter Koffer sei. Sie sagte, es sei der Koffer von zu Haus. Ob er sich nicht erinnere? Mit dem sei sie gekommen, aus Schlesien, Oberschlesien. Der Walter habe ihn schon wegschmeißen und ihr einen neuen kaufen wollen. Aber man schmeiße nichts weg, sagte sie, das man aus der Heimat mitgebracht habe. Letztlich sei es das Letzte, was sie noch besitze. Der junge Mann zögerte plötzlich weiterzufragen. Tat es dann aber doch. Ob sie ihm ihren Koffer ausleihen könne? Warum nicht? Er solle nur den Inhalt in den Sekretär tun.“

Im Besitz des Jungen, wird der Koffer mit einer blauen Ölfarbe gestrichen und pfleglich behandelt: der Koffer wird zu seinem Heiligtum, zu seinem Tabernakel. Der blaue Koffer kommt mit auf Reisen, nach Hamburg, nach Frankreich dann, zum Trampen in den Ferien und später dann, um in Paris ein Jahr lang zu leben. Dieser Koffer wird ein Aufbewahrungsort. Ein wenig aber verhält es sich mit diesem Koffer auch wie mit dem Festhalten des Augenblicks: der Koffer ist ein Anlaß, diesen Anlaß ausfüllen kann jedoch nur der Dichter und jener der der Sprache bzw. der Kunst mächtig ist. Gleich zum Beginn des Buches soll der Junge im Flüchtlingslager etwas malen, weil die Mutter und eine Freundin etwas zu besprechen haben, was nicht für die Ohren des Kindes bestimmt ist. Es heißt dort:

„Was Schönes. Er kann nichts Schönes malen. Niemals würde er es wagen, etwas Schönes zu malen. Auch nicht zu zeichnen mit diesem Stift. Das Schöne kann man nicht malen. Das Schöne bewegt sich, verändert sich jeden Augenblick. Es schillert. Und fließt. Es flutet. Und dann ist alles immer auch noch eine Frage des Lichteinfalls und der Haltung.“

So ist es auch mit den Notizen, Karten, Heften, Briefen, Photographien und Utensilien, die aus dem Koffer hervorgeholt werden. Und so ist es auch mit solchen Reflexionen: sie geraten, wenn man über sie nachdenkt, ins Changieren: Sind diese Sätze noch die Überlegungen eines Kindes – möglich ist es, denn gerade Kinder haben ein gutes Gespür für solchen Widersinn, für Bedeutsames und sie hinterfragen manchen Satz, der für den Erwachsenen selbstverständlich ist. Oder hat hier der Autor eine Szene aufgeladen – ex post facto gleichsam, indem erlebtes Leben, der gelebte Augenblick des Kinders, der Kinderwelt, des kindlichen Ausschweifens in den Kinderüberlegungen in die Deutung vergangenen Lebens einfließt, um gerade durch solche Poesie aus der Perspektive des Erwachsenen das Denken eines Kindes anschaulich zu machen? Eigner vermag es in dieser wunderbaren Prosa solche Fragen immer wieder reflexiv einzuholen und uns zugleich die Absurdität mancher so dahingesagter Erwachsenenrede vorzuführen. Es sind diese existenziellen Kinderfragen, die Eigner in seinem Erzählen veranschaulicht, so bei einer Kinderlandverschickung:

„Daß ihn aber dort auf dem Bauernhof überhaupt die Frage umtrieb, was er einmal werden würde, was er einmal werden wolle, welchen Beruf er ergreifen und in welchen Gegenden und Orten der Welt er einmal das verrichten würde, was er sich schon seit geraumer Zeit vorgenommen hatte, muß mit eben dem Ort dieser Kinderlandverschickung selbst zu tun gehabt haben. In der Kinderlandverschickung festigte sich etwas in ihm.“

Wie man zu dem wird, was man ist. Es sind diese Details, wenn einem Kind plötzlich etwas aufgeht, wo eine scheinbar nebensächliche Frage, die sich viele Kinder stellen, existenzielles Gewicht plötzlich bekommt. Dieser blaue Koffer ist dazu ein Medium. Aber auch das Schreiben selbst ist es, etwa wenn er einem Mädchen, in das der Erzähler verliebt zu sein scheint, Briefe schreibt:

„Da er, das lag auf der Hand, ihre Hausnummer hatte, schrieb er ihr Briefe. Die sie, was ihn hoffen ließ, beantwortete. Allerdings so, daß er den Eindruck gewann, sie wolle ihn nicht. Was ihn umso unnachgiebiger machte. Er setzte wieder – und wie nie auf Briefe. Die ihr, wie sie zurückschrieb, gefielen und sogar, so schrieb sie, ergötzten. Obwohl sie, schrieb sie, sie auch unsicher machten. Und erschreckten. Die Gewalt! So eine Gewalt! So eine Maßlosigkeit! Das halte sie, schrieb sie, nicht aus. Worauf er zurückschrieb, um zu erklären, daß es allein darauf ankomme. Auf die, ja, vielleicht nicht Gewalt, aber doch die Intensität, auf das Gefühl. Wenn man nicht in allem, was man tue, aufs Ganze gehe, dann sei es das Leben nicht wert.“

Gerd-Peter Eigners Prosa ist von genau solcher Intensität und diese Intensität zeigt sich ebenso in seinem Leben: eine ungeheure Hartnäckigkeit, auch in Sachen Dichtung. In „Der blaue Koffer“ ist es nicht primär das Politische, auch wenn es als Unterstrom diese Dichtung mitbestimmt, sondern es sind vor allem diese privaten Verhältnisse, die uns Eigner erzählt: jene 1950er und 1960er Jahre der Bundesrepublik, als Jugendliche plötzlich Blue Jeans trugen, Rock ’n‘ Roll und Jazz hörten und durch Europa zu reisen begannen.

Zu guter Letzt, Sie haben lange durchgehalten, liebe Leserinnen und Leser, möchte ich mit dem wohl schönsten Satz von Eigner enden, der mich fasziniert und der doch die Logik des Poeten uns zeigt:

„Irgendwann wollte sie ihre Briefe zurück. Er schrieb ihr, daß er im Gegenzug seine zurückhaben wolle. Bevor er die aber nicht habe, schicke er ihr nichts. Soviel wenigstens hatte sie verstanden: Nämlich daß er eine Moral besitzt. Sie schickte ihm seine Briefe zurück. Er ihr, die Kehrseite der Moral, die er hatte – und die, fand er, auch eine ist – die ihren nicht.“

Gerd-Peter Eigner: Der blaue Koffer. Ein Werdegang. Aus dem Nachlaß herausgegeben. Nachwort von Alban Nikolai Herbst, Arco Verlag 2022, 600 Seiten, 32,00 €

Von den Zarenknechten sowie mit Worten von Thomas Mann, Harald Martenstein und Wladimir Klitschko

Zum Jahrestag dieses russischen Angriffskrieges und zum teils genozidalen Krieg gegen die Ukraine und ihre Kultur ist vieles geschrieben worden. Wir erinnern uns heute aber gerne und gut an die Worte von Sahra Wagenknecht, kurz vor dem Überfall auf die Ukraine:

Soviel zu Wagenknechts Urteilsvermögen. Aber in einem Punkt hat sie recht: Mit Vranyo-Gestalten wie Putin ist kaum Diplomatie möglich. Insofern macht diese Aussage zur Unmöglichkeit von Diplomatie ihr Gefasel im „Manifest für den Frieden“ um so lächerlicher und erst recht diese Demonstration am Samstag in Berlin. Es ist eine Demonstration der Schande und wer daran teilnimmt, will keinen Frieden, sondern Unterwerfung der Ukraine unter ein brutales russisches System, das die Ukraine mit der Auslöschung ihrer Identität, mit Kinderverschleppungen, mit Terror und Foltergefängnissen überzieht. Mit anderen Worten: diese Demonstranten betreiben, ob sie es wollen oder nicht, Parteinahme für ein faschistoides und wenn nicht das, dann doch für ein brutales, totalitäres System. Frei nach Marxens Satz aus dem „Kapital“: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“ Wer Frieden sagt, aber Unterwerfung meint, ist kein Pazifist, sondern im besten Falle ein elender Feigling und im schlimmeren Fall einfach nur ein Schuft. Und ich bin durchaus der Meinung, daß auch Menschen mit einem eher geringen Verstand diese Umstände zu erfasen in der Lage sind. Daß dort auch die neue „Friedenspartei“ AfD auftritt, sagt alles über diese neue Querfront aus Friedensbewegung und neuer Rechten, wie man sie bereits 2014 im Umfeld von Ken Jebsen und anderen Akteuren bei den Montagsmahwachen beobachten konnte. Adressat von Protesten war bei diesen Leuten nie der Aggressor Rußland.

