Documenta 15: Es klappert die Botschaft im rauschenden Bach. Zwischen Workshop-Kunst und Antisemitismus

Dieser Text wird auf diesem Blog der erste und auch der letzte Artikel zur vermutlich sterbens- und steinlangweiligen documenta 2022 sein – außer vielleicht, es fällt mir noch die eine oder die andere Polemik ein. So wollte ich am 20.6. auftakten. Aber aufgrund eines antisemitischen Machwerkes der Gruppe Taring Padi hat sich das erledigt. Allerdings bleibt es wohl dabei: Ich werde nicht nach Kassel fahren, dafür ist mir meine Zeit und vor allem mein Geld zu schade – wenngleich Kassel als Stadt einer der spannenden bundesrepublikanischen Städte ist: Wegen der Architektur, dieser seltsamen Nachkriegsmoderne aus Beton, Funktionalität und dem neuen Wirtschaftswunder. Die Häßlichkeit und die Unwirtlichkeit der Städte verkeht sich ins Gegenteil. Kassel ist solch ein Ort. Hier kann man also mit Fug und Recht vielleicht doch sagen: Das beste an der documenta 15 ist Kassel. (Wäre vielleicht auch ein guter Spruch fürs Stadtmarketing.)

Kassel, August 2012

Es gab einmal eine Reisesendung, am Sontag beim NDR, die hieß „Zwischen Hamburg und Haiti“. Für die Fahrt nach Kassel kann man nun schreiben „Zwischen Lumbung und Humbug“. Absatz und Neubeginn.

Wir bereisen lieber andere Orte. Denn wer schöne und gute Kunst sehen will, der mache doch in seinen Ferien dieses Jahr eine Deutschlandreise (auch wenn Sprit teuer ist, ein guter Riesling liegt immer bei 10 Euro, aber es lohnt sich) und besuche zum Beispiel das wunderbare Museum Georg Schäfer in Schweinfurt, auch von der Architektur her ein faszinierender Bau, und der Betrachter tut einen schönen Gang durch die Kunstgeschichte – so zum Beispiel Carl Spitzweg, der sehr unterschätzte witzig-geniale Maler, wie auch Max Slevogt sind dort zu sehen. Oder er fahre nach Chemnitz und schaue das architektonisch ebenfalls wunderbare Musuem Gunzenhauser sich an: unter anderem findest sich dort eine Vielzahl an Gemälden von Otto Dix; ein Dix, der nicht ins Exil ging, sondern unter den Nazis weitermalte: seltsam-kalte, aber doch faszinierende Landschaften in realistischem Stil. Ebenfalls findet sich dort eine Vielzahl an Gemälden von Alexej von Jawlensky.

Und weil wir im Osten uns befinden und die Reise westwärts geht, haben wir vorher noch einen Abstecher nach Halle ins Kunstmuseum Moritzburg getan, darin sich insbesondere deutsche Malerei vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart findet. Daß ich hier eine der schönsten Sammlungen für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts und auch der DDR-Kunst, nämlich das Museum der bildenden Künste in Leipzig, nicht eigens erwähne – obwohl: nun tue ich’s ja doch – hat allein darin seinen Grund, daß ich davon ausgehe, daß jeder Mensch mit ästhetischem Verstand bereits diese herrliche Kunsthalle einmal in seinem Leben mindestens besucht hat. Auch die Sichtachsen und die Architektur sind eine Reise wert. Und wer sich für die verschiedenen Maler der DDR interessiert, findet hier eine kleine, feine Sammlung.

Kassel, August 2012

Weiterhin bereise man, so wurde es mir empfohlen, ich war selber noch nicht dort, das Museum Schloß Schwerin, wie auch das Staatliche Museum Schwerin: Was vom Namen wie Residual-DDR klingt, erweist sich als ganz und gar wundervolle Kunstsammlung. Allerdings muß man sich diese Reise bis 2024 aufheben, da die Kunstsammlung in Renovierung ist, und so bleibt zunächst mal nur das Schloß und die schöne Stadt. Genannt werden sollte solche Perle, die abseits des Weges liegt, aber doch. Wenn wir schon bei Diversität sind. Und von dort geht es weiter in den hohen Norden – fast schon zu den Wikingern. Haithabu ist nicht weit entfernt.

Wer also Kunst, Kultur und Landesegeschichte von Schleswig und Holstein sich betrachten will, der fahre zum Schloß Gottdorf bei Schleswig. Man kann dort einen ganzen Tag verbringen, schlendern, schauen, stöbern und Kuchen essen. Sogar Moorleichen gibt es zu sehen und immer wieder wechselnde Ausstellungen über die Monate. Und auch die Landschaft in der Umgebung ist ein Kunstwerk für sich: Nordisch by Nature, nordische Landschaft, Land zwischen den zwei Meeren, das Naturschöne in Gestalt. Und von dort aus einmal quer durch Schleswig-Holstein zum Emil-Nolde-Museum in Seebüll. Auch hier wieder ist es dieses Zusammenspiel von Archtektur, Ausstellungsraum, Kunstwerken und dem Garten, welches sich aufs Sehen auswirkt und worin sich zeigt, daß Bilder einen Ort haben. Durch diese Umgebung wird die Betrachtung eines Werkes mitbestimmt. Deshalb eben ist auch die Betrachtung der so schönen Gioconda eine lästige Sache, weil ich im Louvre diese Schönheit nicht für mich allein oder zumindest nur mit wenigen habe, sondern sie mit Hunderten von Leuten teile, die das Gemälde durch ihr Smartphone sich betrachten. Das ändert auch die Qualität eines Bildes hinsichtlich seines Betrachtetwerdens. Während Fragonards frivoles Liebes- und Eifersuchtsgemälde „Der Riegel“ oder Jean-Auguste-Dominique Ingres‘ herrlicher Orientalismus, wie in „Das türkische Bad“ und in „La Grande Odalisque“ oder auch “ Die Badende von Valpincon“ nahezu unbetrachtet an den Wänden hängen. Kein Mensch zu sehen. Alles drängelte vor den Gemälden im großen Saal.

Kassel, August 2012

Ebenso sollte man auf solcher Fahrt diesen Sommer einmal wieder Werner Tübkes Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen bereisen und weil Naumburg nicht weit weg ist, dort im Naumburger Dom die Stifterfiguren und jene hoheitsvoll-wunderbare Uta von Naumburg. Weiblich, ragend, kühl und mit diesem für jene Zeit so besonderen Gesichtsausdruck. Umberto Eco formulierte es auf eine witzige Weise: „Wenn Sie mich fragen, mit welcher Frau in der Geschichte der Kunst ich essen gehen und einen Abend verbringen würde, wäre da zuerst Uta von Naumburg.“ So geht es mir auch, wenn wir denn überhaupt Kunstwerke aufs Kulinarische herunterbrechen wollen.

Es gibt in Deutschland viel wunderbare Kunst zu sehen: Modernes, Spätmodernes, Klassisches oder weit in die Vergangenheit Reichendes. Kassels Documenta scheint mir nach dem, was ich las und in Zeitungen sah, sehr verzichtbar, vor allem im Blick auf die dort dargebotene Agitprop-Kunst. Diese Kunst-Show hat, so scheint es mir, eher etwas von einer gymnasialen Mittelstufe-Projektwoche beflissener Schüler, die auch mal was Politisches ausstellen wollen: ein wenig Ökologie, ein wenig Kolonialismus, auch ein Wandbild muß her, ein wenig Gesellschaft und irgendwie auch Kunst. Verstörend an alledem allenfalls, daß da nichts ist, was wirklich verstört. Langeweile herrscht vielmehr, so scheint es mir: das von Berlin aus nach Kassel schippernde „Citizenship“, es fährt ökologisch und nachhaltig, um voranzukommen, muß man, Prinzip Trettboot, auf Fahrrädern kräftig in die Pedale treten. Bevor ich mich mit diesem Boot befasse gucke ich mir dann doch lieber John Hustons „African Queen“ mit Katharine Hepburn und Humphrey Bogart an. Man kann sowas als Kunst machen, aber wirklich aufregend ist es nicht.

Daß ich solche intervenierende Kunst für trivial halte, brauche ich nicht extra dazuzusagen. Zumal solch erweiterter Kunstbegriff am Ende zu einer Entleerung von Kunst überhaupt führt und sich die Sache auf dem Bastel-Bau-und-Heimwerker-Niveau ansiedelt: jeder kann irgendwie irgendwas und kann es eben doch nicht. Kunst, die neugierig auf andere Kontinente, auf Ökologie oder auf Fragen des Klimawandels machen will, sollte uns etwas mehr zu erzählen haben als solche Flußfahrtgeschichte. Und auch wenn ich mir diese vier in der FAZ gezeigten Bilder von Werken ansehe, bleibe ich skeptisch. Die Textilkollagen der Künstlerin Malgorzata Mirga-Tas aus der Zigeuner- bzw. Roma- und Sinti-Kultur scheinen mir zwar interessant und es ist gut, Blicke auf andere Kulturen und Kontinente zu erhalten. Aber ob ich mir dafür dieses Gesamtspektakel einer fröhlichen Schülerprojektwoche, die 100 Tage währt, dazu noch in einer derart durchschaubaren Weise, ansehen möchte?: „I would prefer not to“. Es ist dies eine Form von Kunstgewerbe, wie sie auf Dritte-Welt-Workshops erbastelt wird. In den 1980er Jahren und davor waren es Frauen in Walle-walle-Gewändern und nach dieser unnachahmlichen Mischung aus Achselschweiß und Patschuli-Moschus duftend. Dann doch lieber die griechische Säulenordnung und um auszurufen: Et in Arcadia ego, da bereise ich lieber gleich vor der Haustür Potstdams Parklandschaft oder das Schloß Glienicke mit dem herrlichen Schinkel-Casino, davor man mit einer Frau Wunder ein Sommerpicknick veranstaltet, um abends den Sonnenuntergang zu schauen. Preußische Parklandschaft gegen Kurhessens Politprop.

Großflächige Werke des indonesischen Künstlerkollektivs „Taring Padi“ im Hallenbad-Ost. Bild: dpa

Und bei jenem Werk der bereits im Beitrag vom 20.6. erwähnten und durch kruden Antisemitismus aufgefallenen Gruppe Taring Padi scheint mir die im Vordergrund stehende Frau sowie ihr Shirt samt der damit korrespondierenden Tasche noch der interessanteste Teil des Bildes zu sein und man sehnt sich nach längst abgelebt geglaubter Farbfeldmalerei. Man merkt bei solchen Werken das gut Gemeinte und ist verstimmt, wie ein altes indonesisches Fischersprichwort lautet. Und das ist nach jenem widerlichen Wandbild auf dem Friedrichsplatz eine freundliche Umschreibung.

Überhaupt das Politische der Documenta und dazu der Gaza-Kitsch von Mohammed Al Hawajri von der Gruppe Eltiqa. Nichtmal ignorieren, wäre eigentlich das Motto, wenn die Sache nicht so ärgerlich und derart symptomatisch wäre. Vor allem aber:ein Titel wie „Guernica Gaza“ ist billiger Agitprop, der Täter zu Opfern verkehrt und zudem eine widerliche Asoziation bzw. eine Parallele zu den Nationalsozialisten und Israel zieht. Klar, Kunst darf das. Aber es ist dies deshalb noch lange keine gelungene Kunst. Eine Verkehrung im übrigen und eine Codierung, wie man sie auch von rechtsextremistischen Antisemiten kennt: hier eben geliefert von arabischen, die in Kassel anscheinend ein Forum bekommen haben. Kunst darf das, klar, aber niemand muß solche Scheiße goutieren und es ist dies deshalb noch lange keine gelungene Kunst, sondern vielmehr das Gegenteil. Eine kitschige und durchschaubare Agenda nämlich ohne doppelten Bode und eine die Sache erweiternde Ebene. Interessant vor allem, daß die Polit-Leute von Ruangrupa bei ihrer eigenen Heimat Indonesien und den Problemen dort, gerade auch in puncto Rassismus in Indonesien, sehr schmalllipig sich verhalten. Marco Stahlhut brachte in der FAZ vom 21. Mai dieses bigotte Verhalten in einem Artikel mit der Überschrift „Warum so viele blinde Flecken? gut auf den Punkt:

„Trotz aller Verstiegenheit im Vokabular über Israel und die Palästinenser haben Ruangrupa bisher kein einziges kritisches Wort über Papua verloren, und schon gar nicht haben sie kritische Künstler aus dieser östlichsten Provinz Indonesiens eingeladen. Dabei ist Papua das größte schwelende Problem des Landes. Man kann sich freilich nicht sicher sein, ob Ruangrupa es überhaupt sehen. Zu einer Vorveranstaltung der Documenta im Goethe-Institut von Jakarta hatten sie zwar eine Fotoschule aus Papua eingeladen, aber deren Repräsentanten waren vergleichsweise hellhäutige Indonesier. Papuas sehen dagegen als ethnische Melanesier mit ihrer dunklen Haut und krausem Haar sehr verschieden vom Rest der Landesbevölkerung aus.

Dabei gäbe es wichtige Künstler aus Papua. Einer von ihnen ist Wensislaus Fatubun, ein Filmemacher und informeller Lehrer, politisch engagiert – alles Bereiche, die Ruangrupa doch so sehr am Herzen liegen.

[…]

Erst im März warnten UN-Vertreter in eindringlichen Worten vor „schockierenden“ Verstößen gegen die Menschenrechte in Papua, einschließlich Tötung von Kindern, Folter, verschwundener Menschen und Massenvertreibungen. Und erst vor wenigen Tagen sollen Papuas in verschiedenen Orten ihrer Heimatinsel für ein Unabhängigkeitsreferendum de­monstriert haben, wie Amnesty International Australien behauptet. Allerdings kann die Authentizität von Videos dieser Demonstrationen nicht verifiziert werden.

Kein Wort zu alldem von Ruangrupa, kein kritisches Wort generell zum beschämenden Umgang mit dunkelhäutigen Menschen in Indonesien, und dies trotz aller von der Gruppe zur Schau getragenen Sensibilität für Rassismus. Offenbar ist der nur dann ein Problem, wenn er sie angeblich selbst betrifft. Im Übrigen auch kein kritisches Wort von Ruangrupa zum chinesischen Völkermord an den muslimischen Uiguren – ein andauerndes Verbrechen, das die kulturelle Auslöschung einer ganzen Ethnie zum Ziel hat. Ebenso kein kritisches Wort zur Militärjunta in Myanmar, die die muslimischen Rohingya und andere ethnische Minderheiten verfolgt – alles Ereignisse, die sich geographisch viel näher an Indonesien abspielen und un­gleich menschenverachtender sind als das Verhalten Israels in den palästinensischen Gebieten.“

Aber für eine in der Sache gegründete Kritik wird der Kritiker am Ende eben doch sich diese documenta anschauen müssen, ob das so ist. Ansonsten eben bleibt es, wie dieser Text auch, zunächst mal eine Mutmaßung, was das Gesamt dieser Ausstellung betrifft. Das feine ist aber: da hier in Berlin bereits die 12. Berlin Biennale ist, brauche ich vermutlich gar nicht so weit zu fahren, um ähnliches, wenn nicht gleiches zu sehen. Oder um es mit Adorno/Horkheimer zu sagen:

„Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit“ (Adorno/Horkheimer: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug)

Freilich kann man diese ganze Documenta-Farce, die sich die Ausstellungsmacher da geleistet haben, auch einfach mit einem Satz von Mutter Kempowski in „Ein Kapitel für sich“ beschreiben: „Bist Du wirklich so dumm, mein Junge?

