Karin Beiers „Hysteria – Gespenster der Freiheit“

Aus politisch aktuellem Anlaß und zum Spielzeitauftakt inszenierte Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus ein Theaterstück frei nach Szenen und Versatzstücken aus Luis Buñuels Filmen. Der Titel deutet an, worum es geht – unsere Angstneurosen, im Reigen der bürgerlichen Gesellschaft, inmitten der (scheinbaren) Freiheit, derer wir verlustig gehen.

Der Vorhang hebt sich langsam – endlich einmal wieder eine Inszenierung mit einem Vorhang, denke ich mir – und es bricht sich ein gleißendes Licht. Es dringt grell hervor, blendet, kriecht in den Zuschauerraum. Kalt wie Scheinwerfer, die einen OP-Tisch ausleuchten. Wir blicken auf einen feinen Bungalow. Rundumverglast, darin die Vorbereitungen zu einer Einweihungsparty stattfinden. Eine Kleinfamilie der gehobenen Angestellten-Klasse, wie wir sie überall auf der Welt in der weißen Sphäre antreffen. Mann, Frau, Tochter. Die Frau (Julia Wieninger) trägt bereits ein zweites Kind aus. Alles Glück der Welt, ein neues Heim, und es treffen die ersten Gäste ein. Sie irren in der Dunkelheit ums Haus, finden den Eingang nicht, weil Türen wie Fenster dieser Rundumverglasung gleich aussehen. Eine feine Beobachtung, und von solchen Details lebt die Inszenierung überhaupt. Kleine Gesten, die ins Absurde vertrudeln. Als die Gattin Ihre Finger an die Fenster preßt, um nach den Gästen zu sehen, poliert ihr Mann hektisch-beflissen die Handflecken von Schweiß fort, die an der Scheibe prangen. Ein Spießer, ein Ordnungsfan, so zeigt uns die theatralische Zeichensprache.

default

Der Gastgeber öffnet die Haustür. Wir hören die Begrüßungsfloskeln, die Haustür schließt sich. Wir hören nichts mehr, denn hermetisch ist der Flachdach-Bungalow abgeriegelt. Das Glas isoliert. Der Zuschauer blickt in ein Terrarium und erlebt die Gespräche zwischen den fein gekleideten Gästen und den Bewohnern zunächst als hochkomische Pantomime. Die Gäste bringen ihre Geschenke mit. Einer einen Plastik-Buddha, dem bereits ein Arm fehlt. Ungeschickt bricht der Gastgeber noch den anderen Arm ab und wurstelt die mißlungene Statue verschämt auf eine Anrichte. Ein geschmackloser Blumenstrauß wird gereicht, wie ihn Tankstellen verkaufen. Schnell stopft ihn der Gastgeber in einen Küchenschrank. Sogar ein Buch wird übergeben. Ein Buch allerdings, das noch weniger passen will als die übrigen Geschenke – E. M. Cioran schrieb es: „Die Lehre vom Zerfall“. Und von Cioran sind auch die später dann von der Gattin eingestreuten Monologe, die aus den Handlungsdialogen ausbrechen und die Funktion eines Chors haben. Sie erinnern mich an die Monologe der Ophelia in Heiner Müllers „Hamletmaschine“. Eine Abseitsposition, die das Grauen, den Schrecken bereits andeutet. Dann mit der Begrüßungsrede des Gastgebers, die das Klischee vom Klischee einer solchen Rede liefert, sind wir als Zuschauer wieder im Tonmodus und lauschen dem Plaudern von Gästen und Gastgebern.

Schönes Motiv aus „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“, wenn im Film eine feine, bürgerliche Gesellschaft sich zum Essen trifft, plappert und plötzlich hebt sich der Vorhang eines Theaters und den Akteuren wird zugesehen. Die Menschen sitzen nicht nur am Tisch und verhalten sich als soziale Wesen, sondern sie sind ebenfalls Existenzen der Bühne, die von Zuschauern beobachtet werden. In diesem Falle von uns, der da draußen lauernden Meute. Aber es trennt sie das Glas vom drinnen.

Und hier schon liegt die erste Schwäche des Stückes. Nach nicht einmal 20 Minuten Theater und deutlichen Szenen weiß ich, frei nach Goethes „Faust“: Auf Vernichtung läuft’s hinaus und das, was mir geboten wird, wird nicht lange gut gehen. Die stilisieren Plaudereien und der Blick von außen auf eine absurde Gesellschaft, die ihre Konventionen pflegt, wenn der Chef und die Kollegen aus dem Team geladen werden, deuten es an. Bis dann der erste Gast sich kurz vor die Tür begibt und mit einer blutenden Kopfwunde wieder hereinkommt. Irgend etwas da draußen habe ihn angegriffen, da sei was, da geschehe etwas im Dunkeln, sie säßen dort, lauerten schauten uns von Ferne durch die Scheiben zu, und unwillkürlich fühlt sich auch der Zuschauer mit angesprochen. Alter Trick die vierte Wand aufzubrechen. Ob er denn geschlagen worden wäre? „Nein, aber nein, ich bin nur hingefallen.“ Was beim Zuschauer eine Heiterkeit auslöst, wie überhaupt die erste halbe Stunde launig verläuft. Dialoge wie: „Darf ich bei Ihnen ein Rohr verlegen?“, wenn ein schwarz arbeitender Handwerker in die Party einfällt und zunächst als vermeintlicher Bote des Draußen Schrecken auslöst, oder das Verwechseln von Bauhaus mit einer Baumarktkette sind mäßig lustig. Hanseaten kichern. Alles also halb so schlimm. Oder doch nicht? Nach der Hysterie und jener Angst vorm Unbekannten folgt die Erleichterung, damit sich dann die Hysterie wieder steigern kann, als ein ungeladener Nachbar in derangiertem Aufzug (Michael Wittenborn) zu Besuch kommt. Er erzählt in sardonischem Tonfall von Banden, die draußen ihr Unwesen treiben, und davon, daß sich in der Umgebung Bürgerwehren gegründet haben. Es steigt zwar die Unruhe, aber das Fest will man sich andererseits nicht verderben lassen; zwischen durchgedrehtem Tanzen, Schwätzen und Angstkommunikation bewegen sich die Szenen. Wilde Musik und zuckende Körper unterbrechen immer wieder die Dialoge.

