Gender Trouble für die Theaterbubble – Katie Mitchells „Orlando“

Eine Bühne, die wie ein Requisitenlager oder ein Filmset ausschaut. Der Raum verbirgt nicht, daß zum Theater Schminke, Kleider und Perücken gehören. Links am Rand ist im Dunkeln der Tisch für all diese Dinge zu sehen, es werkelt und packelt und wuselt da das Bühnenpersonal. Mikrophon-Träger und Filmleute huschen über die Bühne, fahren auf Schienen Kameras, laufen mit Handkameras umher, von Szene zu Szene, die Schauspieler abfilmend, so daß oberhalb des Live-Geschehens auf einer Leinwand die Spiel-Szenen von der Bühne dupliziert und per Video eingespielt werden. Es zeigt sich gleichsam eine fünfte Wand: die zur Inszenierung nämlich: daß Theater zugleich eine Illusion ist, und will ein Regisseur diese Illusion erzeugen, so sind dazu zahlreiche Gegenstände und Helfer nötig: eben auch jene Requisiten, Maskenbildner, Bühnenarbeiter. Katie Mitchells Aufführung verbirgt diese Dingen nicht. Vom Bühnenbau bis zum Umkleiden. Auch die Techniker und die Gewerke sind Teil der Aufführung, schwarz gewandet, mit dem Hintergrund verschmelzend und doch unabdingbares Personal. Hier ganz sichtbar.

Für das Spiel mit den Geschlechterrollen, wie es Virgina Woolf in ihrem 1928 als Biographie tituliertem Roman „Orlando“ konzipiert, ist es keine schlechte Idee, den inszenatorischen Charakter solcher Theater-Szenen hervorzuheben. Wenn schon Geschlecht auch auf Konventionen und nicht nur auf der Biologie beruht, so auch unsere Gesellschaftsinszenierungen, wozu eben genauso das Medium Theater gehört – kleiner ironischer Seitenhieb. Der Text wird aus dem Off von einer Sprecherin (Cathlen Gawlich) gelesen, die neben der Leinwand in einer Art Studiokasten hinter einer Scheibe sitzt und ins Mikrophon spricht. Gawlich liest ihn in hohem Tempo, so daß der Gang durch die Jahrhunderte wie auf Schnelldurchlauf gesprochen oder im Zeitraffer wirkt. Die Prosa kommentiert die Bilder und Szenen, gelegentliches Beiseitesprechen schafft eine Komplizenschaft mit den Zuschauern. Das erzeugt im Publikum manchmal eine gewisse und auch beabsichtigte Komik.

Teils kostümprächtig sehen wir auf der Bühne eine Zeitreise vom elisabethanischen Zeitalter des 16. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert. Die Zeit vergeht im Fluge. Brüste der Königin Elisabeth, Männer, die Frauen sind, oder auch Männer, die Männer sind, umwerben Damen. Und Damen, die Männer oder auch Frauen sind, umwerben Männer, die Damen sind. Ein weiter Reifrock, der in seiner Breite nicht durch die Tür paßt, viel des Sinnlichen ist, Erotik, Dichtung und die Frage nach dem, was Mann und was Frau ist und ausmacht. Wandel der Konventionen und sogar das Klima wandelt sich, von der Kältezeit im Elisabethanischen Zeitalter hin zum Warmen. Auf dieser Reise begleiten wir den jungen Adligen Orlando (Jenny König), der all das erlebt. Ein Dichter, ein Sensibler, der seine Empfindungen und seine Sexualität auslebt, erst Mann, dann Frau. Klassenmäßig kann er sie es sich leisten. Erlaubt ist, was gefällt. Er verfällt einer russischen Fürstin, die ihn bezirzt. Sie versetzt aber Orlando, dieser versinkt in Schwermut. Vorabgefilmte Szenen dienen auf der Leinwand als Einspieler, ein Ritt auf dem Pferd, Schneelandschaft und ein Mohnfeld auf der Leinwand wechseln mit Bühnenszenen. Manchmal ist es witzig zu sehen, wie von der Technik her die Anschlüsse von der Out-Door-Realität zur In-Door-Szenerie des Theaters gut gelingen.

Orlando betäubt sich in Dichtung, in süßlicher Symbolik, Woolf-Text wie Gustave Moreau-Gemälde. Die Theaterbilder versuchen durch Überdramatisierung und Schnelligkeit immer einmal wieder den Woolf-Text ironisch zu brechen. Am türkischen Hof, wohin sich Orlando als Gesandter flüchtet, um sich schließlich einer aufdringlichen Verehrerin zu entziehen, gerät er in eine Revolution. Er fällt in eine Ohnmacht, wacht als Frau auf und muß als Frau fortan leben: in Frauenkleidern und mit den Zwängen von Frausein. „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es.“ Dieser emblematischen Satz aus Simon de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ ist sicherlich Folie auch für diese Inszenierung.

Das alles, das Spiel mit Geschlechterrollen wie auch mit der Theaterpraxis, den Bühnenraum als Bühnenraum sichtbar zu machen, wären eine interessante Idee gewesen, leider wurde der gute Ansatz zugunsten einer Aufführung mit vielen Klischees preisgegeben. Das Thema „Geschlecht“ zerspielt diese Inszenierung im Banal-Humor und die mal ironische, mal witzig-derbe Gender-fluidity wirkte oft nicht lustig und spielerisch, sondern oberlehrerhaft und bemüht. Flaue Witzchen, Männer, die als Tunten oder Frauen über die Bühne stöckeln, hach und huch kreischt die Lady Harriet (Konrad Singer), wild werden Partys gegeben, Adelstanz zu Technostampf. Da zuckt die Adelsmeute zu wilden Rhythmen.

Die Rückfahrt vom Osmanischen Reich nach Merry Old England geschieht nicht per Schiff, sondern im engen Flieger in der Touristenklasse. Irgendein männlicher Fluggast neben Orlando schwafelt wie Männer schwafeln und kreischt in Perücke. Ein Orlando immerhin, der gekonnt die Geschlechtsidentität wechselt, wenngleich mich die Spielkunst von Jenny König nicht recht überzeugte, zu outriert, zu gestelzt, zu gestanzt das Sprechen, zu oft reißt sie erstaunt über das alles, was ihr da widerfährt, die Augen auf. Es wirkt stellenweise laienhaft, als spielte eine Jugendliche Theater. Ob das Absicht ist, weiß ich nicht, aber mir scheint dieser Ton samt Mimik nicht geglückt und auch nicht amüsant und auch mit der leicht ironischen Tonlage werde ich nicht warm. Der Sprechtext der Figur findet gegenüber dem sprachlichen Original des Woolf-Textes nicht die nötige Souveränität. Mir gefiel’s nicht, wie König diese Rolle verkörperte. Ebensowenig der Humor dieses Stückes, er hatte etwas Verdruckstes. Bemüht, bestellt, nicht abgeholt. Wir sind so frei, hahaha. Witze an Klischees werden irgendwann selber zu Klischees. Irgendwie, so dachte ich mir, paßte dazu auch Carolin Emcke im Premierenpublikum und mein Grollen verstärkte sich.

Die in sich manchmal durchaus sinnigen, sinnlichen und zuweilen auch gelungenen einzelnen Szenen und Bild-Sentenzen wirken durch den Schnelldurchlauf in ihrem Zusammenhang jedoch inkonsistent. Es könnte alles genausogut auch anders sein, die Bilder in ihrer Abfolge sind beliebig, ästhetische Stimmigkeit geht anders. Mich überzeugt diese Anordnung von Bildern nicht. Selbst der Brexit darf im Stück nicht fehlen, als Filmeinspielsel eingeblendet auf die schöne Leinwand sehen wir Pro-Europa-Demonstranten, und in einer anderen Szene dann Eisberge, die im Meer treiben. Sie werden wohl bald schmelzen. Ob traurige Eisbären durchs Bild trotten, ob gleich Greta Thunberg auftaucht oder Orlando ein Schild ins Publikum hält: „Skolstrejk för klimatet“?

Vielleicht ist dies ein generelles Problem bei der Inszenierung von Romanen auf Theaterbühnen, so wie das in den letzten Jahren zur Mode wurde, von Melle über Zeh bis Strunk: eine narrative Erzählordnung in eine bildliche Narration samt Dialogen überführen zu müssen. Erzählerstimmen aus dem Off, die den Originaltext nachsprechen, sind da nur ein Notbehelf. Konsequent immerhin von Mitchell durchgehalten und damit eines der konsistenten Theatermittel ist die Idee, den Romantext (in Übersetzung von Alice Birch) über die knapp zwei Stunden mit den Theaterbildern zu konfrontieren. Wobei mir an einigen Stellen die Übersetzung problematisch schien. Auch da müßte man mit dem Original gegenlesen, ob mancher Over-Schwulst so da steht.

Da auf der Bühne die Spiel-Szenen oft schwierig zu erkennen sind, schaut der Theaterbesucher meist auf die Leinwand. Grob gesagt: Man hätte diese Sache ebensogut verfilmen können. Dabei verloren gegangen wäre allenfalls das Spiel zwischen Theater-Illusion und der Entlarvung der Illusion als Illusion. Nichts Festes ist. Aber vielleicht hätte es für diesen Trick dann beim Film gereicht, ein Mikro oder einen Kameraständer ins Filmbild ragen zu lassen, wie das schon John Waters in „Hairspray“ tat. Auf der Bühne zumindest entfalten die Szenenbilder nicht ihre Kraft, und die Filmeinspieler retten nicht die Theaterszenen.

Die Figur des Kritikers Nicholas Greene wurde freilich gut und auch inspirierend gespielt von Carolin Haupt – eine der wenigen tatsächlich lustigen Szenen, weil sich die Inszenierung an dieser Stelle der Spielfreunde und dem Witz von Texten überließ und das Lehrhafte in jenem Spiel unterging. Wenn dann in der Inszenierung dieser Greene den Orlando um seinen Erfolg als Dichter betrügt, indem er die Poesie als eigene ausgibt – anders als im Roman, dort sorgt er für jenen Erfolg – so mag das als Regieeinfall ein Seitenhieb auf die Kritikerkaste und die der Literaten sein, zeigt aber zugleich ein Problem: Die Inszenierung trägt zu dick auf, sie wedelt mit dem Zeigefinger. Männer, die tumb und trottelig wirken. Komödien sind eben doch schwieriger zu gestalten als Tragödien. Gerade beim Witz muß das Timing stimmen. In Mitchells „Orlando“ funktionierte er nicht. Berechenbarer Humor. Daß auch Derbes subtil sein und somit ein Spiel zwischen verschiedenen Polen entfalten kann, kommt der Inszenierung nicht in den Sinn.

