Zum Karfreitag

„Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot (dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: »la nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de l’homme«) -, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muß – die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß.“ (G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche)

Kreuzigung Christi, um 1494/95, Werkstatt Michael Wolgemut
Nürnberg St. Lorenz

(In Nürnberg wirkte Hegel, nachdem er in Jena bzw. Bamberg 1807 seine „Phänomenologie des Geistes“ vollendete und diese als Buch erschein, von 1808 bis 1818 als Rektor des Egidiengymnasiums. Er unterrichtete Philosophie, Germanistik, Griechisch und höhere Mathematik. Seine Unterrichtsmethoden waren für seine Zeit mehr als modern.)

Theologie goes Kritische Theorie: Benedikt XVI. (†)

Heute, zur Trauerfeier für Papst Bendikt XVI., werden viele Menschen Kerzen entzünden und eines einen herausragenden Theologen gedenken. Bendikt XVI. hielt 2011 im Deutschen Bundestag eine beeindruckende Rede. Aus einem christlichen und philosophischen Ethos heraus sprach dieser Papst und dies über die Forderungen des Tages hinaus zur Menschenwürde und dem Verhältnis von Natur und Mensch und ebenso lieferte er eine Kritik des Positivismus und eines rein funktionalen Verständnisses von Natur. Aus einer biblischen Geschichte des Alten Testaments wird ein philosphisches Problem der Moderne:

„Im ersten Buch der Könige wird erzählt, daß Gott dem jungen König Salomon bei seiner Thronbesteigung eine Bitte freistellte. Was wird sich der junge Herrscher in diesem wichtigen Augenblick erbitten? Erfolg – Reichtum – langes Leben – Vernichtung der Feinde? Nicht um diese Dinge bittet er. Er bittet: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ (1 Kön 3,9). Die Bibel will uns mit dieser Erzählung sagen, worauf es für einen Politiker letztlich ankommen muß. Sein letzter Maßstab und der Grund für seine Arbeit als Politiker darf nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein. Die Politik muß Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen. […] „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, hat der heilige Augustinus einmal gesagt. Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, daß diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, daß Macht von Recht getrennt wurde, daß Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und daß der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde – zu einer sehr gut organisierten Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben konnte. Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers. In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen. Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden? Die salomonische Bitte bleibt die entscheidende Frage, vor der der Politiker und die Politik auch heute stehen.

[…]

Wie erkennt man, was recht ist? In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt. Die christlichen Theologen haben sich damit einer philosophischen und juristischen Bewegung angeschlossen, die sich seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. gebildet hatte. In der ersten Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts kam es zu einer Begegnung zwischen dem von stoischen Philosophen entwickelten sozialen Naturrecht und verantwortlichen Lehrern des römischen Rechts. In dieser Berührung ist die abendländische Rechtskultur geboren worden, die für die Rechtskultur der Menschheit von entscheidender Bedeutung war und ist. Von dieser vorchristlichen Verbindung von Recht und Philosophie geht der Weg über das christliche Mittelalter in die Rechtsentfaltung der Aufklärungszeit bis hin zur Erklärung der Menschenrechte und bis zu unserem deutschen Grundgesetz, mit dem sich unser Volk 1949 zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekannt hat.

Für die Entwicklung des Rechts und für die Entwicklung der Humanität war es entscheidend, daß sich die christlichen Theologen gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle anerkannt haben. Diesen Entscheid hatte schon Paulus im Brief an die Römer vollzogen, wenn er sagt: „Wenn Heiden, die das Gesetz (die Tora Israels) nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie… sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab…“ (Röm 2,14f). Hier erscheinen die beiden Grundbegriffe Natur und Gewissen, wobei Gewissen nichts anderes ist als das hörende Herz Salomons, als die der Sprache des Seins geöffnete Vernunft.

Wenn damit bis in die Zeit der Aufklärung, der Menschenrechtserklärung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Gestaltung unseres Grundgesetzes die Frage nach den Grundlagen der Gesetzgebung geklärt schien, so hat sich im letzten halben Jahrhundert eine dramatische Veränderung der Situation zugetragen. Der Gedanke des Naturrechts gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, so daß man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen. Ich möchte kurz andeuten, wieso diese Situation entstanden ist. Grundlegend ist zunächst die These, daß zwischen Sein und Sollen ein unüberbrückbarer Graben bestehe. Aus Sein könne kein Sollen folgen, weil es sich da um zwei völlig verschiedene Bereiche handle. Der Grund dafür ist das inzwischen fast allgemein angenommene positivistische Verständnis von Natur und Vernunft. Wenn man die Natur – mit den Worten von H. Kelsen – als „ein Aggregat von als Ursache und Wirkung miteinander verbundenen Seinstatsachen“ ansieht, dann kann aus ihr in der Tat keine irgendwie geartete ethische Weisung hervorgehen. Ein positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht, so wie die Naturwissenschaft sie erklärt, kann keine Brücke zu Ethos und Recht herstellen, sondern wiederum nur funktionale Antworten hervorrufen. Das gleiche gilt aber auch für die Vernunft in einem positivistischen, weithin als allein wissenschaftlich angesehenen Verständnis. Was nicht verifizierbar oder falsifizierbar ist, gehört danach nicht in den Bereich der Vernunft im strengen Sinn. Deshalb müssen Ethos und Religion dem Raum des Subjektiven zugewiesen werden und fallen aus dem Bereich der Vernunft im strengen Sinn des Wortes heraus. Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt – und das ist in unserem öffentlichen Bewußtsein weithin der Fall –, da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt. Dies ist eine dramatische Situation, die alle angeht und über die eine öffentliche Diskussion notwendig ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede ist.

Das positivistische Konzept von Natur und Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganzes ist ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschsein in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur. Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur verwiesen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und radikale Strömungen herausgefordert werden. Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, daß wir in dieser selbstgemachten Welt im stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.

Aber wie geht das? Wie finden wir in die Weite, ins Ganze? Wie kann die Vernunft wieder ihre Größe finden, ohne ins Irrationale abzugleiten? Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen? Ich erinnere an einen Vorgang in der jüngeren politischen Geschichte, in der Hoffnung, nicht allzusehr mißverstanden zu werden und nicht zu viele einseitige Polemiken hervorzurufen. Ich würde sagen, daß das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er Jahren zwar wohl nicht Fenster aufgerissen hat, aber ein Schrei nach frischer Luft gewesen ist und bleibt, den man nicht überhören darf und nicht beiseite schieben kann, weil man zu viel Irrationales darin findet. Jungen Menschen war bewußt geworden, daß irgend etwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt. Daß Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern daß die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen. Es ist wohl klar, daß ich hier nicht Propaganda für eine bestimmte politische Partei mache – nichts liegt mir ferner als dies. Wenn in unserem Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt, dann müssen wir alle ernstlich über das Ganze nachdenken und sind alle auf die Frage nach den Grundlagen unserer Kultur überhaupt verwiesen. Erlauben Sie mir, bitte, daß ich noch einen Augenblick bei diesem Punkt bleibe. Die Bedeutung der Ökologie ist inzwischen unbestritten. Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten. Ich möchte aber nachdrücklich einen Punkt noch ansprechen, der nach wie vor weitgehend ausgeklammert wird: Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muß und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.

An dieser Stelle müßte uns das kulturelle Erbe Europas zu Hilfe kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewußtsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.

Dem jungen König Salomon ist in der Stunde seiner Amtsübernahme eine Bitte freigestellt worden. Wie wäre es, wenn uns, den Gesetzgebern von heute, eine Bitte freigestellt wäre? Was würden wir erbitten? Ich denke, auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein hörendes Herz – die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden.“

Einige dieser Sätze könnten ebenso aus einem Essay Kritischer Theorie stammen, wenn es um den Machbarkeitswahn geht. Theologie goes Adorno, goes Benjamin. Politik ist nicht Intuition. Aber sie hat, wenn sie gelingen soll, manches mit der Phronesis zu tut.

Heute trauern wir um Benedikt XVI., auch ich, obgleich kein Katholik und doch durch meine Urgroßmutter einem seltsam kaschubischem Katholizismus nahe.

Im Reigen der Bilderproduktion. Marie Rotkopf und Marcus Steinweg in „Fetzen. Für eine Philosophie der Entschleierung“

„Some of these days“ heißt ein Song von Shelton Brooks, der in dem existenzialphilosophisch angewehten Sartre-Roman „Der Ekel“ im Blick auf die jeweilige Gestimmtheit eine erhebliche Rolle spielt, und man kann nach der Lektüre des neuen Buches von Marie Rotkopf und Markus Steinweg existential gestimmt ebenfalls seufzen „Some of these books“. Ich vermag nach dem Lesen dieser Essay-und Fragmentsammlung einer Autorin und eines Philosophen leider nicht zu sagen, ob das ein Kompliment ist oder keines. Und ich vermag leider für meine Rezension auch nicht zu sagen, was ich von dem Buch halten soll: Ist es verschroben? Ist es Un-Sinn oder verspielte Leichtigkeit der sich ins Unendliche schraubenden Assoziationen? Die Leidenschaft zumindest will mich nach der Lektüre nicht anwehen.

Ich will es mit einer Anekdote beginnen: Ich erinnere mich in Hamburg, Anfang der 1990er Jahre im Studium, an jenen Professor in Germanistik, der uns literaturtheoretisch wie auch philosophisch Adorno, Derrida, Heidegger und Lacan beibrachte, wohlwollend und mit der Freude am Text, keine Ranküne gegen den sogenannten Poststrukturalismus und auch nicht gegen Heidegger, weil Nazi und solchen Reduktionismus, um sich vor der gedanklichen Auseinandersetzung mit dieser Philosophie zu schützen. Egal wie: als der gute Mann nach einer Habilitationsanhörung mir erzählte, wie dieser Vortrag derartig lacanös und unverständlich war und jenseits nicht nur von Gut und Böse, sondern auch jenseits der herkömmlichen Anforderungen an einen wissenschaftlichen Vortrag und daß man eigentlich, um es mit ähnlicher Münze, gleichsam mit Falschgeld, zurückzugeben, dem Vortragenden in genau dem gleichen Sound des Unverständlichen hätte antworten müssen, so daß dem Kandidaten ganz und gar nicht klar wäre, ob er nun angenommen oder nicht vielmehr abgewiesen sei. Eine quasi in die Prosa Kafkas versetzte Situation, und mit der Referenz auf Kafka und Beckett liegt man bei dem an der Staatlichen Akademie für Bildende Kunst in Karlsruhe lehrenden Philosophen Marcus Steinweg nicht falsch.

Was will und macht dieses Buch mit dem Titel „Fetzen. Für eine Philosophie der Entschleierung“? Von zwei Autoren verfaßt. Fetzen können das sein, was an Fleisch oder Stoff hängen bleibt, wenn etwas zerrissen wurde, ein Vorhang, ein Fetisch, Stoff oder Körper – das Dionysos-Motiv taucht leider meines Wissens in dieser Korrespondenz nicht auf, was schade ist, jener (wiedergeborene und wieder zerteilte) Dionysos-Zagreus und der von den Mänaden-Weibern zerfetzte Gott des Rausches: solch ein Spiel aus Fleisch, Begehren, Rausch und gegenseitigem Zerstören hätte ich mir zwischen beiden Autoren gewünscht. Jedoch: hemmungslos und den tatsächlichen Körper bedrohend und traktierend geht es in diesem Buch nur am Rande zu – wenn Rotkopf auf die Elftausend Ruten und die Heilige Ursula samt den 11.000 Jungfrauen kurz anspielt oder ein in Prosa phantasiertes Sexspiel (mit imaginierter Geschlechtswandlung) in einem Hotelzimmer, das eine Stunde zuvor noch von Didier Eribon und seinem Gefährten bewohnt war und wo die Erzählerin die Servicekraft bat, die Lacken nicht zu wechseln.

„Fetzen“, zumal in einem Dialog, kann freilich auch „Streiten“ bedeuten: Polemos, Widerstreit: Küsse und Bisse, das reimt sich, wie Kleist in der „Penthesilea“ zu dichten wußte und was für Achill nur bedingt gut ausging. Leider ist von einem Streit der Stimmen wenig zu vernehmen; allenfalls ein Entschleiern – freilich auf eine nicht allzu sinnliche Weise. Es ist ja auch Philosophie, kann man dem voyeuristischen Blick des Rezensenten entgegen, zumindest in dem, was Markus Steinweg macht. Womöglich bringt es, was die Lektüre des Buches betrifft, diese Textstelle auf den Punkt: „Vielleicht erschließt sich ein Buch erst durch das Wagnis, es nicht zu verstehen.“ Was als Nebensentenz im Reigen von Aphorismen im Blick auf Philosophie und Dichtung auftaucht, funktioniert hier möglicherweise ganz gut als Leseanleitung auch für „Fetzen“: „Vielleicht muss, wer zu lesen beginnt, den Mut zum Nichtverstehen aufbringen. Um das Risiko des Orientierungsverlusts auf sich zu nehmen.“ Es sind Sätze, die in diesem Reigen über vier Seiten mit einem „Vielleicht“ anfangen und eine Hilfe für die eigene Lektüre sein können: unsere alltäglichen Verstehensvollzüge aufzubrechen, gleichsam eine antihermeneutische Hermeneutik und Hermetik zugleich. Lektüre und Texte, die sich, wie es auch die Dichtung macht, ins Offene halten. Darin mag jene Philosophie (der Entschleierung) liegen. Tastend und vermutend. Text ist hier nicht unbedingt Sex, wenn der Leser ans Motiv der Enthüllung und des verdeckenden Fetischs aus Wäsche und Stoff denkt. Erschließen heißt zunächst einmal lesen und sich womöglich nicht als Hermeneutiker des Sinns zu vergewissern, um seiner habhaft zu werden, sondern sich dem, was im Buch steht, zu überlassen. Dies allerdings fiel mir bei meiner Lektüre, je länger ich im Buch las, zunehmend schwer.