In einem Interview im „Spiegel“ gibt Chatherine Belton eine gute Einschätzung zu Putin und seinem Regime:

Belton: Er war sehr gut darin, anderen Leuten genau das vorzuspielen, was sie sehen wollten. Er war ein regelrechtes Chamäleon, hielt sich im Hintergrund, gab sich bescheiden – obwohl er bald nach seiner Rückkehr nach Sankt Petersburg mit seinen Freunden aus Geheimdienst und Mafia die Wirtschaft der Stadt an sich riss. So erarbeitete er sich einen Ruf als Mann, der Probleme effizient löst.
SPIEGEL: Aus dem Sankt Petersburger Rathaus wurde er in den Kreml befördert
Belton: … und gab sich auch dort bescheiden. Das war ungewöhnlich in einem Umfeld, in dem jeder mit harten Bandagen um den eigenen Vorteil kämpfte. Also erkor Boris Jelzin den jungen Putin zum Nachfolger, als er infolge einer Finanzkrise, eines Bestechungsskandals und sinkender Umfragewerte abtreten musste. Jelzins Leute dachten, dass sich dieser unscheinbare Mann loyal verhalten und ihren liberalen Kurs fortsetzen würde. Das Chamäleon hatte Jelzins Umfeld getäuscht.

Ein Überlegung, die zugleich viel auch mit dem Umgang der deutschen Politik mit Putin zu tun hat. Aber: Wir haben uns nicht nur täuschen lassen, sondern wir wollten getäuscht werden. Zu lukrativ waren die Geschäfte mit Putin. Insofern sei hier noch einmal an die Dokumentation und Recherche „Gazprom – Die perfekte Waffe“ erinnnert. Zu sehen in der Arte-Mediathek.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber es gibt Ähnlichkeiten. Thomas Mann, in einer Rundfunkübertragung an Deutsche Hörer, im März 1941, was die Verlängerung des Krieges und Frieden betrifft (gefunden auf Twitter bei Timothy Snyder):

„Den Widerstand Englands, den Beistand, den Amerika ihm leiht, brandmarken eure Führer als ‚Kriegsverlängerung‘ Sie verlangen ‚Frieden‘. Sie, die vom Blute des eigenen Volkes und anderer Voelker triefen, wagen es, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Damit meinen sie: Unterwerfung, die Legalisierung ihrer Verbrechen, die Hinnahme des menschlich Unerträglichen. Aber das ist nicht möglich. Mit einem Hitler gibt es keinen Frieden, weil er des Friedens von Grund aus unfähig, und weil dieses Wort in seinem Munde nur eine schmutzige, krankhafte Lüge ist.“

Ansonsten formulierte es Harald Martenstein für den Juni 2022 und auch im Rückblick auf das deutsche Putinanbiedern oder das Nicht-sehen-wollen, wie ich und wie so viele es taten. Bei Marielouise Beck, Alice Bota, Golineh Atai, Michael Thumann, Andrea Böhm, die den Putinismus von Anfang an richtig einschätzten, als es gegen Krim und gegen den Donbas ging, ist bis heute große Abbitte zu leisten. Vor allem aber pointierte Martenstein diese ungeheure deutsche Naivität im Blick auf Putin:

„Jahrelang wurde Wladimir Putin von deutschen Politikern falsch eingeschätzt. Sie hielten ihn für gutmütiger und vernünftiger, als er es ist. Deshalb haben wir uns bekanntlich von russischem Gas abhängig gemacht. Wie? Putin könnte eines Tages sein Gas als politische Waffe einsetzen? Quatsch, hieß es, so was tut der Mann doch nicht.

Als Putin sich die Krim holte, dachten in Deutschland viele, dass er damit zufrieden sein wird. Das war Fehler Nummer zwei. Exakt der gleiche Fehler wurde einige Zeit später ein drittes Mal gemacht. Als Putin seine Truppen an der ukrainischen Grenze aufmarschieren ließ, sagten in Deutschland viele: Der wird schon nicht angreifen, so unvernünftig ist er nicht. Von ihrer eigenen Friedensliebe schlossen sie auf die Friedensliebe Putins. Unmöglich, dachten sie, dass jemand völlig anders tickt als wir. Wunschdenken spielt bei uns oft eine große Rolle.

[…]

Der Westen ist uneins, schwach und feige, diese Botschaft hat Putin seinen Leuten immer wieder eingehämmert. Wenn die Leute in ihrer Wohnung Pullover tragen müssen, im Winter, wird die jetzt schon kriegsmüde Stimmung im Westen vollends kippen.

Die Zeit arbeitet für ihn. Verhandlungen wären erstrebenswert. Aber es wird keine Verhandlungen und keine Kompromisse geben, weil Putin in Anbetracht der militärischen Lage beides nicht nötig hat. Er weiß, dass er siegen wird, wenn die Ukraine nicht bald und in großem Umfang die Waffen bekommt, die sie braucht. Der Sieg wird teuer erkauft sein, aber es ist ja nicht er, der den Preis zahlt. Sein Volk zahlt den Preis. Und Putin wird glauben, dass er wieder mal das Richtige getan hat.

Inzwischen spricht er offen über sein Ziel, das Großreich aller Russen, auch derer, die gar keine Russen sein wollen. Putins Klarheit unterscheidet ihn von Olaf Scholz. Versprochen waren der Ukraine viele Waffen. Geliefert wurden wenige, aufreizend langsam, jede Woche steht dafür eine neue Ausrede in der Zeitung. Wenn es nicht so tragisch wäre, könnte man Parallelen zum Bau des Berliner Großflughafens ziehen, dessen Eröffnung wurde ähnlich oft verschoben wie einige Waffenlieferungen. Inzwischen gibt es eine Liste der erfolgten Lieferungen, 100 Maschinengewehre und 178 Fahrzeuge unter anderem. Nach vier Monaten sind auch sieben Haubitzen eingetroffen, dazu fallen mir die sieben Zwerge ein. Das kleine Norwegen hat 22 geliefert.“ (Martenstein, Putins willige deutsche Wunschdenker werden wieder sichtbar)

Beenden will ich diesen Artikel mit einem Satz von Wladimir Klitschko in der Talkshow von Sandra Maischberger am 22.2. Maischberger sprach von Opfern auf beiden Seiten. Klitschkos richtige Antwort: „Es gibt keine russischen Opfer, denn wer mit Waffen kommt, stirbt durch Waffen, die Opfer sind Ukrainer.“

 

Im Reigen der Abschweifungen oder worin Habermas falsch liegt. Ein Plädoyer für Realismus

Einmal wieder, wie bereits nach dem ersten Friedensaufruf im März 2022, hat Jürgen Habermas einen Essay, einen langen zudem, über eine zentrale Frage geschrieben: „Wie einen Krieg beenden?“ Und vor allem: „Wie geschieht dies auf eine effektive Weise, ohne daß Europa in einen Weltkrieg driftet?“ Daß diese Frage in der gegenwärtigen Situation und im Blick auf Putin jedoch von Habermas kurz zu beantworten ist, sei vorweggestellt und wer sich lange Wege sparen will, der lese die letzten vier Sätze dieser Kritik. Ich mache mir aber dennoch die Mühe, auf einige Aspekte von Habermas im Detail einzugehen. Er schreibt im Blick auf die Präliminarien:

„Auch aus Kreisen der SPD hörte man nun, dass es keine „roten Linien“ gebe. Bis auf den Bundeskanzler und dessen Umgebung nehmen sich Regierung, Parteien und Presse beinahe geschlossen die beschwörenden Worte des litauischen Außenministers zu Herzen: „Wir müssen die Angst davor überwinden, Russland besiegen zu wollen.“ Aus der unbestimmten Perspektive eines „Sieges“, der alles Mögliche heißen kann, soll sich jede weitere Diskussion über das Ziel unseres militärischen Beistandes – und über den Weg dahin – erledigen. So scheint der Prozess der Aufrüstung eine eigene Dynamik anzunehmen, zwar angestoßen durch das nur zu verständliche Drängen der ukrainischen Regierung, aber bei uns angetrieben durch den bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung, in der das Zögern und die Reflexion der Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht zu Worte kommen.“

Zunächst einmal heißt „Sieg“ nicht alles mögliche, sondern ganz primär geht es dabei um den Abzug der Russen aus den am 24.2.2022 überfallenen Gebieten. Dies ist die primäre Forderung der Ukraine, dies ist die primäre Forderung des Westens und vieler anderer Länder. Habermas spitzt hier eine Auslegung zu bzw. biegt sie um. Rote Linien heißt im Kontext von Hilfeleistungen des Westens: rote Linien im Blick auf Waffenlieferungen; diese rote Linie aber hinsichtlich der Waffen kann es nicht geben, weil prinzipiell alle konventionellen Waffen tauglich sind, die Ukraine in ihrer Verteidigung zu unterstützen. Und alle politischen Akteure betonen immer wieder, daß die NATO in keinem Fall Teilnehmer in einem Krieg sein dürfe. Diesen Wunsch hat auch die Ukraine respektiert: es kommen von ihr keine Forderungen, daß auch NATO-Truppen zum Einsatz kommen sollten. Insofern besteht keinerlei Gefahr, daß die NATO oder Staaten der NATO aktiv in diesen Krieg eingreifen.