Immerhin gibt es einen guten Aspekt an dieser Aufführung zu nennen: Sie dauert gerade mal 1 ¾ Stunden. Spielfilmlänge. Dann ist es vorüber und ausgestanden.

Es war erwartbar, erwartbares Theater war es. Wenn ich Lustiges oder Tiefsinniges zu den Geschlechterrollen sehen will, schaue ich mir am liebsten immer noch Édouard Molinaros herrlichen Film „La cage aux folles“ oder Wilders „Some Like it Hot“ an. Den Gang in die Schaubühne kann man auch lassen.

Hamletmaschinen, Schauspielzeit, Ichsalat

Es gibt in seiner Autobiographie „Krieg ohne Schlacht“ einen schönen Satz von Heiner Müller über Schauspielschüler. Der ist insofern bemerkenswert, als er sich mit meinen Erfahrungen deckt. Auch ich hatte einstmals Mitte der 80er Jahre kurz die Ambition, an einer der deutschen Schauspielschulen mich zu bewerben. Und ich bin heute immer noch der Meinung, daß ich mit ein wenig Unterricht Lars Eidinger locker an die Wand spiele – zumal es ja nicht so schwierig ist, immer wieder denselben Typus zu darzustellen und besonders wenn dieser Charakter einem sozusagen im Blute liegt. (Die hohe Kunst des wahren Schauspielers ist es, jenen Charakter darzustellen, der einem diametral entgegengesetzt ist.) Aber ich will nichts gegen Eidinger sagen: Ich schätze ihn, es ist ein guter Schauspieler.

Allerdings: Bei der (teils zwiespältigen) Hamlet-Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne mit Eidinger als Hamlet, sprach Eidinger in Figuren-Rede – sei es die des Prinzen Hamlet oder die des Eidingers – einen Menschen aus dem Publikum an, einen jungen Mann zudem, der Eidinger nicht im mindesten gewachsen war und ich bebte und wartete darauf, daß er dies auch einmal und am besten mit mir probierte. Das wäre der wohl spannendste Abend an der Schaubühne geworden. Und da ich niemandem verpflichtet bin, grundsätzlich nicht, – anders als die armen Schauspieler, die da mit Eidinger zusammen spielen und sich  von ihm gezwungenermaßen an die Wand spielen lassen müssen, auch das ist ein weiteres Manko dieser Inszenierung -, hätte ich freie Bahn, hochfahrend in der Rolle als böser Zuschauer zu extemporieren. Nein, als Hamlet spielte Eidinger nur bedingt gut. Einen ganz herunter und nicht ganz so die Rampensau gegeben, wäre für die Qualität der Aufführung besser gewesen.

Wie dem auch sei. Müller schrieb in seiner Autobiographie „Krieg ohne Schlacht“:

„Die ‚Hamletmaschine‘ 1986 in New York war strenger, präziser als in Hamburg, weil die Studenten in New York einen härteren Arbeitsmarkt vor sich haben. Die sind disziplinierter und kommen nicht auf die Idee, daß sie Persönlichkeiten sind. Aber jeder Schauspielstudent in Hamburg ist eine Persönlichkeit. Dadurch gibt es Unreinheiten, das Private verwischt die Kontur. Das ist Wilsons Problem mit westdeutschen Schauspielern.“ (Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht)

Ähnlich meine Beobachtung, als ich seinerzeit am größten deutschen Sprechtheater arbeitete und als Student beim Bühnenaufbau half. Rau ging es dort auf und hinter der Bühne zu. Aber das störte mich weniger, zumal ich nicht das Opfer war, was mich wunderte, denn meine genial-tolpatschig-dilettantische Art überzeugte die Arbeiter nicht. Mit Werkzeugen wie einem Akuschrauber umzugehen oder auch das Tragen meterhoher Kulissenteile geriet mir nicht wirklich gut und überzeugend. Oder vielleicht dachten sie auch, ich spielte den Clown und den Tolpatsch nur. Sie ignorierten mich. Der geniale Kulissenfahrer Uwe schrie manchmal irgendeinen der studentischen Hiwis an: „Du dumme Sau, beeil dich endlich und beweg den Arsch. Studentenschwein!“ Roh schallte es über die Bühne: „Holgäääär, hol den Schrauhbär!“ Es hämmerte, es schlug, es ging zack-zack und Jürgen rannte mit Turmhohen Teilen, Holger schraubte, Uwe frotzelte und mittendrinn auch die studentischen Aushilfen, einige davon Schauspielschüler. Sie waren allesamt nett und sie stellten zugleich sowohl bei der Arbeit wie in den Pausen im Bereitschaftsraum ihre Ambitioniertheit zur Schau. Jeder dieser Schüler eine Persönlichkeit. Jeder eine besondere Rolle. Diese Beobachtung ließ sich in der Kantine ebenfalls bei Jungschauspielern fortsetzen, die Stolz wie Bolle waren, am größten deutschsprachigen Sprechtheater aufzutreten. Und sei es auch nur in dem Weihnachtsmärchen „Unsichtbare Freunde“. (Mit der bezaubernden Andrea Lüdke.) Soviel zu Heiner Müllers Beobachtung und in Ermangelung eines anderen Textes für diese Woche.

„Auf Vernichtung läuft’s hinaus“ – Castorfs „Faust“-Inszenierung an der Volksbühne

Da heute das Berliner Theatertreffen mit Castorfs wunderbarer „Faust“-Inszenierung beginnt, hier noch einmal meine Stückkritik vom März 2017.

Seinen Einstand an der Berliner Volksbühne gab Frank Castorf 1990 mit Schillers Räubern. Seine letzte Inszenierung dort ist der Faust. Ein wunderbares Abschiedsgeschenk, das Castorf uns auf die Bühne wuchtete. Sieben Stunden Höllenfeuer, ein Ideengewimmel, es wird uns heiß zumute. Vom Schillerschen Stürmer und Dränger des postdramatischen Theaters zum saturierten Klassiker gereift. Aber Castorf steht nicht statuarisch da; auch nicht, nachdem er zum Olymp emporschwebte, in Klassikerpose, sondern immer noch frech und wurstig, intellektuell spritzig gebärden sich seine Inszenierungen. Der Zuschauer tritt anders aus dem Theater hinaus als er herein kam, nicht gereinigt oder beruhigt, sondern verstört und angeheitert in einem. Bei aller Brutalität des Castorfschen Theaters sagten wir hinterher trotzdem: Aber irgendwie war es doch geil. Castorf ist nicht bloß postironisch.

Ob der Zuschauer am Ende erlöst ist, wie Heinrich Faust? Schwer zu sagen. Glücklich jedoch auf alle Fälle, einen so außergewöhnlichen Abend erlebt zu haben und zu nachtschlafender Stunde in Euphorie die Institution Volksbühne zu verlassen. Solcher Wahn ist für eine Inszenierung nicht selbstverständlich, und er überträgt sich auf den Zuschauer, wenn der nach einem wilden Theaterabend in die Nacht rauscht oder damals, in früheren Zeiten, als der Theatergänger wilder glühte, im Suff in der Theaterkantine parlierte. Nach den Castorf-Bildern auf der Bühne, so auch beim Faust, sieht die Welt nicht mehr bunt aus, sondern liegt zersprengt und in Teilen da. Faust-Fragmente, wie es der Geister-Chor rief, sind bei Castorf die Condition humaine und ebenso die Conditio seines Theaters:

Weh! weh!
Du hast sie zerstört
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
Wir tragen
Die Trümmern ins Nichts hinüber,
Und klagen
Über die verlorne Schöne.

Beim Faust lagern die Zitate fein eingeschliffen und gut abgehangen im kollektiven Nationalgedächtnis. Das bildungsbürgerliche Ohr lechzt, ob der Regisseur Castorf sie bringt. Und er bringt’s. Aber anders, als das im üblichen Faustkontext funktioniert und erwartet wird. Die interessante Frage, die sich also stellt, lautet vielmehr: Wie und in welcher Art wird Castorf es diesmal deichseln? In welcher Weise sind die Zitate angeordnet, die Szenen gesplittet und über den Abend verteilt? Um bei den Textsprüngen und dem Gestaltenwandel der Figuren den Überblick zu behalten, wer hier wer ist, scheint es gut, den Faust vorher noch einmal gelesen zu haben. Oder aber man läßt sich von vornherein treiben und setzte sich dem Irrsinn aus, um zu schauen, ob es gefällt und was vom Abend am Schluß hängenbleibt.

Daß Castorf den Theatertext dekontextualisiert und dann rekombiniert, dürfte zu erwarten gewesen sein und ist eine unspektakuläre Sache. In dieser Form kennen wir Castorfs Theater, und so mögen wir es, sofern wir Castorf-Fans sind. Verstreute Klassiker-Zitate also en masse im Faust. Bei der Spieldauer ist für solche Digression genug Platz vorhanden. Das junge Pärchen neben mir hat sich einen Weintrunk in eine Plastikflasche gefüllt. Ich hatte mir vorgenommen, ins Theater Leberwurststullen mitzubringen und zu verspeisen, auf Vorrat. Wie zu den Proben der olle Brecht im Berliner Ensemble.

Aber bei diesem Reigen an Assoziationen, bei den Szenen aus Castorf-Klamauk und Menschen-Drama kam keinen Moment Hunger oder Durst auf. Es zog die Drehbühne als eine Art Trutzburg in den Bann. Eine Mischung aus Pariser Straßenszenen, Feuertreppenstiegen wie im Film noir, Kinoplakate hängen an der Wand: „Tabu“, Josefine Baker“, eine Reklametafel für eine Kolonialschau, wie sie zur Jahrhundertwende üblich waren, um fremde Völker auszustellen, vielleicht ein wenig plakativ, aber doch paßt es. Groß prangt da oben am Gerüst in roten Leuchtbuchstaben „L’ENFER“ und wie zum Hohn flackern daneben in luftigen Höhen ein paar elektrische Kunst-Fackeln in Rotlicht, als Hölleneingang dient ein Monstermundes aus der Geisterbahnen.