Kassel, August 2012

Documenta 15: Zwischen arabischem Antisemitismus und „Stürmer-Ästhetik“

Hier hätte heute eigentlich ein anderer Text zur Documenta 2022 stehen sollen, kein wohlwollender zwar, sondern mehr nach dem Motto „Bleib ich halt zu Hause“ – ich bringe die Glosse dann morgen oder übermorgen. Aber was ich heute früh im Internet fand und was auf der Documenta 15 von den Ausstellungsmachern, dem indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa, als Bild und als „Kunstwerk“ gezeigt wird, das verwundert doch sehr. Um es in der höflichsten Formulierung zu fassen.

„Das Künstlerkollektiv, das für das Bild verantwortlich zeichnet, nennt sich „Taring Padi“. Zu sehen ist es am Friedrichsplatz“, so Thorsten Sommer auf Twitter, wo er diesen Fund veröffentlichte. Ein Twitterer mit gerade einmal 75 Followern und nicht mit der Reichweite von Deutschlandfunk Kultur und dem Sendeplatz eines Tobi Müller, genannt auch Schweige-Müller. Schauen wir mal, ob Kulturzeit heute abend dazu etwas bringen wird und ob es in den Sendungen von Deutschlandfunk auftaucht.

Sommer schreibt weiterhin auf Twitter:

„Der Jude“ als zoomorphes Wesen mit verzerrter Physiognomie (blutunterlaufene Augen, spitze Raffzähne, krumme Nase) samt Kippot, Hut und Schläfenlocken. Auf dem Hut prangt eine „SS“ Rune, die „den Juden“ als Nazi und somit als das personifizierte Böse charakterisiert“

Daß solche Bilder in einer Kunstausstellung, die zudem mit öffentlichen Geldern gefördert wird, in einem Land, in dem der Holocaust stattgefunden hat, gezeigt werden, ist nicht mehr nur befremdlich zu nennen – von der billigen Kindergarten-Ästhetik sowie einer Polit-Ästhetik, die bereits vor 55 Jahren schon dumm zu nennen gehörig untertrieben ist, einmal ganz abgesehen. Solche „Kunst“ wie die von Taring Padi disqualifiziert sich aber nicht etwa nur wegen solcher Inhalte, wie man sie aus dem „Stürmer“ oder in anderen NS-Karikaturen kennt, sondern bereits von ihrer Form hier. „Infantile Ästhetik“, wie Herwig Finkeldey auf Facebook schreibt, der diesen Fund ebenfalls verbreitete. Auch wenn Kunstförderer nicht über Bilder und Inhalte zu bestimmen haben, bedeutet dies nicht, daß ein Kulturminister solche Bilder unkommentiert lassen müßte. Daß solche Bilder nicht einfach nur schlechte Kunst, sondern gar keine Kunst sind, weil sie ästhetisch bereits derart mißlungen und hinter ihrer Zeit zurückgeblieben sind, ist das eine. Hier können Debatten der Kunstkritik und auch der Ästhetik einsetzen: die Frage nach den Maßstäben und nach den Möglichkeiten von Werken heute. Wenn Adorno in „Vers une musique informelle“ schreibt „Die Gestalt aller künstlerischen Utopie heute ist: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind“, so trifft das von der Materialbeschaffenheit, von der Art der Ausführung und Darstellung des Werkes, vom Sujet bis zum Stil und zu den Details, mithin der gesamten Auseinandersetzung des Künstlers mit seinem Material, auf dieses Machwerk ganz sicher nicht zu.

Und das gilt vermutlich heute überhaupt für einen Großteil der Kunst, die fern solcher Utopie eines Anderen ist: insbesondere jene eher an die Staatskunst der DDR gemahnenden Werke aus Wokistan, wenn da sogenannte Künstler artgerecht ihre Stücke für die Findungskommission schreiben und brav Themenliste abarbeiten.

Ich bin im Blick auf die documenta dafür, daß alle Kunst Kunst bleiben muß. Aber solcher Agitprop, der Judenhaß zum Thema hat, indem jüdische Stereotype gezeichnet werden, und solches Hetzprogramm als Kunst zu maskieren: das geht nicht, das ist nur noch bedingt von der Kunstfreiheit gedeckt. Zumindest muß solcher Judenhaß laut und deutlich zum Thema gemacht werden. Zumal in diesem Machwerk eben kein irgendwie auszumachender doppelter Boden oder ein Spiel oder eine Art von Kippfigur eingebaut ist. Dies ist ganz einfach und deutlich gesagt „Stürmer“-Ästhetik, die in bestimmten Kreisen anscheinend hoffähig geworden ist.

Was sagen die üblichen Medien-Aktivsiten dazu? Haben wir schon eine Kolumne von Margarete Stokowski, haben wir was von Teresa Bücker oder von Kübra Gümüsay gehört? Oder von Annika Brockschmidt, die auf Twitter immer mal wieder gerne und aktivistisch in moralisch hochfahrendem Ton sich gebärdet? Werden wir etwas von jener Allzeit-bereit-immer-bereit-Aktivisten von Diez bis Sixtus im dauernden Kampf für das Gute und das politisch Korrekte, die beim kleinsten Anlaß reagieren und immer woke und wachsam sind, noch zu hören bekommen und ein „Wir-sind-mehr“ gegen Antisemitismus und antijüdischen Rassismus erleben? Was wäre gewesen und was gäbe es für ein Hallo, wenn ein eher konservativer Künstler sich solches geleistet hätte? Sagen wir Georg Baselitz oder Neo Rauch? Wie war das eigentlich nochmal mit dem Leipziger Maler Axel Krause? Da gab es erhebliche Skandalisierungen bei deutlich geringerer Verfehlung. Würde man, wenn Matthias Matussek ein Bildender Künstler wäre und ein Werk mit dem Titel „The Muslime as a massacre man“ ausstellen wollte, auf einer Leistungsschau der Kunst auch derart darüber hinweggleiten? Vermutlich nicht, vermutlich wäre dieses Werk nicht einmal zugelassen – und das nicht etwa nur wegen mangelnder formaler Qualität.

Während es bei Uwe Tellkamp eine Woge der Empörung gab, habe ich leider den Verdacht, daß im Falle dieses Bildes und noch eniger anderer Werke von den üblichen Verdächtigen eine Woge des Schweigens samt dessen Deckmantel über solche antisemtischen Machwerke hinwegsäuselt: Was wird es im Blick auf solche Inszenierungen geben, die Ruangrupa, die Ausrichter der dieser documenta 15, zu verantworten haben: Etwa Taring Padis Wandbild oder auch (ich komme diese Woche darauf noch zu sprechen) solchen Gaza-Kitsch wie ihn Mohammed Al Hawajri von der Gruppe Eltiqa produziert: mit einem Titel wie „Guernica Gaza“? Darüber wird zu sprechen sein. Und dieses Thema Antisemitismus wird, wenn Ruangrupa Debatte und Dikussion will, immer wieder auf den Tisch zu bringen sein in dem sogenannten „Lumbung“, den Ruangrupa als kommunikative Öffnung und als Gesprächsraum eröffnen will. Und solche Kritik an solchen Machwerken wie von Taring Padi und Mohammed Al Hawajri läßt sich auch nicht mit der Phrase „antislamisch“ erledigen, sondern wir haben das binnenästhetisch auch im Blick auf die sogenannte engagierte Kunst zu debattieren – hier täte ein Blick in Adornos in den „Noten zur Literatur“ zu findenden Essay „Engagement“ gut – und wir haben das zugleich über die Reichweite und das, was Kunst darf zu debattieren.

Kunst kann und darf alles, so sagt man. Sie darf auch Kritik an Ländern und Politikern üben, vor allem, wenn es im Werk selbst gut gemacht ist. Aber es sagt niemand, daß das, was Kunst darf, nicht auch kritisiert werden darf und unkommentiert gelassen werden muß – vor allem im Blick aufs ästhetische Gemachtsein und besonders dann, wenn es in solch plumper Art und Weise daherkommt wie auf der documenta 15. Auch durch Kunst kaschierter Antisemitismus bleibt Antisemitismus. „Stürmer“-Karikaturen wären ja auch nicht deshalb gelungene Kunst, weil es sich um Zeichnungen von Ivo Saliger handelt. Auch poltisch muß es nicht ukommentiert gelassen werden. „Naivität“ und „Antisemitismus“ sollten nicht als „Klugheit“ oder „Gewitztheit“ bezeichnet werden, sondern als das, was sie sind.

Und solche Freiheit der Kunst bedeutet ebensowenig, daß man über bestimmte Werke nicht debattieren und zudem und vor allem die Frage stellen dürfe, ob solches überhaupt Kunst sei und nicht vielmehr wegen ästhetischer Minderleistung niemals hätte ausgewählt werden dürfen. Es hat Gründe, warum es auch in den Kunstkursen an Schulen Fünfen und Vieren gibt. Nicht jedes Objekt, das sich selbst Kunstwerk nennt, ist ein Kunstwerk. Und ein Kunstwerk ist nicht deshalb ein Kunstwerk, weil es in einer Galerie oder einer der wichtigsten Kunstschauen Europas hängt. Kunstwerke bedürfen der Institutionen, aber sie sind nicht durch Institutionen. Freilich hätte man sich gewünscht, daß eine solche Debatte über den Status des Werkes – gewissermaßden die immerwährende Frage der Ästhetik nach „der Verklärung des Gewöhnlichen“ und was ein Kunstwerk zu einem Kunstwerk macht – nicht an derartig dummen und einfältigen Objekten geführt wird.

Andererseits, denke ich, sollten wir es nicht machen wie die Cancel Culturer, jene Woko Haram aus Identitätshausen. Eine kluge Form von Protest und Gegenaktion muß dafür her: Nicht-Kunst nicht mit Nicht-Kunst, sondern mit Kunst zu begegnen.

Nachtrag, heute Mittag:

Hanno Hauenstein zu jenem Twitter-Text von Thorsten Sommer


Hanno Hauenstein ist Ressortleiter im Kulturbuch der Wochenend-Ausgabe der Berliner Zeitung. Wenn einer also benennt, was da auf einem Bild zu sehen ist, reproduziert er damit das, was da zu sehen ist. Nicht jene, die solche antisemitischen Karikaturen produzieren, werden von Hanno Hauenstein auf Twitter als erstes Mal scharf kritisiert, sondern jener Mensch, der auf Antisemitismus hinweist, wird von Hauenstein zur Ordnung gerufen und als fremdenfeindlich diskreditiert. Was kommt als nächstes: Kritiker des NSU reproduzieren nur die Denke des NSU? Putinkritiker sind in Wahrheit Apologeten Putins, weil sie wiedergeben, was Putin sagt?

Bei jeder falschen Klotür und bei jedem unbedarften Wort machen diese Leute Gewese und Geschiß. Bei arabischem Antisemitismus aber schweigen oder beschwichtigen sie und machen, labeln die, die darauf hinweisen als islamophob. Es ist zum Kotzen.

Im Zeitfenster: Kunst im Berghain

„Oh, oh!“ so ächzt es und fragt es nachts vor der Pforte der heiligen Halle im Chor der Wartenden: muß der Gast in der Schlange draußen bleiben, kommt der Gast hinein? Zur kollektiven Ekstase, zu Tanz und Vergnügen, zu Schweiß und Ausschweif. Menschen in der Menge und das Berghain – ein Arkanum, ein Abaton, ein Adyton. Ein Bezirk, wo man nicht so ohne weiteres und ohne Gefahr eindringt – es sei denn, man kommt hinein und der Zerberus namens Türsteher tut’s Tor auf. Ein Gerücht, ein Mythos, was auch immer und immer sich da verbirgt: man wird es nur erfahren, wenn man dort getanzt oder einem Konzert gelauscht hat – wobei Lauschen nicht ganz das richtige Wort ist, wenn Sunn O))) dort spielen. Aber Mythen sind auch nur solange solche, sofern man an sie glaubt und geduldig wartet. Ich habe mich den Klubs meist wie Odysseus genähert: ich fuhr vorbei.

Nun aber gibt es wegen Pandemie und Ansteckung über Tröpfchen keinen Danz op de Deel, keinen Drink drinken in der Panorama-Bar und damit auch keinen Tanz im ehemaligen Heizkraftwerk, das des Ostens Arbeiterviertel einstemals warm hielt. Das Berghain hat sich fürs Überleben insofern eine Idee gesucht, nämlich die bildende Kunst – bildende Kunst dient dabei freilich als Gattungsbezeichnung in einem weiten Sinne genommen: denn im Berghain zu sehen sind Installationen, Photographien, Malerei, Plastiken, Videos, Environments, ein Architekturmodelle verschiedener prominenter Gebäude dieser Welt und ein Musik-Loop-Video. Und dazu der Ort selbst, der sich ausstellt.

Die meisten Werke sind in den letzten Monaten der Corona-Pandemie entstanden, und zwar gewirkt von 117 zeitgenössischen Künstlern, die in Berlin leben und arbeiten: eine Gruppenausstellung, die unter dem Titel „Studio Berlin“ läuft. Es gibt also einen Bezug zum Ort, was ich als Leitidee interessant finde, wenngleich ich am Ende die Umsetzung nur mäßig überzeugend fand. Denn in der Regel hat der Ort, an dem ein Künstler lange oder kurze Zeit lebt, erheblichen Einfluss auf sein Schaffen; gerade, wenn es um die Klub-Kultur geht, wenn Kunst, Tanzen, Drogen, Mädchen, Boys, wildes, tanzaffines oder musiklauschendes Leben das Schaffen der mal mehr, mal minder begabten Genies auf irgendeine Weise beeinflussen und der Bezug der Künstler zu solchen Äußerungen auch Thema der Kunst wird, weil jene Wesen dort eben ihre Nächte zuweilen verbringen. Es schreiben die Macher der Ausstellung:

„In Berlin gibt es europaweit die größte Dichte an Ateliers und Kunstwerkstätten – Künstler_innen aus aller Welt ziehen an diesen Ort, um von hier aus arbeiten zu können. Im Frühjahr 2020 trafen drastische Veränderungen ein: Unter anderem wurden geplante Ausstellungen und Kunstmessen abgesagt oder verschoben, Galerien und Museen geschlossen, größere Projektvorhaben konnten nicht realisiert werden. Das Nachtleben in Berlin wurde ebenso gänzlich stillgelegt. Aus dieser Situation heraus fanden sich Boros und das Berghain zusammen. Das Ausstellungsprojekt dient vor allem dazu, aktuelle Strömungen und Veränderungen in Kunst und Gesellschaft widerzuspiegeln und Berliner Künstler_innen einen Präsentationsort für ihr künstlerisches Schaffen zu geben.“

Das klingt zunächst wie eine gute Idee, einen Ort der Nacht zu nutzen. Man kauft für 20 Euro ein Zeitfensterticket – für Oktober bereits ausgebucht – und wird in einer kleinen Gruppe von 16 Menschen durch die Hallen geführt. White Cube statt Darkroom? Nicht ganz: denn schön grau, düster und herrlich dunkel bleibt es im Inneren des monolithisch in der Stadtlandschaft liegenden Klotzes am Wriezener Bahnhof, nahe dem Ostbahnhof. Eben jener herrliche Industriecharme. „Morgen ist die Frage“, so ragt da ein Installationsplakat des Künstlers Rirkrit Tiravanija überm Eingang hoch am Mauerwerk unterm Dach. Wer auf den Eingang zusteuert, kann es nicht übersehen.