„Rußland besiegen zu wollen“ heißt, wie gesagt, zunächst einmal, daß Rußland aus der Ukraine sich zurückzieht. Kein Mensch jedoch spricht von einem Einmarsch in Moskau. Sehr wohl aber muß es legitim sein, darüber nachzudenken, wie es mit Putin weitergeht und was möglicherweise nach Putin kommt – solches Durchspielen  von  möglichen Szenarien ist Bestandteil einer jeden vorausdenkenden (Geo)Politik.

Was diese Passage ebenfalls problematisch macht, ist der Umstand, daß sich Habermas hier gleichzeitig ins Fahrwasser einer unkritischen Äquidistanz manövriert: der „Prozess der Aufrüstung“ ist einzig und allein durch den russischen Angriff auf die Ukraine motiviert und durch nichts anderes. Die „Dynamik“ liegt in den immer neuen Angriffswellen Rußlands und im grausamen Beschuß von Zivilisten – von dem, was Rußland in den besetzten Gebieten anstellt, ganz zu schweigen. Und das Recht auf die Selbstverteidigung der Ukraine zu stärken, mit Worten und mit Waffen, hat nichts zu tun mit einem „bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“: bellizistisch sind jene, die einen brutalen Angriffskrieg gegen ein souveränes Land führen und nicht jene, die für eine Verteidigung plädieren, die im Falle eines Krieges nun einmal nur mit Waffen und nicht mit Worten geleistet werden kann.

Weiter schreibt Habermas im Blick auf nachdenklichen Stimmen:

„Wenn ich mich diesen Stimmen anschließe, dann gerade weil der Satz richtig ist: Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren!“

Die Ukraine gewinnt jedoch diesen Krieg nicht mit Worten. Insofern ist dieser Satz ein leeres Mantra und muß abstrakt bleiben. Vielleicht aber sollten wir in unseren Medien und in unseren öffentlichen Diskursen die Ukrainer und die Mitteleuropäer selbst vielmehr zu Wort kommen lassen, um zu hören, was sie brauchen, damit sie sich gegen Rußland behaupten können. Das wäre zielführender. Wie im übrigen die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren kann, beantwortet Habermas in seinem ganzen Essay mit nicht einem einzigen Wort. Darauf gehe ich noch weiter ein. Habermas führt in einer Kaskade von Ableitungen eine Menge an Unterscheidungen und Fragen ein, die jedoch im Reigen der Abschweifungen den zentralen Aspekt nicht nur aus den Augen verliert, sondern er unterschlägt vor allem den für die Ukrainer wesentlichen Aspekt, wie man die Russen aus der Ukraine verdrängen kann, und schiebt diese Fragen auf die Seite – läßt sie, um es zuzuspitzen, hinter einem Diskursnebel verschwinden. Habermas thematisiert teils berechtigte und auch politisch interessante Aspekte wie jene Fragen zum Völkerrecht und den Lehren, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen haben – die nur alle nichts dazu uns sagen können, wie wir Putin an den Verhandlungstisch bekommen können. Es sind Abschweifungen, die in der Sache nur bedingt dienlich sind. Und  es sind in diesem Sinne leider nur Nebeltöpfe.

Habermas bringt in seinem Essay unterschiedliche Aspekte zusammen. Das eine ist die Frage nach einer neuen Friedensordnung, die zunächst in einer mehr oder weniger fernen Zukunft liegt. Nur haben diese Überlegungen etwas von einem Glasperlenspiel, das schön anzusehen ist und fein klingt, aber das Flirren und Klingen macht eben noch keinen Frieden und vor allem sagt uns Habermas nicht, wie er sich diesen Weg dorthin vorstellt bzw. wie er politisch zu bewerkstelligen ist: der Kommunikationstheoretiker ist in dieser zentralen Frage erstaunlich unkommunikativ und verschwiegen. Mit diesem Schweigen  hängt ein weiterer Aspekt zusammen, der von Habermas ebenfalls nicht ausreichend zum Thema gemacht wird, nämlich auf welche Weise der Westen die Ukraine auf eine effektive Weise unterstützen kann, ohne daß es dabei zu einem Weltkrieg kommt und zugleich ohne dabei Putins Spiel der Erpressung mit einem solchen Weltkrieg mitzuspielen. Das Plädoyer fürs Verhandeln bleibt bei Habermas im luftleeren Raum.

Die Lage des Westens wird bei Habermas allerdings hinsichtlich innen- wie außenpolitischer Fragen der Regulierung thematisch:

„Der Westen hat eigene legitime Interessen und eigene Verpflichtungen. So operieren die westlichen Regierungen in einem weiteren geopolitischen Umkreis und müssen andere Interessen berücksichtigen als die Ukraine in diesem Krieg; sie haben rechtliche Verpflichtungen gegenüber den Sicherheitsbedürfnissen der eigenen Bürger und tragen auch, ganz unabhängig von den Einstellungen der ukrainischen Bevölkerung, eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; daher können sie auch die Verantwortung für die brutalen Folgen einer nur dank ihrer militärischen Unterstützung möglichen Verlängerung des Kampfgeschehens nicht auf die ukrainische Regierung abwälzen. Dass der Westen wichtige Entscheidungen selber treffen und verantworten muss, zeigt sich auch an jener Situation, die er am meisten fürchten muss – nämlich die erwähnte Situation, in der ihn eine Überlegenheit der russischen Streitkräfte vor die Alternative stellen würde, entweder einzuknicken oder zur Kriegspartei zu werden.“

Damit liefert Habermas allerdings gute Argumente, warum der Westen seine Waffenlieferungen unbedingt forcieren muß, und zwar bevor verhandelt wird. Denn insbesondere, weil in demokratischen Staaten die Stimmung sich ändern kann, ist es wichtig, daß in diesem russischen Angriffskrieg möglichst schnell militärische Resultate erzielt werden, um Rußland derart zu schwächen, daß es sich zu Verhandlungen gezwungen sieht. Leider aber gerät Habermas auch in dieser Passage wieder in jene Haltung der unkritischen Äquidistanz: „eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; …“ ist ein seltsamer Satz: Wenn Waffen aus dem Westen, wie im Juli 2022 durch die Lieferung von HIMARS geschehen, dazu dienen, daß der Beschuß von ukrainischen Zivilisten massiv zurückging, weil durch diese Waffen die Artillierie- und Raketenstellungen der russischen Aggressoren ausgeschaltet wurden, dann ist die Lieferung solcher Waffen naürlich sinnvoll. Das sollte auch Habermas wissen. Und da, wo Habermas zuvor noch zwischen Angreifern und Opfern differenziert hat, sind plötzlich auch jene, die dem Opfer des russischen Überfalls, nämlich der Ukraine, beistehen, auf der Seite von Tätern? Eine seltsame Logik. Doch selbst wenn die Ukraine auch russisches Territorium beschießt und Artillerie- und Raketenstellungen dort mit Waffen langer Reichweite vernichtet, so liegt der Grund nicht darin, daß die Ukraine Rußland angreift, sondern in dem banalen Faktum, daß Rußland am 24.2.2023 die Ukraine überfallen hat. Gegenwehr bei einem Angriffskrieg ist vom Völkerrecht gedeckt.