Machen wir es also anders. Was steht in dem Buch? Es gibt einen Briefwechsel zwischen den Autoren und eine Reihung von philosophischen Aphorismen, Gedankenspielen, Notizen, Fragmenten, Gedichten und Erzählungen. Es sind Gespräche, Zwiegespräche, Monologe: über das Begehren, über Literatur, über Lacans Spiegelstadium. Wir lesen Texte und Sentenzen über unsere Verstrickungen ins System, in die Gesellschaft des Spektakels, den Neoliberalismus und eine Gesellschaft, die uns frißt, auffrißt, was auch immer. Es sind Phantasien über Sex, wenn die im Kopf von Marie Rotkopf sprechende Protagonistin, mal Mann (in die Rolle Didier Eribons schlüpfend), mal Frau, masturbiert und sich weiblich-männliche Orgasmen phantasiert. Das ist lustig, da möchte man gerne zusehen statt lesen – aber gut: es ist eben ein Buch, da muß man dann doch lesen. Die Idee ist witzig, aber in der kompositorischen Durchführung innerhalb des Buches reicht es mir nicht. Man kann solche Passagen als Assoziation und Punctum des Augenblicks mit den Mitteln der Phantasie fassen, wenn man es wohlwollend liest. Manches von Rotkopf erinnert vom Furor hier an ihr „Antiromantisches Manifest“ von 2017. Doch der Wille zur steilen These wird zu oft ruiniert durch das Überschießende des Gedankens. Übertreibungen können eine Sache anschaulich machen. Sie können aber ab einem bestimmten Punkt auch nerven.

Rotkopf schreibt gegen die deutsche Hybris und die Geschichtsvergessenheit – wobei ich beim Lesen mir denke, daß in kaum einem anderen Land derart die eigenen Verbrechen thematisch wurden, so daß mancher in der Schule bereits gähnte. Zudem ist diese Hybris womöglich gar nicht so deutsch. Und auch solche Sätze, im Blick auf die Shoah, sind einer Vergröberung geschuldet: „Die Europäische Union verwischt die deutsche Geschichte nicht, im Gegenteil; sie erbaut die Germania Magna.“ Hinzu kommt, was Rotkopf in ihren manchmal poetischen, manchmal leider nur haarsträubenden Assoziationen übersieht, nämlich die Dialektik der Nationen: Sie sind nicht nötig, wenn man den neoliberalen Strom der Waren und der Arbeitskräfte will, aber ein Sozialstaat, ein Staat, der gegen Neoliberalismus und den Abbau der Sozialsystem installiert ist, ist bisher und nach gegenwärtigen Maßgaben nur als Nationalstaat denkbar. In diesem Sinne kann man Rotkopfs Wut als heilsames Korrektiv zwar nehmen, um mittels Thymos-Energien eine Utopie anzusinnen, aber man sollte sie in der Sache weiterdenken.

Augenfällig ist die Diskrepanz zwischen beiden Autoren: Rotkopfs Stärke ist das Erzählen, aber nicht die Philosophie oder die (wenigstens halbwegs) konsistente Gesellschaftskritik. Steinwegs Stärke ist das Assoziieren und das Spielen und Kombinieren mit Theorien, mit Philosophie und Literatur: Marguerite Duras ist eine seiner zentralen Referenzen, zumal wenn es um das Zusammenspiel von Fiktivem und Tatsächlichem und um den Reigen der Bilderproduktion geht. Seine Gedankensprünge, Aphorismen und Sentenzen sind manchmal inspirierend, aber leider häufig auch so, daß ich mich frage, worauf diese Sätze hinauswollen. Der Funke springt oftmals leider nicht über – anders als in anderen Büchern von Steinweg. Das Begehren, das immer wieder thematisch wird, ist zuweilen ein trockenes Ding: klar, Philosophie, da wird es nicht immer feucht, auch nicht in der Bilderproduktion, aber ich dachte dann doch an Kants Satz, daß Begriffe ohne Anschauungen blind seien. Interessant wird es bei Steinweg da, wo er Philosophie und Literatur in eine Konvergenz bringt, wo er spekuliert, so etwa, wenn er darüber nachdenkt, was Adorno mit Heiner Müller verbindet: nämlich Chaosbejahung: „Im Schatten Nietzsches soll das Chaos einen tanzenden Stern gebären. Es unterläuft die Ordnungen = die Lügensysteme, die man Ideologien nennt. Das ist seine aufklärerische Funktion.“ Das Begriffslose eben mit den Mitteln des Begriffs aufzutun. Das aber ist zugleich, so würde ich ergänzen, Chaosbannung. Man muß vielleicht die Passagen der Autoren dialogisch lesen und ihnen die Stimme des Widerspruchs hinzufügen.

Nicht empfehlen kann ich das Buch all jenen, die klare Texte oder etwas „Wesentliches“ schwarz auf weiß gerne nach Hause tragen. Zu empfehlen ist das Buch allen, die gerne poetisch-ästhetisch und auf Ab- und Aberwegen der krummen Art denken. Dialektik ohne Dialektik, so kann man dieses poetische Verfahren von Steinweg vielleicht bezeichnen. Spannend ist, daß hier zwei unterschiedliche Stimmen, deren Tonart man bereits am Stil des Schreibens meist erkennt, ihre Bekenntnisse ablegen und sich entschleiern. Das mag auch eine erotische Komponente haben, wenngleich es im Diskurs des Begehrens zwischen den beiden Stimmen eher zu fremdeln scheint und die meisten Texte eher neben- und nicht miteinander laufen. Und ich würde zudem sagen: um mit dem Ton dieses Buches sowie dem Stil ihres Denkens bekannt zu werden, ist ratsam, ein paar andere Bücher von beiden vorher zu lesen. Von Rotkopf das „Antiromantisches Manifest: Eine poetische Lösung“ aus den Nautilus Flugschriften. Es ist dieses Buch eine Erregungssteigerung mit Beobachtungen, Fiktionen, Frechheiten. Man muß darin nicht alles teilen, aber der Verve und die Vehemenz amüsieren stellenweise – nicht Houellebecq, aber immerhin in Deutschland eine schimpfende Frau.

Von Steinweg zu empfehlen ist die „Philosophie der Überstürzung“ (bei Merve) und um in seine auch in den „Fetzen“ angespielte Quantenphilosophie hineinzugelangen das gleichnamige Buch bei Matthes & Seitz, 2021 erschienen.

Am Ende, so mein Eindruck, gibt das Buch zu verstehen, daß es nichts zu verstehen gibt. Es hätte auch „Enthauptung“ oder „Freispiel“ heißen können. Warm geworden bin ich beim Lesen nicht. Aber vielleicht funktioniert das Buch wie jene Kastanienwurzel, die Sartres antiheldischer Held Roquentin da im Park auf der Bank betrachtet: Bewußtsein von Sinnlosigkeit, der wir doch immer wieder einen Sinn geben wollen: sei es in der bildenden Kunst, mittels Dichtung oder Philosophie. Und manchmal eben erreicht uns etwas nicht.

Marie Rotkopf, Marcus Steinweg: Fetzen. Für eine Philosophie der Entschleierung
Matthes&Seitz, Berlin 2021, 205 Seiten, 15,00 €

Selige Sehnsucht und Weltkörper. Zu Novalisʼ 250. Geburtstag

„Wenn man aber bisher noch nicht philosophirt hätte? sondern nur
zu philosophieren versucht hätte? – so wäre die bisherige Gesch[ichte] d[er]
Philosophie nichts weniger, als dies sondern nichts weiter, als eine Geschichte
der Entdeckungsversuche des Philosophirens.“
(Novalis, Hemsterhuis- und Kant-Studien)

„Nämlich zu Haus ist der Geist
Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimat“
(Hölderlin, Brod und Wein)

Er ist einer der liebsten Denker mir: ein düsterer freilich, was die Aussichten anbelangt, und ein heiterer zugleich, ein intellektueller Erdinnengänger, wenn wir an seinen Bildungsroman „Heinrich von Ofterdingen“ denken, und ein luftreicher Überschäumer, wenn er in seinen Fragmenten die Philosophie denkt, sprudelnd im Geist: jener Gelehrte und Bergbau-Meister, Salinenassessor und Dichterdenker Georg Philipp Friedrich von Hardenberg. Und deshalb soll gerade in diesen Zeiten jenem Manne gedacht werden, der nicht nur Dichter, sondern zugleich Philosoph war. Symphilosophie, wie sie auch seine Freunde die Gebrüder Schlegel und Tieck andachten, damals 1797 in Jena, gemeinsames Denken, gemeinsames Leben, gemeinsames Wandern und eine unerhörte Philosophie, wie es sie bisher nicht gab:

„Ächtes Gesammtphilosophiren ist also ein gemeinschaftlicher Zug nach einer geliebten Welt – bey welchem man sich wechselseitig im vordersten Posten ablößt, auf dem die meiste Anstrengung gegen das antagonistische Element, worinn man fliegt, vonnöten ist. Man folgt der Sonne, und reißt sich von der Stelle los, die nach Gesetzen der Umschwingung unseres Weltkörpers auf eine Zeitlang in kalte Nacht und Nebel gehüllt wird. / Sterben ist ein ächtphilosphischer Act/ v[on] mir.“ (Novalis, Hemsterhuis- und Kant-Studien)

Dichten und Denken im Fragment, vielleicht auch, frei nach Heine, einer der ersten Posten im Freiheitskampf der Menschheit, und zugleich im Hinauswurf ins All und zu den Sternen, aber nicht immer zum Licht, fast ein wenig Major Tom und einsam in Gemeinschaft im kalten Weltenraum. Aufkommender Nihilismus, wofür Nietzsche rund 90 Jahre später jene Redewendung vom „unheimlichsten aller Gäste“ prägte. Ansatz und Abdrift und um diese kalte Nacht und den Nebel zu ertragen, braucht es einen Gemeinsinn: aber einen anderen sensus communis als Kant ihn sich andachte und weniger im Modell einer herkömmlichen Kommunikation, sondern als Gemeinschaft freier Geister. Darin liegt das Moderne von Novalis. Aber noch ist das All und sind die bestirnten Himmel freundlich gesonnen:

„Das Weltall zerfällt in unendliche, immer von größeren Welten wieder befaßten Welten. Alle Sinne sind am Ende Ein Sinn. Ein Sinn führt wie Eine Welt allmälich zu allen Welten.“ (Novalis, Heinrich von Ofterdingen)

Hen kai pan und all die Bilder für Naturphilosophie, die doch immer auch den Mensch meinen muß. Aus dem Zerfall dennoch das Gemeinsame zu denken, in Erdenstaub und Wanderschaft, in Träumen und Fabelwelten, wie in jenem Novalisschen Bildungsroman, der eine Antwort und zugleich eine Kritik des „Wilhelm Meister“ sein sollte – jenem Ereignis, wie Friedrich Schlegel es in seinen Athenäums-Fragmenten formulierte, das zusammen mit Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95 und der Französischen Revolution dafür stand, die größten Tendenzen des Zeitalters auszumachen.

Und es gab zugleich einen anderen Nexus, der unter der Oberfläche wirkte: Novalis und Hölderlin. Obwohl sie einander nie begegneten und einander nicht kannten oder gar Briefe wechselten, korrespondierte da ein Denken: Wie auch beim zwei Jahre zuvor geborenen Friedrich Hölderlin existiert in den Gewittern des ausgehenden 18. Jahrhunderts – jene Französische Revolution, der Spinoza-Streit und Goethes „Werther“ wie auch seiner „Lehrjahre“– ebenso bei Novalis eine Form des Denkens und Schreibens, wo sich nicht einfach mehr die strikte Scheidung zwischen Literatur hie und Philosophie da aufrechterhalten ließ. Wobei im Unterschied zu Hölderlin die Textproduktion zu den Fragen der Philosophie bei Novalis erheblich umfangreicher ausfällt: Logologische Fragmente, Fichte-Studien, Hemsterhuis- und Kant-Studien, das Allgemeine Brouillon und Blüthenstaub sowie „Dialogen und Monolog“, viele hundert Seiten und wie sich die Gedanken des Anfang 20-Jährigen in philosphischen Fragmenten, Sentenzen und Skizzen ausbreiten und sich ausprobieren, während bei Hölderlin noch viel stärker als bei Novalis sich jenes Durchdringen von Sprache, Sein, Denken und Welt in seiner Dichtung selbst findet. Etwas zu sagen, was sich mit den Mitteln normaler Sprache und mit den Mitteln diskursiver Philosophie und in ein System gebracht nicht in dieser Weise sagen läßt.

Für dieses neue Denken, diese andere Dichten, diese erweiterte Philosophie bürgerte sich, um solch Neues in einen Begriff zu fassen, die Rede von der Frühromantik ein: bei Schlegel hießt solcher Überschuß Universal- oder Transzendentalpoesie: „Die Poesie die Potenz der Philosophie, die Philosophie die Potenz der Poesie“ (Fr. Schlegel). Ähnlich hätte es auch Novalis schreiben können. Symphilosophieren. Hölderlin wird man im strengen Sinne nicht zu den Frühromantikern zählen können. Doch die Kritik des Systemdenkens einte beide Autoren. Anders als deren Zeitgenossen Hegel und Schelling (zumindest der von „System des transzendentalen Idealismus“) brachten weder Novalis noch Hölderlin Systeme des Denkens hervor, sondern sie unterminierten solches System mit Fragmenten und in einer beständigen Umschrift ihrer Dichtung. Beide Philosophen-Dichter gehören einer Alterskohorte an. Und beiden Dichterphilosophen kam das selbständige Leben um 1801 bzw. 1802 abhanden: dem einen durch Tod, dem anderen durch einen Wahnsinn. Beide zog es in jene Ferne, die wir heute die Südsee nennen:

Nein! Freunde kommt, laßt uns entfliehen
Den Fesseln, die Europa beut,
Zu Unverdorbnen nach Taiti ziehen
Zu ihrer Redlichkeit.