Schon der Weg dorthin durch die kleine Straße ist ein Ereignis für sich: neben heruntergekommenen, aber auch renovierten Plattenbauten liegen Brachen, teils mit Müll gefüllt, teils an den Zäunen zu den Brachen hin abgelegt: Matratzen, Tüten, Plastik, Kleidung, an der Straße parken die Autos, Kleingewerbe, Obdachlose, die auf dem Gehsteig campen und mir zunicken, als ich beinahe über ihre Schuhe stolpere, eine Unterkunft für Flüchtlinge, auf deren tristem Hof Flüchtlingskinder spielen, lachen und in einer fremden Sprache reden, und ein Gewerbegebiet mit Hellweg-Baumarkt in Standardbauweise und etwas weiter ab ein Metro-Markt, es stoßen Welten zusammen, die freilich eine Bezeichnung eint: Nicht-Orte, um es mit dem Ethnologen Marc Augé zu schreiben. Die Nebenstraße grenzt an die Straße der Pariser Kommune und geht man die ein paar Schritte weiter nach Norden, so gelangt man zum Franz-Mehring-Platz und dem Gebäude des Neuen Deutschlands, einer Bersarin-Gedenkplakette, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Karl-Dietz-Verlag, wo man in einer passablen Fassung neu wieder die alte MEW-Ausgabe erstehen kann, vor allem aber mit besserem Papier. Wenngleich das Umfeld nicht Thema einer Kunstkritik ist, gehört es gleichwohl fürs Betrachten und das Denken über das Betrachtete mit dazu, sozusagen als Überraschungspaket, das man, bei vorherigen oder nachträglichen Schlendern hinzu buchen kann. Es sei ein Rundgang hier unbedingt empfohlen, wenn Du, Wanderer, von außerhalb einreist, etwa von so wundervoll friedlichen Orten wie St. Eglitz.

Im Inneren des Berghains ist das Photographieren und jede Art von Bildaufzeichnung, wie auch sonst dort bei den Tanznächten, verboten. Man kann also die Objekte und Installationen fürs Familienalbum oder fürs Internet nicht ablichten. Das ist prinzipiell eine gute Idee, lebt doch einerseits der Ort selbst wie auch die Kunst von der Einmaligkeit einer Präsenz, eines Augenblicks, der nicht reproduzierbar ist, sondern einzig im Erinnern, Erzählen oder dem Schreiben darüber seinen Ort hat. Vor allem aber im Erleben selbst. Ein letzter Rest von Magie. Das Problem bei solcher Einmaligkeit des Augenblicks vor Kunst andererseits: für eine solche Intensität wäre ein gehöriges Maß an Zeit zum Verweilen nötig, auch einmal zehn Minuten vor einem Objekt zu stehen. Doch diese Zeit ist leider bei dieser geführten Rundtour nicht gegeben, denn die Führerin, die sich als Kunstvermittlerin vorstellte, drängt nach ihren Erläuterungen weiter. Wer die Kunst will und sich auf den Ort zudem noch einlassen möchte, muß dies im Sauseschritt der Zeit tun, und leider nicht einmal mit den Siebenmeilenstiefeln des Begriffs, sondern nur vermittels des Zeitfensters. Viel Zeit bleibt vor den Objekten nicht. Dazu später mehr.

Was gibt es zu sehen? Man kommt in den Eingangsbereich, dort im Wartebereich, bevor es in die Ausstellung geht, sieht man ein Bild von Norbert Bisky, es gehört, so vermute ich, zur Dauerausstellung. Da fliegt ein Mann durch den Raum, hoch oben gehängt, dass man den Kopf heben muß, zerstückelt der Mann, da auch das Gemälde fragmentiert, mithin auseinandergeschnitten ist – in satten, grellen und irgendwie auch wieder blassen Farben der DDR-Wandgemälde, so wie Bisky dies gerne malt: oft zarte oder muskelbepackte Jünglinge. Das sieht schön aus, das ist eine gute Idee für einen solchen Klub. Auch Teile sind da zu sehen, wie Weltraumschrott oder Raketen, die im Raum schwirren. Aber niemand der wartenden Besucher scheint so recht auf dieses Werk zu achten, es geht vielleicht als Deko unter, scheint mir aber, selbst als Nichtänzer und Nicht-in-Klubs-Geher, doch passend für den Ort, und zwar in dem Sinne, daß wir in einem Tanzklub uns zerstreuen, schweben und bersten: ein faszinierendes Bild, das aufs Kommende deutet und dem Besucher Versprechen macht – zumindest in effigie. Denn Tanzen tun ja nicht die Bilder, sondern nur wir selbst, wenn wir es wollen. Die entsprechenden Sätze zum Tanzen von Nietzsche und dem glatten Eis und von Marx und den Verhältnissen lasse ich beiseite. Es wäre dies, zu der Kunst, ein Extrastrang, wo wir Hedonismus, Räume, Räusche, Bewegung, Revolte und Denken in ein Gleiten bringen könnten. Irgendwo anders beim Eingang hängt noch ein Schriftzug „Love“. Warum auch immer.

Wenn die Besucher die erste Etappe der Ausstellung betreten, von der Führerin ins Reich der Kunst geleitet und mit Ansagen und Regeln versehen, dann stoßen wir Betrachter auf eine hoch und wieder hinunter und zu den Seiten und wieder nach oben schwingenden Boje. Ausladend und ein wenig gefährlich auch schwebt, schwingt und tanzt sie über den Besuchern. Es handelt sich um eine Installation Julius von Bismarcks. Die Boje ist per Funk und Sensor synchronisiert mit einer anderen, aber ähnlichen Boje, die irgendwo an der Atlantikküste verankert und vom Meer bewegt ist. So tanzt die eine Boje in ihrem Wasser-Element und die andere synchron dazu in einem luftigen Raum, in einem anderen Element. Ein schönes Bild zum Auftakt. Julius von Bismarck war Meisterschüler bei Olafur Eliasson am Institut für Raumexperimente der Universität der Künste und diesen Raum im Treppenhaus nun bespielt Bismarck. Man möchte seinen Blick gar nicht abwenden, weil ich mir gerade den Atlantik in der Bretagne vorstelle. Die Boje, so sagt die Führerin, kann Ausschläge von bis zu sechs Metern ausführen, aber alles sei mehrfach abgesichert. Gut daß Kunst keine Gefahr bereitet, denke ich mir. Aber was sollten auch die Versicherungen und die Veranstalter sagen und erst der Künstler, wenn ein Besucher von der Kunst erschlagen würde? Im Wortsinne und direkt ohne Metaphernumweg.

Allüberall im Berghain (bis auf den Darkroom), in der Panorama-Bar und ebenso in der Unisex-Toilette ist Kunst zu sehen: Cyprien Galliard hat auf dem Edelstahl der Klo-Verkleidung feine Gravuren angebracht und insofern mit dem bei seiner Tanz-Anwesenheit damals, als noch getanzt wurde, dort eh schon von ihm eingeritzten Botschaften nun eine kunstvolle Ritzung hinzugefügt, und zwar die Reproduktion eines Gemäldes en miniature, einen Ausschnitt aus Pieter Bruegels „Das Schlaraffenland“, in Englisch nett mehrdeutig betitelt „The Land of Cockaigne“. Irgendwo draußen dann Rosemarie Trockels aufblasbarer Penis ist nett, aber so originell nun auch wieder nicht, und so geht das leider bei einigen der Kunstwerke. Der Betrachter schaut und schlendert weiter. Von dem Photographen und Berghain-Türsteher Sven Marquard gibt es eine Video-Arbeit mit Blumen. Die würde ich mir gerne genauer ansehen, wie auch die Photographien der Schwarzen von einem anderen Künstler. Aber es geht schon wieder weiter zum nächsten Objekt.

Die Führerin erklärt, daß es den Machern vor allem darauf ankäme, Diversität in bezug auf Geschlecht und Herkunft zu zeigen und Werke von solchen Menschen auszustellen, die sonst nicht zu Wort kommen. Ich denke mir bei ihren Worten, dann müßte man wohl eher die Kunstgewerbesachen von Menschen, die liebevoll Zwerge bemalen, oder die Malerei der Arbeiter hier zeigen. Aber der Bitterfelder Weg ist vorbei. Leider, denke ich mir manchmal. Hier, so die Führerin vor einem Bild, wolle die Künstler_in eine nichtbinäre Sicht auf Sexualität zeigen und bleibt vor einem Bild stehen. Die binärsexuelle Gruppe nickt bedeutungsvoll. Ich habe hier eher den Eindruck, daß Parolen die Kunst ersetzt haben und ein Setting von Form- und Zugangsvorgaben an die Stelle der Qualität getreten ist. Malste queer, biste wer. Aber seiʼs drum: es paßt immerhin zum Ort und da der Ort diesen Anspruch vertritt, ist es zumindest konsequent – wobei man ja im Zeitalter des Quengelns als Kritik immer noch einen Zacken schärfer „Dekonstruieren“ und bekriteln kann, daß dies ja nur eine Maskerade sei usw. usw usf. Ein_e Hans_*In Moser findet sich immer. Jede Epoche hat ihre Macken, Parolen und ihr Marketing. Das wird sich ganz divers ändern, morgen die nächste Sau im Dorf. Auf dem Bild erkenne ich vom Diversen zwar nichts, aber wenn es die Führerin so sagt, wird es so sein. Hauptsache die Parole und die Einordnung stimmen.

Viele der Werke habe ich nach dem Rundgang wieder vergessen oder sie sind einfach nur banal. Sie blieben nicht haften. Das ganz und gar große Manko ist, daß man als Besucher gerade einmal 1 ½ Stunden Zeit hat. Im großen Heizkesselhaus etwa darf man sich nicht frei bewegen, sie habe das einmal versucht, so die Kunstvermittlerin, den Leuten 15 Minuten Freizeit zu lassen, aber das Experiment sei nach hinten losgegangen und die Leute waren nicht wiederzufinden – was schon aus dem Grunde nicht geht, weil zur selben Zeit mindestens vier andere Gruppen durch die Hallen geführt werden. Pflicht ist es also bei der Gruppe zu bleiben. Sich in ein Werk zu vertiefen, ist dabei ganz und gar unmöglich. Das Kollektiv oder genauer gesagt die Kunstvermittlerin gibt den Takt. Offene Kunst trifft auf ein rigides Zeitregime. Die Theorie-Heroen der sogenannten „Postmoderne“, die man in solchen Fällen von Diversität, Offenheit und rhizomartigem Verwobensein des Unterschiedlichen als Andersheit des Anderen, das leider doch auch irgendwie wieder in der Betonung des Unterschiedes dann gleich anmutet, gerne anruft, hätten bei der strengen Durchführung des Ganges durch Kunst ihre helle Kritikfreude. Von der Kontroll- zur Disziplinargesellschaft: alle in der Gruppe halten sich brav an die strengen Ansagen der Führerin – so auch ich. Lediglich ein deutlich älteres Ehepaar mit Wampe weicht ein paarmal ab, wird aber qua Kontrolle wieder zur Ordnung der Dinge gerufen und reiht sich ein. Seltsamer performativer Widerspruch: Der Offenheit der Kunst ist das Gehetztsein des Besuchers vorm Bild gegenübergestellt. Immerhin heißt es auf der Homepage des Veranstalters: „Wer sich die Ausstellung ohne einen/eine Kunstvermittler_in anschauen möchte, hat die Möglichkeit das Haus am Samstag und Sonntag zu besuchen.“ Das sollte man auch unbedingt tun, wenn man sich auf die Werke länger einlassen möchte.

Denn überhaupt, und das ist vielleicht der Sinn dieser Ausstellung und darin liegt das Interessante, erkunden wir hier einen besonderen Raum, von der Höhe der Haupthalle her eine Kathedrale fast, mit seinen Säulen und den Wänden in grauem Beton und den umgedrehten Trichtern an der Decke, die in den Raum ragen und wie riesige Saugvorrichtungen wirken. Und diese Raumbegehung und dabei sich von den Eindrücken treibenzulassen, wenn denn die Führerin nicht wäre, scheint mir das eigentliche Ziel. Eine Mischung aus Höhle, Hölle und Kathedrale. Und eben der Kunst dazu, so daß es ein Gleiten und Wandern der Blicke vom Ganzen zum Detail und wieder zu einzelnen Werken im Raum ist.

Vor allem aber kann man einen Ort begehen, der sonst nur schwer zugänglich ist, und da sind wir wieder bei der Raumkunst und bei Bismarcks Boje und auch bei einigen anderen Objekten, die bewußt den Raum bespielen, so etwa Jimmy Robert mit seinen auf Papier gebrachten menschlichen Körpern, die zerschnitten, zerknittert und auseinandergefaltet auf dem Boden auf zwei Podesten ausgebracht wurden: Tänzer, die nicht mehr tanzen, sondern dekonstruiert liegen, wenngleich man ihre wilden Bewegungen noch ahnen kann. Doch in der Weite des Saals verlieren sie sich. Der Raum und der Ort sind am Ende die eigentlichen Protagonisten und die Kunstwerke fügen sich in diesen Dark-Cube. Eine Art Festspielhaus mit Objekten, die man in Intensität aufsaugt oder liegenläßt.