Wenn Habermas davon spricht „Fatal ist, dass der Unterschied zwischen ‚nicht verlieren‘ und ‚siegen‘ nicht begrifflich geklärt ist“, so trifft das noch viel mehr auf die begriffliche Klärung von „verhandeln“ zu. Verhandeln setzt nämlich zunächst einmal voraus, daß mindestens zwei Akteure bereit sind das zu tun – und bei einem Angriffskrieg ist es unabdingbar, daß vor allem der Aggressor überhaupt bereit ist zu verhandeln. Ist dies nicht der Fall, dann ist jedes Differenzieren und jegliches Ausbuchstabieren von Begriffen am Ende sinnlos. Der Beweis vermeintlich überragender Analysequalitäten gerät nämlich schnell am kruden Faktum zunichte und wird zu jenem oben genannten selbstzweckhaften Gespinst. Vor allem wenn sich zeigt, daß da mit falschen Mitteln die falsche Sache analyisiert wird.

Wenn wir schon analysieren, dann sollten wir dabei auch auf die einzelnen Schritte achten, und zwar im Sinne einer zeitlichen Reihenfolge – nicht nur im Blick auf „verhandeln“. Zunächst einmal heißt „nicht verlieren“, daß die Ukraine nicht kapitulieren muß. Und was ist dazu unabdingbar erforderlich? Worte? Nein. Waffen. Waffen. Und nochmals Waffen. Und gut ausgebildete Soldaten, die in der Lage sind, Verteidigungsoperationen und komplexe Verbundangriffe auszuführen. Und bei genügend Waffen werden vielleicht auch die Worte Wirkung entfalten. Primär heißt „nicht verlieren“ also, daß die Ukraine nicht noch weitere Gebiete verliert, indem sie damit gezwungen sein wird, einen Diktatfrieden anzunehmen, einen „Frieden“, der von Rußland aufgezwungen ist, und der, auch diesem Aspekt widmet Habermas leider zu wenig Aufmerksamkeit, nur weitere und neue Kriege erzeugen wird, aber keine bleibende Friedensordnung. Denn weder die Ukraine noch der Westen werden akzeptieren, daß Cherson und Charkiw unter russischer Besatzung stehen und es wird also in diesen Regionen ein auf Dauer gestellter Bürgerkrieg stattfinden. Diesen Überlegungen widmet Habermas keinerlei Beachtung. Und auch nicht den Überlegungen, was es für die Sicherheitsordnung Europas konkret bedeutet,  wenn die Ukraine verliert. Er schreibt zwar, die Ukraine dürfe nicht verlieren. Wie sie das aber bewerkstelligt, läßt Habermas seltsam in der Schwebe. Denn er hat ja sein  Mantra „Verhandeln“, das er als ungedeckte Voraussetzung und damit als leere Spielmarke immer wieder einwirft.

Der Zeitfaktor, wie Habermas schreibt, spielt in der Tat eine große Rolle: dieser Faktor aber ist gerade ein Argument dafür, daß in Europa schon viel früher die Maschinen hätten angeworfen werden müssen, um Ausrüstung, Munition und Waffen zu produzieren, daß schon viel früher Patriot, HIMARS, Iris2, Leoparden und Marder geliefert werden und die Soldaten an diesen Geräten hätten ausgebildet werden müsse – wobei ich bei letzterem davon ausgehen, daß die Briten und die Amerikaner dafür schon gesorgt haben.

Thema wird bei Habermas aber auch die entsetzliche Gewalt des Krieges selbst.

„In dem Maße, wie sich die Opfer und Zerstörungen des Krieges als solche aufdrängen, tritt die andere Seite des Krieges in den Vordergrund – er ist dann nicht nur Mittel der Verteidigung gegen einen skrupellosen Angreifer; im Verlaufe selbst wird das Kriegsgeschehen als die zermalmende Gewalt erfahren, die so schnell wie möglich aufhören sollte. Und je mehr sich die Gewichte vom einen zum anderen Aspekt verschieben, umso deutlicher drängt sich dieses Nichtseinsollen des Krieges auf.“

Sollen und wollen: Habermasʼ Beobachtungen zum Krieg als entsetzliche Gewalt mögen richtig sein, aber sie sind nicht besonders originell und neu, und man kann in einem konkreten Krieg diese Überlegungen nicht unabhängig von Opfern und Tätern anstellen – dazu muß man nicht einmal Hitler und den Zweiten Weltkrieg bemühen, obwohl her Analogien naheliegend sind, was den destruktiven Charakter Putins wie auch Hitlers betrifft. Hinzu kommt, daß ein abstraktes Sollen oder in diesem Falle ein Nichtseinsollen leer und unbezüglich bleiben müssen, wenn, wie hier auf einen konkreten Fall bezogen, nicht wenigstens im Ansatz Vorschläge zur Lösung ausgebreitet und angeboten werden. Das freilich macht Habermas nicht mit einem Wort. Es bleiben bloße Proklamationen. Nun ist es zwar so, daß ein Intellektueller nicht bis ins letzte ausgefeilte praktische Pläne liefern muß. Aber er sollte, gerade wenn er, wie Habermas, viele Gebiete durchdringt und analysiert, auch in diesen Gefilden seine Analyse tätigen. Gerade auch wenn es ums Bestimmen von Prinzipien geht.

Ein Prinzip einzuführen, daß kein Krieg sein soll, ist eine gute Sache und man kann dieses Prinzip auch gut begründen. Aber ein Prinzip, das in der Wirklichkeit nicht zur Geltung gelangt, muß zugleich problematisch bleiben, wenn wir an Menschen wie Putin geraten, die keinesfalls gewillt sind, sich an dieses Prinzip zu halten. Ich will an dieser Stelle keine Debatte über Prinzipien und ihre Umsetzung sowie den Streit zwischen Kant, Fichte, Hegel und ihrer Anhänger in die Waagschale werfen und auch nicht debattieren, ob es ausreicht, ein Prinzip angemessen zu begründen. Wenn es jedoch, das ist meine Sichtweise, in der sozialen und gelebten Wirklichkeit keine Anwendung finden kann, dann müssen aus dieser sozialen Wirklichkeit heraus Mittel geschöpft und Möglichkeiten geschaffen werden, diesem Prinzip in irgend einer Weise Geltung zu verschaffen, sofern es ein logisch richtiges Prinzip ist. Im Falle des russischen Angriffs etwa hat eine supranationale Organisation wie die UNO kläglich versagt. Sie kann Beschlüsse fassen. Sie kann es aber genauso auch sein lassen. Die Auswirkungen für die Menschen in der Ukraine sind die gleichen. Wie also vorgehen?

„Demgegenüber hätte das erklärte Ziel der Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022 den späteren Weg zu Verhandlungen erleichtert. Aber beide Seiten wollten sich gegenseitig dadurch entmutigen, dass sie weitgesteckte und anscheinend unverrückbare Pflöcke einschlagen. Das sind keine vielversprechenden Voraussetzungen, aber auch keine aussichtslosen. Denn abgesehen von den Menschenleben, die der Krieg mit jedem weiteren Tag fordert, steigen die Kosten an materiellen Ressourcen, die nicht in beliebigem Umfang ersetzt werden können. Und für die Regierung Biden tickt die Uhr.“

Auch hier wieder finden wir bei Habermas jene Äquidistanz. Es sind in diesem Krieg nicht beide Seiten irgendwie gleich und beide Seiten führen gleichberechtigte Interessen an. Das Interesse der Ukraine nach territorialer Unversehrtheit und nach sofortigem Abzug der russischen Truppen von den am 24.2.2022 überfallenen Gebieten ist primordial und vor allem ist es vom Völkerrecht  gedeckt, wenn wir uns in rechtsphilosophischen Gefildenbewegen. Bei dieser Forderung geht es nicht um „unverrückbare Pflöcke einschlagen“, sondern um die Existenz eines souveränen Staates. Insofern sei hier noch einmal darauf verwiesen, daß die Ukraine am 29. März 2022 weitreichende Zugeständnisse und Verhandlungen mit Rußland angeboten hat, um überhaupt einen Waffenstillstand zu erreichen und die Ukraine war sogar bereit „auf weite Teile ihrer Souveränität zu verzichten“, wie es auf der Seite „Ungesunder Menschenverstand“ heißt. Dieser Vorschlag firmiert unter dem Titel „Istanbuler Kommuniqué“ und ist recherchierbar und nachzulesen. Rußland hat diesen Vorschlag einen Tag später zurückgewiesen. Und weiter heißt es bei „Ungesunder Menschenversand“:

„Wer Verhandlungen fordert, soll deutlich sagen, was er bereit wäre Russland anzubieten. Und er täte gut daran, sich die abgelehnten Vorschläge vorher durchzulesen.“

Am Ende läuft es bei Habermas auf Konjunktive hinaus. Hätte, müßte, wäre, sollte:

„Schon dieser Gedanke müsste uns nahelegen, auf energische Versuche zu drängen, Verhandlungen zu beginnen und nach einer Kompromisslösung zu suchen, die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert und doch ihr Gesicht zu wahren erlaubt.“

 Ja, das wird auch Olaf Scholz immer wieder und wieder mit seinen Telefonaten versucht haben. Der Effekt war gleich null. Putin hat Scholz deutlich zu verstehen gegeben, worum es ihm geht. Diese Aussagen von Habermas sind sehr freundlich gedacht – ich fürchte aber, daß all das Putin nicht interessieren wird. Und ich denke, daß dies auch all jene Experten sagen, die sich hinreichend mit Putin beschäftigt haben und die Putins politische Reaktionen einschätzen können. Putin geht es um die Niederwerfung der Ukraine. All das, all seine Ziele hat Putin deutlich und klar und vernehmbar immer wieder formuliert. Der zwanglose Zwang des besseren Arguments funktioniert jedoch leider nicht bei Leuten, die es nicht darauf anlegen, zu argumentieren, sondern wie Putin, eine Agenda durchzuziehen, die wesentlich durch Erpressung und Gewalt getragen ist.