Und laßt uns da das Volk belehren
Wie Orpheus einstens tat;
Das Saitenspiel soll ihrer Wildheit wehren
Errichten einen Staat,

Wo nur Natur den Szepter führet,
Durch weise Künste unterstützt,
Und jeder in dem Stand, der ihm gebühret,
Dem Vaterlande nützt.
(Novalis, An meine Freunde, Gedichte / Die Lehrlinge zu Sais)

Und Hölderlin in seinem berühmten Dezemberbrief von 1801, kurz vor seiner Reise nach Bordeaux als Hauslehrer, an seinen Freund, den Dichter Casimir Ulrich Boehlendorff:

„Ich habe lange nicht geweint. Aber es hat mich bittre Thränen gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jezt zu verlassen, vielleicht auf immer. Denn was hab‘ ich lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen. Deutsch will und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und die Nahrungsnoth nach Otaheiti triebe.“

Wir hören noch hier den Hyperion-Ton. Einer der letzten Briefe Hölderlins vor seiner Abreise. Der „freie Gebrauch des Eigenen“ (Hölderlin), der freie Gebrauch des Nationalen verband beide. Während Hölderlin in schwäbischer Landschaft jenen Atlas griechischer Orte fand und das Deutsche im antiken Griechenland, träumte Novalis einen ästhetischen Staat, in dem die Natur regiert, unterstützt durch die Kunst und damit in einer schönen Utopie vereint, wie er sie auch in „Glauben und Liebe oder Der König und die Königin“ in einer Eloge an das 1798 frisch gekrönte preußische Königspaar Friedrich Wilhelm III. und Luise von Mecklenburg-Strelitz niederschrieb. Gut aufgenommen wurde diese Schrift nicht: die Geburt der Politik aus dem ästhetischen Geist war des Preußens Sache nicht. Die schönen Künste sollten zieren, aber nicht regieren. Was Novalis entwarf und sich erschrieb, war ein Staat, der freilich anders als der Schillers nicht durch die Schönheit ins Reich der Freiheit gelangte, sondern mittel freier Natur, durch den Glauben und die Phantasie des Dichters geschaffen wurde; in gewissem Sinne auch ein Kolonie-Projekt wie in jenem Novalis-Gedicht geschildert, („Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist“, so Hölderlin in „Brod und Wein“); und im Gesang des Orpheus, mit neuen Anfangsbedingungen einer anderen Kolonie, versuchte jener Novalis, der Mühle und der Maschine zu entkommen:

„Im Glauben suchte man den Grund der allgemeinen Stockung, und durch das durchdringende Wissen hoffte man sie zu heben. Ueberall litt der heilige Sinn unter den mannichfachen Verfolgungen seiner bisherigen Art, seiner zeitigen Personalität. Das Resultat der modernen Denkungsart nannte man Philosophie und rechnete alles dazu was dem Alten entgegen war, vorzüglich also jeden Einfall gegen die Religion. Der anfängliche Personalhaß gegen den katholischen Glauben ging allmählig in Haß gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über. Noch mehr – der Religions-Haß, dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Noth oben an, und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey. Ein Enthusiasmus ward großmüthig dem armen Menschengeschlechte übrig gelassen und als Prüfstein der höchsten Bildung jedem Actionair derselben unentbehrlich gemacht. – Der Enthusiasmus für diese herrliche, großartige Philosophie und insbesondere für ihre Priester und ihre Mystagogen. Frankreich war so glücklich der Schooß und der Sitz dieses neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wissen zusammen geklebt war.“ (Novalis, Die Christenheit oder Europa)

Was hier zunächst und aus heutigem Blick wie Katholizismus und Frömmelei sich ausnehmen mag und auch als eine (vermeintlich reaktionäre) Kritik der Französischen Revolution, dürfte die Kirchenoberen dennoch wenig erfreut haben, da sich dieser Glaube ans Wunderbare gerade nicht aus einem Papsttum speiste, sondern aus der Freiheit des Denkens und als Revolution gegen jegliches Maschinelle und damit gegen die verdinglichte Welt auch der offiziellen Kirche. Novalis war eben kein Konvertit, sondern Kritiker des Systems: Die schöpferische Vielfalt der Sphärenklänge („Die Sonne tönt nach alter Weise/ In Brudersphären Wettgesang,/ Und ihre vorgeschriebne Reise/ Vollendet sie mit Donnergang“, so dichtete Goethe zum Himmels-Prolog des „Faust“) regredierte in der aufkeimenden Moderne der Sattelzeit ins Klappern: Wenn nur noch Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen, dann verstumpft der Klang des Lebens.

Allein dieses Bild einer sich selbst mahlenden Mühle wiegt alles auf, was in diesem Text auch und zunächst bedenklich erscheinen mag. Novalis schreibt Verdinglichungskritik aus dem Geist der Dichtung und einer ahnenden Phantasie: nicht in der kalten Präzision eines Marx zwar, wie dieser es vierzig Jahre später in den Frühschriften faßte, aber doch in der Lebendigkeit von dessen Denken. Die Maschinenmetapher steht im Kontext der Aufklärungskritik, und zwar als Aufklärung über den Menschen und sein Verhältnis zur Natur. Dialektik der Aufklärung ante portas, Aufklärung über uns selbst gleichsam, aber zu jenen Zeiten der Jahrhundertwende noch als Überschwang und im Gang der Phantasie. Schönheit des Glaubens, um zum Reich der Freiheit zu gelangen.

Man mag diesen Aspekt der Religion bei Novalis verspotten, zumindest beim naiven Betrachter, aber wenn wir bedenken, daß auch in Hegels Diktion in den Religionen die Völker ihre höchsten und besten Weisen der Vorstellung niederlegten, so mag dieses Religiöse als Moment und Konstitutivum von Sittlichkeit, Gemeinschaft und Gesellschaft doch weniger lachhaft erscheinen als es uns heute ist. Uns fehlt diese religiöse Musikalität, die zugleich auch eine Sache der Kunst ist, ohne daß es in Kunstreligion driftet, sondern wo Kunst und Religion eine Angelegenheit nicht nur des objektiven und absoluten, sondern auch des subjektiven Geistes sind:

„Wenn mich nicht körperliche Unruhe verwirrt, welches doch nicht häufig geschieht, so ist mein Gemüth hell und still. Religion ist der große Orient in uns, der selten getrübt wird. Ohne sie wäre ich unglücklich. So vereinigt sich Alles in Einen großen, friedlichen Gedanken, in Einen stillen, ewigen Glauben.“ (Novalis, Brief an Kreisamtsmann Just, November 1800)

Hen kai pan, zumindest hier, im Gemüt, im Krisenfall des Grübelns und der körperlichen Versehrtheit. Und in der Dichtung allemal.

„Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause.“ (Novalis, Heinrich von Ofterdingen)

Das mag wohl sein, denn das Ende unseres Lebensweges ist die Erde, das Wasser, die Luft oder das Feuer: eines der Urstoffe und Elemente. Dieses Denken eines Wurzelhaften, einer Herkunft als Verflechtung ist dialektisch wie auch die Dichtung Hölderlins.

Die schönsten Verse der Menschen
– nun finden Sie schon einen Reim! –
sind die Hardenbergenschen.

Und so möchte ich, frei nach Rühmkorfs „Lied“ mit einem der schönsten Zeilen der Lyrik des ausgehenden 18. Jahrhunderts enden, weil darin Liebe, Philosophie, Sinnlichkeit, Welt und ein Überborden des Denkens ihre Stätte haben:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Aufhebung der Entfremdung im Akt des Dichtens, des Singens und des Liebens. Doch diese Möglichkeiten sind uns im 20. und im 21. Jahrhundert nur noch bedingt gegeben. Kunst kennt Grenzen. Novalis gemahnt an eine Welt, die verschüttet ist. Sein Ton mag nach Unmittelbarkeit klingen. Anders aber als Hermann Hesse und Konsorten Beatnick geschieht dieser Schwung nicht im Kitsch, sondern in einer Emphase, die für uns Heutige kaum noch verständlich und auch kaum noch durchführbar ist. Es sei denn, wir gingen anders.

(Novalis-Ausgabe aus dem Aufbau-Verlag, DDR-Zeit)

Zum Tod von Jean-Luc Nancy

Am 23. August starb der französische Philosoph Jean-Luc Nancy. Ihn als Schüler Derridas zu bezeichnen mag zwar richtig sein, greift aber angesichts der originären Arbeit von Nancy, sei es zur Kunst, zur Religion oder zum Körper, deutlich zu kurz. Die sogenannte Dekonstruktion geht sicherlich nicht ihrem Ende entgegen – wenngleich einer ihrer letzten Vertreter nun tot ist und wenngleich seit einiger Zeit studentische Idioten solche Dekonstruktion der Lächerlichkeit preisgeben, aber das geschieht leider und meist, wie auch bei der Kritischen Theorie und beim sogenannten „Marxismus“, wenn Texte nicht gründlich gelesen, sondern auf unmittelbare politische Anwendbarkeit heruntergerotzt und auf eine Mechanik reduziert werden.

4106fmGu5cL._SX367_BO1,204,203,200_Von der eher anekdotischen Evidenz einmal abgesehen, daß mancher ein Buch wie „Es gibt – Geschlechtsverkehr“ vom Titel her bereits spannend finden könnte – quasi: zu lesen und nichts zu tun, Voyeur alter Schule – finden wir bei Nancy das Denken über den Körper ausgeprägt, was bis in die Fragen der Kunst reicht: „Die Haut der Bilder“, so lautet einer seiner Buchtitel (zusammen mit Federico Ferrari). Während jenes „Es gibt – Geschlechtsverkehr“ zunächst einmal eine Auseinandersetzung mit Lacan, Derrida und implizit auch mit jenem Heideggerschen „Es gibt“ ist, Körper über Umwege. Und dabei dachte ich, als mir damals der Titel in die Hände fiel und ohne das Buch gelesen zu haben, sofort an einen der großen Schlußsätze der Weltliteratur, an Kafkas „Das Urteil“, wo es mit einem Male, als es, vom Vater verkündetes Urteil, in den Tod und hinab in die große Vereinigung ging, zugleich laut wurde: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“ Während Herr Bendemann dies nicht mehr zu hören vermochte, weil er einige Sekunden zuvor, das Geländer festhaltend, wie ein Hungriger die Nahrung, sich über diesen letzten Halt hin zu Welt schwang, ausgezeichneter Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Baisemoi, Baisers volés. Davon also abgesehen, gibt es solche Essays wie „Noli me tangere“, darin Nancy jene in den Evangelien geschilderte Szene der Auferstehung des Jesus und der Begegnung mit Maria Magdalena im Friedhofsgarten, die in Tizians, Correggios und vor allem Rembrandts Gemälde Sujet der Malerei war, deutet und nicht nur in eine schöne Sprache von Fragmenten der Liebe bringt, sondern auch jenes Moment von Zeigen und Nicht-Zeigen, von Sichtbarem und Nichtsichtbarem ortet:

„In dieser Hinsicht bildet Noli me tangere die subtilste Szene und die (man muss es sagen) verhaltenste: Deshalb verstanden es die Maler auch, hier nicht ekstatische Schau eines Wunders auszumachen, sondern eine delikate Intrige zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, die einander anrufen und zurückstoßen, einander berühren und jeweils auf Distanz halten.“

Daß die Dekonstruktion bzw. das Denken Nancys zu einem wesentlichen Teil von der Phänomenologie herkommt, mag man in solchen Passagen ahnen, wo es einerseits um Blicke geht, aber zugleich auf das Feld des Berührens und der zarten Gesten verweisen wird. Es sind Hände, es ist Haut, es sind Worte und ins Bild gebracht wird zugleich das leere Grab. Der tote Leib, der mehr als tot ist und es eben doch nicht ist. Blicke zugleich, die sich täuschen, denn Maria Magdalena vermeint und glaubt, den Gärtner zu sehen. Erscheinen, Nähe und Distanz. Die Wirkung jenes Mannes aus der Ferne. Nancys „Noli me tangere“ ist zugleich eine Reaktion auf das Buch seines Lehrers Derrida „Berühren – Jean-Luc Nancy“, wie Benoît Peeters in seiner Derrida-Biographie ausführlich darlegt.

Während meines Studiums ist mir Nancy leider nicht in der Philosophie untergekommen, sondern in den 1990er Jahre in den Germanistikseminaren von Ulrich Wergin, und zwar über Nancys Buch „Undarstellbare Gemeinschaft“ und über jenen legendären Sammelband „Nietzsche aus Frankreich“, darin auch von Nancy ein Essay sich befand. Vor allem aber verwies Wergin immer wieder auf jenes zentrale Werk, das Nancy zusammen mit Philippe Lacoue-Labarthe herausgegeben und geschrieben hatte: „Das Literarisch-Absolute. Texte und Theorie der Jenaer Frühromantik“ – dankenswerterweise von turia + kant 2016 in Verlag genommen und übersetzt. Wer sich mit der Jenaer Frühromantik beschäftigt, wird im Kontext von Philosophie um dieses Buch nicht herumkommen. Es ist eine hervorragende Einführung ins philosophische Denken der Romantik wie auch in deren Literatur; parallel zu den Essays von Lacoue-Labarthe und Nancy werden die einzelnen Texte dargeboten: etwa das Älteste Systemprogramm, die Athenaeum-Fragmente sowie Texte von Schelling, Novalis und vor allem von Friedrich Schlegel – etwa das „Gespräch über Poesie“. Solches Darbieten von Primärliteratur ist fürs Studium zentral, denn wer die Originaltexte nicht kennt, hat am Ende auch von einer Einführung wenig. Lacoue-Labarthe und Nancy entfalten in diesem Buch kenntnisreich jenes Szenario um 1800 herum, welches jener bereits neuen Zeit von Frühaufklärung, Lessing, Wieland, Kant, Herder, Jacobi, Fichte und Goethe, Spinozastreit, Aufklärung, Sturm und Drang einen weiteren Dreh versetzte: das Neue, das Interessante als Formen einer Literatur, die mal Philosophie, mal Dichtung sein wollten. Wegmarken zum Absoluten, und wer dabei auf geistreiche Art angeregt werden möchte, der lese, so möchte ich hinzufügen, unbedingt Friedrich Schlegels „Lucinde“ und dazu noch das „Gespräch über Poesie“.