Alles also nur Theater? Nein, beileibe nicht. Castorf baut kein Theater als Illusionsmaschine auf, auch in seiner Abschiedsinszenierung nicht. Politik schlägt in der bekannten Castorfschen Art ins Stück ein, wie ein Meteorit und zertrümmert den Text in Splitter. „Faust nach Goethe“, so wird das Stück angekündigt. Die Präposition „nach“ ist einerseits zwar personal zu verstehen, andererseits aber zeitlich zu lesen. Ein Faust nach der Goethischen Vormoderne. Und wie zum Hohn thront über der Hölle teutonisch eine mittelalterliche Burg. Ein Nebeneingang zur Hölle ist die Metrostation mit dem Namen Stalingrad. Abdoul Kader Traoré spricht dort auf französisch Celan Todesfuge, an anderer Stelle spielt er einen schwarzen Rapper, einen jener schwarzen Bewohner von Paris, die Zigaretten oder allesmögliche vertickern. Migrantenschicksale. Wir sehen ein Paris, wie wir es aus den düsteren Krimis kennen. Wir werden versetzt ins Paris des Algerienkriegs. Reisen ins Paris aus den Zeiten von Gounods Faust und Zolas Nana. Castorf mischt Zeit und Raum, wie üblich, eine vielfältige Kombination von Elementen und Ebenen, allein für das Absuchen der Bühne bedarf es einiges an Zeit und Aufmerksamkeit. Plötzlich entdeckt man da Knochen und Schädel wie vom Voodoo-Priester drapiert. Und tragen nicht auch Faust und Mephisto in einigen Szenen genau solche Zylinder? Was war das noch mit Haiti und Frankreich? Und Hegel, der sehr genau die Sklavenaufstände dort verfolgte? Weltgeist hoch zu Roß. All diese Assoziationen und Ketten, die sich an den Faust-Stoff binden, bekommt kein Geist sinnlich je gefaßt.

Lauter Zeichen, lauter Anspielungen. Auch Theaterinternes bietet Castorf auf, manchmal im üblichen Castorf-Klamauk, der doch nie bloß Klamotte um seiner selbst willen ist, knappe Verweise auf alte Inszenierungen: Ein Eimer, der an Kartoffelsalatorgien denken läßt, kleines Zitat aus „Des Teufels General“: „Immer schneller, der Propeller“, auch für den Faust gilt die Logik der Akzeleration. Wie ein Spott aufs Regietheater und gleichzeitig wie die Kritik an der Kritik daran höhnt es, wenn immer wieder und von allen Protagonisten im Durcheinander „Scheiße, Scheiße!“ gerufen wird. „Also, jetzt muß ich doch nochmal Scheiße sagen.“ Bekloppte Dernièren-Späße, an denen jedoch die Theaterenthusiasten ihren Spaß haben. Eine Rede des Faustschen Theaterdirektors. Erkennbar in neoliberalem Akzent, nein, mit belgischer Intonatation vorgetragen.

Deuten lassen sich all diese theatralischen Zeichen, die Requisiten, die aus dem Zusammenhang gerissenen Textpassagen in jede oder in keine Richtung. Aber man kommt bei Castorf nicht gut weiter, wenn man auf Hermeneutik und Sinnkohärenz erpicht ist. Andererseits gehen solche Reigen an Verweisen schnell auf die Nerven, wenn sie nicht zugleich durch einen anderen Aspekt von Geschichte sabotiert oder mit Witz gebrochen werden. Der einem jedoch angesichts von Mord und Folter zugleich im Halse steckenbleibt. Denn als Themen dieses Fausts schwingen die Kolonialpolitik der Franzosen in Algerien mit, wie auch eine quasi- matriarchale Ebene, denn es geht immerhin bei Faust II hinab zu den Müttern, wenn das Bild, der Schatten Helenas aus der Unterwelt befreit wird und jene Schönste reale Gestalt annimmt.

In Castorfs Inszenierung sind es die Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden und auf die nächste Prügel warten, Weiber, die für ihren Luden anschaffen gehen, Frauen, die ans Rampen-Licht wollen. Ebenso aber – Achtung, theaterinterner Witz – der Umgang des Regisseurs mit Frauen. Castorfs Manie dürfte bekannt sein. Sexy, sinnlich und ganz in ihrer Rolle als Gretchen/Helena aufgehend, stolziert Valery Tscheplanowa über die Bühne – trotz Kreuzbandriß spielte sie die Vorstellung, wenn auch an Krücken, was dem Ambiente einen zusätzlichen Reiz verlieh. Wir sehen in dieser Meta-Szene sogar ein kleines Theaterspiel im Spiel. So jongliert Castorf mit einer Vielzahl an Bezügen.

Das Faust-Theater beginnt auf dem Bildschirm, die Geschichte muß ja an irgend einer Stelle anfangen, jedoch keinesfalls in der Himmelssphäre, wo die Sonne nach alter Weise tönt, sondern in einer versifften Kolonial-Bar mit französischem Ambiente. Dort hocken verluderte, verschwitzte Gestalten am Tresen. Ein Famulus Wagner beschwört jenen Homunculus, ein Puppengeschöpf in einem Präparateglas, Gretchen leckt an dessen Stirn: „Hier wird ein Mensch gemacht!“ krächzt es aus des Famulus Mund. Auch so einer dieser zentralen Sätze. Ein lässiger Mephisto hängt am Tresen ab. Am Hut jedoch trägt er keine Hahnenfeder mehr, sondern eine Feder vom Pfau: Marc Hosemann gibt einen dandyesken Mephisto, einen Narziß. Martin Wuttke zeigt einen abgehalfterten Faust, teils greisenhaft verstört, intonierend wie Minetti, der Bernhard-Texte spricht. In seiner grotesken Zerrung erinnert diese Figur ebenso an Alexander Sokurows Faust, die im Film durch spezielle Objektive vor der Kamera gedehnt und verzerrt präsentiert wird. Mephisto agiert an den Stellen abgeklärt und mit dem Schuß Coolness, wo es nötig ist, denn zu oft ist diese Geschichte schon als Bildungsgut abgespielt, und er wirkt in den Szenen dramatisch, wo erforderlich, denn es ist diese alte Geschichte doch immer wieder neu und in verschiedenen Varianten zusammengesetzt. Castorf pointiert das Stück auf einige Stichworte hin.

Für die Castorf-klassischen Video-Einspielungen gab es eine hochthronende Video-Wand, auf der die Theaterszenen liefen, die nicht direkt sichtbar auf der Bühne spielten. Eine Metrofahrt von Stalingrad, über die Seine, im Waggon sitzen Franzosen, Schwarze, Fremde, Weiße. Dieses Szenario war im Parkettgang aufgebaut.

„Was willst du dich denn hier genieren?// Mußt du nicht längst kolonisieren?“

Diese Frage Mephistos an Faust gibt den Grundbaß des Stückes. Jener drastische Satz Faustens nach der Landnahme, daß es auf Vernichtung hinauslaufe, dieser Erkenntnisblitz, nachdem man Philemon und Baucis in ihrer Hütte bei lebendigem Leibe verbrannte, um ihnen ihren kargen Besitz zu nehmen, fällt interessanterweise in diesem Stück nicht. Castorf hat ihn ausgespart. Aus guten Grunde. Denn die Bilder dieser Inszenierung, die Assoziationen und Verbindungen, die Castorf anfährt, sprechen für sich.

Am Ende läuft es auf die Gewaltfrage hinaus, die sich für die Unterdrückten stellt. Ein blutiger Krieg zwischen kolonisierten Algeriern und Franzosen. Auf einer der Theaterleinwände sehen wir eine Spielfilmszene wie eine junge (unverschleierte, moderne) Algerierin in einem von Franzosen besuchten Café eine Bombe deponiert. Zwischen den Faust-Dialog, wo es zu dem Kampf der Kranichen gegen die Pygmäen kommt, finden wir als Texte eingestreut die Plädoyers von Sartre und Frantz Fanon für den gewalttätigen Kampf der Unterdrückten – stammen sie noch aus dieser oder bereits aus einer ganz anderen Zeit, als es noch die ideologischen Blöcke noch gab? Sozialismus oder Barbarei? Goethes Faust stellt implizit auch die Gewaltfrage. Castorf exponiert sie, hält sie offen. Castorfs Theater ist keine moralische Lehranstalt und kein Ergebnistheater.

Kolonisierung von Land, Kolonisation fremder Räume, Kolonisierung des Frauenkörpers. Der Homunculus, der neue, der kommende Mensch, der gemachte Mensch nach den Regeln aus dem Menschenpark ist am Ende eine zum Leben erweckte Puppe, die von Faust und Mephisto durch die Pariser Metro geschleppt wird. In Plastikfolie geschnürt wie die Leiche bei „Twin Peaks“, unter der Folie erstickt die Frau, schnappt nach Luft, kämpft sich dann frei. Für mich eine der stärksten und eindringlichsten Szenen dieser Inszenierung. Dieser Körper in Plastikfolie. Erschreckend und schön. Dieses Erwachen der Frau zieht sich durch Castorfs gesamte Inszenierung. Am Ende bohrt Gretchen-Helena den beiden erschöpft am Boden liegenden Protagonisten je eine Algerienfahne in den Schädel.

Was für ein Abend! Eigentlich müßte ich nur über diese sieben Stunden schreiben: Wie es sich anfühlt, unbeweglich und doch gebannt auf einem schwarzen Plastikstuhl zu harren. Nach links, nach rechts zu rutschen. Ein eigentlich unmöglicher Theaterabend. Manchmal mit Längen, aber nicht eine Sekunde langweilig.

Wenn dann relativ zum Ende hin, man hat nur noch eine halbe Stunde vor sich, solche Sätze fallen, daß es vorbei sei, kann man sicher sein, daß Castorf die Lacher auf seiner Seite hat. (Erstaunlich wenige übrigens verließen die Inszenierung.):

Mephistopheles: Er fällt, es ist vollbracht.