Ein gutes Moment hat dieses Zeitregime aber: es zeigt sich darin, was einem von der Kunst noch im Gedächtnis haftet und was nicht, was in den Orkus durchrauscht und vergessen wird. Aber auch das ist identitätspolitisch insofern schlecht, weil auf diese Weise der Begrenzung durchs Erinnern das Bekannte und Genehme haften bleibt und das Neue, das Andere, das, was nicht sofort eingängig ist, im Vergessen untergeht. Als Idee aber ist dieses Kunst-im-Berghain-Ding gut. Die Verwertung jedoch und eben auch die Notwendigkeit, Geld einnehmen zu müssen, um diesen Ort weiter zu unterhalten, zwingen zum Zeit-Regime. Verständlich, aber als Besucher fühle ich mich gehetzt. Gerne hätte ich vor Wolfgang Tillmans Musik-Bilder-Loop verweilt: eine tranceartige Clubmusik spielt da kurz vorm Ausgang, ein wenig wehmütig, ein wenig traurig, klingt dieser Musikfluß; in seinem Gleiten und Rauschen korrespondiert dieser Abschied mit der Boje von Bismarck zum Anfang, ein wenig schwingt und schäumt die Musik wie ein Regensonntag and some of these days, dazu werden auf einem Bildschirm Photographien von Tillmans gezeigt, eine digitale Diashow sozusagen, ein Loop: auch Bilder vom Meer, von Objekten, von einer weißen Feinrippunterhose, von Ferne und Sehnsucht und all das schärft vielleicht das Bewußtsein dafür, daß schöne Dinge flüchtig sind. Vielleicht kein besonders originelles Kunstwerk, aber doch eines das zum Verweilen und Nachdenken einlädt – wenn man denn nicht die Kathedrale wieder verlassen müßte, weil sich ein Zeitfenster schließt. Katholische Kirchen sind da großzügiger. Aber die müssen sich eben auch nicht über Eintritt finanzieren.

Pjotr Pawlenskis Aktionskunst

Diese Aktionskunst ist auf keine Region und kein Land beschränkt. Das zumindest zeigt der in den Westen immigrierte Künstler Pjotr Pawlenski. Nun auch Frankreich, der Ort seines Exils.

Es schreibt die „Welt“:

„Der nach Frankreich geflohene russische Künstler Pjotr Pawlenski hat in seinem Gastland mit einer umstrittenen Aktion für Aufsehen gesorgt: In Paris legte er an einer Zweigstelle der französischen Zentralbank Feuer. Am Montag wurde er wegen Sachbeschädigung verhaftet.

Das Feuer habe sich in der Filiale in der Nähe des Bastille-Platzes ausgebreitet, sie bleibe deshalb vorerst geschlossen, teilte die Nationalbank Banque de France mit.
(…)
Wie am Mittwoch aus Justizkreisen bekannt wurde, beschuldigt ein Untersuchungsrichter den Russen und seine Lebensgefährtin Oksana Schalygina der ‚Zerstörung von Eigentum‘ auf ‚gefährliche Weise‘.“

Laut Wikipedia-Eintrag lieferten die französischen Behörden Pawlenski in eine Psychiatrie ein. Nicht anders als in Rußland also. Böse Zungen sagen, auch der Westen psychiatrisiert Künstler. Denn wenn es ans Eigentum geht, versteht die bürgerliche Gesellschaft keinen Spaß und es ist mit der Freiheit der Kunst schnell vorbei. Insbesondere bei ihren Banken. Nun muß man sehen, ob es Pjotr Pawlenski von der Justiz her im Westen schlechter oder eben besser ergeht als in Rußland. Und es wäre auch interessant zu schauen, welche Maßstäbe für Kunst die Feuilletonisten anlegen. Gilt die Freiheit der Kunst immer nur dort, wo man gerne selber zum Kritisieren anhebt? Im Reiche Putins sich für die Freiheit der Kunst ins Zeug legen, aber im Westen die Sache aussitzen und beredt schweigen? Wir werden sehen.

Konsequent zumindest ist Pjotr Pawlenski: so unterschiedlich die gesellschaftlichen Systeme auch sein mögen und so sehr sich diese Organisationen ähneln – Pawlenskis radikale Kunst macht weder vor dem KGB noch vor der Nationalbank halt. Voller Einsatz mit dem Körper und mit seiner Person. Schauen wir, wie lange die Verständnisvollen von damals weiterhin verständnisvoll dreinblicken. Denn nun ist es nicht mehr Rußland, sondern der Westen ist der Ort, wo Pawlensik seine Kunst austrägt.

Im übrigen halten uns solche radikalen Formen Bildender Kunst wieder dazu an, über das Wesen von Kunst nachzudenken. Was ist für die Gegenwart eine Bildende Kunst, die mehr will als bloß zu gefallen? Was heißt es radikal zu agieren, was ist avanciert? Eine Kunst, die die Grenze des Gefälligen überschreitet. Oder aber entschläft die Bildende Kunst immer ein Stückchen weiter? Entweder in den Galerien und Museen, wo saturiert die schönen Bilder hängen, oder aber in berechenbaren, kalkulierten Provokationen bzw. in einer politisch unmittelbaren und auch irgendwie eingreifenden, aber sich zunehmend in politischer Langeweile totlaufenden Variante wie das Zentrum für Politische Schönheit, teils moralinsauer, teils auf Probleme uns stoßend, es vorführt. Kunst also irgendwas zwischen Dadaismus, Wiener Aktionismus und Josef Beuys? Jeder Avantgarde hat das Zeug dazu, sich totzulaufen und im Strom der Zeit zu verglühen. Noch die größte Provokation.

Pjotr Pawlenskis Aktionskunst ist radikal. Und es ist gut, daß sie es auch im Westen bleibt. Andererseits ist eben auch nicht alles vom Kunstbegriff gedeckt. Man kann die Brechtsche Frage umkehren: Was ist eine größere Kunst – eine Bank zu gründen oder sie zu überfallen?

18.10.1977 – Gerhard Richters Stammheim-Zyklus

Stuttgart-Stammheim, die Nacht vom 17.10.1977 auf den 18.10. Die Geiseln in der „Landshut“ sind glücklich vom GSG 9 befreit. Über Radio dringt vom Deutschlandfunk die Nachricht schnell auch zu den Gefangenen im legendären 7. Stock des Hochsicherheitstrakts. Im Plattenspieler von Andreas Baader lag die versteckte Waffe. In der Nacht zum 18. Oktobers brachten sich Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in ihren Zellen um ihr Leben. Oder sie wurden um selbiges gebracht – je nachdem welcher mythologischen Erzählung wir zu folgen gewillt sind. Irmgard Möller überlebte. Am 19. Oktober 1977 fand man in Mülhausen im Kofferraum eines Audi 100 die Leiche des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, vormals im Jahre 1943 Sachbearbeiter im Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren, zuständig unter anderem für die Arisierung der tschechischen Wirtschaft und die Beschaffung von Zwangsarbeitern für das Deutsche Reich, später Leiter des Präsidialbüros selbiger Institution und persönlicher Sekretär des Präsidenten Bernhard Adolf.

Begeben wir uns also mitten hinein zu den Dingen: Die Gemälde Gerhard Richters, sein RAF-Zyklus, gemalt 11 Jahre nach den Ereignissen, zwischen März und November 1988. (Komplett zu sehen hier, auf der Homepage des Malers.) Und wieder einmal ist es, wie schon in den Bildern vor diesem Zyklus, der „Kapitalistische Realismus“, der sich bei Richter visualisiert. Aber diesmal in einer ganz anderen Weise realistischer Malkunst. In seinen früheren Phasen arbeitete Richter analog zur Werbung. Diese stellt ihre Objekte aus, preist sie in ihrem Warencharakter, wie auch in ihrer Dinghaftigkeit als eine Art freigestellten Fetisch an. Werbung preßt Dinge, die in keinem logischen oder lebensweltlichen Zusammenhang stehen, in einen konstruierten Kontext oder aber sie stellt, im Sinne einer Ästhetik des Objekts, das Produkt frei, um es in seiner Besonderheit erstrahlen zu lassen. Solche simplen Ausstellungsstücke zeigt uns auch Richter. Man denke an den Stuhl, den Kronleuchter, das dahinradende Motorboot von 1965 oder die zwei rasenden Fiat-Automobile („Zwei Fiat“ 1964), die Richter aus einer Sarotti-Mohr-Werbung herausschnitt und verfremdete.

Gerhard Richter
Zwei Fiat, 1964
Museum Frieder Burda, Baden-Baden
© Gerhard Richter, Köln 2011

Dieses „Verfahren“ Richters, Szenen, Objekte oder Menschen aus ihrem Kontext zu isolieren, ist nicht dem Zufall geschuldet, auch wenn diese Sujets wie zufällig ausgewählt erscheinen, gefunden in Illustrierten als Photographien  – eben jene visualisierten und nun aber gemalten Object trouvé. Und hier liegt zugleich Richters Kritik an Duchamp, wenn er uns Kronleuchter, Stuhl oder Klorolle in fast photorealistischer Manier malt: es gibt noch Bilder; man kann malen, trotz aller Abschieds- und Untergangsgesängen auf die Kunst der Moderne. Das Ende der Kunst ist nicht das Ende, wie schon Ad Reinhardt, der geniale Maler schwarzer Bildflächen, dichte. Doch dieser so genannte Realismus ist zugleich ein Trug: in der Malweise verschliert, die Photographie schwimmt, verschwimmt, löst sich.

Richter ist dabei in seiner Arbeitsweise skrupulös. Auch nach der Fertigstellung prüfte er seine Bilder, überarbeitete sie, wenn ihm daran etwas nicht gefiel und etwas unstimmig war; oder er übermalte die Bilder zu etwas anderem. Diese Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern ging so weit, daß er einzelne Werke vernichtete, wenn sie seiner Beurteilung nicht standhielten. Von seinem frühen Werk aus der DDR etwa und auch von den Anfangsbildern in der BRD blieb nicht viel erhalten.

In seinem Stammheim-Zyklus verändert er diese Weise der künstlerischen Arbeit. Was aber bleibt, ist die De-Kontextualisierung. Durch die Freistellung der Motive – insbesondere bei den politischen Bildern des RAF-Zyklus – ist der Kontext ohne Hintergrundwissen zu den Geschehnissen, die mit den Bildern verbunden sind, teils nur noch zu ahnen. „Frau mit Schirm“, ein Mann in Wehrmachtsuniform („Onkel Rudi“), ein moderner Atomwaffenbomber (XL 513) deuten auf etwas, das einerseits wichtig, aber zugleich genauso  dem Alltäglichen entnommen scheint. Es fehlt im Grunde die Referenz der bildlichen Zeichen. Es ist nicht auszumachen, ob jener Bomber nicht genauso in einem futuristischen Rausch gemalt sein könnte. Doch selbst wenn dabei das Moment der Faszination an der Schnelligkeit und der zerstörerischen Technik durchscheint, so muß diese Faszination doch im Halse steckenbleiben, wenn man um die Auswirkungen der Waffen weiß. Der Futurismus, das ahnt auch Richter, stammt aus einer abgelebten Vorweltkriegsmoderne.

Die (komplexen) biographischen, lebensweltlichen oder politischen Zusammenhänge sind aus den Bildern entfernt, gleichsam herausgetrennt, herausgemalt. So entsteht eine neue Form der Referenz und damit auch eine neue Weise der (ästhetischen) Wirklicheit: die Bilder weisen auf die Malerei als solche. Dieses Überschreiten erhält insbesondere in Richters Zyklus „18. Oktober 1977“ Bedeutung. Auch in diesem Werk läßt sich der zeitgeschichtliche Bezug nur dann vollständig aktualisieren, wenn man die kollektiven Photographien aus den Zeitungen, Magazinen und dem Fernsehen vor Augen hat. Für einen Betrachter ohne diese kulturellen Kontexte zeigen die Bilder gänzlich andere Szene, so wie für die der Bibel Unkundigen ein Madonnengemälde lediglich  eine Frau präsentiert, die einen Knaben hält.

Bevor Richter den Stammheim-Zyklus fertigte, malte er seine Kerzen- und Totenkopfbilder, mithin typische Vanitas-Motive. Es deutet sich hier bereits, allerdings vage nur vermittelt über das Todesmotiv, ein Bezug zu den Bildern von „18. Oktober 1977“ an. Die Anordnung der 15 Bilder dieses Zyklus ist offen, es existiert keine vorgegebene Reihenfolge. Es gibt allerdings zwei Varianten, um diese Bilder zu präsentieren: einmal die, welche diese Gemälde in der historischen Abfolge der Geschehnisse zeigt und dann die Hängung, welche sich an der Zählung des Werksverzeichnisses von Richter orientiert.

Es übt dieser Zyklus, als ich ihn 2011 im Bucerius Forum in Hamburg sah, eine Faszination aus und zugleich hinterläßt er Rätsel, steht als erratischer Block. Ikonenmalerei? Nein. Geschichtsmalerei? Vielleicht. Direkter und pointierter kann man zwar – einerseits – das (medial vermittelte) politische Geschehen nicht verdichten als in diesem so stillen Zyklus. Andererseits wirken diese Bilder der Zeit entrückt und seltsam fern aller tagesaktuellen Politik oder Geschichte. Sie modelieren die Zeit. Erst recht, wenn man sie sich vierzig Jahre nach den Ereignissen anschaut.

Beim ersten Betrachten jenes Bildes von der Beerdigung der Toten von Stammheim auf dem Stuttgarter Friedhof („Beerdigung“) mußten meine Begleiterin und ich, da wir zu dicht vor dem Bild standen, rätseln, was da eigentlich abgebildet ist. Langsam tasteten wir uns an das Geschehen und dieses Verschwommene heran. Bis es dann irgendwann funkte: es sind ja Särge zu sehen, Sargträger und dort stehen viele Menschen. Diese gespenstische Szenerie, in welcher der Staat noch einmal und über den Tod hinaus seine Macht ausspielte. Geschichte gerinnt zum Rätsel.

Dieses erratische Moment des Zyklus erzeugt sich unter anderem dadurch, weil jene aus Illustrierten und Fernsehen vielfach bekannten, sozusagen ikonographischen Bilder in eine andere Art von Bildlichkeit transponiert werden. Richter zeigt ganz bewußt nicht die (damals) allseits bekannten Bilder: Holger Meins bei seiner Festnahme, der tote Holger Meins auf der Bahre, die Fahndungsportraits auf den Suchplakaten. Und selbst das im „Stern“ publizierte Bild der erhängten Ulrike Meinhof, das Richter als Vorlage diente, verwandelt sich sowohl durch das Abtauchen des Bildes ins Schwarz als auch dadurch, daß es als Triptychon hängt, auf dem dreimal das gleiche Motiv, jedoch in minimaler Variation und in unterschiedlichen Bildgrößen zu sehen ist. Dreimal dieselbe Tote, eine Logik der Reproduktion, während im kleinsten der Bilder die Merkmale der Strangulation verwischt und fast nicht mehr wahrnehmbar sind. Man wird beim Betrachten des Triptychons nicht „Unsterbliche Opfer ihr sanket dahin“ singen, jenes traurige Lied für die gefallenen Revolutionäre. Eingefallen ist mir dieses Lied doch.

Sind die Bilder dieses Zyklus politisch? Im Sinne der Parteinahme für eine der Seiten sicherlich nicht. Aber es spiegelt sich darin dennoch ein Stück jener Geschichte der alten BRD. Doch dieser Zyklus wurde sowohl von der staatstragenden Seite angegriffen – daß eben die Täter als Opfer gezeigt und sie zu Ikonen stilisiert werden, daß die Opfer der RAF nicht vorkommen – wie auch von Teilen der politischen Linken, die es Richter als bürgerlichem Künstler absprachen, Revolutionäres zu malen und fürs bloß Ästhetische auszuschlachten. Was eine sichtlich naiver Blick ist, denn ein Künstler kann malen oder beschreiben, was er für malenswert hält.