Sicherlich wäre es wünschenswert, wenn Putin sich an den Verhandlungstisch setzte. Aber er tut es nicht. Er weiß, daß die Zeit für ihn spielt, wenn der Westen nicht weiterhin die Ukraine massiv unterstützt. Und je mehr die Zeit für ihn spielt, weil der Westen ermüdet, desto fetter seine Beute. Um also, und damit drehen wir uns wieder im Kreis, Putin zu Verhandlungen zu bringen, muß man Druck auf Putin ausüben. Ich kann nur jedem raten sich diese heute von mir verlinkte Dokumentation „Gazprom – Die perfekte Waffe“ https://www.arte.tv/de/videos/108467-000-A/gazprom-die-perfekte-waffe/?  anzusehen. Wir finden dort Einblicke in Putins Welt, in Putins Denken, die jede Hoffnung auf Verhandlungen zunichte machen. Putin ist ein KGB-Gewächs, was seine  Methoden betrifft. Putin verfolgt eine Agenda und diese Agenda ist die Zerschlagung der Ukraine als souveräner und aus sich selbst heraus existierender demokratischer Staat. Putin sammelt an den Grenzen Rußlands eine Anzahl an Satelitenstaaten, wie bereits bei Weißrußland und Tschetschenien. Und Putin hat andere Staaten wie Georgien und Moldau bereits lange schon im Blick. Mit diesem Wissen im Kopf und mit diesen Fakten gerüstet, die sich in zahlreichen Büchern über Putin nachlesen lassen, wird man keine großen Hoffnungen hegen, daß Putin morgen an den Verhandlungstisch sich setzen wird.

Ich kann den Wunsch nach Frieden gut verstehen, den haben viele Leute, aber man muß  bei Politikern wie Putin ein hohes Maß an Realismus sich bewahren.

Es gibt für Habermasʼ Ausführungen im Blick auf Friedensverhandlungen eine Redewendung, die, wenn Habermas sie in Anschlag gebracht hätte, seinen Text erheblich kürzer hätte ausfallen lassen – und meinen dann auch. Sie lautet: Er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und der Wirt ist in diesem Falle Putin. Witze zu Putins Koch seien den Lesern erspart.

 

Von Petitionen, offenen Briefen und was das mit Gazprom zu tun hat

Nehmen wir einmal an, Europa stellte die Waffenlieferungen an die Ukraine ein und die Ukraine müßte mit dem auskommen, was sie hat. Glaubt irgendjemand dann ersthaft, daß gerade und genau dann ein Typ wie Putin plötzlich sagen würde: „Jetzt verhandeln wir auf Augenhöhe. Ich ziehe mich aus den besetzen Gebieten zurück und wir klären unsere offenen Fragen!“?

Denn genau diese Annahme steckt hinter dem Aufruf von Wagenknecht und Schwarzer. Wer jedoch solches annimmt, der hat sich niemals mit Putin und mit Rußland beschäftigt. Und das bedeutet: man ist im besten Falle naiv und im schlimmeren Falle dumm: „Im engeren Sinne bezeichnet Dummheit die mangelhafte Fähigkeit, aus Wahrnehmungen angemessene Schlüsse zu ziehen beziehungsweise zu lernen. Dieser Mangel beruhe teils auf Unkenntnis von Tatsachen, die zur Bildung eines Urteils erforderlich sind, teils auf mangelhafter Intelligenz oder Schulung des Geistes oder auf einer gewissen Trägheit und Schwerfälligkeit im Auffassungsvermögen beziehungsweise der Langsamkeit bei der Kombination der zur Verfügung stehenden Fakten (siehe Urteilsvermögen).“ (wikipedia)

Und wenn es nicht Dummheit oder Naivität sind, die Menschen bewegt, diese widerwärtige Petition zu verfassen und sie zu unterschreiben, dann ist es Bösartigkeit und kalter Zynismus: „Soll die Ukraine zusehen, wie sie klarkommt. Die waren doch schon immer korrupt!“ Ein Narrativ übrigens, das Putin seit Jahrzehnten hier in Europa zu verstärken half. Und das macht eben das Gefährliche an Leuten wie Putin aus: andocken an einen Aspekt, der teils nicht ganz von der Hand zu weisen ist, ohne dabei aber über die eigene Korruption je zu sprechen. Anders als Rußland ist die Ukraine nämlich immer noch eine Demokratie und die Menschen dort haben sich zunehmend gegen Putins Einflußnahme gewehrt: angefangen mit der Orangenen Revolution 2004 und dann mit den Freiheitsprotesten auf dem Maidan 2013 gegen Putins Einflußnahme auf die Politik der Ukraine. Wenige werden sich noch an die Gaskrisen in den Jahren um 2008 erinnern, als Rußland der Ukraine das Gas abdrehte und dreist log, daß die Ukrainer Gas rauben würden. Im Gegenzug zu dieser Gas-Erpressung – die Putin übrigens nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegenüber Weißrußland und Georgien anwandte – mußte die Ukraine Rußland Teile seiner Schwarzmeerflotte überlassen und später auch einen Pachtvertrag „unterschreiben“, so wie man eben bei der Mafia Verträge freiwillig unterschreibt, und zwar für den Hafen von Sewastopol, damit ihn die russische Kriegsmarine nutzen dürfe.

Eine sehenswerte Dokumentation, die implizit auch eine über Putins Gebaren ist, lief am 15.2.2023 auf Arte (Wiederholung am 24.2.): „Gazprom – Die perfekte Waffe„. Gas nämlich diente Putin als Waffe in einem seit Jahrzehnten vorbereiteten Hybridkrieg Rußlands gegen Europa. Im Jahr 1997 veröffentlichte Putin eine Disseration, darin es darum ging, daß Rohstoffe eine zentrale Grundlage für militärische Macht in Europa seien. Mit anderen Worten: Gas als Druckmittel, bereits 2008 gegen Georgien, davor gegen Weißrußland und später dann gegen die Ukraine. An jene Nachrichten von den abgedrehten Gasleitungen erinnere auch ich mich noch. Aber es ging alles das schnell wieder aus unserem Bewußtsein. Unsere ungeheure Naivität bzw. wir wollten es nicht sehen, wir wollten es nicht wahrhaben, was Putin im Schilde führte: gute Geschäfte waren wichtiger. Gerhard Schröder immer wieder als russischer Lobbyist. Die Energieversorung unter Merkel in der Hand eines ehemaligen Stasi-Mannes wie Matthias Warnig. Und ich muß sich auch selber fragen, warum ich alles das eigentlich nie richtig sehen wollte. Der Wunsch nach Ausgleich mit Rußland? Man hätte es wissen müssen und können.

Gazprom ist in diesem Sinne ein militärisches Unternehmen, daß dazu gedacht war, Abhängigkeiten zu erzeugen und Europa zu erpressen. Von Anfang an besetzte Putin es mit engsten Vertrauten. Eine perfide Form hybrider Kriegsführung, und nachdem ich mir diese Doku angesehen habe, muß ich sagen: Es ist Putin, als heimlicher Chef von Gazprom, auch gelungen. Fällig wäre ein Untersuchungsausschuß, der auch die Verstrickungen ranghoher Politiker aufarbeitet. Zu sagen, daß es nur jene SPD-Connections wären, ist gelogen und falsch. Die CDU war zu großen und größten Teilen, auch als wirtschaftsfreundliche Partei, an diesen Machenschaften mitbeteiligt. Vor Nord-Stream 2 haben lediglich Leute wie Norbert Röttgen gewarnt, der von Merkel kaltgestellt wurde.