Die eingespielte Musik vermittelt zwar die Ekstase zwischen Fest und Abgrund; die Töne und Geräusche sowie die ausdrucksstarken Bilder fangen zwar jene Atmosphäre zwischen Hysterie, Angst und Verdrängung expressiv ein, doch bleibt die dramaturgische Klimax öde und die Parabel läuft leer. Die Geschichte entwickelt sich nach einem durchschaubaren Muster. Während letzte Saison in Karin Beiers hochkomischer Inszenierung von Alan Ayckbourns „Ab jetzt“, wo ebenfalls ein feindlich-tödliches Draußen eine Rolle spielt, in den Szenen und Dialogen Erwartbares so unerwartet geschieht, das sich von dieser Struktur her Witz entwickelt, läuft die Dramaturgie in „Hysteria“ leer. Hysterie, die durch Autosuggestion entsteht. Fein, fein. Es liegt was von Apokalypse in der Luft. Irgendwann hallen in der Nähe Explosionen. Ob es ein Feuerwerk ist, ein Angriff oder Explosionen in einer nahegelegenen Fabrik für Experimente mit Genmaterial bleibt offen. Die Situation eskaliert. Was die Schauspieler unter Einsatz ihrer Körper, mit Bewegung und wenig Sprache zum Ausdruck bringen. In diesem Spiel der Akteure gelingt die Inszenierung. Irgendwann ist die Verbindung nach draußen abgebrochen. Kein Mobilfunknetz, kein Wasser mehr. Die Schicht der Zivilisation ist dünn. Ob denn in der Not Kannibalismus verwerflich sei, fragt einer der Gäste. Die Lichtblitze zucken, die Körper wälzen sich, tanzen, ringen, die Mutter bringt ihr Kind zur Welt, preßt es heraus, gegen die Fensterscheibe. Es eskaliert, Menschen und Fleisch und Körper, die übereinander herfallen. In Sexsucht, in Gier und in Überlebensangst. Am Ende erlischt auf der Bühne das Licht, kein Neon, keine Grelle. Schwarzes. Der Bezug zu Cormac McCarthys „Die Straße“ kommt mir in den Sinn. Nur daß der Horror in einem Innenraum seinen Ort hat, deshalb aber keineswegs weltlos.

default_2All das ist von Karin Beier gut gemein. Sie politisiert nicht unnötig, sie tippt dezent an, sie übertreibt in Maßen, die Drastik entsteht durchs Spiel der Akteure, und sie hält sich ansonsten an das Beckettsche Endspielgesetz: Draußen ist zwar tödlich, aber konkret benannt wird das, was da draußen vor sich geht, nicht. Genausogut könnte es ein Abdruck des Innern sein. Die Situation bleibt offen. Szenen und Spiel zeigen uns, wie Hysterie und Autosuggestion sich einwickeln, zur Panik sich aufsteigern und in die Selbstzerfleischung münden. Von der Intention her nett gemeint, in der Inszenierung sauber gearbeitet, aber auch nichtssagend und durchschaubar. Insofern hätte das Stück keine Minute länger als jene 1 ¾ Stunde dauern dürfen.

Aber da gibt es einen Bruch, der mich an diesem Stück fasziniert: daß die Bilder signifikant vom Text abweichen. Mag jener Plot nach 20 Minuten voraussehbar sein und sich erschöpfen, so findet die Inszenierung ausdrucksstarke Bilder. Das Stück lebt von einem eigenartigen Rhythmus aus Expression und stummem Spiel. Es lebt von der Verrenkung der Körper, insbesondere Sayouba Sigués souveräne Gestik, der den Chef des Gastgebers spielt und zunächst auf der Party unablässig und geschäftig am Handy hängt, ebenso die Tochter (Josefine Israel), die ihren Körper gegen die Glasfront preßt oder mit einer Baseballkeule auf dem Dach stolziert, schöne Referenz an Materias „2 Finger an Kopf“. Solche Szenen liefern ein Plädoyer fürs Tanztheater oder ein solches der reinen Bewegung. Es hätte der gesamte Text preisgegeben werden müssen zugunsten von Bewegung und Klang. Aus diesen beiden Momenten heraus hätte sich die heraufziehende Apokalypse des Selbstexzesses im Ausdruck und in der Konstruktion womöglich stringenter entwickeln lassen als in den Dialogen oder den eingestreuten Monologen aus Pathos und Cioran-Zitat. Und so hallten aus dem Dunkel des Saales am Ende für die Regisseurin einige Buhrufe.

Photographien: Homepage Deutsches Schauspielhaus, © David Baltzer

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..