Insbesondere hielten Lacoue-Labarthe und Nancy in ihrem Buch fest, daß das zentrale Projekte des Jenaer Romantikkreises und der Gebrüder Schlegel jene Zeitschrift „Athenaeum“ bildete, sowie überhaupt das Projekt, Zeitschriften zu machen, darin Diskussionen stattfinden und der Geist der Zeiten einen Ausdruck finden kann – was bis heute verbreitet ist und was einen wesentlichen, aber leider nie realisierten Ausdruck in jenem Zeitschriftenprojekt von Walter Benjamin und Bert Brecht fand: „Krise und Kritik“. Gleichsam vom Titel her bereits die kluge Signatur eines Zeitalters, das wir Moderne nennen. Der Historiker Reinhart Koselleck drehte diesen Titel für sein legendäres Buch dann gleichsam um.

Zudem ist, so Lacoue-Labarthe und Nancy, diese Zeitschrift ein Projekt der „Verbrüderung der Kenntnisse und Fertigkeiten“ so hieß es im Athenaeum, wofür der Begriff des Symphilosophierens stand, welches freilich einer gewissen Wahl unterlag: „Man soll nicht mit allen symphilosophieren wollen, sondern nur mit denen die à la hauteur sind.“ (Fr. Schlegel, Athenaeumsfragment Nr. 264) Es handelt sich bei solchem Denken um eine in Gemeinschaft stattfindende Arbeit, ein ästhetischer wie auch philosophischer Gemeinsinnn, der sich über Nähe konstituierte und zuweilen auch Ähnlichkeit bei aller Unähnlichkeit hervorbrachte. Nähe im Denken, um einer Sache willen. Eine Form von Gemeinschaft mithin, die Nancy etwa mit Derrida und mit Lacoue-Labarthe pflegte. „Das Literarisch-Absolute“ ist schöner und gelungener Ausdruck solcher gemeinsamen Arbeit. Eben auch ein Aspekt, den das Absolute ausmacht und umfaßt, nämlich jenen Weg überhaupt zu gehen und wenn es gut läuft in Gemeinschaft. Gegebenenfalls auch eine Gemeinschaft mit anderem Denken, und so verwundert es in solchem Kontext nicht, daß es von Jean-Luc Nancy zwei Aufsätze zu Hegel gibt, nämlich „La remarque speculative“ (1973) und „Hegel. Lʼinquiétude du négatif“ –  beide 2011 beim diaphanes Verlag erschienen.

Im Athenaeum manifestierte sich zudem jene für die Romantik wesentliche Schreibweise, die auch für bestimmte Formen des poststrukturalistischen Denkens zentral werden sollte (man nehme nur Derridas „Postkarte. 1. Lieferung): die Verwendung unterschiedlicher Gattungen, der Rückgriff auf das Fragment und es werden das literarische Eigentum und die Autorität des Autors in Frage gestellt. Wild wurde ausprobiert, was auch mit der Epochen- und Zeitenwende um 1800 zu tun hatte. Textformen als Versuche. Allerdings ist all dies nicht von Dauer und kann sich nur über eine kurze Phase durchhalten. So zumindest schildern es Lacoue-Labarthe und Nancy. Solches Befragen und das Infragestellen von Grenzen macht sicherlich eine gewisse Nähe auch zu den Autoren des sogenannten Poststrukturalismus und der Dekonstruktion aus.

„Es sei hier also noch einmal gesagt, dass es hier nicht um das Bild von der Romantik geht, das man sich gemeinhin von ihr macht. Madame de Staël hat dies auf ihre Weise durchaus bereits vorausgeahnt. Trotz ihres etwas allzu kurz gegriffenen (…) Widerstands gegen Theorie hatte sie zumindest verstanden, dass das Neue in Deutschland um 1800 nicht die ‚Literatur‘, sondern die Kritik oder wie sie es auch nannte, die ‚literarische Theorie‘ ist.“ (Lacoue-Labarthe/Nancy, Das Literarisch-Absolute, S. 27 f.)

Was mich – aber das ist ein rein subjektives Moment – an Nancys Texten zur Religion und zur Auslegung von Bildern der Religion,  wie eben in „Noli me tangere“, faszinierte, ist jener für einen nichtreligiösen Menschen, der doch, wie ich es bin, religiös gestimmt ist, ästhetische Zugang zur Religion über Bilder. Einerseits. Und zugleich ein über Begriffe wie das Absolute, das Spekulative und über die Unruhe des Negativen laufender Zugang des Denkens: ein Weg, der freilich nicht als System läuft, sondern in Ausfaltungen und im Detail abschreitet. In der Hingabe an eine Sache. Das Absolute ist nicht einfach ein Behälter, wo alles irgendwie darin ist und das man mit Stecken und Stangen, wie Hegel bereits spottete, dingfest machen könnte. Mit Jean-Luc Nancy ist ein Philosoph verstorben, der Ästhetisches, Politisches und die Philosophie selbst im Denken zu versammeln vermochte.

Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht,
Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen,
Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.
Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe
Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maß,
Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden,
Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann
(Fr. Hölderlin, Brod und Wein)

Kein Ort nirgends? Von einer sich ins Handgemenge werfenden Philosophie

Ein Rezensionsessay zu Donatella Di Cesares „Von der politischen Berufung der Philosophie“

„Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt“, so beginnt Georg Lukácsʼ „Theorie des Romans“. Es eine Welt, in der die Seele noch keinen Abgrund in sich trägt. Es ist die Epoche und das Geheimnis des antiken Griechentums. Echte Einheit noch oder zumindest die Fiktion einer Einheit, die wir im Nachgang hineinlesen? Wer eins ist, weiß es meist nicht oder muß nicht viel darüber sprechen: Anmut, wie jener kapitolinische Dornenauszieher, den sich Kleist dann in seinem Marionettentheater für den Jüngling zum Vorbild nahm, der mit Anmut das tut, was er tut, weil er nicht weiß, was er da tut.

Während in Lukács‘ unbedingt wieder zu entdeckender „Theorie des Romans“ (veröffentlicht im Jahr 1916) jene Antike dadurch gekennzeichnet ist, die Abgründe noch nicht zu kennen, so die Fiktion Lukácsʼ, ist dies für die Moderne, die mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts heraufzieht, anders: Lukács spricht im Zusammenhang mit dem (modernen) Roman, der das (antike) Epos als Frage darauf, wie das Leben wesenhaft werden könne, abgelöst hat, von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“. Querelle des Anciens et des Modernes noch zum Beginn des 20. Jahrhunderts – immerhin auch die Zeit, in der Hölderlin wiederentdeckt wurde. Leider auch für den Tornister. Ästhetik wird, so Lukács, in dieser Epoche seit der literarischen Romantik zu einer neuen Metaphysik, um jene Entzweiung zu heilen. Ebenso gibt es, in ganz anderem Kontext, in Ernst Tugendhats „Vorlesungen über Ethik“ aus dem Jahre 1993 eine Passage, wo es in Bezug auf die Frage, wie wir Moral begründen wollen heißt, daß wir in dieser Welt auf keine transzendente Instanz vertrauen können: Wir sind unter uns, so Tugendhat. Kein Gott nirgends.

In der Moderne herrscht zähe Immanenz und nicht die Ästhetik oder die Metaphysik, die man einmal Theologie auch nannte. Mit einer solchen Beschreibung der Immanenz beginnt Donatella Di Cesares Essay „Von der politischen Berufung der Philosophie“:

„Es gibt kein Außen mehr. So präsentiert sich das letzte Stadium der Globalisierung. Bis zur Moderne dachten die Bewohner des irdischen Gestirns bewundernd, staunend und erschüttert über den Kosmos nach und richteten ihre Augen in den offenen Himmel. Jenes unermessliche Gewölbe bot ihnen gleichwohl Schutz, schirmte es sie doch gegen die absolute Äußerlichkeit ab, der sie sich ausgesetzt sahen. Als der Planet jedoch von vorne bis hinten erkundet – umrundet, besetzt, vernetzt, vor- und dargestellt – war, brach der kosmische Himmel auf, und es eröffnete sich ihnen: der Abgrund.“

Die für Di Cesare daran anschließende Frage lautet: wie kann es in einer Welt ohne Außen noch Philosophie geben? Die Moderne oder genauer geschrieben der Kapitalismus und sein weltumspannendes System haben sich gegen das Außen immunisiert. Alles ist Binnenraum, alles steht unter dem Bezug, vom Fremden in Eigenes verwandelt zu werden oder wie Peter Sloterdijk es in einem Buchtitel griffig formulierte: „Der Weltinnenraum des Kapitals“. Und es scheint uns, so Di Cesare, wahrscheinlicher, daß wir das Ende der Welt eher noch uns ausmalen können als das Ende des Kapitalismus. Philosophie richtete den Blick nur noch ins Innere, so spitzt Di Cesare die Situation zu:

„Wozu sich noch in das eisige und tote Jenseits hinauswagen? Es triumphiert die Exophobie, eine abgründige Angst, eine kalte Panik, das nackte Entsetzen vor dem, was äußerlich ist. Diese Angst ergreift auch das Denken und hält es gefangen.“

Di Cesares Diagnose der Moderne mag zunächst grob geschnitten anmuten und auch die Konstruktion, weshalb ein Philosoph aus dieser Immanenz heraus und zugleich in ihr nicht zu philosophieren vermag, erschloß sich mir nicht. Ebensowenig wie jene Immanenz und die damit verbundene Transzendenzlosigkeit – gerade in Zeiten, wo Religionen wieder deutliches Gewicht erhalten und darin transzendenter Trost gesucht wird. Man muß aber wohl im Sinne des Principle of charity, wie das bei einem Essay der Fall ist, der nicht strikt argumentiert, sondern den Gedanken in der Zuspitzung überschießen läßt, ein wenig Kredit geben und solche Voraussetzungen zunächst mal provisorisch als gegeben nehmen, um dann zu sehen, wohin diese Gedanken den Leser tragen.

Daß es eine Zeit gab, als jenes Außen als Abgrund und auch als Fremdheit noch in den Blick genommen wurde, zeigt Di Cesare anhand der griechischen Antike, aber auch anhand von Marx, Kierkegaard, Heidegger und Benjamin. Ihr Blick auf die Vorsokratiker beginnt interessanterweise mit Heraklit, der auch der Dunkle genannt wird. Dieser blickte auf die Sprache, um die Wirklichkeit zu verstehen, und auf die Wirklichkeit, um unser Dasein in den Blick zu bekommen: die Polarität von Tag und Nacht sind Hinweise und mehr noch: Symbole. Licht und Dunkel verweisen auf Schlafen und Wachen, und dieses Wachen wird, so Di Cesare, zum „Auftakt der Philosophie“. Sie bezeichnet Heraklit als „Metaphysiker des Lichts“ – sicherlich auch in Absetzung zu einer Zuschreibung des Dunklen. Solche Formulierungen mögen zwar eine gewisse Griffigkeit besitzen und auch auf jenen Zusatz anspielen, den Heraklit trug, nämlich „der Dunkle“, aber es ist doch fraglich, ob man von der Sache her eine solche Zuschreibung tatsächlich treffen kann und ob man bei Heraklit von einem Metaphysiker sprechen sollte. In solchen Thesen zu bestimmten Positionen scheint mir viel Diskussionsbedarf zu herrschen und ebenso in der Auslegung der Texte. Anregend ist es zwar für das Weiterdenken von Philosophie, aber es sind eben doch auch interpretative Zuschreibungen, die zugleich eine Blickverengung bedeuten. Andererseits liest sich Di Cesares Essay derart flott, daß man solche Interpretationen verzeiht.

Die Nacht ist gefährlich und es wacht womöglich niemand mehr über die Polis, „wenn in der Nacht der Stadt die Welt unterzugehen scheint.“ Doch gibt es Ausnahmen: „Der weise Gott, der über die Mauern wacht, sowie sein Stellvertreter, der Philosoph, der aufmerksam deren Inneres hütet, damit jenes lichtvolle Offene nicht für immer durch die private Idiotie versperrt bleibt.“ Man muß sich hier sicherlich auf die bildreiche Sprache von Di Cesare einlassen und solchen Ton goutieren, um dann zu sehen, was das Buch bietet. Aber das ist bei jeder Philosophie so und man sollte nicht allzu vorschnell den eigenen Stil auf den eines anderen applizieren und ihn dann daran messen. Was freilich den Gang der Argumente und der Auslegungen betrifft, so bewegt sich manches daran – angefangen bei der Immanenzthese – auf eher dünnem Eis. Wie dem auch sei: Jene politische Nacht ist bei Di Cesare freilich als Bild immer auch auf die Gegenwart bezogen und insofern ist die Auslegung Heraklits etwas, das im Hinblick auf Zeitgenossenschaft und Gegenwart geschieht. So ist auch ihr Rekurs auf die Antike nicht als Selbstzweck zu verstehen, sondern es sollen durch solche Bezüge Bilder politischen Philosophierens evoziert werden.

Sei das der Sternengucker Thales, dem der Himmel und die Bewegung der Sterne vieles und die Erde wenig zu sein scheint, so daß es das Lachen der thrakischen Magd hervorruft, als Thales bei der Himmelschau in den Brunnen fällt. Aber Thales ist eben doch down to earth, wenn ihm die Bewegung der Sterne ermöglicht, meteorologische Voraussagen zu treffen und auf diese Weise zu erkennen, daß eine hervorragende Olivenernte bevorstehe. Thales kaufte also alle Pressen auf, und als die Ernte reichlich ausfiel, vermietete er sie. So war der Philosoph ein reicher Mann. Auf diese Weise stehen hier Immanenz und Transzendenz noch in einem Bezug.