Warum ich hier in diese Richtung abschweife? Wer sich diese Dokumentation über Gazprom, über Putins Erpressungen, nicht nur gegen die Ukraine angesehen hat, der wird sich nicht eine Sekunde mehr über Putins Charakter täuschen. Und er wird auch nicht mehr annnehmen, daß Putin den Krieg einstellt und verhandelt, wenn der Westen die Waffenlieferungen einstellt. Putin verfolgt konkrete Ziele und das unerbittlich. Eines dieser Ziele ist die Zerschlagung der Ukraine und ihrer territorialen Souveränität.

Die Seite „Ungesunder Menschenverstand“ formulierte es in einem Beitrag im Blick auf diese Petition wie folgt:

„Ich frage mich seit Tagen, warum die #Wagenknecht_und_Schwarzer Petition nicht über die Plattform des Petitionsausschusses des Bundestages läuft. Und wie man sicherstellt, dass dort nur deutsche Staatsbürger unterzeichnen.Oder wenigstens keiner aus St. Petersburg.“

Und es steht dort auch mein Mantra, das ich seit bald 12 Monaten sage:

„Seit einem Jahr hat mir noch keiner von jenen erklärt, wie es seiner Meinung nach konkret in der Ukraine weitergeht, wenn wir aufhören Waffen zu liefern. Keiner. Seit 354 Tagen.“

Klare Worte von Annalena Baerbock zu jener unsäglichen Petition

Ich bin nicht als Freund der Grünen bekannt, aber in dieser kurzen Rede findet die Außenministerin Annalena Baerbock in Sachen dieser unsäglichen „Petition“ die treffenden Worte:

„Das was wir in der Ukraine tun, damit verteidigen wir auch unsere eigene Freiheit. Weil es eben nicht nur ein Angriff auf ein souveränes Land ist, ein Angriff auf ein Land mitten in Europa, sondern das ist ein Angriff auf unsere europäische Friedensordnung. Das ist ein Angriff auf die Charta der Vereinten Nationen. Rußland als Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, das eigentlich zum Auftrag hat, den Weltfrieden zu sichern, versucht auch diesen Weltfrieden, die internationalen Regeln in Schutt und Asche zu legen. Und da gerade an diesem Tag wieder ein Aufruf die Runde macht, man sollte sich einfach nur mal an den Tisch setzen, ob jetzt die ganze Ukraine oder die halbe Ukraine, möchte ich daran erinnern, was das bedeutet. Menschen sitzen nicht einfach, wie wir hier, in einem Kino und fragen sich, wann sie im letzten Jahr zum letzten Mal einen Film gesehen haben, Menschen sitzen zum Teil seit elf Monaten im Keller und trauen sich nicht raus. Kinder gehen teils seit einem Jahr nicht zur Schule. Das sind die Menschen, die in der Ostukraine leben, wo wir nicht wissen, wie es ihnen geht, weil selbst das Internationale Komitee des Roten Kreuzes dort nicht hinkommen kann. Und all diejenigen, die sagen, Waffen müssen nur schweigen, weil dann haben wir Frieden, dem möchte ich sagen: Was ist das für ein Frieden, wenn man unter russischer Besatzung leben muss, jeden Tag die Sorge hat, dass man kaltblütig ermordet, vergewaltigt oder als Kind sogar verschleppt wird? Ein Diktatfrieden, wie ihn manche jetzt fordern, das ist kein Frieden. Sondern das wäre die Unterwerfung der Ukraine unter Russland und es wäre das Ende der Charta der Vereinten Nationen. Gerechter Frieden bedeute, dass auch die Menschen in der Ukraine wieder in Freiheit leben können.“

Irrsinnig ist dieser „Aufruf zum Frieden“ im übrigen deshalb, weil er das Gegenteil vom Frieden bedeutet – nämlich die Zerstörung einer souveränen und demokratischen Ukraine. Einen solchen demokratischen Staat neben sich und der belarussischen Diktatur, womöglich noch in der EU, ist es, was Putin mehr fürchtet als alles andere. Und das eben motiviert auch seinen Angriff auf dieses Land – neben jenen neoimperialistischen Ambitionen einer russischen Welt und einem Ausgriff auf Europa als geschichtliches Erbe, das Putin hinterlassen möchte.

Und dieser Aufruf ist auch in einem zweiten Punk nicht nur irrsinnig, sondern vor allem auch Propaganda. Zum Ende des Aufrufs hin wird nämlich so getan als stünden sich da zwei gleichwertige Akteure gegenüber. Dem ist aber nicht so. „Eskalation durch Waffenlieferung“ ist eine weitere Lüge: eskalierend in diesem Konflikt verhält sich einzig Putin bzw. Rußland. Sie nämlich sind die Aggressoren. Wer sich verteidigt, eskaliert nicht. Und um sich zu verteidigen sind nun einmal Waffen nötig. Was im Grunde diese Leute unausgesprochen fordern, ist die bedingungslose Kapitulation der Ukraine und die Abtretung von Territorium – und das noch im Namen der Ukraine, was eine Dreistigkeit ohnegleichen ist und ein Schlag in die Fresse für jeden Ukraine. Wer sich um den Frieden in Europa sorgt, sollte diese Sorgen in Moskau oder aber vor der russischen Botschaft zum Ausdruck bringen. Das aber tun diese Gestalten ganz bewußt nicht.

Zum Tod von Hans Modrow

In Würdigung für Hans Modrow. Einen Mann aus einer anderen Zeit, für den jene Ideale galten, die auch ich bis heute achte: einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht. Trotz seiner Haltung zu Rußland und jenem Alterstarrsinn, was jenen gräßlichen Angriffskrieg der Russen angeht.

Das neue Ermittlerteam von „Tatort Moskau“

Passend zum vorgestrigen irrsinnigen „Manifest für den Frieden“ von Wagenknecht, Schwarzer und anderen überzog Rußland die Ukraine gestern wieder einmal mit Bombemterror gegen Zivilisten und gegen die Einrichtungen der Infrastruktur.

Waffenlieferungen an die Ukraine eskalieren nicht, wie Wagennknecht, Schwarzer et al. insinuieren, sondern diese Waffenlieferungen helfen, die Abschußstätten der Russen auszuschalten, damit Zivilisten am Leben bleiben. Solange Rußland Zivilisten tötet und die Ukraine angreift, braucht es Waffen, um diese Gewalt abzuwehren. Frau Schwarzer würde sicherlich einer Frau, die im Begriff steht, vergewaltigt zu werden, dazu raten, das Pfefferspray wegzutun und den Schlüpper freiwillig runterzuziehen – sonst macht es doch nur noch mehr Schmerzen. Und die Polizei solle sie mal besser nicht rufen, denn wer weiß, was der Vergewaltiger sonst noch tut. Und irgendwie war die Frau mit ihrer Aufmachung doch auch selber schuld. Das ist die Logik von Schwarzer, Wagenknecht und anderem Gesindel. Verhandelt werden kann nur dann, wenn Rußland seine Kriegshandlungen unmittelbar einstellt. Das macht der bleiche Lurch aus Moskau aber nicht.

Wie zu erwarten bei den Zarenknechten findet jene Demo in Berlin, die von dieser Gruppe für den 25.2.2023 geplant ist, nicht etwa vor der russischen Botschaft statt, da, wo sie hingehört, sondern vorm Brandenburger Tor. Es ist ein Trauerspiel. Und ich hoffe, daß genügend Gegendemonstranten dort und an diesem Tag erscheinen werden, um diesen Leuten einzuheizen.

Im besten Fall kann man solche Leute, die diesen Aufruf unterstützen, naiv nennen – bei Reinhard Mey und Henry Hübchen gehe ich davon aus. Aber einen Großteil dieser Unterzeichner muß man dumm und vor allem: bösartig nennen. Verhandeln läßt sich nur, wenn der Aggressor unmittelbar und sofort seinen Angriffskrieg einstellt. Wenn die Ukraine die Waffen niederlegt, gibt es keine Ukraine mehr. Wenn Rußland die Waffen niederlegt, dann ist der Krieg zuende. Es ist dies sehr einfach.

Das abstoßend-widerliche Grinsen dieser beiden Gestalten bleibt gut im Gedächtnis haften.