Zynisch könnte man hier sagen: Das Private ist politisch, und im Sinne dieses Plattenspielers als Objekt, das sich dazu eignet, auch künstlerisch gelungene Musik abzuspielen, ist das Private auch ästhetisch. Am Ende diente dieses Gerät zur Kommunikation der Häftlinge untereinander und es war darin zudem die Pistole versteckt, mit der Baader sich erschoß oder erschossen wurde – je nachdem, welcher mythologischen Erzählung wir zu folgen gewillt sind. Auch diese verschiedenen Weisen von Erzählung grundieren dieses Bilder-Zyklus, und im Jahr 1988 war es noch keineswegs ausgemacht, daß es die RAF zehn Jahre später nicht mehr geben sollte. Die Mythen wucherten und wuchern in manchen Fragen der Verstrickung von Staat und Terror immer noch – Stichwort Dritte RAF-Generation, Stichwort Verena Becker und der Buback-Mord, aber auch der Mord an dem Bankier Alfred Herrhausen – einer der rätselhaftesten politischen Aktionen. Im Jahre 1988 hatten wir es bereits mit der dritten Generation der RAF zu tun. Hier im Genälde liegt der Plattenspieler derangiert, Kabel ragen heraus, ein abgestelltes Ding, auf dem Teller harrt noch eine Platte, und man wüßte gerne, welche Musik es sein könnte, die Baader zuletzt und als letzten Song des Lebens hörte.

Richters Zyklus übersteigt in solcher Objektwahl zugleich das unmittelbar Politische, weil er die Weise der öffentlichen Wahrnehmung der Ereignisse und vor allem die mediale Vermittlung jener bleiernen Zeit, wie sie im common sense vorherrschte, entflechtete. Im Grunde wird dieser Zyklus, nach all der Hatz, der reißerischen Berichterstattung der meisten Medien sowie der Bestialisierung der RAF, von einem ruhigen Moment getragen, ohne daß es sich, wie die staatstragenden Kritiker meinen, nun um eine Hagiographie oder gar Apotheose der RAF handelt. Diese 15 Gemälde bleiben seltsam neutral. Insbesondere im Hinblick auf all jene RAF-Filme und Bücher, die dann in den 00er Jahren noch einmal auf den Markt kamen und auf den Show-Effekt setzten: Die RAF als Western oder als Beziehungsdrama – dagegen wirkt Richters Zyklus verhalten und still. Er betreibt nicht die Inszenierung der RAF als Pop und zeigt Baader nicht als wilden Popstar. Baader ist nicht Breton. Allenfalls ein toter, am Zellenboden liegend. Abstrakt fast und dahingestreckt. Ins Schwarz abgleitend. Das Bild ist drastisch, und es steht in der Tradition von Goyas „Los Caprichos“ und den „Desastres de la Guerra“. Genauso öffnet sich dabei aber der Raum zu Weegees Pressephotos – schließlich ist ja ein Photo auch die Vorlage für Richters Gemälde gewesen. Unwillkürlich denke ich an Weegees heftigen Bilder aus New York. Genau wie hier bei Baader – der hingestreckte Tote.

 

Ein Jahr später, nachdem Richter diesen Zyklus malte, fiel die Mauer. Insofern ist die Aussage Richters, daß für ihn mit dieser Serie eine persönliche Ära des Malens ende, in einem doppelten Sinne wahr. Einerseits ist hier die Malweise der Verwischungen – daß keine Spuren des Pinselstriches mehr zu sehen sind – zu ihrem Höhepunkt gekommen und endete an diesem Punkt. Richters spätere Bilder gehen nach dieser Phase in andere Richtungen. Hier trifft der Begriff des Photorealismus sehr viel eher zu als in seinem Frühwerk, was sich exemplarisch an dem Bild seiner Tochter „Betty“ (1988) zeigen läßt. (Die abstrakten Bilder, die Richter malte, müßte man hier auch noch gegenüberstellen, aber dies sprengt den Rahmen der Betrachtung.)

Wesentlich handelt es sich bei „18. Oktober 1977“ um eine Auseinandersetzung mit der Erinnerung – wie später dann auch im Zyklus „Birkenau“ –, eine Reflexion auf das Gedächtnis und die Weisen medialer Inszenierung, weshalb dieser Zyklus eine Form von (Selbst-)Reflexivität der Kunst bedeutet, die sich mit dem Draußen (als Gesellschaft) und zugleich mit dem Drinnen befaßt: mit der Frage „Was machen Bilder?“ nämlich. Alle, welche diese Zeit erlebten – und sei es als Kind – haben, sofern sie Fernsehen durften, diese Bilder und vor allem die in Postämtern und öffentlichen Gebäuden ausgestellten Fahndungsplakate vor Augen: „Anarchistische [sic!] Gewalttäter“.

Der Titel „18. Oktober 1977“ ist irreführend, wenn man ihn als bloßes Datum nimmt und um dieses herum den Raum für Assoziationen eröffnet. Es ist dieses Datum zwar Bestandteil der Geschichte und es treten darin bestimmte Momente in Konstellation: von Mogadischu, über die Toten von Stammheim, dem entführten und getöteten Hanns Martin Schleyer samt den Repressionen dieser bleiernen Zeit. Andererseits umgibt dieses Datum in dem Sinne ein verdichtendes Moment und damit auch eine Aura, weil es Momente der Imagination freisetzt. (Auf die Poetik des Datums im Derridaschen Sinne, so wie er dies an Celan in seinem Text „Schibboleth“ festmacht, wird auf „Aisthesis“ demnächst ein Text erscheinen.) Weshalb heißt ein Zyklus mit Bildern, die nicht nur in Zusammenhang mit den Ereignissen in Stammheim stehen, so und ist mit diesem Datum versehen und darin verdichtet? Über jene Datierung besteht malerisch ein Bezug zu On Kawaras Date Paintings bzw. zu dem konzeptionellen Moment. Allerdings funktionieren die Bilder – anders als bei On Kawara – wie eine geöffnete Blackbox. Was bei On Kawara als konzeptuelle Kunst eingebunden und reduziert ist auf eine Box und darin sich befindliche Zeitungsmeldungen, wird bei Richter freigesetzt. Richters Gegenständlichkeit steht jedoch immer wieder kurz davor, in jenes Schwarz zurück- oder hinüberzugleiten. Richters Kunst changiert. Kunst, die nur noch von der Grundfarbe schwarz sein kann und dennoch die Gegenständlichkeit beibehält

Aber der Zyklus geht zugleich über den Aspekt des Datum und überhaupt die Datierbarkeit hinaus. Das „Jugendbildnis“ von Ulrike Meinhof verweist auf etwas anderes, das den Themenkomplex RAF übersteigt. Es ist dieses Gemälde klassische Portraitkunst, und es bedient sich dabei dennoch des Politischen. Gleichzeitig handelt es sich bei diesem Portrait um ein Trugbild, denn es zeigt Ulrike Meinhof kurz vor dem Eintritt in die Illegalität. Keineswegs handelt es sich um ein Jugendbild, sondern die von Richter benutzte Vorlage bildet Ulrike Meinhof als 36jährige Frau ab.

Es stellt dieser Zyklus zudem – das Politische übersteigend – eine Art umfassendes, in die Moderne gewendetes Vanitasmotiv dar. Zugleich bedeutet der Zyklus eine neue Form der Historienmalerei und kann als eine Reaktion etwa auf Immendorffs neoexpressive „Café Deutschland“-Bilder verstanden werden und genauso auf Kiefers verrätselte Gemälde während seiner Deutschen Phase. Als Stichwort seien die Bilder „Märkischer Sand“ oder „Dein goldenes Haar Margarethe“ aus den frühen 80ern genannt. Richter nimmt das Überbordende und Expressive dieser Gemälde vermittels der Klarheit seiner Form zurück, und das Moment dramatischer Geschichte zeigt sich dann wieder in Richters Bilderzyklus „Birkenau“.

Das Eigentümliche und Faszinierende an diesen Stammheim-RAF-Bildern ist, daß sie ins Schwarz versinken. Ein Jahr später malte Richter – an den Deutschen Herbst anschließend – den nächsten Zyklus: „November“, „Dezember“, „Januar“: schlierenhafte, zufließende Abstraktionen, dreimal in dem riesigen Format 320 x 400 cm; Bilder, die wie blinde oder verschlissene Fenster wirken und zugleich an das abstrakte Bild „Decke“ erinnern, das eine Übermalung einer der Versionen von „Erhängte“ darstellt sowie gleichfalls an das durch Richter übermalte Totenbild von Holger Meins, welches dann lediglich „Abstraktes Bild“ heißt. Allerdings: es fließt, wie man vielfach über Richter schrieb, das Politische im Verschlieren nicht zu und es verschwimmt auch nicht, hierbei wird die Technik mit dem Gehalt verwechselt, eher müssen in diesem Zusammenhang Begriffe wie Transgression und Transponierung verwendet werden. Die Unschärfe heißt nicht, das am Ende, zehn Jahre später als Richter den Zyklus malte, die Erinnerung zerfließt und schemenhaft-unscharf gerät.

Viel Zeit ist vergangen und doch sind mir diese Vanitas-Bilder beim Betrachten immer wieder und aufs neue nahe. Im Grunde ist das solch ein Benjaminscher Moment, nur diesmal in der Kunst selbst: es sprengt sich das Kontinuum der Geschichte auf. Der RAF-Zyklus zeigt die „Dialektik im Stillstand“, eine in Kunst aufgeschlüsselte Jetztzeit, die zur Ewigkeit gerinnt. Die Revolte ist vertagt. Geschichtsschreibendes Subjekt und die reine Tathandlung des Anarchisten haben am Ende immer wieder nur das Zeug dazu, zum Sujet des Historienmalers zu werden. Das ist Richter auch, aber in einem gelungen und für die Spätmoderne adäquaten Sinn.

(Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung vom Juni 2011. Anlaß war die Gerhard Richter-Schau im Bucerius-Kunstforum Bilder einer Epoche. Vom 5. Februar 2011 – 15. Mai 2011)

Gallery Weekend – nachträglich. Some Photographers, two Painters

Am 1. Mai hätte ein Text zur bildenden Kunst folgen sollen, denn es war Galerie-Wochenende in Berlin. Aber ich schrieb statt dessen, weshalb es heute schwierig ist, links zu sei. Und sowieso: auch das Politische läßt sich bekanntlich als ästhetisches Phänomen betrachten, solange man daraus nicht den ästhetischen Staat ableiten will oder mit Hingabe die Ästhetisierung der Politik betreibt. Besser Langeweile als Faschismus, wie Habermas sinngemäß sagte. Da hat er recht – andererseits gibt es ja auch andere Alternativen als den Faschismus. Ich kann politischen Aktionen lediglich etwas abgewinnen, wenn sie eruptive Ereignisse sind, wenn sie die Dimension des Alltäglichen durchbrechen, wenn sie meine Sinne reizen. Aber ich betrachte dies als Zuschauer, mich interessiert – im Sinne einer entfernt teilnehmenden Beobachtung, als Photograph oder mitlaufender Chronist – die Menge in der Revolution. Ebenso wie der Mensch in der Revolte. Ohne je involviert zu sein. Insofern ist für mich aus jenem aisthetischen Kitzel der Nerven heraus das schockhafte Ereignis als solches ästhetisch bedeutsam, betrachtet aus der sicheren Distanz. Das freilich ist eine riskante Haltung. Denn wenn man diesen Blick ganz ohne Inhalte praktiziert, eine Art Praktik ohne Praxis, kann man genauso die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen 1992 wie auch bei jenem legendären Maikrawall vor 30 Jahren ästhetisieren: als es bei Bolle und bei den Vietnamesen brannte. Man kann von Glück sagen, daß niemand starb. Nun also die Kunst. Benjaminschen Proklamationen eher abhold.

Gallery Weekend also – so sperrig dieses Wort ins Deutsche übersetzt klingt, so komplex und sperrig ist auch das Event. Die 47 „offiziellen“ Galerien mögen zu „bewältigen“ sein; deren Werke, all die Installationen lassen sich komfortabel betrachten. Aber die ans Gallery Weekend andockenden Kunsträume sind schier unendlich. Keiner, der das alles ablaufen könnte. Was bedeutet: nicht bloß drei Sekunden aufs Bild schauen, um dann weiterzuhetzen. So wie man einen 1000-Seiter der Weltliteratur nicht in drei Tagen mit Siebenmeilenstiefeln durcheilt. In dieser Hetze entgleitet das Wesentliche, die Details rutschen durch. Also nimmt sich der Leser Zeit.

Allerdings dienen solche Leistungsschauen und Messen – erst am 29.4. endete die Art Cologne – nicht der ästhetischen Versenkung, nichts soll analysiert werden, sondern der Kunstkenner verschafft sich einen Überblick, was auf dem Kunst-Markt läuft, was geht und was nicht, was dernier crie und was abgewirtschaftet bloß noch an der Wand hängt. Spazieren und das was da ausgestellt wird, betrachten, taxieren, bewerten. Immer wieder gerne erwähnt bei solchem Berliner Spaziergang und als eine absurde Dissonanz wahrgenommen, ist der Kontrast zwischen der Potsdamer Straßen mit ihren Ein-Euro-Läden, dem türkischen Gemüseladen in der XL-Variante, heruntergekommene Döner-Spelunken und ebenso alte, noch verbliebene Bars wie das „Joseph Roth“. Und natürlich peu à peu sich ausweitend die Galerien, die sich rund ums ehemalige Gebäude des Tagesspiegels gruppierten und manch Altes verdrängen. Das Farben- und Tapetengeschäft „Erwin Fron“ in der Kurfürstenstraße gibt es nicht mehr. Der Laden steht leer. Letztes Jahr existierte er noch und stellte sogar ein paar Farbbilder aus. Aber das half nichts. Und dort, wo vor zwei Jahren ein griechischer Kulturklub sein Domizil hatte, ist eine Galerie. Die Besitzerin einer kleinen Druckerei mußte den jungen wilden Künstlern weichen. Gegen Gentrifizierung wird immer dann erst protestiert, wenn das zahlungskräftige Klientel von noch Reicheren verdrängt wird.

Im Tagesspiegel-Gebäude selbst befinden sich die Großgalerien von Blain|Southern, was vom Klang her genauso ein Ölkonzern sein könnte. Und Esther Schippers, die vom Schöneberger Ufer ins Tagesspiegel-Gebäude zog. Blain|Southern zeichnet sich durch eine riesige Halle aus, in der früher die Druckmaschinen der Zeitung standen – allein wegen des Gebäudes lohnt der Besuch. Ideal für Gemälde von Jonas Burgert, und zwar mit den Maßen 6 x 22 Meter. Eine ganze Wand breit (siehe unten, Photo 5 u. 6). Da sehen wir ein wild-expressives Getümmel. Menschen verknäult in Farbe, eine malerische Großtat. Ich bin bei solch Pompösem ansonsten skeptisch, wenngleich die Riesengemälde im Louvre von David oder Gericault ebenso durch diese Größe ihre Wirkung entfalten – man denkt da auch an Kants Erhabenes, als Monumentales hier direkt auf die schiere Bildgröße bezogen. Diese Größe weckt eine ästhetische Idee in uns. Ein Objekt, das sich über die normalen Ansprüche der Sinnlichkeit erhebt, kein Guckkastenbild, sondern ein Koloß thront da. Das sollte man sich ansehen. Mal unabhängig davon, wie man das Kunstwerk selbst bewertet.