Anders freilich in Bezug auf den Himmel und die Natur ist es bei Platons Sokrates. Mit Sokrates geht die Philosophie in die Stadt und auf den Marktplatz – sieht man vielleicht einmal von dem Dialog „Phaidros ab, der unter den Platanen und beim Gesang der Zikaden stattfindet. Philosophie kommt bei Platon/Sokrates unter Leute und wird damit öffentlich, für die öffentliche Sache, die res publica. Nicht unbedingt für die Demokratie, wie Di Cecare im Zusammenhang mit Hannah Arendts Sokrates-Buch feststellt, aber doch als Arbeit fürs Gemeinwesen, um im Innenraum nicht bloß Fragen zu klären, sondern überhaupt erst kritisch zu denken: nichts zwischen Himmel und Erde als gegeben und selbstverständlich zu nehmen. Doch mit der Anklage des Sokrates wegen Asebie ändert sich die ganze Situation, und dies für die Philosophie insgesamt und auf Jahrtausende:

„Der die Flucht verweigernde Sokrates bleibt bis zuletzt ein Bürger Athens. In der Stunde seines Todes aber wird er Zeuge einer postpolitischen Welt und erhebt sich zum Fackelläufer der Philosophie. Bereits fremd in der eigenen Stadt, werden die Philosophen zu Fremden überall auf der Welt. Niemals werden sie den Tod des Sokrates vergessen können, jenen schrecklichen Skandal, der in ihrem Exil für sie Mahnung eines latenten, einstweilen beschwichtigten und doch nur aufgeschobenen Konflikts mit der Stadt werden wird.“

In bezug auf Sokrates schildert Di Cesare ein atopisches Denken: das, was als Philosophie im Innenraum der Polis keinen Ort mehr hat oder aber an ihren Rand verbannt ist wie die Akademien. Dieses Atopische ist für Di Cesare ein zentraler Begriff für die politische Berufung der Philosophie. Der Philosophie ist seit Sokrates ein atopischer Zug zu eigen und zugleich das Staunen, das etwas ist und nicht vielmehr nichts, sowie eine spezifische Art des kritischen Fragens als krínein, was eben auch „(unter)scheiden“ und „trennen“ bedeutet. Diese atopische Position hat dabei aber nicht nur mit der Art des sokratischen Fragens zu tun, sondern ebenfalls mit der Person Sokrates, der auf der Polis immer schon in seiner Art wie ein Fremder wirkte, so Ci Cesare.

Philosophie ist in diesem Sinne der politischen Berufung nicht nur die Kunst des Fragens, sondern vor allem die der Kritik, und das heißt für Di Cesare die Fertigkeit eines grundsätzlichen Fragens, das unsere politischen, moralischen und gesellschaftlichen Überzeugungen bis in die Grundsätze ins Wanken bringen kann, so wie das Sokrates auch auf dem Marktplatz Athens machte, wenn er die Menschen zu Dingen befragte, die sie zu wissen vorgaben. Zwischen Philosophie und Gemeinschaft besteht ein Dissens, und der kann so weit gehen, daß ein Philosoph für seine Überzeugung sterben muß. Di Cesare nennt zwei prominente Beispiele: Sokrates sowie Giordano Bruno. In diesem Kontext ist für Di Cesare ebenfalls der Fall Galilei interessant: er entging knapp dem Tod, weil er widerrief. Aber nicht so sehr, weil er seine naturwissenschaftliche Theorie gegenüber der Kirche aufgab, eine Theorie, die teils in der Öffentlichkeit schon verbreitet war und die sich mit den neuen Meßmethoden sowieso durchgesetzt hätte, sondern weil er vor allem seine philosophischen Konzeptionen widerrief, in die die naturwissenschaftliche Theorie eingebettet war, so Di Cesare.

Damit ergibt sich ein weiteres Problem: wenn nämlich Philosophie gefällig sein will. Philosophie aber darf sich nicht dem Diktat des Nützlichen unterwerfen, und nur wenn sie diesen Zug des Widerständischen beibehält, kann sie sich als Philosophie bewähren. Darin ist Philosophie politisch: für die Polis nämlich, als Quälgeist, als Stechfliege, in der Weise wie Sokrates immer wieder die Bürger Athens auf dem Marktplatz befragte und die Jugend ins Gespräch verwickelte. Und in diesem Sinne wirft Philosophie sich ebenso ins Handgemenge und in die Debatten. Dabei aber ihre atopische Position bewahrend.

Wie sehr dabei der Philosoph in Versuchung geraten kann, die Macht führen zu wollen und nicht nur zum Rat-, sondern auch zum Tatgeber der Polis aufzusteigen, zeigt Di Cesare in ihrem Verweis auf Heidegger: illustriert an dem Titel jenes Blumenberg-Buches aus seinem Nachlaß: „Die Verführbarkeit des Philosophen“.

Ein weiterer zentraler Aspekt der Kritik an der Philosophie besteht für Di Cesare ebenso darin, wenn der Philosoph zum neutralen Unterhändler wird, sozusagen zum Sozialtechniker, dessen Aufgabe es ist, der Gesellschaft die gerade benötigen Begriffe zu liefern und sich dabei in den Dienst der einzelnen Wissenschaften zu stellen oder um lediglich die einfachen Reparaturleistungen für eine bestehende Gesellschaft zu bringen, damit diese weiter so funktioniert wie bisher. Di Cesare verwehrt sich gegen jede Funktionalisierung der Philosophie.

Sie liefert ein Plädoyer für eine Philosophie des Außen: „Exil, Ekstase, Exposition, Existenz – alles, was sich durch ein Außen auszeichnet und zu einem Über bestimmt ist, läuft auf dem verdichteten und von Immanenz gesättigten Globus Gefahr, zu unter- und zu erliegen.“ Philosophie wird zu einem Außen im Innenraum. Philosophen sind Bewohner eines paradoxen Territoriums, so Di Cesare. Die Aufgabe der Philosophie liegt darin, jene Ekstase der Existenz wieder ins Spiel zu bringen, eine Existenz, die als ein Herausstehen sich zeigt. Die im Immanenz-Raum der Moderne verschwundene Exzentrizität muß wiederbelebt werden, um den Weg zum Anderen und damit auch eine Koexistenz des Selbst wieder zu begründen „jenes gemeinsame Wachen, das die Stadt begründet und erhält“. Dies ist die zentrale Aufgabe einer politischen Philosophie, der es um die Gemeinschaft der Polis geht. Sie soll „das Staunen zurückzubringen, Befremden zu erzeugen, Fremdheit auszulösen, Leidenschaft für den Anderen zu erwecken.“

Daß die Philosophen in die Stadt zurückkehren müssen, ist nicht nur als Metapher zu verstehen und auch nicht einfach als der Weg der Philosophen in die Öffentlichkeit, etwa wie wir es in trivialisierter Form von Precht und anderen Populärphilosophen kennen. Di Cesare macht die Möglichkeiten einer Philosophie der Stadt an dem Flaneur und Stadtbewohner Walter Benjamin fest, der in Berlin wie auch in Paris spaziert und Eindrücke sammelt. Er ist in der Stadt, und er ist als Zuschauer doch nie ganz dabei. Der Philosoph ist in solchem Flanieren ohne Zweck und atopisch. Er ist ortlos, aber in dieser Ortlosigkeit nicht etwa in der politischen Enthaltsamkeit und der Ataraxie verharrend, sondern im Sinne Benjamins ist der Philosoph solidarisch mit den Entrechteten.

Hier freilich läuft der Essay in vielen Passagen pathetisch und gerät ins Proklamieren: wenn Di Cesare verkündet, daß die Philosophie – ihrer Niederlage eingedenkend, als sie mit Sokrates Tod aus der Stadt vertrieben wurde – in der Moderne nun wieder „in die inzwischen zur globalen Metropole gewordene polis“ zurückkehrt, „um deren Dämmerung aufzuhellen und ihren Niedergang zu beleuchten.“ Und es kommt die „besiegte Philosophie“ zurück, um „ein Bündnis mit den Besiegten zu schließen.“

„Jener melancholische Außerirdische schleicht in der Stadt umher wie ein gefallener Engel. Er trägt seinen wertvollen, saturnischen Blick in den städtischen Strudel hinein. Er beansprucht nicht, von oben herab zu betrachten, sich über die anderen zu erheben. Er hält sich nicht für einen privilegierten Beobachter; im Gegenteil, er mischt sich unter die Menschenmassen, besitzt keine Anschauung aus der Vogelperspektive.“

An solchen Stellen ist es mir im Ton zu weihevoll. Die Sprache feiert. Das muß nicht schlecht sein, aber es sollte hinterher doch kein Kater bleiben. Man wünscht für jenen Flaneuer den kalten Blick Baudelaires oder Curzio Malapartes.

Di Cesare konzipiert ihre politische Philosophie als eine Politik der Teilnahme und Solidarität. Anspielend auch auf das Gleichnis vom Seelenwagen in Platons „Phaidros“ und dem Gefieder schreibt Di Cesare in Bezug auf den atopischen Philosophen:

„Aber, so gebrochen sie auch sein mögen, er bewahrt noch seine Flügel und die Erinnerung an einen Traum von Gerechtigkeit. Politisch ist er ein Asylsuchender in seiner Stadt. In seiner Nicht-Zugehörigkeit, Nicht-Angehörigkeit findet er sich aufseiten der zahlreichen Fremden, Exilanten, Einwanderer wieder, neben den Opfern des anmaßenden Finanzreichtums, zwischen Schnorrern und Glücksspielern, fliegenden Händlern und Nomaden, zwischen Arbeitslosen und Verzweifelten – zwischen den Resten jener ‚Traumwelt‘, die schreckliche Alpträume hervorgebracht hat.“

Ob solche Solidarität für ein umfassendes Konzept der Gerechtigkeit ausreicht, bleibt zweifelhaft. Als Korrektiv – auch gegenüber der Macht und der Möglichkeit von Institutionen – mag solche Sicht funktionieren, gleichsam als Stechfliege, und als subjektive Perspektive einer Einzelnen mag das möglich sein, und es schärft den Blick, indem die Philosophin einen Finger in eine Wunde legt: Oder wie Walter Benjamin in seinem Passagenwerk notierte: „Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos.“

Der an Benjamin gemahnende Ton des Essays überzeugt mich allerdings nur bedingt, und ob es der Philosophie guttut, in einer Entweder-Oder-Konstellation zu verharren, wage ich zu bezweifeln. Zu nah dran kann in manchen Fällen auch zu weit weg sein. Oder frei nach Karl Kraus: Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner blickt es zurück. Solidarität braucht zugleich den Abstand. Und wenn wir von Opfern sprechen, so bleibt zudem die Frage: wer alles ist Opfer? Mir behagt, bei aller Sympathie für Benjamin und der Idee des Fremden, diese Art von institutionalisiertem Benjaminismus nicht.

Di Cesare will mit ihrem Buch die Relevanz politischer Philosophie aufzeigen. Das macht dieses Buch spannend. Der hohe Ton zuweilen und die Imitatio Derrida-Benjamin stört. Wenn sie sich von Heraklit und Thales, über Platon bis Hegel, Marx, Kierkegaard und Hannah Arendt durch die Geschichte der politischen Philosophie bewegt, so will sie zwar keine philologisch genaue Exegese liefern, was bei einem solchen Par-force-Ritt auch kaum möglich ist, sondern sie eröffnet Perspektiven, was Philosophie als Fragen und Denken des bisher nicht Gedachten zu leisten vermag – auch angesichts einer fundamentalen gesellschaftlichen Krise der sozialen Moderne. Dabei streift sie von der Höhe her die Polis gewissermaßen mit dem makrologischen Adlerblick.

Mit diesem Projekt freilich greift dieses Buch weit über die bloß politische Philosophie hinaus. Sie will uns ins Offene des Denkens führen, und vor allem will Di Cesare die Philosophie von zweckhaften Einhegungen und Funktionalisierungen bewahren, wo der Philosophie lediglich eine Reparaturfunktion für gesellschaftliche Defekte zukommt – man denkt da unwillkürlich an Habermas und sein Verhunzen Kritischer Theorie. Insofern bedeutet das Handfestwerden zunächst Verunsicherung, und die politische Berufung der Philosophie ist keine zur unmittelbaren Praxis als Reparatur kaputter Diskurse, sondern eine solche der Polis, und zwar in vermittelter Art und nicht in der unmittelbaren Weise des Funktionalismus. Ein Gott kann uns nicht retten und auch ist es ungewiß, ob es die Philosophie als Transzendenz kann. Unser Ort ist hier auf Erden. Wir sind unter uns:

„So zutiefst menschlich und ebenso unabwendbar sterblich hält sich die Philosophie, wie es ihr Name sagt – diese Liebe für …, dieses Heimweh nach … – im Horizont der Endlichkeit. Die Götter – so viel ist sicher – philosophieren nicht.“

Ein schöner Schlußsatz, auch wenn er in der Mitte des Buches steht. Diese Endlichkeit ist unser Menschenwesen, denn wir sind Sterbliche und reichen gerade dadurch in den Abgrund, wie es Hölderlin dichtete, und doch denken wir über solche Endlichkeit hinaus, das ist unser Abgrund, so der Rezensent, und wir müssen und wollen über sie hinausdenken, und dies eben, so der Rezensent, ist unser Trieb zur Philosophie. Seit Anbeginn an, als die Philosophie mit dem Unendlichen und mit dem Apeiron des Vorsokratikers Anaximander anhob. Immanenz ist nur vor dem Hintergrund eines sie Überschreitenden denkbar. Eine Grenze zu denken, bedeutet, sie zu überschreiben, wie Hegel dies in seiner großen Logik formuliert: dieser Gedanke kommt bei Di Cesare freilich nicht vor und in vielen Stellen hätte eine solche Dialektik vielleicht auch manche Vereinfachung in Bezug auf die soziale und ästhetische Moderne zu heilen geholfen. Immerhin aber führt der Essay performativ vor, daß die von Di Cesare konstatierte Immanenz eben doch keine Totale ist, wenn ein Außen und ein Anderes als Denkbestimmung möglich sind. Diesen Essay zu lesen, lohnt trotz einiger der genannten Mängel dennoch: Di Cesare führt in ihrem Buch uns nicht nur in eine politische Philosophie hinein, die anders gewirkt ist als Rawlsche oder Habermassche Bestimmungen, sondern auch in die Bedingungen und die Begrenztheiten unseres Denkens. Und was das schönste an solchen Büchern ist: man bekommt zugleich wieder Lust, Texte von Platon, Kierkegaard, Marx und Benjamin zu lesen.