Chor: Es ist vorbei. –

Mephistopheles: Vorbei! ein dummes Wort.
Warum vorbei?
(…)
‚Da ist’s vorbei!‘ Was ist daran zu lesen?
Es ist so gut, als wär‘ es nicht gewesen,
Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre.
Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.

Vorbei also ist eine Ära. Mutwillig von einem Schnösel in weißem Hemd und Jeans preisgegeben. Für das Theater in Berlin ist es ein entsetzlicher Verlust, daß Castorf gefeuert wurde. Er hätte noch weitere 25 mal 25 Jahre machen müssen. In Faustischem Alter mit mephistophelischer Weisheit. Danke Frank Castorf für dieses Theater und für diesen großen Faust-Abend! Besseres kann und wird es an diesem Ort nicht mehr geben.

Photographien: Bersarin. Die Bilder aus dem Stück sind im Foyer der Volksbühne aufgenommen, es handelt sich um Ausstellungs-Photographien von Just Loomis, einen Photographen aus Los Angeles. Die Photos von der Metro-Bühneninstallation wurden von mir  im Parkettgang geschossen.

Chris Dercon geht, was macht eigentlich Tim Renner?

Freitag, der 13 – eine schöne, eine erfreuliche Nachricht immerhin für diesen Tag, der angeblich Unglück bringt. Aber ein Berliner Kettensägenmassaker ist es dann auch wieder nicht – das fand vorher statt, als Tim Renner die Volksbühne kappte. Insofern ändert all das nichts daran, daß ein Musiktonträgerabspielmanager zusammen mit einem damals wie heute regierenden Bürgermeister namens Müller eine über 25 Jahre gewachsene Institution mutwillig zerstörten!

Mal sehen, was kommt, hoffentlich nicht wieder eine Performance-Abspielstätte, sondern ein Ensemble-Theater, das seine eigene Handschrift ausbildet. Dazu freilich braucht es Zeit, die – das muß man fairerweise sagen – vielleicht auch Dercon verdient hätte. Ob eine Intendanz glückte, sich ein eigenständiges Spiel und ein besonderer Theaterort ausbilden, zeigt sich in der Regel nicht nach ein oder zwei Spielzeiten. Erst im Laufe der Jahre entfaltet ein Ensemble mit all seinen Beteiligten, von den Dramaturgen, über das künstlerische Betriebsbüro, von den Gewerken, den Schneidern, Bühnenbauern und Gewandmeistern bis zu den Regisseuren und der Intendanz, sein Potential. Man denke in Hamburg an Frank Baumbauer oder an Tom Stromberg. Angefeindet am Anfang seiner Intendanz und als Stromberg ging, war selbst beim (oft) konservativ-langweiligen Feuilleton des Hamburger Abendblattes eine gewisse Trauer zu spüren. Nicht anders als bei Baumbauer.

Bei Castorf jedoch war zu Beginn und bereits nach dem Auftakt Anfang der 90er klar: Hier geschieht ästhetisch gerade eine Sensation. Eben das, was in der Gattung der Künste eine Erweiterung der Gattungsgrenzen bedeutet. Wenn eine der Künste, hier das Theater, derart explodiert, daß es auch auf den Allgemeinbegriff der Kunst sich auwirkt und eine Transformation der Kunst zeitigt. Das zumindest war nach zwei Spieljahren schnell klar. Solche Überschreitungen wirken sich ästhetisch nicht nur auf das Theater selbst aus, sondern berühren die Kunst (als Allgemein- und Oberbegriff)  ingesamt und erweitern mit ihr auch die Kunstheorie.  Beim Theater jedoch, und daher rührt vielleicht die latende Melancholie wie auch der Überschwang in dieser Gattung, sind solche Ereignisse nicht fixierbar. Picassos Les Demoiselles d’Avignon oder Goyas Desastres de la Guerra kann man sich immer noch betrachten, Kafkas Der Proceß ist immer als Buch erstehbar. Aber die Aufführung von Schillers Die Räuber bleibt eine Erinnerung. Für die Allgemeinheit nie wieder abrufbar und damit absolut vergangen. Das ist der Reiz des Theaters. Theater ist Mythos, auch deshalb, weil wir unsere Legenden, Erzählungen und Verklärungen – sofern es denn gut war – um einen Theaterabend weben. Castorf war ein solcher Mythos und wirkte mit an dessen Produktion. (Fürs Rationale ist dann die Ästhetik zuständig, könnte man etwas zuspitzen. Oder die Kunstkritik.)

Vergangene Zeiten: Es ändert dieser Rücktritt nichts daran, daß die Volksbühne von zwei Dilettanten wie Renner und Müller ruiniert wurde. Das bleibt irreparabel und deshalb fällt die Freude über Dercons Abgang verhalten aus. Der Wechsel hätte damals mit Castorf stattfinden müssen und nicht gegen ihn. Auch aus Respekt vor seiner künstlerischen Leistung war es verantwortungslos, diese Abwicklung klandestin, verstohlen, am Hintertisch auszuhandeln und vermutlich weil dem CDUler Renner die Volksbühne und deren Politik und Ästhetik nicht gefiel. So wurde ein anregendes, kluges, unbändiges Theater ohne Not und vor allem ohne Verstand dicht gemacht. Auf solche wie Renner bin ich immer noch wütend, und es ist mehr als ärgerlich, daß solche Leute für ein Desaster, das sie anrichten, nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Daß da einer wie Tim Renner mit dem Arsch an einem Bierabend einreißt, was viele unterschiedliche Menschen in 25 Jahren mit Kunst, Kraft, Ausdruck, Zorn und Witz aufgebaut haben. Was für eine elende Pfeife dieser Tim Renner doch ist!

Castorf selbst trifft und tangiert all dies vermutlich nur am Rande. Mit seiner übelgelaunten, muffeligen Art reist er als unbequemer Partisan bequem durch die Theaterrepublik, lacht und macht weiter. Aber wir Berliner stehen doof da und ohne die Volksbühne. Und man muß dazu sagen: Das Konzept von Renner ist leider aufgegangen. Das von Dercon nicht. Irgendwie ist das dann doch bedauerlich. Und zwar für die Volksbühne selbst. Für ihre Mitarbeiter, für all diese fleißigen Hände hinter den Kulissen, die fürs Theater brennen, die jeden Tag tun und machen. Ich weiß, wovon ich spreche, ich arbeitete selber einmal an einer der größten deutschen Sprechbühnen. Wenn auch nur als Bühnenaufbauer (kurz) und als Kartenabreißer (länger).

Zur Besetzung der Volksbühne

„Die Geburtsstunde der Theatralik ist der Konflikt.“ (Frank Castorf)

So ist ist. Und der sollte ausgetragen werden, bis jener Chris Dercon fort ist. Mit Dank an eine Facebookfreundin für das Zitat und es bleibt dabei: die Volksbühne gehört Castorf, und nicht dem Manager aus Belgien.  Man kann da ein Jahr lang Sand ins Getriebe werfen, irgendwann vielleicht wird Thomas Middelhoff das Handtuch wirft. Wie dem auch sei: diese Besetzung der Volksbühne war so oder so ein Erfolg, wie auch immer man zu dem Programm der Besetzer und zu ihrem ästhetischen Konzept stehen mag. Ein Erfolg zumindest, sofern man es mit Castorf hält und für die Freunde der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz eine Win-win-Situation, um es spieltheoretisch auszudrücken. Läßt Dercon nicht räumen, ist es ein besetztes Haus. Räumt Dercon, so steht er ramponiert da. Bereits die Bilder, die durch die Stadt gehen, sprechen für sich. Ein wunderbares Theater, ich hätte es gerne photographiert. Szenen, die im Sinne von Castorf sein dürften – auch als ästhetisches Ereignis. Es entpuppt sich der Kurator.

Ein Konflikt, der sich nicht so einfach aus der Welt tanzen läßt mit kulturalistischem chi chi und mit nichtssagendem Tanz-Tralala. Und daß dieses Vorgehen der Besetzer auch Teile der kulturalistischen Linken grämt, ist umso besser. Zwei Fliegen mit einer Klappe.

Soviel nur als Notiz aus dem Urlaub, fern ab von Berlin.

 

Aus der Zeit gefallen in der Zeit – Herbert Fritschs „Zeppelin“ an der Berliner Schaubühne

Gestern abend Premiere, zum ersten Mal inszeniert Herbert Fritsch an der Schaubühne. Keine Volksbühne mehr für Fritsch. Wer will schon für vier Tage bei einem Eventmanager gastieren? „Zeppelin“ ist ein Stück, frei nach Motiven und Texten Ödön von Horváths, Bühne und Regie: Herbert Fritsch, eine Montage, ein Spiel mit Horváths Aberglauben, mit dem Geist der Zeit und einem Rekurs ins 19. Jahrhundert, was die Kostüme betrifft, eine seltsame Mischung aus Jahrmarkt und der Eleganz der 20er Jahre, bunt vor allem, aber jeder Charakter ist in einer eigenen Farbe gehalten, bereits bei den Strümpfen gut zu sehen, Typus satter Pastellton.

Und was für ein Bühnenbild! Dunkles, dann Grelles, ein Vorhang fällt. Ein Blitz und wie eine wilde Photographie von einem Theaterphotographen, der eine Jahrmarktsszene ablichtet. Ein Mann, mit Zylinder und Brille, spitzer, grauer Kinnbart, Typ Steam-Punk, bespielt einen Synthesizer. Töne klingen, erst sphärisch, dann plötzlich heftig, als rüttele das Stahlgestänge des riesigen, die Bühne einnehmenden Zeppelins. Metallisch als bearbeiteten die Einstürzenden Neubauten mit Klöppeln und Knüppeln ein Stahlgerüst. Später dann läßt Stroboskoplicht Partien des Gestänges grell leuchten.

Im Anfang aber eine Art Hinterhofbild: Ein Junge spielt vor sich hin Fußball, wie auf einem der vielen Höfe der 20er Jahre, eine Horde Kinder stürmt heran, mit hochgewirbelten Armen, schreiend. Schattenspiele des Zeppelin-Gestänges auf der Rückwand.