Spannend am Gallery Weekend ist, daß man auf interessante Kunst stößt und dafür nicht einmal den Museumseintritt bezahlen muß – wobei ich nichts gegen den Eintritt bei Museen haben – für die, die es sich leisten können. Die meisten Ausstellungen sind eine Zeit lange zu sehen, über das Weekend hinaus. Jonas Bungert noch bis zum 29. Juli.

Beeilen hingegen muß man sich in der galerie hiltawsky in der Tucholskystraße in Mitte. Dort sind die Photographien der legendären Lee Miller noch bis zum 6. Mai in einer wilden Petersburger Hängung im ersten Raum und schön nebeneinander im hinteren Teil, im schmalen Flur zu sehen. Ein Ansammlung, die man so schnell nicht wieder in den Blick bekommt: Reisephotos, Bilder in surrealistischer Manier, Reportagephotos aus dem befreiten Nazi-Deutschland. In der wilden Mischung versinkt leider das geniale Einzelbild. Aber es ist eine Galerie nun einmal kein pädagogisches Museum. Für einen Überblick jedoch reicht es.

Ebenso gibt es diese feine Übersicht in der Galerie Kicken (Linienstraße 161A), aber dort wohlgeordnet und jede Photographie einzeln für sich: nämlich die Bilder von Sibylle Bergemann und dazu andere legendäre Ost-Photographen wie Harald Hauswald, Arno Fischer, Helga Paris. (Bis 1.9.) Ebenfalls Sibylle Bergemann in der Galerie Loock (Potsdamer Straße 63). Bergemann ist schwer im Schwange, „Frauen. Und in Farbe“: das sind Mode- und auch Reisephotos, eine Masse wundervoller Bilder. Sehr genau hat Bergemann diese Menschen gesehen und abgelichtet. Ich haderte lange mit mir, ob ich ein oder zwei dieser Photos hier und bei Kicken kaufen solle.

Gleich nebenan die wohl seltsamsten Photographien, nämlich die des Norwegers Kåre Kivijärvi. Schwarz-weiß-Bilder zwischen 1959 und 1966 geschossen, hart im Kontrast, wie das zu seiner Zeit nur wenige Photographen praktizierten. Man kennt diese Art von Bildkontrast eigentlich eher aus der Japanischen Photographie Ende der 60er Jahre – wer es genauer sehen will, schaue sich den Bildband „Provoke“ vom Steidl-Verlag an, der von jenem gleichnamigen japanischen Photomagazin handelt: Provocative Materials for Thought. „Kåre Kivijärvi war ein komplizierter Mann voller Widersprüche. Er begann als Photojournalist, ums sich später als Romantiker zu bezeichnen.“ So beginnt der Ankündigungstext der Galerie Michael Janssen (Potsdamer Str. 63). Zu sehen gibt es Photographien aus dem Norden, Reisebilder aus Afghanisten. Kivijärvi photographiert die abgelegenen Orte dieser Welt, er macht Reportagebilder von der Seefahrt, in Nepal oder Grönland, Landschaftskompositionen, ein Kohlkopf im Feld.

Bei hunderten von Bildern trifft der Betrachter eine Auswahl. Willkürlich oder unwillkürlich – bei mir waren es die Gemälde der rumänischen Künstlerin Iulia Nistor. „canary in a coal mine“ heißt die Ausstellung in der Galerie Plan B (Potsdamer Straße 77-87, bis. 17.6). Ich kannte Iulia Nistor bisher nicht, aber wie es in der bildenden Kunst so ist, fallen einen momenthaft und ohne daß es einen Grund gibt, manche Werke auf den ersten Blick sofort an. Ästhetische Unwillkürlichkeiten. Wenn ein Künstler Farben in der Manier der Pastellmalerei weich auf die Leinwand bringt, springe ich nicht gerade vor Freude auf, weil das zartgetupfte Zartgetuschte meine Sache nicht ist. Oft sind solche Bilder verzärtelt und hinter die Zeit gefallen. Es haftet ihnen das Kunstgewerbliche an. Meist denke ich an Worpswede und an Schönwettermalerei. Aber natürlich: wie es immer ist – es gibt die Ausnahmen von der Regel. Diese Bilder von Iulian Nistor sind alles mögliche, nur nicht lieblich. (Photo 2 und 3)

Eine besondere Ausstellung findet sich in der Galerie Thomas Fischer (Potsdamer Straße 77–87). Irmel Kamp (*1937) photographiert das Neue Bauen in Tel Aviv und Brüssel. Es heißt ja, daß es in keiner anderen Stadt der Welt als in Tel Aviv derart viel Bauhausarchitektur gebe. Kamps Bilder zeigen diese Gebäude. Menschenleer und man könnte meinen alles sei kalt. Aber in der Anordnung und durch das Schwarz-weiß entfalten diese Photographien Spannung. Genau auskomponiert, exakt den Ausschnitt und den Anschnitt gewählt. Diese Leere der Straßen, wo nur die Dinge, das Haus, ein Auto so dastehen, berührt. Manchmal ragt bloß ein Zweig ins Bild oder Blätter, als wäre da auch noch die Natur. Der Mensch aber ist fort. Manches Haus sieht verfallen aus, andere wieder sind in einem passablen Zustand. Kamp geht es um die Besonderheit des jeweiligen Gebäudes, sein Spezifisches. Zwar für Menschen gemacht, aber erst weil diese Menschen fehlen, können diese Photographien veranschaulichen, daß Gebäude zwar für uns gebaut sind, aber dennoch ein Eigenleben führen. Reine Form und Funktion. Für jeden Bewohner zwar offen, aber erst der Bewohner ist es, der dann mit seinem Interieur dem Inneren zum besonderen Leben verhilft. Kamp zeigt Möglichkeitsbedingungen des Wohnens und des urbanen Lebens. Oberflächenbilder, die tief sind.

100 Jahre Duchamps „Fountaine“ – eine Revolution der besonderen Art oder die kopernikanische Wende der Ästhetik

Die Kunst der (klassischen) Moderne ist inzwischen in die Jahre gekommen, und nichts klingt in der quirligen Gegenwart verächtlicher, als einem Kunstwerk zu bescheinigen, es sei ein Fall fürs Museum. So erging es Duchamps Ready Made, dem legendären Urinoir. Und auch dem einst innovativen Dadaismus wie dem nicht minder stürmischem Surrealismus wurde dieses Attest des Staubigen inzwischen ausgestellt. Sowieso ist zu fragen, ob die Kunst nicht immer schon einen Fall fürs Museum abgab – deren Vorläufer der Salon war –, seit sie sich vom Kult emanzipierte.

Aber trotz dieser Tendenz, Dinge der Kunst im Museum einzuhegen, bleibt die kunsttheoretische Frage nach dem besonderen Gehalt, der in Duchamps Fountaine steckt – gleichsam ein Gründungsdokument der ästhetischen Moderne im frühen 20. Jahrhundert und zudem jenes zentrale Objekt, das im Gebiet der Kunsttheorie die Fragen ästhetischer Reflexion auf die Kunst in eine andere Richtung bog. Mit jenem Jahr 1917 verbinden wir in vielfacher Hinsicht Einschnitte in der Geschichte. Marcel Duchamps Ready Made Fountaine tätigte einen der folgenreichsten Brüche. Anders als das Fahrrad-Rad von 1913, das noch kein echtes Ready Made ist, weil hier Duchamp noch montierte. (Als erstes echtes Ready Made kann allerdings sein Flaschentrockener aus dem Jahr 1914 durchgehen. Nur entfaltete er aufgrund des Skandals qua Institution nicht dieselbe Wirkung. Es zeigt sich auch in diesem Falle, daß es mehrere Faktoren sind, die einen historischen Bruch begünstigen.)

Mit der Fountaine emanzipierte sich die Kunst zum ersten Mal von der herkömmlichen Logik der Repräsentation bzw. der Mimesis von Wirklichkeit. Denn Abbildung und Abgebildetes fallen im Ready Made in eins. Dieses Verfahren wurde zum Ausgangspunkt für die in den 60er Jahren sich entwickelnde Pop-Art, die ausgehend von Duchamp im Verfahren der Reproduktion den Konsumcharakter der Kunst unterstrich, sowie der Konzept-Kunst auf der Ebene theoretischer Reflexion über den Modus der Bildlichkeit, des Zeichens, des Bezeichneten, des Dinges und des Wortes. Joseph Kosuths One and Three Chairs dürfte ein selbsterklärendes Sinnbild für diese (Reflexions-)Bewegung und ihre Nähe zur Sprachphilosophie sein. Aber auch ein Surrealismus in der Weise von René Magritte tat seinen Beitrag und setzte den „Betrug“ der Kunst qua Bildtitel in Szene: Der Verrat der Bilder (La trahison des images) aus dem Jahre 1929, darauf wir eine Pfeife und einen Text sehen können: „Ceci n’est pas une pipe.“ Kluge Variationen von Duchamps zweitem echten Ready Made. (In der Kritik lese man dazu Foucaults sprachphilosophischen Essay bzw. seine Diskursanalyse zur Ästhetik: Dies ist keine Pfeife, erschienen im Hanser Verlag.)

Mit diesen Bewegungen einer Öffnung der Kunst, die bei Duchamp ihren Ausgang nahmen, war klar, daß das Kunstwerk nicht bloß eine Welt repräsentiert, die wir genauso mit unseren Augen uns ansehen können: wenn wir das Farbspiel und das Schimmern der Natur oder einer Lebensszene in impressionistischer Manier betrachten, wenn wir die Welt mit Turners oder Ernst Ludwig Kirchners Augen sehen, wenn wir dem Weib zwischen die Schenkel blicken und mit Courbet des Ursprungs der Welt ansichtig werden.

Kunst löst sich spätestens mit Marcel Duchamp aus Platons Höhle, sie befreit sich vom schönen Schein. Einerseits. Nicht mehr wirkt sie im Wettkampf zwischen Zeuxis und Parrhasius, fast wie beim Kuckuck und beim Esel, wer wohl am realistischsten male, so daß bei den Trauben im Bild die Vögel anfliegen und picken. Sondern das Werk präsentiert spätestens in der ästhetischen Moderne des späten 19. und dann speziell des 20.  Jahrhunderts eine Welt ganz eigener Art. Eine Welt für sich. Das Kunstwerk ist diese Welt. So wie die Romane des hochmodernen Jean Pauls nicht bloß eine Welt erzählen und uns abbilden, uns Leser, wie für das 18. Jahrhundert üblich, moralisch bessern oder unterhalten wollen. Denn täten diese Jean Paulschen Romane lediglich das, wären es schlecht geschriebene Bücher, die technisch unbeholfen an der Story, also der erzählten Geschichte, scheitern und sich auf Nebengleisen, in Digressionen und in feuerwerkenden Zündungen und „Ideengewimmel“ verlieren. Die Hauptsache aus den Augen verlierend.

Diese Umpolung in der Kunst qua Dinglichkeit freilich ändert andererseits den Begriff des Scheins als Modus von Kunst – doch bleibt mit Hegel festzuhalten, daß dem Schein eine wesentliche Funktion im Prozeß des Wissens und ebenso in der Kunst selbst zukommt. Das Wesen muß erscheinen und noch bei Goethe schimmert im Abglanz das Ganze oder wie es im ersten Monolog nach Fausts Erwachen im zweiten Teil des Dramas heißt: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“ Das Werk wird mit dem Ready Made auf seinen Dingcharakter zurückgeworfen und die Materialität des Objekts gelangt zum Ausgang für Reflexion. Nicht mehr bloß im Sinne Nietzsches in der Geburt der Tragödie wird der Schein des Scheins zentral, sondern im Namen des Scheins erfolgt nicht mehr die Potenzierung des Scheins, sondern die Moderne attackiert diese zentrale Kategorie der Kunst. Denn als Kunstwerk bleibt das Urinoir dennoch der Schein eines bloß dinghaften Urinoirs; es ist also nicht mehr dieses Urinoir in seiner Funktion und als Vorhanden- bzw. Zuhandenheit. Damit destruiert dieses Werk den Begriff des Scheins nicht, sondern erweitert ihn. Zudem ändert sich mit dem Scheinhaften des herkömmlichen Bildes und der Plastik ebenso der kontemplative Umgang mit dem Kunstwerk. Den Apollo von Belvedere betrachten wir als Inbild klassischer Kunst völlig anders als ein Objekt wie das Urinoir. Nach diesem simplen „Trick“ Duchamps konnte prinzipiell jedes beliebige Objekt zum Gegenstand der Kunst werden. Das ist die eigentliche Pointe dieses einmaligen Streiches in der Kunstwelt. Auf den Tag genau vor 100 Jahren im fernen New York.

Duchamps Fountaine sollte dort am 9. April 1917 bei der Society of Independent Artists ausgestellt werden. Das Prinzip dieser Gesellschaft war es, daß dort einmal im Jahr Werke ohne Vorauswahl, ohne Jury oder besondere Empfehlung präsentiert werden durften – also ein offener Ort für alle Arten von Kunst, ohne den Eingriff von Kuratoren oder Preisrichtern. Duchamps Fountaine, die ganz ordentlich unter dem Namen R. Mutt als Kunstwerk sogar signiert war, löste dort – relativ erwartbar – einen veritablen Kunstskandal aus. Das Urinoir hatte alle Eigenschaften eines Kunstwerkes. Und zugleich besaß es nichts von dem, was ein (klassisches) Kunstwerk haben mußte: Es war zwar mit einem Namen versehen und wiederholte damit den Gestus des künstlerischen Schöpfers, aber der Name war ein Pseudonym bzw. ein Fake. Ein Künstler dieses Namens existierte nicht. Es war das Urinoir zwar eine Skulptur, aber diese Plastik unterscheid sich in nichts von einem realen Urinoir – bis auf den Umstand, daß dieses Objekt nicht in der für Urinoirs üblichen Perspektive gezeigt wurde, sondern dadurch, daß der Gegenstand anders im Raum positioniert wurde. Wodurch die besondere Formung und Rundung des Gegenstands sich herauskristalisierte.