Donatella Di Cesare: Von der politischen Berufung der Philosophie
Matthes und Seitz Berlin, Berlin 2020
Gebunden, 175 Seiten, 22.00 EUR

 

Walter Benjamin – 26. September 1940, Spanien, Port Bou

„daß ich unterm Saturn zur Welt kam – dem Planeten der langsamen Umdrehung, dem Gestirn des Zögerns und Verspätens …“ (Benjamin, Agesilaus Santander)

„In einer aussichtslosen Lage habe ich keine andere Wahl als Schluß zu machen. In einem kleinen Dorf der Pyrenäen, in dem mich niemand kennt, wird mein Leben sich vollenden. Ich bitte Sie, meine Gedanken meinem Freunde Adorno mitzuteilen, ihm die Lage, in die ich mich versetzt sehe, zu erklären. Es bleibt mir nicht genügend Zeit, all die Briefe zu schreiben, die ich gerne geschrieben hätte.“ (Benjamin, Gesammelte Briefe VI, S. 483)

Eine philosophische Sichtung, eine Kritik oder ein Kommentar zur Philosophie Walter Benjamins, die nicht fragmentarisch ausfallen will und die das Ganze seines Werkes zum Inhalt hat und nicht – je nach Gusto – lediglich einzelne Aspekte wie die Aura und die neue Kunst, die veränderten Weisen der Kunstwahrnehmung, die Magie der Sprache, den Erfahrungsverlust, das Übersetzen, das Mystische sowie das Messianische, den Akt der Namensgebung, die Möglichkeiten der neuen Medien oder das Materialistische hervorhebt, weitete sich zu einem unendlichen Buch aus, türmte Bezug auf Bezug. Benjamins Text und damit sein Denken sind vielfältig. Vielleicht gar ergäbe sich ein kabbalistischer oder ein literarischer Text eines unendlichen Zusammenhangs und zugleich einer der Verzögerungen und Brüche und der Aufschübe: Solches Buch müßte die zeit- und geistesgeschichtlichen Strömungen der ausklingenden Kaiserzeit, der Weimarer Republik, das Judentum sowie das Paris der Volksfront und das der Besatzung durch die Deutschen samt den Europäischen Migrationsbewegungen aufgreifen und sozialgeschichtlich wie auch philosophisch darstellen, um diese Aspekte dann in Bezug zu Benjamins heterogenem Werk bringen; ein sicherlich nicht uninteressantes, jedoch mühevolles Unterfangen – als Buchprojekt reizvoll.

Man könnte dieses Buch an einer beliebigen Stelle aufschlagen und darin lesen. So hatte ich es mir einmal gedacht. Aber solche systematische Nicht-Systematik ist kompositorisch schwierig durchführbar, zumal im Augenblick andere Arbeiten anstehen. Wie dem auch sei: in Benjamins Werk laufen zahlreiche Stränge zusammen, verbinden sich, gehen dann wieder auseinander und verwinden sich ineinander. Benjamin war in der Weimarer Republik Essayist und Literaturkritiker, er schreib zur Radiotheorie, dem neuen Medium seiner Zeit, er war ein Philosoph, den sowohl materialistische wie auch metaphysischen bzw. theologische Fragen umtrieben. Was diese Verbindung von Materialismus und Theologie betrifft, dürfte insbesondere jene letzte Arbeit von ihm bekannt sein, die unter dem Titel „Über den Begriff der Geschichte“ veröffentlicht. Darin heißt es gleich zur Einleitung in der ersten geschichtsphilosophischen These in bezug auf das Verhältnis von Theologie und Materialismus:

„Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe· an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ‚historischen Materialismus‘ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.“

Ein herrlicher Illusionsaufbau und zugleich ein wunderbarer Zaubertrick. Denn der wahre Materialismus ist eben der höchst lebendige Zwerg.

Dicht und verflochten gebaut ist das Werk dieses außerordentlichen Philosophen, als daß man es referieren könnte: man sollte es lesen; und ein solcher Essay kann allenfalls Lust aufs Lesen machen oder aber zeigen, weshalb es noch heute sinnvoll ist, Benjamin zu lesen. Erst dieser Tage ist im Suhrkamp Verlag eine umfangreiche Biographie  von Howard Eiland und Michael W. Jennings erschienen: „Walter Benjamin – Eine Biographie“ so der lakonische Titel.

Von der äußersten Theorie – in der „Eiswüste der Abstraktion“, wie es Benjamin nannte oder an anderer Stelle auch, daß die Philosophie eine Zuhältersprache sei, was ich ein schönes Bild finde: Philosophie ist eine Sprache, die man sprechen muß und in die man hineinwachsen muß, sonst versteht man sie nicht – bis hin zu den politischen Motiven und den eingreifenden, rettenden Momenten, die insbesondere in seinen späteren Schriften dem Historischen Materialismus eine ganz neue Gestalt gaben, reicht die Facette seines Denkens. Ebenso aber Beobachtungen und Aphorismen (etwa die zu bestimmten Orten wie Neapel oder Marseille, und ebenso ein Blick auf die Zeit seiner Kindheit in Berlin um 1900), Reisebilder, Denkbilder – Illuminationen eben: da, wo mal ein grelles, dann wieder ein sanftes und verzauberndes Licht auf die Dinge fällt und Räume beleuchtet. Erhellungen. Bei solcher Sichtung fallen derart viele Aspekte an, die kaum noch in eins zu bringen sind. Das Lesen in seinen Texten lädt zum Assozziiren ein – was nicht heißt, daß seine Text assoziativ wären. Sondern vielmehr schichten sie verschiedene Ebenen. Insofern auch das Plädoyer für ein Denken in Fragmenten.

Sein letztes großes Werk zum Paris des 19. Jahrhunderts, das Passagen-Werk, ist dann auch – Tücke der tragischen Biographie – Fragment geblieben und wurde von George Bataille in der Nationalbibliothek versteckt. Gernot Böhme schildert es in seinem Buch „Ästhetischer Kapitalismus“ in einer luziden  Weise, die es auf den Punkt bringt:

„Durch die Laterna magica der Passagen sieht er die Ware tanzen im prächtigen Kleid, tanzen auf der Bühne der Devanturen. In den Passagen waren sie schon, was sie werden sollten: Bestandteil der Bühne selbst, auf der das Leben spielt. Ihr Gebrauchswert schon dort, was er durch die Entfaltung des Kapitalismus sein würde: ihr ästhetischer Werk, ihr Wert in der Inszenierung, ihr Beitrag zur Ausstattung des Lebens, zu dessen Steigerung.

Passagen: Allegorie der ästhetischen Ökonomie, das Passagen-Werk ein Proönimum des 20. Jahrhunderts.“

Im Grunde setzte Benjamin hier fort, was er in seiner wunderschönen, traurigen, melancholischen und bezaubernden  autobiographischen Schrift „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ begonnen hatte: das sozialgeschichtliche, aber auch lebensweltliche Interieur einer Großstadt und einer vergangenen Welt aufscheinen zu lassen – eine Welt, die eben doch noch die seine war und bis heute, wenn auch mit erheblich mehr Abstand, immer noch die unsere ist, zu verstehen und nicht einfach untergehen zu lassen, sondern zu zeigen, wie darin bereits das enthalten ist, was uns bis heute hin bestimmt und unsere Strukturen erzeugt. Jean-Michel Palmier schreibt in seiner monumentalen Studie zu Benjamin:

„Die Kindheitserinnerungen verwandeln sich in Symbole, Allegorien, Glücksversprechen, die das Leben nicht erfüllt hat, ganz wie die beschädigten Spielsachen Zeugen der Trauer um eine stumme und verschüttete Welt sind. Jedes Ding läßt in seiner Textur die Tiefe einer historischen Erfahrung durchscheinen, die der Rettung bedarf.“

Jenes Motiv der Rettung ist dabei zentral. Benjamin schließt sein Buch „Goethes Wahlverwandtschaften“ mit diesen Satz: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns Hoffnung gegeben.“ Man kann dies mit jenem Satz Kafkas zusammenbringen, daß es unendlich viel Hoffnung gebe. Nur eben nicht für uns. Und leider traf eben genau das auf die traurige Vita von Benjamin zu, der sich – so kann man mutmaßen – in der Nacht vom 26. September auf den 27. auf der Flucht nach Spanien und von dort weiter nach Lissabon, das Leben nahm.

Ich möchte in diesem Text keinen Abriß zu Benjamins Leben und seinem Werk liefern. Wer etwas darüber erfahren will, der sei auf die sehr gute Rowohlt-Monographie von Bernd Witte verweisen. Auch der Artikel bei Wikipedia ist brauchbar. Er enthält zudem einige gute Verweise auf Sekundärliteratur. Und vor allem die oben genannte und kürzlich erschienene Biographie von Howard Eiland und Michael W. Jennings.

Kein Text aber vermag Benjamin mehr Ehre zu erweisen als sein eigener. Deshalb stelle ich hier einige Zitate zusammen.

„Ich aber bin entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist. Ich hauste so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr“ (Berliner Kindheit um Neunzehnhundert)

„Unter den Karyatiden und Atlanten, den Putten und Pomonen aber, die mich damals angesehen hatten, waren mir nun die liebsten jene angestaubten aus dem Geschlecht der Schwellenkundigen, die den Schritt ins Dasein oder in ein Haus behüten. Denn sie verstanden sich aufs Warten. Und so war es ihnen eins, ob sie auf einen Fremden warteten, die Wiederkehr der alten Götter oder auf das Kind, das sich vor dreißig Jahren mit der Mappe an ihrem Fuß vorbeigeschoben hat. In ihrem Zeichen wurde der alte Westen zum antiken, aus dem die westlichen Winde den Schiffern kommen, die ihren Kahn mit den Äpfeln der Hesperiden langsam den Landwehrkanal heraufflößen, um be der Brücke des Herakles anzulegen. Und wieder hatten, wie in meiner Kindheit, die Hydra und der Nemeische Löwe Platz in der Wildnis um den Großen Stern.“ (Berliner Kindheit um Neunzehnhundert)

„Wahrheit tritt nie in eine Relation und insbesondere in keine intentionale. Der Gegenstand der Erkenntnis als ein in der Begriffsintention bestimmter ist nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein. Das ihr gemäße Verhalten ist demnach nicht ein Meinen im Erkennen, sondern ein in sie Eingehen und Verschwinden. Die Wahrheit ist der Tod der Intention.“ (Ursprung des deutschen Trauerspiels)

„Es ist das Einmalige der Dichtung von Baudelaire, daß die Bilder des Weibs und des Todes sich in einem dritten durchdringen, dem von Paris. Das Paris seiner Gedichte ist eine versunkene Stadt und mehr unterseeisch als unterirdisch. Die chthonischen Elemente der Stadt – ihre topographischen Formationen, das alte verlassene Bett der Seine – haben wohl einen Abdruck bei ihm gefunden. Entscheidend jedoch ist bei Baudelaire in der ‚totenhaften Idyllik‘ der Stadt ein gesellschaftliches Substrat, ein modernes. Das Moderne ist ein Hauptakzent seiner Dichtung. Als spleen zerspellt er das Ideal (‚Spleen et Ideal‘). Aber immer zitiert gerade die Moderne die Urgeschichte. Hier geschieht das durch die Zweideutigkeit, die den gesellschaftlichen Verhältnissen und Erzeugnissen dieser Epoche eignet. Zweideutigkeit ist die bildliche Erscheinung der Dialektik, das Gesetz der Dialektik im Stillstand. Dieser Stillstand ist die Utopie und das dialektische Bild also Traumbild. Ein solches Bild stellt die Ware schlechthin: als Fetisch. Ein solches Bild stellen die Passagen, die sowohl Haus sind wie Straße. Ein solches Bild stellt die Hure, die Verkäuferin und Ware in einem ist.“ (Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts)

„Im Flaneuer begibt sich die Intelligenz auf den Markt. Wie sie meint, um ihn anzusehen und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden. In diesem Zwischenstadium, in dem sie noch Mäzene hat, aber schon beginnt, mit dem Markt sich vertraut zu machen, erscheint sie als bohème. Der Unentschiedenheit ihrer ökonomischen Stellung entspricht die Unentschiedenheit ihrer politischen Funktion. Diese kommt am sinnfälligsten bei den Berufsverschwörern zum Ausdruck, die durchweg der bohème angehören. Ihr anfängliches Arbeitsfeld ist die Armee, später wird es das Kleinbürgertum, gelegentlich das Proletariat. Doch sieht diese Schicht ihre Gegner in den eigentlichen Führern des letzteren. Das kommunistische Manifest macht ihrem politischen Dasein ein Ende. Baudelaires Dichtung zieht ihre Kraft aus dem rebellischen Pathos dieser Schicht. Er schlägt sich auf die Seite der Assozialen. Seine einzige Geschlechtsgemeinschaft realisierte er mit einer Hure.“ (Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts)

„Die Phantasieschöpfung bereitet sich vor, als Werbegraphik praktisch zu werden. Die Dichtung unterwirft sich im Feuilleton der Montage. Alle diese Produkte sind im Begriff, sich als Ware auf den Markt zu begeben. Aber sie zögern noch auf der Schwelle. Dieser Epoche entstammen die Passagen und Interieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen. Sie sind Rückstände einer Traumwelt. Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schullfall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt ihr Ende in sich und entfaltet es – wie schon Hegel erkannt hat – mit List. Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind.“ (Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts)

„Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene. So Strindberg – in ‚Nach Damaskus‘? –: die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier.“ (Passagenwerk)

„Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten. Die Rettung, die dergestalt – und nur dergestalt – vollzogen wird, läßt immer nur an dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar verlornen (sich) vollziehen. (…)

Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie zu setzen zu können, ist das Entscheidende.“ (Passagenwerk)

„Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ (Notizen zu den Geschichtsphilosophischen Thesen)

Ich schreibe diesen Text in Verehrung für einen der bedeutendsten und vor allem vielschichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Ich danke ihm, auch für alle diese dunklen, „wolkigen Stellen“, für die Rätselschriften, die Umschriften, welche mich ein Studium lang und darüber hinaus begleiteten und die immer noch wirken.