„… und die Welt ist eine kalte Welt“ – zum 125. Geburtstag von Bert Brecht

Bertolt Brecht, geboren in Augsburg, aus den schwarzen Wäldern, von der Mutter in die Städte hineingetragen: „Und die Kälte der Wälder//Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.“ Geflohen aus Umständen, die bekannt sind, 1933 ins Exil nach Dänemark und später dann als Kommunist bauernschlau in die erzkapitalistische USA emigriert – wohlweislich – und nicht in Stalins Sowjetunion, jenes Paradies der Werktätigen, das Brecht vermutlich nicht überlebt hätte. Die USA verlassend, in der DDR lebend, den Staat, den er mit aufbauen wollte und den er doch nicht mit aufbauen konnte. Es sind jene finsteren Zeiten, wie Brecht dichtete. Vom Ton der Utopie, die doch nicht ist:

Dabei wissen wir doch: 
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit 
verzerrt die Züge. 
Auch der Zorn über das Unrecht 
Macht die Stimme heiser. Ach, wir 
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit 
Konnten selber nicht freundlich sein. 

Ihr aber, wenn es so weit sein wird 
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist 
Gedenkt unserer 
Mit Nachsicht. 
[Aus: „An die Nachgeborenen“]

Denn es kamen die härteren Zeiten und die Regierung wählte sich besser ein neues Volk, so Brechts Vorschlag in „Die Lösung“:

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

Der politische Brecht, der kalte Brecht – jene Kälte der Jahre und des Habitus, wie sie der Germanist Helmut Lethen in seinem Buch „Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen“, in den 1990er Jahren des ironischen Zeitalters verfaßt, für jene Weimarer Jahre beschrieb. Der umtriebige Brecht, nicht nur in politischen Dingen. Und zugleich doch der Brecht der Liebesgedichte. Hart manchmal, wie jene wunderbare Poesie der Engel:

Über die Verführung von Engeln

Engel verführt man gar nicht oder schnell.
Verzieh ihn einfach in den Hauseingang
Steck ihm die Zunge in den Hals und lang
Ihm untern Rock, bis er sich nass macht, stell

Ihm das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock
Und fick ihn. Stöhnt er irgendwie beklommen
Dann halt ihn fest und lass ihn zweimal kommen
Sonst hat er dir am Ende einen Schock.

Ermahn ihn, dass er gut den Hintern schwenkt
Heiß ihn dir ruhig an die Hoden zu fassen
Sag ihm, er darf sich furchtlos fallen lassen
Dieweil er zwischen Erd und Himmel hängt –

Doch schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht
Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.

Ihr wollt ein Liebeslied? Es gibt kein Liebeslied. Nicht jetzt, nicht heute. Poetisiert Euch nicht, das ist Marketing für Buchverlage. Und glotzt nicht so romantisch, denn diese Romantik, die ihr meint, hat nichts mit Novalis‘ Fragmenten zu tun. Aber die Kampflieder gehen ebensowenig: Vorwärts und nicht vergessen. Unvergeßlich – nur eben: heute Geschichte und fürs Museum der Arbeit. Unbeweglichkeitsposen. Dem Morgenrot entgegen. Gute alte Zeit, „altes Linnen!“ (S. Beckett). „‚Dich behalte ich.‘ Er nähert das Taschentuch seinem Gesicht, bedeckt sein Gesicht mit dem Taschentuch, läßt die Hände auf die Armlehnen sinken und bewegt sich nicht mehr.“

Obwohl das Politische im Ästhetischen schon lange ins Belanglose gekippt ist, darin Gesinnungsgemeinschaften bedient werden, bleibt ein Stück wie Brechts „Die Maßnahme“ insofern interessant, weil es die Verheerungen des Stalinismus wie auch die Möglichkeiten der Propaganda zeigt, wenn man es in der Inszenierung zuspitzt. Jener Klassenkampf, der einst notwendig war, der in die Repression kippte und in den Terror. Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Die, die den Boden für Freundlichkeit bereiten wollten, konnten selbst nicht freundlich sein. Tücke der Geschichte. Vielleicht aber haben gegenüber dem unmittelbar Engagierten „Vorwärts -nieder“ solche Zeilen Bestand, die ins Grundsätzliche gehen, sozusagen historischer Ontologismus mit liquider Tendenz als Geschichtshoffnung

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Ich weiß es nicht. Ich glaube nur sehr bedingt ans Lehrgedicht und auch der Tag hat eben am Ende doch nur zwölf Stunden und im Winter deutlich weniger. Wirken solche politischen Parabeln heute noch? Und vor allem: bestehen sie in ihrer Konstruktion? Der politische Brecht ist genau in den Passagen gut, wo er den historischen Materialismus nicht bloß vulgär nimmt – Adorno hielt ihm dieses Simplifizieren des Komplexen vor; insbesondere in seiner Kritik an Benjamins Baudelaire-Text warnte er davor, das Basis-Überbau-Phänomen unidirektional einfach in jenem brechtschen Vulgärmaterialismus zu fassen. Denn der Weltgeist ist ein Trickser. Das eben ist die „List der Vernunft“. Brecht ist dort gut und wirkt ästhetisch, wo er im epischen Theater unsere Rezeptionsweisen befragt, wo er unsere Auffassungen erschüttert und die Art, wie wir Welt wahrnehmen, bei den Hörnern packt: Als Schock. Was freilich nicht bloß auf die Seite der Wirkung zu buchen ist, sondern zunächst als ästhetische Konstruktion und als Arbeit am Material im Text selbst auszuloten ist.

Alle jene Theater-Inszenierungen, bis heute hin, die postdramatisch die vierte Wand aufbrechen, – sei das als Publikumsbeschimpfung oder in anderen Varianten des Bezugs – sind insofern Ahnen von Brecht, als sie mit einer Verfremdung arbeiten, die den Zuschauer direkt anspricht, wenn nicht bepöbelt. Insbesondere ist Frank Castorf Brechts großer Erbe. Er allerdings brach diese Wand manchmal bloß durch ganz simple, aber geniale Effekte auf: der Einsatz von Kartoffelsalat genügte, und eine Rutschbühne mit Gleitgel reichte aus, was Zurufe aus dem Publikum provozierte. Oder unendlich gedehntes Sprechen, daß es die Zuschauer veranlasste, in den Saal zu rufen, wann dieses Zeitgeschiebe endlich aufhöre. So in Ibsens „Die Frau vom Meer“, in der Szene als Hauslehrer Arnholm (Herbert Fritsch) der Bolette (Kathrin Angerer) einen Heiratsantrag machte. Was in fünf Minuten gesagt und getan wäre, zog sich eine halbe Stunde. Im Publikum rief es: „Mach schneller!“, worauf Arnholm/Fritsch nur trocken entgegnete: „Jetzt habe ich meinen Text vergessen, jetzt muß ich nochmal von vorne anfangen!“

Wie aber geht solches (politische) Theater? Castorf ist da politisch, wo er politisch schweigt und die Zeit unendlich dehnt. Adornos Brecht-Kritik am „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“, wie er sie in den „Minima Moralia“ und auch in seinem Essay „Engagement“ formuliert, ist nicht ganz von der Hand zu weisen:

„Die politische Ökonomie jedoch, deren Darstellung sie sich statt dessen zur Aufgabe setzt, ist unverändert im Prinzip, doch in jedem ihrer Momente so differenziert und fortgeschritten, daß sie der schematischen Parabel sich entzieht. Vorgänge innerhalb der großen Industrie als solche zwischen gaunerhaften Gemüsehändlern zu präsentieren, reicht eben aus für den schnell verbrauchten Schock, nicht aber für die dialektische Dramatik. Die Illustration des späten Kapitalismus durch Bilder aus dem agraren oder kriminalistischen Vorstellungsschatz läßt nicht das Unwesen der heutigen Gesellschaft aus seiner Vermummung durch komplizierte Phänomene rein hervortreten. Sondern die Unbesorgtheit um die Phänomene, die selber aus dem Wesen zu entfalten wären, entstellt das Wesen. Sie interpretiert die Machtübernahme durch die Größten harmlos als Machination von Rackets außerhalb der Gesellschaft, nicht als das Zusichselbstkommen der Gesellschaft an sich. Die Undarstellbarkeit des Faschismus aber rührt daher, daß es in ihm so wenig wie in seiner Betrachtung Freiheit des Subjekts mehr gibt. Vollendete Unfreiheit läßt sich erkennen, nicht darstellen. Wo in politischen Erzählungen heute Freiheit als Motiv vorkommt, wie beim Lob heroischen Widerstands, hat es das Beschämende der ohnmächtigen Versicherung. Der Ausgang wirkt allemal als durch die große Politik vorgezeichnet, und Freiheit selber tritt ideologisch, als Rede über Freiheit, mit stereotypen Deklamationen, nicht in menschlich kommensurablen Handlungen hervor. Kunst läßt nach der Auslöschung des Subjekts am wenigsten durch dessen Ausstopfung sich retten, und das Objekt, das heute ihrer allein würdig wäre, das reine Unmenschliche, entzieht sich ihr zugleich durch Unmaß und Unmenschlichkeit.“ (Adorno, Minima Moralia, Staatsaktion.)