Am Ende entschieden die Künstler der Gesellschaft, dieses seltsame Objekt nicht zu zeigen, was wiederum einen neuen Skandal provozierte: Für die Kunst war diese Haltung der Anfang ihres Endes und führte zu einer Aporie. Zeigt man ein solches Werk nicht, von dem nie genau feststeht, ob es ein bloßes Ding oder eben doch ein Kunstwerk ist, dann „erwies sich die Rede von der künstlerischen Freiheit als Phrase; oder das Urinoir wurde gezeigt, dann widerlegt es alle herkömmlichen Wertungskriterien, auch die der künstlerischen Moderne.“ (So Peter Bürger in seinem instruktiven Essay Duchamp 1987, in: Das Altern der Moderne.) Wie es die Verantwortlichen auch drehen und wenden mögen: mit diesem möglichen-unmöglichen Objekt gelangt die Kunst an eine Grenze, die ihr bisher und in dieser Art niemals zuvor aufgezeigt wurde. Duchamp spielt mit dieser Limitierung (bzw. mit der daraus folgenden Entgrenzung der Kunst) lustvoll. Das Original dieses Urinoirs ist übrigens verschollen, und es existiert von diesem Objekt lediglich die (oben gezeigte) Photographie von Alfred Stieglitz.

Aber wie solche Objekte eben konstituiert sind: Im Sinne von Marcel Duchamp läßt sich ein beliebiges neues Urinoir besorgen, das dann das alte ersetzt, solange es im Aussehen dem ursprünglichen Gegenstand nur annähernd ähnelt. (Gilt solche von Duchamp intendierte Substitution auch für Beuys Fettecke, die von einer Putzkraft beschädigt wurde? Auch hier zeigt sich, daß es nicht ganz so einfach ist, in der musealen Situation das Original durch eine Kopie zu ersetzen. Duchamps Kunst gibt unendlich viel Arbeit zum Denken.)

Bei dem Namen Marcel Duchamp fällt mir der Film Thomas Crown ist nicht zu fassen ein. Noch in seinen späteren Interviews zum Urinoir tat er jegliche Interpretation oder eine ästhetische Einordnung dieses einmaligen Falles als unwesentlich ab. Changieren und lavieren, Maskerade und ein (Nicht?)Künstler als Proteus. Nie ist man sich bei diesem (Künstler-)Duchamp sicher, ob er es ernst meint oder ob es eine – freilich geniale – Persiflage auf den Betrieb der Kunst ist oder aber die nötige Erweiterung der Kunst inmitten der Krise der Moderne, die sich mit dem Futurismus, dem Kubismus, mit dem Schwarzen Quadrat von Malewitsch abzeichnete. Die klassische Moderne zuspitzend.

Und mit dieser Pointierung ist die Frage auf dem Tisch, weshalb die einen Kunstwerke im Museum ausgestellt und andere Werke niemals als Kunst wahrgenommen werden. Duchamp schlägt den Kunstbetrieb mit seinen eigenen Mitteln und auch seine Kritik an den im Louvre ausgestellten Werken dürfte bekannt sein – von jenem Spaß mit der Gioconda angefangen. Oder aber er spitzt im konventionellen Werk selbst die Kunstform zu: Kubismus und Futurismus brachte er mit seinem Gemälde Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 auf den Begriff. Duchamp tat alles ins Bild, was ein Bild, das modern sein will, braucht: Die Tendenz seiner Zeit erfassend. Doch auch jener Akt löste 1912 in Paris und 1913 in New York in der Armory Schau ein Entsetzen aus. Als maßgebliches und ästhetisch gelungenes Bild wurde es zunächst nicht in den Kanon der Kunst aufgenommen. Was erst einige Jahre zeitversetzt geschah. Aber im Falle des Marcel Duchamp gibt es bis in die Spätmoderne hinein diese Debatten. Er prägte die philosophische Ästhetik. Im Hinblick auf Duchamps Fountaine und die Brillo-Boxes von Warhol schreibt Arthur C. Danto:

„Man kann nicht feststellen, ob etwas Kunst ist, wenn man es bloß betrachtet, denn Kunst hat kein bestimmtes vorgeschriebenes Aussehen. Was schließlich hieß, daß die Bedeutung von Kunst nicht anhand von Beispielen zu vermitteln ist. Natürlich besteht nach wie vor ein Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Kunstwerken und den ‚bloß realen Dingen‘, wie ich sie gerne nenne. Warhol lehrt uns aber, daß sich der Unterschied nicht durch einfaches Betrachten ausfindig machen läßt. Das Auge, das als ästhetisches Organ so hoch im Kurs gestanden hatte, als man den Unterschied zwischen Kunst und nicht-Kunst noch für sichtbar hielt, war philosophisch vollkommen nutzlos, als sich diese Differenz statt dessen als unsichtbar erwies.“

Duchamp sagt in einem seiner Selbstkommentare (zitiert nach Peter Bürger):

„Seit Courbet hat man geglaubt, daß die Malerei sich an die Netzhaut wendet. Das war der allgemeine Irrtum. Der Schauer der Netzhaut! Früher hatte die Malerei andere Aufgaben: sie konnte religiös, philosophisch, moralisch sein.“

Marcel Duchamps Fountaine ist genau solch ein Werk, das die Reflexion nicht nur auf das Dinghafte des Kunstwerkes selbst lenkt und die Frage nach der Konstitution von Kunst stellt, sondern insbesondere hier bewahrheitet sich Adornos Diktum zum Anfang seiner Ästhetischen Theorie: Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts mehr in der Kunst selbstverständlich ist. Adornos Ästhetik steht an der Grenze zu jener Spätmoderne, die dann in Deutschland 15 Jahre nach dem Erscheinen seiner Ästhetischen Theorie unter dem Terminus „Postmoderne“ ins Schema gepreßt wurde. Peter Bürgers lesenswerter Aufsatz Duchamp 1987 wurde von solchen Fragen der Postmoderne angetrieben. Duchamps Werk zeugt für diese erweiterte Moderne avant la lettre und brachte damit für die moderne Ästhetik im Betrachten von Kunst und in der Reflexion auf ihre Werke eine Wende.

Eine Kunst als Verweigerung: Pin-Up und Shoah – Boris Lurie im Jüdischen Museum (1)

Als Adolf Eichmann von einem israelischen Wächter Nabokovs „Lolita“ zur Lektüre erhielt, soll er nach zwei Tagen dieses Buch mit dem Satz zurückgegeben haben, es handele sich um ein krankes, schädliches Machwerk. Was als obszön gewertet wird, hängt von der Blickrichtung ab. Wer auf einer Bildfläche neben aufgehäuften Leichenbergen oder befreiten Häftlingen aus einem Konzentrationslager Pin-Ups collagiert sieht, wird womöglich angewidert seinen Blick abwenden, weil solche Zusammenstellung (scheinbar) geschmacklos ist. Frauen mit ihren Kurven und Rundungen, aus Porno-Magazinen geschnitten, und Photos von dürre Leichenkörpern, aus Illustrierten herausgetrennt. Eine Simultandarstellung, Ungleichzeitiges in der Gleichzeitigkeit – nicht anders als auf einem mittelalterlichen Tafelbild. Der Ort, wo sich diese Körper begegnen, ist die Fläche des Bildes. Das Tertium comparationis ist das nackte, rohe Fleisch, das sich dem Betrachter darbietet. Nur wurde dieses Fleisch bei Lurie durch die Geschichte gewalkt und entsprechend dekomponiert. Auseinander geschnitten und durch einen Akt der Verschiebung und Verdichtung auf der Fläche neu gefügt. Man könnte es Verdinglichung nennen. Oder aber die Objektivität des Fleisches, das in Zeitungen, Photographien, Bildern und Filmszenen um die Welt kreist. Das Tertium comparationis ist damit auch das Mediale, das uns dem Strom an Bildern aussetzt.

Das Jahr 1945 bedeutete einen Einschnitt für die Welt, nicht nur in den Fragen einer sich aufsteigernden (Kriegs-)Technik: ein Riß zog sich in der Geschichte, ein Bruch, so etwas wie eine Kluft sprang auf. Kultur jedoch tat in ihrer Betriebsamkeit so, als ließe sich weitermachen wie bisher: ein paar Jaspersche Bußübungen sollten genug sein, um dann fortzufahren. Philosophen wie Adorno registrierten nicht nur seismographisch diesen „Jargon der Eigentlichkeit“, der sich im negativen Ergriffensein niederschlug, sondern ebenfalls analysierten sie mit den Augen der Kritik, daß es sich bei solchen Restituierungen schlicht um eine Lüge oder zumindest um Verdrängung handelte. Die Kluft kittete sich nicht. Wie läßt sich nach 1945 in der Kunst weitermachen? Bilder nach Auschwitz? – so fragen auch heute noch Kunsthistoriker wie Didi-Huberman seinem Buch „Bilder trotz allem“ oder Peter Weibel in einem Vortrag am Jüdischen Museum, der den Titel trägt: „Der Holocaust und das Problem der visuellen Repräsentation“. Geht nach Auschwitz auch Porno oder genauer geschrieben: Porno mit Auschwitz als Kunst?

Boris Lurie wurde 1924 in Leningrad geboren, 1925 siedelte die Familie nach Riga, Luries Mutter, seine Schwester, die Großmutter sowie seine Jugendliebe wurden 1941 beim Massaker von Rumbula in Lettland umgebracht. Die Familie war jüdisch. Deutsche befahlen, Letten mordeten. Sie taten es gerne. Lurie überlebte die KZs Stutthof und Buchenwald sowie das Zwangsarbeiterlager Lena. Sein Vater überlebte ebenfalls. Beide wanderten 1946 in die USA aus.

16_07_27_LX_7_7149In diesem Sinne ist Luries Kunst eine Art bruit. Sie ist von der Vergangenheit getragen, aber ebenso von jenem American Way of Life mit seinen Hollywoodfilmchen und all den Beruhigungsspitzen, den Illustrierten, dem Konsum und vor allem den Massenmedien: das, was sich unter dem Phänomen Pop zusammenfassen läßt. Luries Kunst schreit, sie ist laut, sie ist wild. Manchmal sogar lustig – auf eine sarkastische Weise. Im Stil und der Art des Gestaltens knüpft Lurie an die klassischen Avantgarden an: Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Varianten des analytischen Kubismus, wenn er Frauenkörper malerisch zergliedert, etwa in seiner Serie „Dismembered Women“, auch die Collagetechniken des synthetischen Kubismus setzt Lurie als Mittel der Fragmentierung und Dekomposition ein; wie Lurie überhaupt das Prinzip einer an Heartfield orientierten Photomontage nutzt. In einem der Frauengesichter bei den „Dismembered Women“ treten Gesichtszüge hervor, die an Georg Grozs erinnern: so in dem Bild „The Stripper“ (1955), Körperdeformationen spielen auf Fernand Léger an, aber genauso auf die ornamental verformten Frauenbilder Picassos aus seiner Phase der 30er Jahre. In diesem Sinne geben sich die Bilder Luries eklektizistisch; sie greifen Stile und Motive der Kunstgeschichte auf. Aber durch die Art, wie Lurie die Bilder komponiert, stellt sich ein neuer Zusammenhang ein. Lurie dekomponiert Kunstgeschichte.

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Genauso aber ist Luries Kunst in seiner „Methode“ des Collagierens eine Vorwegnahme der Pop Art. Nur als deren spiegelverkehrtes Bild: nicht der Glanz der Warenwelt, sondern das Häßliche, die Verweigerung, die Zerstückelungen zeigen sich in Luries Kunst. Lurie verweigerte sich mit der NO!art komplett dem Kunstbetrieb. So gründete er zusammen mit zwei Freunden die Gruppe March – sicherlich kein Zufall, daß in diesem Namen Schwitters Merz mitklang. In deren March Galerie fanden von 1958 bis 1961 Aktionen, Happenings und Ausstellungen statt, die man als eine Mischung zwischen Dada-Verweigerung, Surrealismus und einer Vorform von ästhetischem Punk begreifen kann. Es gab eine „Doom Show“, eine „Vulgar Show“, eine „Shit show“. Diese Verweigerung gegenüber dem Kunstmarkt ging soweit, daß Lurie es ablehnte, seine Arbeiten auf dem Kunstmarkt zu verkaufen. Sein Geld verdiente er durch Immobilien und Spekulationen an der Börse. „Kunst ist Kunst, Geld ist Geld, Aktien sind Aktien. Die Verschmelzung von Kunst und Geschäft ist Verrat.“ So heißt es bei Lurie. Hintergrund der NO!art ist jedoch ebenso die Erfahrung von Auschwitz und eine spezifische Form von Kunst, die sich Jew Art“ (nicht Jewisch) nennt. Der Judenstern, das Schild Davids taucht in Luries Bildern systematisch auf. Mal als mittel drastischer Provokation, als Referenz, aber auch als Zeichen von Herkunft, verfranst manchmal mit dem Phänomen Pop, das ebenfalls Identitätsbezeugungen leistet und Symbole ausbildet. Ikonen eben. Lurie nimmt sie beim Wort und bettet sie gleichzeitig in andere Kontexte.

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Ganz unmittelbar reagiert Lurie auf den durchaus auch affirmativen Zug der Pop Art in Warhols Kunst. Während Warhol 1964 seine Brillo-Boxen ausstellte und mit „Campbell’s Box“ weitere Produkte der Warenwelt des Supermarktes in den Rang der Kunst erhob, fertigte Lurie 1964 seine „Suitcases“, versehen mit Kitschsprüchen wie „I love you“, mit Slogans wie „Anti-Pop“ oder einem Hakenkreuz und jener Photographie der Kriegsreporterin Margaret Bourke-White vom befreiten KZ Buchenwald. Die „Immigrant’s NO!box“ stammt aus dem Jahr 1963. In seiner Collage „Salad“ (1962), die wie al Fresco gemalt scheint – wunderschön möchte man in dieser Anmutung fast ausrufen, wäre dieser Spruch vor einem solchen Bild nicht verfehlt –, sehen wir eine Ketchup-Flasche. Nebeneinander und Mixtur, im Zentrum des Bildes

16_07_27_LX_7_7134Neben dem NS-Dekor Hakenkreuz, das Lurie so plakativ zum Einsatz bringt, wie es sich für dieses Zeichen als angemessen erweist, ist bei ihm die Verbindung von NS-Vernichtungsmaschinerie und Pornographie augenfällig. Mochten in der „Love Series“ und bei den „Dismembered Women“ noch rein sexuelle Obsessionen eine Rolle spielen – so in dem wunderbaren Bild „Bound On Red Background“ (1962) – transformiert sich dieses Moment geschundenen Körpers im Prozeß des Malens. Die Frauenbilder wuchern auf den Collageflächen, vermehren sich, wie vormals der Körper sich ausstülpte und deformierte, gruppieren sich mit Photos von befreiten KZ-Häftlingen oder aber einem Leichenberg entsteigt ein Pin-Up-Girl. Im medialen Diskurs wirkt eins so gut wie das andere, nur die Chuzpe, beides zusammenzubringen, hatte bisher keine Zeitung. Lurie schneidet Frauenphotos aus den Illustrierten oder aus einschlägigen Magazinen. Ebenso die KZ-Bilder. Logik des Traumas, eine Freifläches des Unbewußten mag man es ebenfalls nennen. Wir schauen auf die Verdinglichung des Körpers. Luries Obsessionen. Aber pornographische Bilder sind immer beides: Dinghaft und aufgeladener Fetisch: individuell lustbesetzt, in ihnen manifestiert sich erotische Phantasie. Insofern gibt es in Luries Bildern ebenfalls eine Erotomanie, bei Lurie heißt es in einem Interview: „Wie konnte ich jemals alle Mädchen in einem einzigen Bild malen?“ Der empirische Charakter verflüchtigt sich zugunsten eines Intelligiblen. Zum Schock mochte es im Angesicht solcher Korrespondenzen damals gekommen sein.