„Auf meinen Knien Geheim in diesem Tanzlokal
Im Kopf die Wirrkopfmelodien
Zum hundertsten Mal
Von Walter Benjamin
Das ist nicht normal!
Und Du bist mein Ruin.“

So sang es in den frühen 1980ern F.S.K. Und ich kenne das aus dem Studium gut, dachte damals, Walter Benjamin sollte man nur zusammen mit jener einen schönen blonden Frau lesen. Kann aber auch zur Einbahnstraße geraten. So als Tip. Heute ist man weiter.

Heute vor achtzig Jahren nahm sich der Philosoph, Essayist, Übersetzer, Literaturkritiker, Flüchtling, Migrant, einer von vielen in einer unendlichen Kette, die bis in die Gegenwart reicht, Walter Benjamin in Port Bou das Leben, indem er sich eine Überdosis Morphium injizierte.

Sich das Leben nehmen: der Punkt an dem sich das Leben vollendet; an dem jede Dialektik aussetzt bzw. zu einer negativen wird. Der Tod als die Grenze, von der aus Wahrheit zu gewinnen wäre. Doch dieser Ort ist erfahrungslos – so steht zumindest zu vermuten: es sei denn, man glaubt an jenen kleinen und buckeligen Zwerg.

Der bacchantische Taumel. Hegel zum 250. Geburtstag (1)

„Hegel wirkte zwar auch im Hörsaal, aber er schrieb und dachte fürs Universum, nicht für die Zwischenprüfung.“
(Dietmar Dath, Hegel)

„So isch no au wieder
(Schwäbische Redensart, zit. nach Sebastian Ostritsch, Hegel)

Um gleich mit dem zweiten Zitat in den Text und mitten hinein in Hegels Denken zu springen: Dialekt kann zwar Dialektik veranschaulichen. Aber so nun auch wieder doch nicht. Wenn auch darin ein Teil Wahrheit liegt. Dialektik ist nicht bloß die Echternacher Springprozession und hat doch, wie Adorno es in der „Negativen Dialektik“ sagte, einen Bezug: „Dialektik schämt sich nicht der Reminiszenz an die Echternacher Springprozession.“ Jenes „Sowohl als auch“ ist vielleicht ein populäres Bild, um zumindest basal zu veranschaulichen, was es bedeuten kann, verschiedene Hinsichten zu denken und nicht einfach abstrakt zu negieren oder zu bejahen. Aber bei Hegel ist das zugleich mehr. Solches Unterscheiden und solches Auf-Gemeinsamkeiten-Absuchen, auch in der Unterscheidung und im Widerspruch nämlich, ist ein wesentlicher Aspekt, den man bei Hegel lernen kann. Vielleicht aber auch Gershom-Scholem-mäßig mit einer jüdischen Anekdote:

Kommt ein Mann zum Rabbi und klagt ihm sein Leid, daß es mit seiner Frau Streit gäbe und sie beständig zetere und ob er nicht einfach strenger und härter sein solle. Und der Rabbi sagt: „Da hast Du recht, das wäre gut. Sei strenger und härter!“

Und kommt dann einige Stunden später die Frau des Mannes zum Rabbi und klagt ihr Leid, daß der Mann dauernd trinken geht und sich vernachlässige. Und ob sie, also die Frau, den Mann nicht mit Liebesentzug und Strenge strafen solle. Und der Rabbi sagt: „Da hast Du recht, das wäre gut. Sei strenger und härter!“ Und er gibt der Frau recht.

Kurze Zeit später tritt das Weib des Rabbis in die Stube, das beide Gespräche mit angehört hatte: „Ja, bist Du denn so windelweich, daß Du Dir als Rabbi nicht einmal eine eigene Meinung zutraust, den Leuten die Leviten liest und immer allen recht gibst?“ Und der Rabbi entgegnet: „Da hast Du recht, es wäre gut eine eigene Meinung zu haben!“

So ähnlich, meine ich mich zu erinnern, geht der jüdische Witz, der auch einer über Schwaben sein kann. Hegel, geboren am 27. August 1770 in Stuttgart, wenngleich die Meinung bei Hegel nicht noch im Kurs steht.  Aber ich vermute, da es lange her ist, als ich den Witz gehört habe und weil ich schlecht Witze behalten kann, daß er doch irgendwie anders geht. Aber das Prinzip dahinter und die Art, wie der Witz funktioniert zumindest veranschaulicht, was Dialektik sein könnte, und wie man mit Hegel das Denken und das Auffassen lernen kann: so zu sein wie der Rabbi und dann doch wieder nicht. Das Richtige auch in einem Falschen zu sehen und dabei aber doch nicht stehenzubleiben. Man muß nur, weiter als der Rabbi schaut (aber wer weiß, vielleicht sieht er das ja gerade), jede der Geschichten in ihrem Bezug sehen und kann dann zugleich in jeder der Geschichten ihre eigene Richtigkeit sehen, aber daß es dennoch nur im Gang des Denkens und als Entwicklung weitergeht und eine Auflösung bringen kann, um das eine im anderen aufzuheben und die Aspekte in eine geeignete, der Sache gemäße Anordnung zu bringen.

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Philosophie?

Wenn es zuweilen beim Blick in die Philosophiegeschichte heißt, daß auch die Philosophie der Vergangenheit ihren Bezug zur Gegenwart nicht verlieren dürfe, so sollte man zunächst darüber nachdenken, was mit einer solchen Aussage gemeint ist. Ebenso wie bei der Frage „Wofür Hegel heute?“ Um das zu klären, sofern es denn überhaupt klärbar und diese Frage nicht vielmehr philosophisch falsch gestellt ist, muß man zunächst begreifen, was Hegel in seiner Zeit bedeutete, und vor allem, auf welche Fragen der Philosophie seiner Epoche Hegels Denken in seiner Zeit eine Antwort zu geben versuchte. Ohne Hegel in seinem Zeithorizont und in dem Problembereich zu verstehen, in welchem er dachte, ist ein Bezug zur Gegenwart vielleicht keine sinnlose, aber doch eine problematische Sache – zumal zur Erklärung der Gen-Technik oder der Digitalisierung man nicht Hegel zu bemühen braucht, wenn man es gegenwärtig will.

Philosophie, die mehrere hundert oder gar tausende von Jahren zurückliegt, muß nicht ihre Aktualität beweisen, sondern sie ist per se aktuell, ansonsten wäre sie vergessen. Allein aus dem Umstand ist sie aktuell, daß wir sie immer noch lesen und uns über Texte von Platon, von Aristoteles und Hegel beugen. Manchmal das Haupt voll Gram und Haare raufend, weil eine halbe Seite Text einen vollen Tag gekostet hat, weil man in einem Seminar in zwei Stunden gerade einmal drei Sätze geschafft hatte. Aber auch solche Arbeit und solche Zeit, die man braucht, gehören zum Prozeß der Erkenntnis. Oder in anderem Kontext in der Vorrede von Hegels „Phänomenologie des Geistes“, ein sich vollbringender Skeptizismus als Motor der Philosophie:

„Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt vorauszusetzen und es sich ebenso gefallen zu lassen; mit allem Hin- und Herreden kommt solches Wissen, ohne zu wissen wie ihm geschieht, nicht von der Stelle.“

Gentechnik, Digitalmoderne, Twitter, Viren oder Wirren: Hegel mag helfen, solche Ausprägungen eines objektiven Geistes zu begreifen, aber für die Details braucht es Hegel nicht. Was nicht gleichbedeutend mit der Antwort ist, daß Hegel keine Rolle spiele. Ganz im Gegenteil. Hegel ist nötig, aber anders als all die Aktualisierungsbestrebungen es sich ausmachen, die Hegel und alle möglichen anderen Philosophen auf die Gegenwart bürsten möchten, Hegel in Anspruch nehmen und doch besser daran täten, es nicht in Hegels, sondern im eigenen Namen zu formulieren, statt sich mit Hegel zu augmentieren und dann bei der Geistphilosophie womöglich verwechseln, daß für Hegels Begriff des Geistes keineswegs das Bewußtsein und auch nicht das Selbstbewußtsein primär ist.

Wer verstehen will, was Hegel macht, muß Hegels Texte lesen. Das klingt trivial, ist es aber nicht. Und da fangen die Probleme an: wie lesen? Einer der großen Irrtümer ist die Annahme, daß Hegels Philosophie schwierig sei. Dunkel sei sein Denken. Und sperrig – so heißt es immer wieder in den Elogen und Artikel des Feuilletons, die man dieser Tage über Hegel lesen kann. Aber das stimmt nicht. Das alles ist Hegels Philosophie nicht. Sie ist einfach. Und sie ist verständlich, denn es steht ja alles bei Hegel geschrieben. Aber man muß nur, um es dann zu verstehen, am Ende sehr viel und sehr gründlich und immer wieder gelesen haben, genau, langsam und vor allem aufmerksam: das, was wir Close reading nennen, Satz für Satz und doch auch wieder den Kontext im Blick, wie auch das, was man den Stil, die Rhetorik und die Form eines Textes nennt, also sein performatives Vorgehen, der Einsatz der Sprache, die Wortwahl, den Satzbau, die Art der Begriffe, die verwendeten Bilder. Wie wichtig und erkenntnisfördernd solche Lektüre ist, kann man schnell bemerken, wenn man Hegels „Phänomenologie des Geistes“ und seine „Wissenschaft der Logik“ miteinander vergleicht. Beides sind Werke der Philosophie, aber sie unterscheiden sich erheblich in ihrem Stil, in der Bildlichkeit und der Form der Darstellung. Manche sagen, die Phänomenologie sei das literarischste der Hegelschen Werke, ein Bildungsroman gewissermaßen, wie der Wilhlem Meister.

Aber mit der isolierten Lektüre allein kommt man eben auch nicht weiter, wenn Hegel von Wirklichkeit oder Unendlichkeit spricht, sondern genauso muß man gelesen haben den Heraklit und sein Denken der Bewegung, Parmenides und das Verhältnis von Denken und Sein und überhaupt die Vorsokratiker, Anaximander und sein Apeiron, und dann Platon, Aristoteles, Sextus Empiricus samt der Pyrrhonischen Skepsis, Plotin, den von Hegel geschätzten Proklos, Avicenna, Anselm von Canterbury, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Nikolaus von Kues, Pico della Mirandola, Francisco Suárez, René Descartes, Spinoza, Leibnitz, Locke, Hobbes, Hume, Kant, Reinhold, Fichte, Jacobi, Hölderlin, Schelling, Schlegel, Goethe, Schiller. Natürlich hat das keiner, der Anfänger ist. Also muß es anders gehen. Und damit sind wir eben bei der Frage, die auch Hegel für die Philosophie stellte, nämlich zum Beginn seiner „Wissenschaft der Logik“: „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“ Diese Frage stellt sich auch fürs Lesen. Wie anfangen? Am besten mit dem Anfang. Das ist klar.

Wie Hegel lesen?

Vielleicht ist es an dieser Stelle sinnvoll, Grundsätzliches zum Lesen von philosophischen Texten zu schreiben: Manche meinen, es ginge der Weg zunächst über die Sekundärliteratur, gerade bei einem so schwierigen Autor wie Hegel. Aber das ist ein falscher Weg. Wer nach Rom will, geht keinen Umweg, sondern direkt von Berlin, Jena, Heidelberg oder Nürnberg aus über die Alpen nach Rom! Mein Soziologieprofessor im Grundstudium sagt gleich in der ersten Sitzung freundlich, aber mit Bestimmtheit: „Wer die Primärtexte nicht versteht, der versteht am Ende auch nicht die Sekundärliteratur!“ Dem pflichte ich bei. Kommentare können zwar manchmal bei wolkigen Stellen helfen, aber leider gibt es eben auch Deutungen und Einführungen, die doxographisch, polemisch oder hagiographisch den Blick verstellen, indem sie eine bestimmte Lesart etablieren wollen. Das soll nicht sein! Um das zu erkennen, was da im Text selbst geschrieben steht – und nicht ein irgendwie dahinter verborgener geheimer Sinn, frei nach Goethe: „Im Auslegen seid frisch und munter!// Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.“ – muß man einen Text sehr genau lesen: nur dann kann das Auslegen gelingen.

Deshalb mein Rat immer wieder an jene, die lesen und entdecken wollen: Laßt alles, was Ihr über Hegel gehört habt fallen! Vergeßt es, vergeßt die ganze Sekundärliteratur, die Forschungs- und Zitierkartelle, und wenn da die Hegelexperten wie Dieter Henrich, Theunissen, Annemarie Gethmann-Siefert, Klaus Vieweg oder wie sie heißen uns etwas über Hegel erzählen, so laßt es zunächst mal liegen: Ihr, die bisher wenig nur von Hegel gelesen habt. Wer den Original Hegel will, der greift zu Hegel. Anders geht es nicht. Auch wenn das schwierig ist. Zur Unterstützung kann man dann bei Meiner die Kommentare von Pirmin Stekeler-Weithofer nehmen, die sehr genau am Text sind und nicht anhand des Textes eine eigene doxographische Lesart etablieren wollen, aber sehr gut in Problemkreise führen.

Warum zum Anfang keine Sekundärliteratur? Weil sie nur vermeintlich einem einen Text näherbringt. Mir zumindest ging es bei Hegel so, daß ich aus der direkten Lektüre vieles zog, aus den Sekundärtexten kaum etwas, und das, was ich dann in den Erläuterungen fand, stand ja bereits bei Hegel selbst.