Zunächst denke ich bei dem sinnlosen Gebrabbel der Kinder, bei der seltsamen Musik des Steampunk-Alten mit Zauberergestus, der das Geschehen irgendwie, wie ein Marionettenspieler mittels Musik und Tönen zu steuern scheint: Was soll das ganze? Der große Elektromagnetiseur, Strippenzieher, Figuren im Reagenzglas. Metallische Gespenstersonate. Zeitenwende. Aber hier nach einem unmittelbar einleuchtenden Sinn zu fragen, führt gar nicht weiter. Der Zuschauer muß sich von diesem zaubervollen, wunderbaren Spiel mit Sprache, Licht, Schatten und Kostümen einfach überraschen lassen und sich seinen ästhetischen Imaginationen hingeben. Phantasievolles. Doch Obacht – es ist das Stück keineswegs Ästhetik pur und zum sinnlichen Schwelgen, auch wenn es auf solche Mittel forciert setzt und insofern einen bildlichen Kontrapunkt zu den doch oft bedrohlichen Texten setzt. Die in der Montage noch viel absurder und teils auch trauriger wirken, als sie in den Horváth-Stücken sowieso schon sind. Hat das alles Bedeutung oder bordet es ins Selbstbezügliche über? „Irgendwann werden Sie alles verstehen!“ sagt eine der Figuren zum Ende des Spiels hin. Aber muß und will der Betrachter das überhaupt?

Aus der Zeit gefallene Bilder von geisterhaften Wesen, die durchs Bild huschen. „Huhuhu“ machen sie wie Kinder, die Gespenst spielen. Sie wirken wie Illustrationen aus einem Kinderbuch des 19. Jahrhunderts, bei genauerem Hinsehen erkennt man bestimmte, Typen,  einer schaut wie ein Clown aus, einer wie Frankensteins Schöpfung. Stummfilm-Aassoziationen. Und zunächst jagen diese Gestalten auch choreographisch über die Bühne. Bewegungstheater und Gesten, nicht Sprache steuert anfangs das Geschehen.

Oft Szenen stark im Ausdruck, die zwar das Theaterspiel von Robert Wilson wie auch den expressiven deutschen Stummfilm aufgreifen, aber doch eine eigenständige und in sich geschlossene Inszenierung liefern. Und für Robert Wilsons narkoleptisch sich bewegendes Bühnenpersonal sind diese wunderbaren Figuren – in den herrlichen Kostümen von Victoria Behr – ganz einfach zu zappelig. An den Struwwelpeter denke ich kurz, als ob da einer eine neue Ausgabe entworfen hätte. Aber dann sprechen diese Figuren doch zu seltsame Dialoge, Männer- und Frauengespräche, Klamauk auch, ohne daß es  in den Kitsch abgleitet. „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“ „Sie werden schon sehen, daß jede Epoche die Epidemie hat, die sie verdient. Jeder Zeit ihre Pest.“ Eine Zitatelandschaft, teils aus Absurdem, teils Politischen. Aus Kasimir und Karoline (1932) auch dieser so entscheidende wie auch traurige Satz:

„Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen.“

Engel sind diese Figuren, wenn sie akrobatisch am Gestänge des Zeppelins turnen oder gar schweben, dort hängen, sich verkrampfen und lamentieren.

Sinnliche, teils amüsant-gruselnde Bilder: und ich kann jedem raten, sich das anzuschauen. Mit Heidegger gesprochen könnte man sagen, daß die Menschen nicht ins Gestell, sondern eher ins Gestänge eingezwängt sind. Ins Gestänge eines raketen- oder eben zeppelinähnlichen Gegenstandes. Eine Frage der Technik. Dazu ein wilder Textbogen aus Horváth-Zitaten. Und daraus, aus Bild und Text, entsteht ein Panorama der 20er und 30er Jahre. Krisenzeit und Umbrüche stehen an. Insofern ist „Zeppelin“ ein politisches Stück. Und das schönste: Fritsch kommt ohne eine einzige AfD-Anspielung aus, wie das schlechte oder in ihrer Unmittelbarkeit engagierte Regisseure täten, sondern Bilder und Text sprechen für sich.

Verzaubernde, aber auch teils verstörende Bilder sowie Texte und Dialoge, wie man sie von Horvárth kennt, die Suche nach einem kleinen bißchen Glück. Verlorenheit, die Jahrmarkt-, Prater- und Wiesn-Attraktionen jener Zeit: die Frau mit dem Gorillakörper, überall behaart: „Seht her! Und sie kann singen und sprechen!“, trostlose Ausstellungsstücke. Der Mann mit dem Bulldoggenkopf, er kann nicht essen. Sie möchten Mensch und irgendwie ein Glanz wollen sie sein, wie es an anderer Stelle bei Irmgard Keun im „Kunstseidenen Mädchen“ heißt. Traurige Zeit der Wirtschaftskrise. Der Zeppelin deutet bereits auf eine größere Katastrophe planetarischen Ausmaßes. Bekanntlich zerschellte die im Naziregime gebaute „Hindenburg“ (LZ 129) am 6. Mai 1937 in Lakehurst, New York. Man kann das als schicksalhaftes Zeichen lesen. Ödön von Horváth wurde am 31. Mai 1938 das größte Abenteuer seines Lebens geweissagt, am 1. Juni 1938 kam er in Paris ums Leben. Von einem Kastanienast erschlagen. In diesem Abend von Fritsch wurde das Theater Ödön von Horváths zu neuem Leben erweckt. Wenn es nicht immer schon in seiner Seltsamkeit gelebt hat.

Eine gelungene Inszenierung. Am Ende erstarren die Figuren regungslos mit ihrem eingefrorenen Lächeln, im Gestänge des Luftschiffes hängen sie. Nichts. Nichts rührt sich, sie harren und harren minutenlang. Erstes Klatschen im Publikum, aber die Figuren rühren sich nicht, um den Applaus in Empfang zu nehmen. Rufen, klatschen. Dann rhythmisch. Immer wieder animiert das Publikum, doch das Bild bleibt, wie es ist. Keine Bewegung, nur in den Gesichtern zuckt das Lachen. Grimassenhaft. Maskenartig. Ein großartiges Ende. Hier öffnet sich noch einmal die vierte Wand. Dann endlich wie zur Erlösung springen die Schauspieler herab und aus ihren Rollen.  Der echte Applaus geht auf die sie nieder und dann auch auf Herbert Fritsch. Verdient!

Fotos: Thomas Aurin/Copyright Schaubühne

Die Volksbühne muß bleiben, Chris Dercon muß weg!

Wo aber Gefahr ist, so mutmaßte Hölderin in seiner Hymne „Patmos“, jenem Insel-Ort, auf dem Johannes seine Offenbarung schuf oder aber, je nach Lesart, die Apokalypse ans Licht des Tages brachte, wo also Gefahr ist, da wächst das Rettende auch. Nun gibt es bei change org eine Petition „Zukunft der Volksbühne neu verhandeln„. (Link klicken und unterschreiben!) Es werden zwar vermutlich alle Lieder schon gesungen sein. Aber wie es im Leben so ist: Versuch macht kluch.

Bei rbb-online heißt es:

„Begründet wird die neue Petition mit dem Programm, das der designierte Intendant Chris Dercon im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses vorgestellt hatte. Dabei sei deutlich geworden, dass der im Haushaltsplan 2016/17 definierte Auftrag, die Volksbühne als ein im Ensemble- und Repertoirebetrieb arbeitendes Theater beizubehalten, nicht erfüllt werden könne. Weder sei ein „eigenes Ensemble vorgesehen, noch ein Repertoirespielbetrieb“. Stattdessen werde mit „überproportional vielen Schließtagen gespielt“. Zudem werde mit den eingeladenen Künstlern ein Mehrfachangebot geschaffen, da das Programm über Festivals und andere Produktionshäuser wie etwa das Haus der Berliner Festspiele und das Hebbel am Ufer (HAU) im Ansatz bereits abgedeckt sei.
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Die Petition fordert Kultursenator Lederer auf, ein dauerhaftes Ensemble an der Volksbühne mit einem eigenen Repertoire zu ermöglichen. Dieser Auftrag sei auch vom Regierenden Bürgermeister Müller immer wieder unterstrichenen worden. Zudem solle die Diskussion um die Zukunft der Volksbühne unter Einbeziehung der Berliner Öffentlichkeit neu geführt werden. Damit solle der „Spielbetrieb an einer der wichtigsten Berliner Bühnen“ sichergestellt werden.“

Die Volksbühne wurde von Tim Renner, einem Musikmanager, der eher zufällig in das Amt des Kulturstaatssekretärs hineinrutschte, eiskalt abgewickelt. Die Volksbühne ist einer der wichtigsten und vielschichtigsten Orte Berlins, und ich wie auch viele andere möchten nicht, daß nun ein belgischer Investor diesen besonderen Raum übernimmt und das macht, was man genauso in Paris, London oder Tokio sehen kann. Zwar hat auch das sogananntes „Festivaltheater“ seine Berechtigung, aber nicht an einem so synchron, diachron und zugleich multipel-asymmetrisch gewachsenem Ort, den es seit 25 Jahren gibt. Bis solche seltsamen, wundersamen und phantastischen Gebilde heranwachsen, braucht es Zeit. In diesem Sinne ist die Volksbühne ein organisch gewachsener Körper, wie ein Baum, ein Korallenriff, eine Freundschaft. Mit einem Schlag wurden über zwei Jahrzehnte an Theatererfahrung liquidiert.

Ich habe persönlich nichts gegen Chris Dercon, viel schlimmer als Dercon und sein Konzept von Kunst, über das man debattieren kann, sind kalte Bürokraten wie Tim Renner (SPD). Einer wie Renner weiß genau, was er tut und er weiß auch, warum er es macht. Das ist in meinen Augen der eigentliche Skandal in dieser Sache.

Dennoch ist Chris Dercon nicht der richtige Mann für ein Theater wie die Volksbühne.

Also, auf, auf, Berliner, geht unterschreiben!

Laßt das Räuberrad stehen!

„Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, Tanztheater dieser Stadt.“
(Tocotronic, auf der LP: Digital ist besser, 1995)

Es ragt da, nicht prunkvoll, sondern eisenrostig und inzwischen irgendwie trotzig, wenn ich kämpferisch-böse die Rosa-Luxemburg-Straße zur Volksbühne hin entlang schreite. Das Gaunerzinkenzeichen muß bleiben, auch wenn sich Castorf aus Trotz und aus berechtigter Wut dagegen sträubt. Es muß bleiben, weil es ein Zeichen ist: Zeichen für eine verfehlte Kulturpolitik unter Müllers blassem Adlatus Tim Renner: Weißes Hemdchen ohne Schimmer. Inzwischen zu recht vom Hof gejagt. Bis heute ist vielen schleierhaft wie ein Kapellenmanager es in diese Position bringen konnte. Eine verantwortungslose Entscheidung von einem Bürgermeister, dem Kulturpolitik Nebensache ist. (Andererseits stimmt es schon: Nichts mehr sollte an diesen Mann erinnern. Aber der Gaunerzinken ist eben doch mehr als nur das blasse Hemd.)

Das Räuberrad bleibt, denn es ist ein ewiger Stachel im Fleische von Macron oder Decron oder wie immer der neue Mann heißen mag: Sinnbild der neoliberalen Kulturalisten, die sich mit dem Etikett links schmücken, weil es modisch ist, die Theater oder Kunst oder irgend etwas jenseits der Gattungsgrenzen machen, wie man es genauso in London oder in Brüssel erleben kann. Eine spezifisch in Berlin gewachsene Sache wurde mutwillig vernichtet. Ein Raum, den es nirgends anders geben kann, der mit den Jahren gewachsen ist. Eine besondere Situation. Man kann sagen: Aber das Volksbühnending ist doch Museum! Ja, das mag sein. Es ist Museum, ein Museum, das immer neue Ideen schöpft. Aber andererseits ist auch die übrige Kunst inzwischen Museum und genauso die zum Kultur-Marketing entgrenzte eines Dercons. (Und für die vermeintlich linken Politposen haben wir in Berlin eh andere Spielstätten.) Oder glaubt irgendwer an die subversiven Potentiale einer vermeintlichen Avantgarde? Kunst in Städten ist Standortfaktor. Weshalb wurde nicht das „Haus der Kulturen“ (also die Schwangere Auster, wie der Nichtberliner sagt) umgewidmet? Es taugt für Dercon, es liegt in Regierungsnähe.

Nein, nein, keine alten Debatten sollen neu entfacht werden. Das ist ganz sinnlos. Es ist vorbei. Was nun ist, das ist. Aber dieses Räuberrad wird auf Dauer daran erinnern, was an diesem Ort einmal Besonderes gewesen ist, und es wird sich einer wie Dercon das rostige Rad nicht als Markenzeichen aneignen können. Er weiß das, und er weiß auch, daß er sich damit lächerlich machen würde. Aber jedesmal wenn Dercon aus London oder aus Tokio anreist, um einmal kurz im Theater vorbeizusehen, wird er in seiner Limousine oder wie es unter den Kulturalisten neuerdings Mode ist, auf seinem Fahrrad an diesem Rad aus Rost vorbeimüssen.

Das Räuberrad ist ein Zeichen von Widerstand, ein böses Bild, das bleibt. Es erhält vor allem unsere Wut und sicherlich bei vielen auch ihre Trauer. Ein Erinnerungsmal daran, wie leichtfertig mit einem Theater der besonderen Art umgegangen wurde. Andererseits kann ich diese heterogene, wilde, dreiste Theatertruppe um Frank Castorf herum gut verstehen, daß sie „ihr“ Rad wiederhaben will. Ulrich Seidler schrieb in der „Berliner Zeitung“:

„Angemessen wäre es, für diese kulturpolitische Meisterleistung eine Statue des inzwischen abgewählten Kurzzeitkulturstaatssekretärs, der Castorfs Vertrag nicht verlängert hat, aufzustellen: Am besten in einer solarbetriebenen Winke-Winke-Version.

Ist es nicht verständlich, dass die verjagte Truppe ihr Zeichen mitnehmen möchte, wenn sie am 31. Juli ihre Höhle besenrein übergeben muss? Wer hätte das Recht, ihr das zu verwehren? Soll das Ding doch selbst entscheiden: Es hat ein Rad, es hat Beine, und es hat Wurzeln.“

Aber andererseits dieser Gedanke: Ist das laufende Räuberrad nicht längst schon in Volkseigentum übergegangen? Im Grunde ein letzter Rest DDR. Deren tatsächlich noch subversive Kultur, die die Theaterlandschaft Berlins bereicherte: Ob Einar Schleef, der große Geschichts- und Geschichtenerzähler Heiner Müller oder eben Frank Castorf.

„Auf Vernichtung läuft’s hinaus“ – Castorfs „Faust“-Inszenierung an der Volksbühne

Seinen Einstand an der Berliner Volksbühne gab Frank Castorf 1990 mit Schillers Räubern. Seine letzte Inszenierung dort ist der Faust. Ein wunderbares Abschiedsgeschenk, das Castorf uns auf die Bühne wuchtete. Sieben Stunden Höllenfeuer, ein Ideengewimmel, es wird uns heiß zumute. Vom Schillerschen Stürmer und Dränger des postdramatischen Theaters zum saturierten Klassiker gereift. Aber Castorf steht nicht statuarisch da; auch nicht, nachdem er zum Olymp emporschwebte, in Klassikerpose, sondern immer noch frech und wurstig, intellektuell spritzig gebärden sich seine Inszenierungen. Der Zuschauer tritt anders aus dem Theater hinaus als er herein kam, nicht gereinigt oder beruhigt, sondern verstört und angeheitert in einem. Bei aller Brutalität des Castorfschen Theaters sagten wir hinterher trotzdem: Aber irgendwie war es doch geil. Castorf ist nicht bloß postironisch.

Ob der Zuschauer am Ende erlöst ist, wie Heinrich Faust? Schwer zu sagen. Glücklich jedoch auf alle Fälle, einen so außergewöhnlichen Abend erlebt zu haben und zu nachtschlafender Stunde in Euphorie die Institution Volksbühne zu verlassen. Solcher Wahn ist für eine Inszenierung nicht selbstverständlich, und er überträgt sich auf den Zuschauer, wenn der nach einem wilden Theaterabend in die Nacht rauscht oder damals, in früheren Zeiten, als der Theatergänger wilder glühte, im Suff in der Theaterkantine parlierte. Nach den Castorf-Bildern auf der Bühne, so auch beim Faust, sieht die Welt nicht mehr bunt aus, sondern liegt zersprengt und in Teilen da. Faust-Fragmente, wie es der Geister-Chor rief, sind bei Castorf die Condition humaine und ebenso die Conditio seines Theaters:

Weh! weh!
Du hast sie zerstört
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
Wir tragen
Die Trümmern ins Nichts hinüber,
Und klagen
Über die verlorne Schöne.

Beim Faust lagern die Zitate fein eingeschliffen und gut abgehangen im kollektiven Nationalgedächtnis. Das bildungsbürgerliche Ohr lechzt, ob der Regisseur Castorf sie bringt. Und er bringt’s. Aber anders, als das im üblichen Faustkontext funktioniert und erwartet wird. Die interessante Frage, die sich also stellt, lautet vielmehr: Wie und in welcher Art wird Castorf es diesmal deichseln? In welcher Weise sind die Zitate angeordnet, die Szenen gesplittet und über den Abend verteilt? Um bei den Textsprüngen und dem Gestaltenwandel der Figuren den Überblick zu behalten, wer hier wer ist, scheint es gut, den Faust vorher noch einmal gelesen zu haben. Oder aber man läßt sich von vornherein treiben und setzte sich dem Irrsinn aus, um zu schauen, ob es gefällt und was vom Abend am Schluß hängenbleibt.

Daß Castorf den Theatertext dekontextualisiert und dann rekombiniert, dürfte zu erwarten gewesen sein und ist eine unspektakuläre Sache. In dieser Form kennen wir Castorfs Theater, und so mögen wir es, sofern wir Castorf-Fans sind. Verstreute Klassiker-Zitate also en masse im Faust. Bei der Spieldauer ist für solche Digression genug Platz vorhanden. Das junge Pärchen neben mir hat sich einen Weintrunk in eine Plastikflasche gefüllt. Ich hatte mir vorgenommen, ins Theater Leberwurststullen mitzubringen und zu verspeisen, auf Vorrat. Wie zu den Proben der olle Brecht im Berliner Ensemble.

Aber bei diesem Reigen an Assoziationen, bei den Szenen aus Castorf-Klamauk und Menschen-Drama kam keinen Moment Hunger oder Durst auf. Es zog die Drehbühne als eine Art Trutzburg in den Bann. Eine Mischung aus Pariser Straßenszenen, Feuertreppenstiegen wie im Film noir, Kinoplakate hängen an der Wand: „Tabu“, Josefine Baker“, eine Reklametafel für eine Kolonialschau, wie sie zur Jahrhundertwende üblich waren, um fremde Völker auszustellen, vielleicht ein wenig plakativ, aber doch paßt es. Groß prangt da oben am Gerüst in roten Leuchtbuchstaben „L’ENFER“ und wie zum Hohn flackern daneben in luftigen Höhen ein paar elektrische Kunst-Fackeln in Rotlicht, als Hölleneingang dient ein Monstermundes aus der Geisterbahnen.

Alles also nur Theater? Nein, beileibe nicht. Castorf baut kein Theater als Illusionsmaschine auf, auch in seiner Abschiedsinszenierung nicht. Politik schlägt in der bekannten Castorfschen Art ins Stück ein, wie ein Meteorit und zertrümmert den Text in Splitter. „Faust nach Goethe“, so wird das Stück angekündigt. Die Präposition „nach“ ist einerseits zwar personal zu verstehen, andererseits aber zeitlich zu lesen. Ein Faust nach der Goethischen Vormoderne. Und wie zum Hohn thront über der Hölle teutonisch eine mittelalterliche Burg. Ein Nebeneingang zur Hölle ist die Metrostation mit dem Namen Stalingrad. Abdoul Kader Traoré spricht dort auf französisch Celan Todesfuge, an anderer Stelle spielt er einen schwarzen Rapper, einen jener schwarzen Bewohner von Paris, die Zigaretten oder allesmögliche vertickern. Migrantenschicksale. Wir sehen ein Paris, wie wir es aus den düsteren Krimis kennen. Wir werden versetzt ins Paris des Algerienkriegs. Reisen ins Paris aus den Zeiten von Gounods Faust und Zolas Nana. Castorf mischt Zeit und Raum, wie üblich, eine vielfältige Kombination von Elementen und Ebenen, allein für das Absuchen der Bühne bedarf es einiges an Zeit und Aufmerksamkeit. Plötzlich entdeckt man da Knochen und Schädel wie vom Voodoo-Priester drapiert. Und tragen nicht auch Faust und Mephisto in einigen Szenen genau solche Zylinder? Was war das noch mit Haiti und Frankreich? Und Hegel, der sehr genau die Sklavenaufstände dort verfolgte? Weltgeist hoch zu Roß. All diese Assoziationen und Ketten, die sich an den Faust-Stoff binden, bekommt kein Geist sinnlich je gefaßt.