Brecht scheitert an solchen Stellen, wenn man den Maßstab Adornos anlegt und in der Kategorie Beckett denkt. Ähnliches bei „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“: Tendenztexte, die man allenfalls aus ihrer Zeit heraus verstehen kann, die Kämpfe jener Jahre, und was bei mir unter die Rubrik „Parolenkunst“ fällt. Andererseits hängen Theatertexte immer an ihren Inszenierungen. Doch selbst in der genialen Ui-Inszenierung von Heiner Müller, 1995 am Berliner Ensemble, bleibt es bei dem, was Adorno den Effekt, den schnell verbrauchten  Schock nennt – hier nur eben in Humor transformiert: die Weltgeschichte als Komödie. Martin Wuttke spielt diesen Arturo Ui genial-komisch und übertragen auf die Diktatoren dieser Welt liefert das Stück auch heute noch eine Anschauung. Doch aus dem Abstand der Zeit löst sich das geschichtsphilosophische Drama in Geschichte und Komik auf – einer Geschichte, der das historische Subjekt abhanden kam. Für das freilich, was wir den autonomen Kern des Kunstwerkes nennen, für das Gesetz seines Gemachtseins richtete dieses Engagement samt politischer Parole Schaden an. Das reicht bis heute, wo es im identitären Theater agitpropt.

Doch Brecht schrieb auch solche Zeilen, die ironisch und doch ganz unironisch ins Mark treffen: „Vom armen B.B.“, für uns Großstadtbewohner, im harten Ich-Ton, und wie das Gewirr und die Annehmlichkeiten der Großstadt mit der Kühle der Modernen nachhallen und jener Ich-Distanz. Birth of the cool:

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein
Als ich in ihrem Leib lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang
Versehen mit jedem Sterbsakrament:
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.
Mißtrauisch und faul und zufrieden am End.

Solche Brecht-Texte funktionieren. Und zwar weil sie das Subjektive, gleichsam eine Befindlichkeit, in ein Allgemeines aufheben und in eine Geschichte bringen. Jenes Ich, das das des Dichters ist, in der Vergänglichkeit der Städte und der Menschen, diesem Sound nachspürend.

Beim politischen Brecht freilich ist dieses Besondere der Dichtung vor allem in der gesungenen Version der Fall, also als Lied, Lyrics gleichsam, weil Rhythmus, Klang und Ton die Lyrik zuspitzen. Auch solche engagierte Dichtung wie die „Lied von der belebenden Wirkung des Geldes“ halten und bleiben – noch im Lauf der Zeit, was aber zugleich bedeutet, daß sie ins Refugium des Klassikers rutschen, sich entschärfen zum behäbigen Vortragsabend mit Stimmung, wenn man den Gehalt nicht reaktualisiert. Brecht ist immer wieder neu zu singen – das ist die Herausforderung. Mann bleibt Mann oder von der belebenden Wirkung des Geldes:

Die Frage dabei ist eben nur, wie man es macht und ob es überhaupt einen Sinn hat, das, was lange Geschichte ist, zu reaktualisieren. Sicherlich gibt es bei Brecht immer noch jene Lyrik-Prosa (oder prosaische Lyrik), im Exil geschrieben, die uns heute noch einsichtig ist, im Blick auf den Verkauf von Kultur als Waren das, was Adorno/Horkheimer Kulturindustrie nannten und was Brecht in wenigen Zeilen in eine Anschauung bringt:

HOLLYWOOD
Jeden Morgen mein Brot verdienen
Geh ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden.
Hoffnungsvoll
Reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer.

HOLLYWOOD-ELEGIE
Die Engel von Los Angeles
Sind müde vom Lächeln. Am Abend
Kaufen sie hinter den Obstmärkten
Verzweifelt kleine Fläschen
Mit Geschlechtsgeruch.

Ist bei Brecht das Politische bleibend? Oder nicht vielleicht doch eher seine Liebesgedichte (denn die Liebe hört nimmer auf; die Geschichte freilich auch nicht), seine Gedichte zur Natur, zu Landschaften und Städten und zu den Menschen darin: sie gehören zu den liebsten mir. Oder jene kleine Dichtung, jene spezifischen Szenen in den „Buckower Elegien“, wenn in einem kleinen Bild sich ein Ganzes verdichtet. Und wenn ein Reisender das kleine und schöne Brecht-Haus in Buckow besucht, versteht er vielleicht ein wenig besser diese Elegien: der Blick auf den See, das Spazieren in den Wäldern, die Scherbe eines Tonkruges, die wir beim Spazieren ums Brecht-Haus fanden. Und dann natürlich eines der frühen Gedichte von Brecht. Die „Erinnerung an die Marie A“ gehört zu den schönsten Gedichten, die das Phänomen „Zeit“ ins private Moment setzen und die Bedeutung von Natur mit dazu. Wie sich ein Augenblick an einen Fetzen Himmel zu knüpfen vermag, eine Wolke, die im nächsten Moment schwindet, wie all die schönen Augenblicke. Vielleicht im Sommer vor dem Schinkel-Casino am Jungfernsee, abends beim verbotenen Picknick auf der Wiese. Mit dem Blick durch die Pergola, hinüber auf die Heilandskirche am Port von Sacrow, wo im Jungerfensee die Sonne absinkt. Vergänglichkeit und das Erinnern an eine längst vergangene Zeit.

Man kann es aber auch ganz anders und viel weniger in dieser melancholischen Erinnerungsfuge dichten und sagen, nämlich als eine Art von Harmonie im Zusammenschwingen, wie in Brechts Gedicht „Die Liebenden“:

Seht jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon als sie entflogen
Aus einem Leben in ein anderes Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Daß also keines länger hier verweile
Und keines anderes sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen:
So mag der Wind sie in das Nichts entführen.
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin ihr? – Nirgend hin. Von wem davon? – Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. – Und wann werden sie sich trennen? – Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.

Auch das eben ist Brecht und doch gehören der politische Brecht, der kalte Brecht, der (post)expressionistische Brecht, der Brecht der Liebesdichtung, der Brecht der Lehrstücke in ihrer Weise zusammen und genau dieser Bogen macht die Größe von Brechts Dichtung aus. Bis heute.

Bertolt Brecht – geboren am 10. Februar 1898 in Augsburg

Vom armen B.B.

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern. 
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein 
Als ich in ihrem Leib lag. Und die Kälte der Wälder 
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein. 

In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang 
Versehen mit jedem Sterbsakrament: 
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein. 
Mißtrauisch und faul und zufrieden am End. 

Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich setze 
Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch. 
Ich sage: es sind ganz besonders riechende Tiere 
Und ich sage: Es macht nichts, ich bin es auch. 

In meine leeren Schaukelstühle vormittags 
setze ich mir mitunter ein paar Frauen 
Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen: 
In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen. 

Gegen Abend versammle ich um mich Männer 
Wir reden uns da mit „Gentlemen“ an. 
Sie haben ihre Füße auf meinen Tischen 
Und sagen: Es wird besser mit uns. Und ich 
Frage nicht: Wann? 

Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen 
Und ihr Ungeziefer, die Vögel fängt an zu schrein. 
Um die Stunde trink ich mein Glas in der Stadt aus 
Und schmeiße 
Den Tabakstummel weg und schlafe beunruhigt ein. 

Wir sind gesessen, ein leichtes Geschlechte 
In Häusern, die für unzerstörbare galten 
(So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan 
Und die dünnen Antennen, die das atlantische Meer unterhalten). 

Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie 
Hindurchging, der Wind! 
Fröhlich machet das Haus den Esser: Er leert es. 
Wir wissen, daß wir Vorläufige sind 
Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes. 

Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich 
Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit 
Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen 
Aus den schwarzen Wäldern in meiner Mutter in früher Zeit. 

Falco † 6. Februar 1998

Vor 25 Jahren starb Falco, (bzw. Johann Hölzel) bei einem Autounfall nahe Puerto Plata in der Dominikanische Republik. Es ist „Out Of The Dark“ ein Pop-Song mit viel Pathos und für verlorene Seelen. Und leider auch eine Abschiedhymne. Ich war damals beruflich in Bayreuth und es war, als ich das in den Nachrichten hörte, ein großer Schreck.