Eine großartige Ausstellung, die im Jüdischen Museum noch bis zum 31.7. läuft. Reizvoll ist der Wechsel der Stile, ebenso aber diese Mischung aus reiner Abstraktion, Ausdruck, Erotik und Grauen. Die Ausstellung spiegelt Geschichtsphilosophie im Medium der bildenden Kunst. Wer in Berlin weilt, sollte sich das nicht entgehen lassen: nur noch drei Tage. Stundenlang kann man vor diesen Bildern hocken und immer neue Bezüge, Szenen und Verknüpfungen entdecken. Die Bilder sind gut gehängt, der schwarze Hintergrund in einem der Räume stärkt die absurde Leuchtkraft dieser Bilder und selbst eines der feinsten Bilder in s/w-Manier „Pin Up (Body)“ von 1963, ein Photo-Siebdruck mit Acryl, wirkt in der Weise, wie es dieser neuen Art des Portraitierens angemessen ist.

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Wer sich über Luries Bilder empört und sie für obszön oder anmaßend hält, der sollte sich allerdings fragen, ob nicht ebenfalls jene kulturindustriellen Produktionen, die sich in Serien wie Holocaust oder in einem Film wie Schindlers Liste manifestieren, genauso unangebracht und obszön sind, vielleicht sogar angesichts der leichte Konsumierbarkeit des Leidens und des gut handhabbaren und entlastenden Umgangs noch ein Stück weit abgebrühter als die Collagen Luries. Freilich berührt das nicht die Frage, wieweit überhaupt von der Shoah ein Bild existieren kann. Die rein faktischen Berge der Leichen zeigen nichts als Faktisches: Berge von Leichen als Produkt von Kultur. Was sich im Herzen des Vernichtungslagers zutrug: davon existieren nur wenige Bilder. Eher schon reichen da Anselm Kiefers Bleikammern und die Aschereste heran. Lurie fügt diesen Abstraktionen das seinige hinzu.

„Meine Sympathie ist mit der Maus, doch ich füttere die Katze“ (Boris Lurie, 2001)

Keine Kompromisse. Die Kunst des Boris Lurie, (hrsg. v. Jüdisches Museum), Kerber Verlag, im Museumsshop: 29, EUR, im Handel: 36,– EUR, 176 Seiten, 196 farbige und 10 s/w Abbildungen, ISBN 978-3-7356-0195-7

Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue? Eine alte, alerte Dame oder ein Kreuzworträtselkunstmord

„Vor jedem Kunstgenuß stehe die Warnung: Das Publikum wird ersucht, die ausgestellten Gegenstände nur anzusehen, nicht zu begreifen.“
(Karl Kraus)

Fülle die freien Felder aus! Diese Aktion einer klugen Frau von 91 Jahren ist so das beste, was ich in letzter Zeit zu Theorie und Praxis spätmoderner Kunst gehört habe. Die Dame vermochte zu lesen, und sie nahm die Kunst in ihrem appellativen Charakter wahr. In diesem Sinne ist das Sich-Verhalten zur Kunst nicht nur Rezeption, sondern selbst ein Stückchen Fluxus, wenn nicht sogar Konzeptkunst samt Sprachphilosophie – Aktivität mithin: Eine Frau fängt in einem eher kleinen, unbedeutenden und daher vermutlich schlecht bewachten Museum an, ein Kunstwerk, das sich in Gestalt eines Kreuzworträtsels darbietet, zu komplettieren, weil der Künstler schrieb: „Insert words!“. So wurde ein doch recht starres Ding wie das Gemälde des Fluxus-Künstlers Arthur Köpcke in den Raum ästhetischer Kommunikation eingeholt. Traum jeden Künstlers und eigentlich auch jedes Museumspädagogen. Das ist der entscheidende Satz aus der „Süddeutschen Zeitung“, den jene Dame sagte:

„Wenn da kein Schild stehe, dass der Bitte des Künstlers nicht Folge zu leisten sei, man im Gegenteil unter keinen Umständen Folge leisten dürfe, so dürfe man sich nicht wundern, wenn im Besucher der Beschluss reife: Gut, mach ich.“

Eine Frau nimmt ein Museum wörtlich: Kunst ist Handlung, am Anfang war die Tat, Kunst hat Aufforderungscharakter und lädt zur Interaktion ein, soll die passiven Sinne aktiv machen: Werdet rebellisch! Unter diesem Konzept trat ein Teil der Klassischen Avantgarden an. So gelangte Kunst aus ihrem Käfig der Autonomie, hin zur Souveränität. Und die, die dafür plädieren, daß Kunst und Leben korrespondieren, stehen mit offenem Mund da und sind irritiert. Für meine Ästhetik der Verstiegenheit ein feines Fundstück.

Umstandslos akzeptieren wir die Trennung zwischen dem Museum als Ort des Gravitätischen, und der modernen Kunst samt dem Künstlersubjektgenie als Raum der Exaltiertheit, wie sie die inzwischen museumsreifen Dadaisten, Beuys oder Jonathan Meese betreiben. Weihestätte des Betrachtens wie des Kontemplativen konkurrieren mit dem Überborden der Phantasie als genialer Tathandlung – aus gutem Grunde nannte Alban Nikolai Herbst im Roman „Meere“ seinen exaltierten, lebensgierigen Künstler Fichte: das sich und Welt setzende Ich, auch in Ekstase: Grenzen reißen. Wildheit im Tun und inneres Afrika entkolonialisieren. Das Atelier als Heterotopie.

Sobald jedoch das aktionistische Moment ins Museum selbst, in die heiligen Hallen einzieht, ohne daß es sich um eine institutionalisierte Performance handelt, und wenn jemand die Regeln des Ortes bricht oder wie in diesem Falle unterläuft, indem eine alte, alerte Dame eine Aufschrift buchstäblich nimmt, kommen wir ins Nachdenken oder ins Lachen. So gerät auch dieses Schiff ins Schlingern und selbst das Museum wird zum heterotopischen Ort.

Für diese Entgrenzungen eignet sich insbesondere die Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg gut. Das ist ihre Stärke und ist zugleich ihre Schwäche. Gehlen kritisierte an der ungegenständlichen Kunst ihre Interpretationsbedürftigkeit. Aber auch Gegenständliches läßt viele ratlos. Wir können, wenn wir im System Kunst nicht gut institutionalisiert sind, Fettecken, Honigpumpen oder ein benutztes Bett nicht immer von einem Alltagsgegenstand unterscheiden. Das zerknüllte Taschentuch neben Tracy Emins Lotterbett könnte genausogut von einem Besucher stammen, der es absichtsvoll dazu drapierte, und ein Fleck auf dem Boden kann vom Künstler gewollt sein oder aber ein unliebsamer Abdruck. Eine Frage des Betrachtens und des Interpretationskonstruktes, das ich um einen Fleck oder ein Stück Papier aufbaue. Nicht immer leicht zu trennen. Daher die Inflation der immer gerne gebrachten Redewendung „Ist das Kunst oder kann das weg?“, die diese Hilflosigkeit angesichts moderner Kunst auf den Punkt bringt.

Anders verhält es sich bei jenen Werken, die wir den klassischen Epochen vor dem 20. Jahrhundert zurechnen. Bei Monets Seerosenbildern in der „Orangerie“ kämen nur wenige auf die Idee, den Lichteinfall noch ein wenig feiner zu tupfen oder sich zu irgend etwas aufgefordert zu fühlen, und nur Provokateuren fiele ein, der Gioconda einen Schnurbart zu malen. Insofern sind der Interaktion mit Kunstwerken am Ende doch enge Grenzen gesetzt. Sich jedoch einzubilden, ein klassisches Werk besser verstehen zu können als ein spätmodernes, weil es vermeintlich „realistischer“ scheint, ist Illusion. Die Komplexität eines Breughel, Cranach oder El Greco erschließt sich dem ungeübten Blick genausowenig wie eine Beuysche Fettecke. Kunst ist Arbeit. Aber eine lustvolle, die mit Kopf und Phantasie zu tun hat. In Nürnberg wurde beides eingesetzt.

Ai WeiWei in Berlin – Schweigenskonzeptualisationskunst

11_04_30_D_300_6364Lachen mußte ich, als ich heute morgen in der „Berliner Zeitung“ Arno Widmanns köstlichen Artikel über den sonntäglichen Auftritt Ai WeiWeis an der Berliner „Universität der Künste“ las. (Ja, ich lese die Tageszeitung immer einen Tag verzögert: die Zeitung von Montag am Dienstag, die vom Dienstag am Mittwoch usw. Dies freilich ist eine der harmloseren Marotten von mir.)

Ai WeiWeis Mischungsgelassenheit zwischen Stoa, chinesischem Konfuzianismus und Künstlerentrückung brachte ihn vermutlich über diesen herbstlichen Allerseelen-Abend im Konzertsaal der UdK. Die große Kunst, keine Kunst und schon gar keine Performance zu machen, sondern sich in asiatischer (Inhalts-)Leere zu ergehen, die der Zuschauer dann mit Zeichen füllen muß, wenn nicht gar, sich dem Zugriff konsequent zu verweigern, schien nach der Sicht von Arno Widmanns Text gut aufzugehen.

„Vier Professoren befragten knapp über eine Stunde lang Ai Weiwei. Hübsch einer nach dem anderen und wenn Ai einsilbig antwortete, röteten sich die Wangen der Professoren. Sie wurden hektisch und wussten nicht, was sie machen sollten. Die eine Dame und die drei Herren waren allesamt sichtlich überfordert. Eine nette, kleine Performance, mehr war ja nicht gefragt – das war offensichtlich schon zu viel für sie. Was, werden die etwas wacheren der anwesenden Studentinnen und Studenten sich gefragt haben, können die mir beibringen?

Immer wieder verweigerte er sich diesem Anspruch oder aber er sprach ebenso langweilig wie seine Befrager und zeigte dem Publikum so, eine wie riesige Rolle die Mimesis selbst bei einem Konzeptkünstler wie Ai Weiwei spielt.

Nach Ende der ersten Halbzeit erklärte einer der Herren, jetzt werde es um die Frage gehen, wie man denn Kunst lehren könne. Er sprach von der Schönheit eines weißen Blattes, das es zu beschreiben gelte. Man kann um jeden Studenten froh sein, den dieser Professor nicht beschrieben hat. Dann kam die Frage: Was sollen die Studenten lesen? Ai Weiwei antworte sehr ausführlich: Das ist eine schwierige Frage; ich liebe das Lesen mehr als alles andere, aber ich tue es nicht – man braucht so viel Zeit dazu. Fotografieren geht schneller. Ich weiß, so Ai Weiwei, wie schön es ist die Welt zwischen den Zeilen eines Buches zu lesen. Aber ich schaffe es nicht.

Am Ende dürfen Studierende auch noch ein paar Frage stellen. Die erste ist wunderbar. Kein Mensch versteht sie. Es ist Dada pur. Eine heitere Parodie auf die Veranstaltung. Aber nach der dritten Wiederholung der Frage hat einer auf dem Podium sie verstanden. Was ist die Beziehung zwischen Ethik und Ästhetik? Boing. Kaum hat man sie verstanden, hat sie jeden Reiz verloren. Ai Weiwei antwortet: Sie haben mit einander zu tun. Aber sie geraten in der Kunst oft in Konflikt. Mehr kann ich dazu nicht sagen.

Die letzte Frage: Wie definieren Sie Kunst? Ai Weiwei antwortet so etwas wie „Keine Ahnung“. Dann aber rafft er sich auf und sagt: Es ist wie mit dem Sex. Man kann sehr viel Erfahrung darin haben und kann doch nicht definieren.“

Am besten gefiel mir Widmanns absolut notwendiger Hinweis auf eine der unterschätzten Kategorien der Kunst: nämlich die Mimesis.

Die Reaktionen auf Ai WeiWei in den Kreisen der Galeriebesucher wie im selbstreferentiellen System Kunst samt seinem Personal sind gespalten bis verhalten. Die Schelte teile ich nicht, daß Ai Weiwei bloß ein hoffnungslos überschätzter Dissidentenkünstler sei – der er freilich nun im Ton einer empörten Öffentlichkeit denn doch nicht mehr ist: vom „Hosianna“ zum „Kreuzigt ihn!“ war es noch nie besonders weit. Einzig aufgrund seines Status als Kritiker Chinas hofiert und zudem von seiner Kunst her völlig überschätzt. Solche Vorwürfe müssen sich fragen, inwiefern hierin ebenso die eigenen Projektionen stecken und auf welchem Begriff von Kunst diese Sicht beruht. Man muß sich dazu die Äußerungen wie auch das Gerede von Ai Weiwei nicht anhören. Ich messe einen Künstler nicht an seinen Worten, nicht an den Selbsterklärungsversuchen, denn kein Künstler ist gehalten, sein eigenes Werk zu verstehen, schon gar nicht, kluge oder witzige Dinge zu sagen.

Die Konzeptualisierungen Ai Weiweis jedoch sind so gut oder eben: so schlecht wie die vieler anderer Konzept- und Environment-Künstler: Ob Tracy Emin nun ihr Bett mit benutzten fleckigen Höschen und Kondomen ausstellte oder Ai WeiWei Vasen aus der Han-Dynastie, tausende Hocker von chinesischen Wanderarbeitern oder Flußkrebse oder zunächst rätselhaft anmutende Stahldraht- oder Baumskulpturen: immer ist es Reflexionskunst, auf die man sich assoziativ und kreativ einlassen muß, die dazu auffordert, erschlossen zu werden oder aber es trifft eben doch die These von der Erklärungsbedürftigkeit der Modernen Kunst zu. Darin differieren Ai WeiWeis Werke nicht von denen anderer Gegenwartskünstler. Die Schelte an ihm ist billig und speist sich meist aus anderen und unlauteren Motiven. Vermutlich hat sich im System der popdistinkten Kunst, die auf den very special-Effekt einer Superperformanz für ein paar wenige Eingeweihte zielt, Ai WeiWei nicht verborgen genug gemacht. Nachdem er aus seiner Haft kam.

Cool oder uncool ist kein Maßstab für Kunstkritik. Und wenn, dann nur sehr bedingt. In den Liebesendszenen freilich spielt dieses semantisch-faktische Differenzierungsmerkmal eine Rolle, wenn man dem ironischen Text der Band „Tocotronic“ folgen mag, den sie Mitte der 90er Jahre, in den noch bewegten, wilden Jahren, da die Welt sich anders und alkoholischer und weiblicher und wilder drehte, in ihrem Lied „Ich mag dich einfach nicht mehr so“ zu schönen Tönen sangen:

„Vielleicht ist es eine//Frage des Geschmacks//mit Unrichtigkeiten//den Abend verbracht Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt// Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt“

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Die Photographien wurden von mir Ende April 2011 aufgenommen.