Lauter Zeichen, lauter Anspielungen. Auch Theaterinternes bietet Castorf auf, manchmal im üblichen Castorf-Klamauk, der doch nie bloß Klamotte um seiner selbst willen ist, knappe Verweise auf alte Inszenierungen: Ein Eimer, der an Kartoffelsalatorgien denken läßt, kleines Zitat aus „Des Teufels General“: „Immer schneller, der Propeller“, auch für den Faust gilt die Logik der Akzeleration. Wie ein Spott aufs Regietheater und gleichzeitig wie die Kritik an der Kritik daran höhnt es, wenn immer wieder und von allen Protagonisten im Durcheinander „Scheiße, Scheiße!“ gerufen wird. „Also, jetzt muß ich doch nochmal Scheiße sagen.“ Bekloppte Dernièren-Späße, an denen jedoch die Theaterenthusiasten ihren Spaß haben. Eine Rede des Faustschen Theaterdirektors. Erkennbar in neoliberalem Akzent, nein, mit belgischer Intonatation vorgetragen.

Deuten lassen sich all diese theatralischen Zeichen, die Requisiten, die aus dem Zusammenhang gerissenen Textpassagen in jede oder in keine Richtung. Aber man kommt bei Castorf nicht gut weiter, wenn man auf Hermeneutik und Sinnkohärenz erpicht ist. Andererseits gehen solche Reigen an Verweisen schnell auf die Nerven, wenn sie nicht zugleich durch einen anderen Aspekt von Geschichte sabotiert oder mit Witz gebrochen werden. Der einem jedoch angesichts von Mord und Folter zugleich im Halse steckenbleibt. Denn als Themen dieses Fausts schwingen die Kolonialpolitik der Franzosen in Algerien mit, wie auch eine quasi- matriarchale Ebene, denn es geht immerhin bei Faust II hinab zu den Müttern, wenn das Bild, der Schatten Helenas aus der Unterwelt befreit wird und jene Schönste reale Gestalt annimmt.

In Castorfs Inszenierung sind es die Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden und auf die nächste Prügel warten, Weiber, die für ihren Luden anschaffen gehen, Frauen, die ans Rampen-Licht wollen. Ebenso aber – Achtung, theaterinterner Witz – der Umgang des Regisseurs mit Frauen. Castorfs Manie dürfte bekannt sein. Sexy, sinnlich und ganz in ihrer Rolle als Gretchen/Helena aufgehend, stolziert Valery Tscheplanowa über die Bühne – trotz Kreuzbandriß spielte sie die Vorstellung, wenn auch an Krücken, was dem Ambiente einen zusätzlichen Reiz verlieh. Wir sehen in dieser Meta-Szene sogar ein kleines Theaterspiel im Spiel. So jongliert Castorf mit einer Vielzahl an Bezügen.

Das Faust-Theater beginnt auf dem Bildschirm, die Geschichte muß ja an irgend einer Stelle anfangen, jedoch keinesfalls in der Himmelssphäre, wo die Sonne nach alter Weise tönt, sondern in einer versifften Kolonial-Bar mit französischem Ambiente. Dort hocken verluderte, verschwitzte Gestalten am Tresen. Ein Famulus Wagner beschwört jenen Homunculus, ein Puppengeschöpf in einem Präparateglas, Gretchen leckt an dessen Stirn: „Hier wird ein Mensch gemacht!“ krächzt es aus des Famulus Mund. Auch so einer dieser zentralen Sätze. Ein lässiger Mephisto hängt am Tresen ab. Am Hut jedoch trägt er keine Hahnenfeder mehr, sondern eine Feder vom Pfau: Marc Hosemann gibt einen dandyesken Mephisto, einen Narziß. Martin Wuttke zeigt einen abgehalfterten Faust, teils greisenhaft verstört, intonierend wie Minetti, der Bernhard-Texte spricht. In seiner grotesken Zerrung erinnert diese Figur ebenso an Alexander Sokurows Faust, die im Film durch spezielle Objektive vor der Kamera gedehnt und verzerrt präsentiert wird. Mephisto agiert an den Stellen abgeklärt und mit dem Schuß Coolness, wo es nötig ist, denn zu oft ist diese Geschichte schon als Bildungsgut abgespielt, und er wirkt in den Szenen dramatisch, wo erforderlich, denn es ist diese alte Geschichte doch immer wieder neu und in verschiedenen Varianten zusammengesetzt. Castorf pointiert das Stück auf einige Stichworte hin.

Für die Castorf-klassischen Video-Einspielungen gab es eine hochthronende Video-Wand, auf der die Theaterszenen liefen, die nicht direkt sichtbar auf der Bühne spielten. Eine Metrofahrt von Stalingrad, über die Seine, im Waggon sitzen Franzosen, Schwarze, Fremde, Weiße. Dieses Szenario war im Parkettgang aufgebaut.

„Was willst du dich denn hier genieren?// Mußt du nicht längst kolonisieren?“

Diese Frage Mephistos an Faust gibt den Grundbaß des Stückes. Jener drastische Satz Faustens nach der Landnahme, daß es auf Vernichtung hinauslaufe, dieser Erkenntnisblitz, nachdem man Philemon und Baucis in ihrer Hütte bei lebendigem Leibe verbrannte, um ihnen ihren kargen Besitz zu nehmen, fällt interessanterweise in diesem Stück nicht. Castorf hat ihn ausgespart. Aus guten Grunde. Denn die Bilder dieser Inszenierung, die Assoziationen und Verbindungen, die Castorf anfährt, sprechen für sich.

Am Ende läuft es auf die Gewaltfrage hinaus, die sich für die Unterdrückten stellt. Ein blutiger Krieg zwischen kolonisierten Algeriern und Franzosen. Auf einer der Theaterleinwände sehen wir eine Spielfilmszene wie eine junge (unverschleierte, moderne) Algerierin in einem von Franzosen besuchten Café eine Bombe deponiert. Zwischen den Faust-Dialog, wo es zu dem Kampf der Kranichen gegen die Pygmäen kommt, finden wir als Texte eingestreut die Plädoyers von Sartre und Frantz Fanon für den gewalttätigen Kampf der Unterdrückten – stammen sie noch aus dieser oder bereits aus einer ganz anderen Zeit, als es noch die ideologischen Blöcke noch gab? Sozialismus oder Barbarei? Goethes Faust stellt implizit auch die Gewaltfrage. Castorf exponiert sie, hält sie offen. Castorfs Theater ist keine moralische Lehranstalt und kein Ergebnistheater.

Kolonisierung von Land, Kolonisation fremder Räume, Kolonisierung des Frauenkörpers. Der Homunculus, der neue, der kommende Mensch, der gemachte Mensch nach den Regeln aus dem Menschenpark ist am Ende eine zum Leben erweckte Puppe, die von Faust und Mephisto durch die Pariser Metro geschleppt wird. In Plastikfolie geschnürt wie die Leiche bei „Twin Peaks“, unter der Folie erstickt die Frau, schnappt nach Luft, kämpft sich dann frei. Für mich eine der stärksten und eindringlichsten Szenen dieser Inszenierung. Dieser Körper in Plastikfolie. Erschreckend und schön. Dieses Erwachen der Frau zieht sich durch Castorfs gesamte Inszenierung. Am Ende bohrt Gretchen-Helena den beiden erschöpft am Boden liegenden Protagonisten je eine Algerienfahne in den Schädel.

Was für ein Abend! Eigentlich müßte ich nur über diese sieben Stunden schreiben: Wie es sich anfühlt, unbeweglich und doch gebannt auf einem schwarzen Plastikstuhl zu harren. Nach links, nach rechts zu rutschen. Ein eigentlich unmöglicher Theaterabend. Manchmal mit Längen, aber nicht eine Sekunde langweilig.

Wenn dann relativ zum Ende hin, man hat nur noch eine halbe Stunde vor sich, solche Sätze fallen, daß es vorbei sei, kann man sicher sein, daß Castorf die Lacher auf seiner Seite hat. (Erstaunlich wenige übrigens verließen die Inszenierung.):

Mephistopheles: Er fällt, es ist vollbracht.

Chor: Es ist vorbei. –

Mephistopheles: Vorbei! ein dummes Wort.
Warum vorbei?
(…)
‚Da ist’s vorbei!‘ Was ist daran zu lesen?
Es ist so gut, als wär‘ es nicht gewesen,
Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre.
Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.

Vorbei also ist eine Ära. Mutwillig von einem Schnösel in weißem Hemd und Jeans preisgegeben. Für das Theater in Berlin ist es ein entsetzlicher Verlust, daß Castorf gefeuert wurde. Er hätte noch weitere 25 mal 25 Jahre machen müssen. In Faustischem Alter mit mephistophelischer Weisheit. Danke Frank Castorf für dieses Theater und für diesen großen Faust-Abend! Besseres kann und wird es an diesem Ort nicht mehr geben.

Photographien: Bersarin. Die Bilder aus dem Stück sind im Foyer der Volksbühne aufgenommen, es handelt sich um Ausstellungs-Photographien von Just Loomis, einen Photographen aus Los Angeles. Die Photos von der Metro-Bühneninstallation wurden von mir  im Parkettgang geschossen.

Karin Beiers „Hysteria – Gespenster der Freiheit“

Aus politisch aktuellem Anlaß und zum Spielzeitauftakt inszenierte Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus ein Theaterstück frei nach Szenen und Versatzstücken aus Luis Buñuels Filmen. Der Titel deutet an, worum es geht – unsere Angstneurosen, im Reigen der bürgerlichen Gesellschaft, inmitten der (scheinbaren) Freiheit, derer wir verlustig gehen.

Der Vorhang hebt sich langsam – endlich einmal wieder eine Inszenierung mit einem Vorhang, denke ich mir – und es bricht sich ein gleißendes Licht. Es dringt grell hervor, blendet, kriecht in den Zuschauerraum. Kalt wie Scheinwerfer, die einen OP-Tisch ausleuchten. Wir blicken auf einen feinen Bungalow. Rundumverglast, darin die Vorbereitungen zu einer Einweihungsparty stattfinden. Eine Kleinfamilie der gehobenen Angestellten-Klasse, wie wir sie überall auf der Welt in der weißen Sphäre antreffen. Mann, Frau, Tochter. Die Frau (Julia Wieninger) trägt bereits ein zweites Kind aus. Alles Glück der Welt, ein neues Heim, und es treffen die ersten Gäste ein. Sie irren in der Dunkelheit ums Haus, finden den Eingang nicht, weil Türen wie Fenster dieser Rundumverglasung gleich aussehen. Eine feine Beobachtung, und von solchen Details lebt die Inszenierung überhaupt. Kleine Gesten, die ins Absurde vertrudeln. Als die Gattin Ihre Finger an die Fenster preßt, um nach den Gästen zu sehen, poliert ihr Mann hektisch-beflissen die Handflecken von Schweiß fort, die an der Scheibe prangen. Ein Spießer, ein Ordnungsfan, so zeigt uns die theatralische Zeichensprache.

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Der Gastgeber öffnet die Haustür. Wir hören die Begrüßungsfloskeln, die Haustür schließt sich. Wir hören nichts mehr, denn hermetisch ist der Flachdach-Bungalow abgeriegelt. Das Glas isoliert. Der Zuschauer blickt in ein Terrarium und erlebt die Gespräche zwischen den fein gekleideten Gästen und den Bewohnern zunächst als hochkomische Pantomime. Die Gäste bringen ihre Geschenke mit. Einer einen Plastik-Buddha, dem bereits ein Arm fehlt. Ungeschickt bricht der Gastgeber noch den anderen Arm ab und wurstelt die mißlungene Statue verschämt auf eine Anrichte. Ein geschmackloser Blumenstrauß wird gereicht, wie ihn Tankstellen verkaufen. Schnell stopft ihn der Gastgeber in einen Küchenschrank. Sogar ein Buch wird übergeben. Ein Buch allerdings, das noch weniger passen will als die übrigen Geschenke – E. M. Cioran schrieb es: „Die Lehre vom Zerfall“. Und von Cioran sind auch die später dann von der Gattin eingestreuten Monologe, die aus den Handlungsdialogen ausbrechen und die Funktion eines Chors haben. Sie erinnern mich an die Monologe der Ophelia in Heiner Müllers „Hamletmaschine“. Eine Abseitsposition, die das Grauen, den Schrecken bereits andeutet. Dann mit der Begrüßungsrede des Gastgebers, die das Klischee vom Klischee einer solchen Rede liefert, sind wir als Zuschauer wieder im Tonmodus und lauschen dem Plaudern von Gästen und Gastgebern.

Schönes Motiv aus „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“, wenn im Film eine feine, bürgerliche Gesellschaft sich zum Essen trifft, plappert und plötzlich hebt sich der Vorhang eines Theaters und den Akteuren wird zugesehen. Die Menschen sitzen nicht nur am Tisch und verhalten sich als soziale Wesen, sondern sie sind ebenfalls Existenzen der Bühne, die von Zuschauern beobachtet werden. In diesem Falle von uns, der da draußen lauernden Meute. Aber es trennt sie das Glas vom drinnen.

Und hier schon liegt die erste Schwäche des Stückes. Nach nicht einmal 20 Minuten Theater und deutlichen Szenen weiß ich, frei nach Goethes „Faust“: Auf Vernichtung läuft’s hinaus und das, was mir geboten wird, wird nicht lange gut gehen. Die stilisieren Plaudereien und der Blick von außen auf eine absurde Gesellschaft, die ihre Konventionen pflegt, wenn der Chef und die Kollegen aus dem Team geladen werden, deuten es an. Bis dann der erste Gast sich kurz vor die Tür begibt und mit einer blutenden Kopfwunde wieder hereinkommt. Irgend etwas da draußen habe ihn angegriffen, da sei was, da geschehe etwas im Dunkeln, sie säßen dort, lauerten schauten uns von Ferne durch die Scheiben zu, und unwillkürlich fühlt sich auch der Zuschauer mit angesprochen. Alter Trick die vierte Wand aufzubrechen. Ob er denn geschlagen worden wäre? „Nein, aber nein, ich bin nur hingefallen.“ Was beim Zuschauer eine Heiterkeit auslöst, wie überhaupt die erste halbe Stunde launig verläuft. Dialoge wie: „Darf ich bei Ihnen ein Rohr verlegen?“, wenn ein schwarz arbeitender Handwerker in die Party einfällt und zunächst als vermeintlicher Bote des Draußen Schrecken auslöst, oder das Verwechseln von Bauhaus mit einer Baumarktkette sind mäßig lustig. Hanseaten kichern. Alles also halb so schlimm. Oder doch nicht? Nach der Hysterie und jener Angst vorm Unbekannten folgt die Erleichterung, damit sich dann die Hysterie wieder steigern kann, als ein ungeladener Nachbar in derangiertem Aufzug (Michael Wittenborn) zu Besuch kommt. Er erzählt in sardonischem Tonfall von Banden, die draußen ihr Unwesen treiben, und davon, daß sich in der Umgebung Bürgerwehren gegründet haben. Es steigt zwar die Unruhe, aber das Fest will man sich andererseits nicht verderben lassen; zwischen durchgedrehtem Tanzen, Schwätzen und Angstkommunikation bewegen sich die Szenen. Wilde Musik und zuckende Körper unterbrechen immer wieder die Dialoge.

Die eingespielte Musik vermittelt zwar die Ekstase zwischen Fest und Abgrund; die Töne und Geräusche sowie die ausdrucksstarken Bilder fangen zwar jene Atmosphäre zwischen Hysterie, Angst und Verdrängung expressiv ein, doch bleibt die dramaturgische Klimax öde und die Parabel läuft leer. Die Geschichte entwickelt sich nach einem durchschaubaren Muster. Während letzte Saison in Karin Beiers hochkomischer Inszenierung von Alan Ayckbourns „Ab jetzt“, wo ebenfalls ein feindlich-tödliches Draußen eine Rolle spielt, in den Szenen und Dialogen Erwartbares so unerwartet geschieht, das sich von dieser Struktur her Witz entwickelt, läuft die Dramaturgie in „Hysteria“ leer. Hysterie, die durch Autosuggestion entsteht. Fein, fein. Es liegt was von Apokalypse in der Luft. Irgendwann hallen in der Nähe Explosionen. Ob es ein Feuerwerk ist, ein Angriff oder Explosionen in einer nahegelegenen Fabrik für Experimente mit Genmaterial bleibt offen. Die Situation eskaliert. Was die Schauspieler unter Einsatz ihrer Körper, mit Bewegung und wenig Sprache zum Ausdruck bringen. In diesem Spiel der Akteure gelingt die Inszenierung. Irgendwann ist die Verbindung nach draußen abgebrochen. Kein Mobilfunknetz, kein Wasser mehr. Die Schicht der Zivilisation ist dünn. Ob denn in der Not Kannibalismus verwerflich sei, fragt einer der Gäste. Die Lichtblitze zucken, die Körper wälzen sich, tanzen, ringen, die Mutter bringt ihr Kind zur Welt, preßt es heraus, gegen die Fensterscheibe. Es eskaliert, Menschen und Fleisch und Körper, die übereinander herfallen. In Sexsucht, in Gier und in Überlebensangst. Am Ende erlischt auf der Bühne das Licht, kein Neon, keine Grelle. Schwarzes. Der Bezug zu Cormac McCarthys „Die Straße“ kommt mir in den Sinn. Nur daß der Horror in einem Innenraum seinen Ort hat, deshalb aber keineswegs weltlos.

default_2All das ist von Karin Beier gut gemein. Sie politisiert nicht unnötig, sie tippt dezent an, sie übertreibt in Maßen, die Drastik entsteht durchs Spiel der Akteure, und sie hält sich ansonsten an das Beckettsche Endspielgesetz: Draußen ist zwar tödlich, aber konkret benannt wird das, was da draußen vor sich geht, nicht. Genausogut könnte es ein Abdruck des Innern sein. Die Situation bleibt offen. Szenen und Spiel zeigen uns, wie Hysterie und Autosuggestion sich einwickeln, zur Panik sich aufsteigern und in die Selbstzerfleischung münden. Von der Intention her nett gemeint, in der Inszenierung sauber gearbeitet, aber auch nichtssagend und durchschaubar. Insofern hätte das Stück keine Minute länger als jene 1 ¾ Stunde dauern dürfen.

Aber da gibt es einen Bruch, der mich an diesem Stück fasziniert: daß die Bilder signifikant vom Text abweichen. Mag jener Plot nach 20 Minuten voraussehbar sein und sich erschöpfen, so findet die Inszenierung ausdrucksstarke Bilder. Das Stück lebt von einem eigenartigen Rhythmus aus Expression und stummem Spiel. Es lebt von der Verrenkung der Körper, insbesondere Sayouba Sigués souveräne Gestik, der den Chef des Gastgebers spielt und zunächst auf der Party unablässig und geschäftig am Handy hängt, ebenso die Tochter (Josefine Israel), die ihren Körper gegen die Glasfront preßt oder mit einer Baseballkeule auf dem Dach stolziert, schöne Referenz an Materias „2 Finger an Kopf“. Solche Szenen liefern ein Plädoyer fürs Tanztheater oder ein solches der reinen Bewegung. Es hätte der gesamte Text preisgegeben werden müssen zugunsten von Bewegung und Klang. Aus diesen beiden Momenten heraus hätte sich die heraufziehende Apokalypse des Selbstexzesses im Ausdruck und in der Konstruktion womöglich stringenter entwickeln lassen als in den Dialogen oder den eingestreuten Monologen aus Pathos und Cioran-Zitat. Und so hallten aus dem Dunkel des Saales am Ende für die Regisseurin einige Buhrufe.

Photographien: Homepage Deutsches Schauspielhaus, © David Baltzer