Die Lust am Text 

Eines aber ist bei Hegel unerläßlich: ein Impetus, ein Antrieb, ein bestimmtes Interesse, eine Leidenschaft. Wer Hegel liest, weil er ihn lesen muß, verzweifelt schnell und legt die Chose wieder weg. So ging es mir 1991 mit Husserl. Ich las, um zu lesen und fand die Sache stinklangweilig. Irgendwas muß die Leserin oder den Leser also antreiben. Mich hatte Hegel bereits mit 16 Jahren gepackt: Das Kapitel zu Herrschaft und Knechtschaft aus der „Phänomenologie des Geistes“ lasen wir in meinem ersten Schuljahr Philosophiekurs in der elften Klasse, und ein Interesse nicht nur an linker Politik, sondern ebenso an Gesellschaft und auch an der Sprache selbst taten ein übriges. Ich fand diesen Sound des Textes, die Tonlage und diese Art des Schreibens umwerfend gut, schon auch deshalb, weil ich nicht viel verstand, aber da aus dem Unbewußten des Textes dennoch etwas auf mich zurückstrahlte:

„Der Herr ist das für sich seiende Bewußtsein, aber nicht mehr nur der Begriff desselben, sondern für sich seiendes Bewußtsein, welches durch ein anderes Bewußtsein mit sich vermittelt ist, nämlich durch ein solches, zu dessen Wesen es gehört, daß es mit selbständigem Sein oder der Dingheit überhaupt synthesiert ist. Der Herr bezieht sich auf diese beiden Momente, auf ein Ding als solches, den Gegenstand der Begierde, und auf das Bewußtsein, dem die Dingheit das Wesentliche ist; und indem er a) als Begriff des Selbstbewußtseins unmittelbare Beziehung des Fürsichseins ist, aber b) nunmehr zugleich als Vermittlung oder als ein Fürsichsein, welches nur durch ein Anderes für sich ist, so bezieht er sich a) unmittelbar auf beide und b) mittelbar auf jedes durch das andere. Der Herr bezieht sich auf den Knecht mittelbar durch das selbständige Sein; denn eben hieran ist der Knecht gehalten; es ist seine Kette, von der er im Kampfe nicht abstrahieren konnte und darum sich als unselbständig, seine Selbständigkeit in der Dingheit zu haben erwies.“

So stand es da, das lasen wir. Darüber sollten wir schreiben. Da steht man als Schüler und nicht nur als Schüler und schaut, oder es geht einem wie jenem Schüler, der da im „Faust“ Mephistos Reden lauscht: „Mir wird von alledem so dumm,/Als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum.“

Es gibt von Jacob Taubes den Satz, daß er bei manchen Büchern den Inhalt nur durchs Handauflegen erspüren könne. Geradezu eine antihegelianische Volte, aber es zeigt sich in diesem Satz doch ein bestimmtes Verhältnis zur Philosophie, das mit Eros und mit Leidenschaft zu tun hat. So ging ich an Hegel heran. So dachte ich, eine Klausur zu bestehen; mit einer gewissen Intuition und dem was ich bis zur elften Klasse immer tat. Aber was ich in eitler Überschätzung dachte: „So wie ich in Deutsch gute Noten hinlege, so wird es auch in der Philosophie geschehen, wenn ich nur kräftig drauflosinterpretiere“, das ging fehl. Ich hatte einen hervorragenden Philosophielehrer, der Geschwätz nicht durchgehen ließ und Unwissen von Wissen zu unterscheiden verstand. Und als ich die Klassenarbeit über Hegels Kapitel zu Herr und Knecht aus der „Phänomenologie“ zurückerhielt, prangte da eine vier Minus. Die wollte ich mir nicht bieten lassen. Ich ging zum Philosophielehrer und der verabredete mit mir einen Termin. Satz für Satz erklärte er mir, was da in meiner Arbeit falsch gelaufen war und zeigte zugleich, wie man im Text Argumente und Strukturen aufbaut und wie man sich einem komplexen Text nähert. Für den Einstieg in die Philosophie keine leichte Übung.

„Was den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien betrifft, so ist erstens die abstrakte Form zunächst die Hauptsache. Der Jugend muß zuerst das Sehen und Hören vergehen, sie muß vom konkreten Vorstellen abgezogen, in die innere Nacht der Seele zurückgezogen werden, auf diesem Boden sehen, Bestimmungen festhalten und unterscheiden lernen.

Ferner, abstrakt lernt man denken durch abstraktes Denken.“

So hieß es in Hegels 1812 in Nürnberg verfaßtem Privatgutachtens für den Königlich Bayrischen Oberschulrat Immanuel Niethammer, der zugleich Hegels Freund war: „Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien.“

Sekundäres

Allenfalls, um sich über den Stand der Forschung oder über den komplexen Textkorpus einen Überblick zu verschaffen, mag es sinnvoll sein, Einführungstexte zu lesen. Für Hegel empfehle ich in diesem Falle Sebastian Ostritschs Buch „Hegel. Der Weltphilosoph“ (Ullstein Verlag)  In Ostritschs Darstellung von Hegels Philosophie wie auch seines Lebens bekommen jene, die noch nicht viel mit Hegel in Berührung kamen, sofort bei der Lektüre Lust, Hegel selbst zu lesen. Barthesʼ Wendung von der „Lust am Text“ trifft auf Ostritschs Buch unbedingt zu: selbst für Hegelkenner ist das Buch noch mit Gewinn zu lesen. Ostritsch schreibt voll Emphase, und er schlägt Wegmarken, ohne eine doxographische Lesart zu etablieren, Hegel sei nun dies oder er sei nun das. Ostritschs in diesem Frühjahr erschienenes Buch ist die bisher beste Einführung, die ich in Hegels Denken gelesen habe, und es ist der ideale Einstieg in Hegel, um dann freilich sofort mit Hegel zu beginnen. Oder vielleicht umgekehrt: Einfach mit der Vorrede und der Einleitung der „Phänomenologie des Geistes“ beginnen – ich halte diese beiden Texte immer noch für den besten Einstiegstext – und vielleicht noch den Aufsatz „Wer denkt abstrakt?“ lesen: ein literarischer und teils hoch komischer Text, der auch auf dem Marktplatz von Bamberg spielt, wenn da die Hökers- und Eierfrauen auftauchen. Hegel lebte zu der Zeit, als er diesen Text 1807 schrieb, in Bamberg und arbeitete als Redakteur bei der „Bamberger Zeitung“. Und nach diesen Texten dann zu Sebastian Ostritsch greifen. Na ja, zu seinem Buch.

Ansonsten sei auch noch auf Thomas Sören Hoffmanns Buch „Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Proprädeutik“ (matrix Verlag, 2015) verwiesen, und wer es umfassender mag und dazu auch noch eine flott geschriebene Biographie lesen möchte, der greife zu Klaus Viewegs „Hegel. Der Philosoph der Freiheit“ (Beck Verlag, 2019): stellenweise etwas zu viel aufgetragener Lob: Hegel der Aristoteles der Moderne, aber Vieweg gibt wenigstens zu, daß er Hegelianer ist. Zentraler Punkt, auf den Vieweg immer wieder verweist: Hegel ist ein Denker der Freiheit und des Rechtsstaates, er sah vor allem die Verwerfungen der Moderne, wenn ein ungezügelter Kapitalismus die Gesellschaft beherrscht:

„Er kann als der Großmeister der neuzeitlichen Philosophie gelten, als der berühmteste moderne Philosoph. Vernunft und Freiheit bilden die beiden Grundpfeiler, auf denen Hegels Philosophiedom errichtet wurde. Im Denken der Freiheit liegt der Kernimpuls seines vielfach verschlungenen Lebens- und Denkweges.“ (Vieweg; Hegel)

Ausblick – Ende erster Teil

Philosophie ist nicht einfach nur das staubtrockene Schwarzbrot, wenngleich viele bei der Lektüre der Logik gerade dieses Schwarzbrot zu schätzen und zu kauen gelernt haben. Philosophie hat ebenso etwas mit dem Eros, mit dem Rausch und mit Dionysischem zu tun. Sie ist Lust. Sie ist erotisch. Philosophie heißt eben auch, wie Hegel es für die Schüler formulierte, daß einem schwindelig wird und einem Hören und Sehen vergeht. Oder wie es im Volkslied heißt: „Schnaps, das war sein letztes Wort, dann trugen ihn die Englein fort“. Wobei es ganz so schlimm nicht kommen muß. Philosophieren ist sicherlich keine Party, aber ganz ohne Lust macht sie eben dann auch wieder keine Lust. Und so schreibt Hegel zum Beginn, in der Vorrede seiner „Phänomenologie“:

„Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist; und weil jedes, indem es sich absondert, ebenso unmittelbar [sich] auflöst, ist er ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe.“

Das ist eine schöne Sentenz, um das Verhältnis von Rausch und Nüchternheit zu nennen, das in der Philosophie herrscht, auch in bezug auf das Wahre. Und zum Ende dann, wenn Wissen und Geist zu sich selbst im anderen gekommen sind und wenn die Bildungsreise des Bewußtseins zu ihrem Ende gelangt ist, um in der großen Logik freilich und dann der Enzyklopädie doch fortgesetzt zu werden, so daß eben jenes von Hegel genannte Kreisen von Kreisen entsteht, heißt es:

„Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur –
aus dem Kelche dieses Geisterreiches
schäumt ihm seine Unendlichkeit.“

Champagner! rufen wir also heute und erinnern uns dabei auch an jene herrliche Arie aus Straußens „Die Fledermaus“. Jener bacchantische Taumel, den Hegel am Anfang der Phänomenologie im Prozeß des Denkens und des Erkennens versprach und am Ende sprüht es und sprudelt aus jenem Kelch, der das Reich des Geistes ist und dies als die Unendlichkeit. Unser Reich, unser einheimisches Reich und zugleich doch nicht der Narzißmus eines bloßen Ichs, sondern wie Hegel es in der Phänomenologie schreibt, fast auch wie ein Liebesverhältnis:

„Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist. Das Bewußtsein hat erst in dem Selbstbewußtsein, als dem Begriffe des Geistes, seinen Wendungspunkt, auf dem es aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet.“

Und diese Sätze Hegels sind zugleich auch eminent politisch zu verstehen. Eine Orgie für Hegel, nicht nur heute – mit Champagner. Heute.

[Ende  erster Teil]

Bilder:
1: CC-Lizenz: G.W.F. Hegel mit Studenten Lithographie F Kugler
2: Wikipedia, CC-Lizenz

Differenz des Idioms – Zum 90. Geburtstag von Jacques Derrida

DerridaDie Philosophie Jacques Derridas auf ein, zwei, drei Begriffe oder Motive zu bringen, scheint kaum sinnvoll – einmal davon abgesehen, daß es eine verdinglichte und unangemessene Weise ist, sich derart auf Philosophie zu kaprizieren und sie im Begriffsraster einer Aufzählung einzufangen. Insofern kann ein  Blogbeitrag nichts Grundsätzliches leisten, allenfalls ein wenig Lust auf die Texte Derridas machen. Denn Schreiben und Lesen haben, das zeigen auch manche der Texte Derridas, mit jener „Lust am Text“ (Roland Barthes) zu tun. Zudem kann ein solcher Text einige Motive der Philosophie Derridas umkreisen, anschneiden, anspielen und würdigen: Das Literarische seines Schreibens, ohne freilich, daß Philosophie nun Literatur wird; dort wo, eine Konstellation von Texten in eine Grenzform driftet – wie bspw. in Glas oder in Derridas Postkartentext und sich eine andere Form des Schreibens in Szene setzt.

Und vielleicht kann ein solcher Blogtext dazu ermuntern, bestimmte Bücher einmal wieder oder überhaupt erst zu lesen. Ich würde als Einstieg vielleicht sogar Derridas „Schibboleth- Für Paul Celan“ empfehlen, obwohl seine Grundlagentexte wohl eher in der „Grammatologie“ zu finden sind und in seinen Untersuchungen zu Husserl, wie etwa „Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls“ sowie „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage 3 der ‚Krisis'“ und als Standardtext sicherlich aus „Randgänge der Philosophie“ – der Titel bereits setzt die Szene – den Différance-Essay sowie aus „Die „Schrift und die Differenz“ den Aufsatz „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen“. Womit anfangen? Mit dem Anfang? Oder einfach anfangen? Es sind Versuche, Denkversuche. Derrida gehört in diesem Sinne zu den schwierigen Autoren, weil für die Lektüre seiner Texte bereits die Geschichte der abendländischen Philosophie vorausgesetzt ist. Dennoch halte ich solche Texte wie das Celan-Buch und dazu noch den ebenfalls im Passagen Verlag erschienen Interview-Band „Positionen“ für einen guten Einstieg. Danach noch den Nietzsche-Aufsatz „Sporen. Die Stile Nietzsche“ aus dem sowieso lesenswerten Sammelband „Nietzsche aus Frankreich“. Anhand dieses Textes bekommt man vielleicht ganz gut in den Blick, was eigentlich Derrida mit dem Begriff der Textlektüre und damit verbunden mit den Begriffen Dekonstruktion und Hermeneutik meint.

Gegen Doxographie

Derrida macht im Grunde das, was das klassische Geschäft der meisten Philosophinnen und Philosophen ist: er bezieht sich auf die Texte anderer Philosophen oder im Falle Derridas auch auf die Texte von Literaten. Er liest z.B. Platon, Hegel, Nietzsche, Freud und Husserl vor allem, aber auch Artaud, Bataille, Ponge, Kafka oder Celan. In diesem Sinne und gerade in bezug auf Derridas Husserl-Lektüren wäre es vielleicht sogar sinnvoller, Derrida in der Phänomenologie zu verorten – ebenso wie auch Jean-François Lyotard von der Phänomenologie her kommt.

Viel Verwirrung und Schaden haben dabei solche Einordnungen von Derridas Philosophie angerichtet, die ihn in Begriffen wie „Postmoderne“ oder „Poststrukturalismus“ doxographisch einpressen wollen, und auch der Name Dekonstruktion läuft dann ins Leere, wenn damit eine Spielmarke gemeint ist, unter der man die sehr heterogenen Texte Derridas zusammenfaßt. Wer diesen Begriff in bezug auf Derrida verwendet, täte gut daran, zu zeigen in welchem konkreten Text-Kontext und in welcher Weise der Operation dieser Begriff gebraucht wird. Seine Schrift „Glas“ macht etwas ganz anderes als seine Celan-Lektüre im „Schibboleth“, die wiederum ganz anders mit einem Text umgeht, als bspw. „Die Postkarte. 1. Lieferung“ und dann dazu in Korrespondenz und in Absetzungsbewegung die „Postkarte, 2. Lieferung“, worin es (unter anderem) um Lacans Fakteuer der Wahrheit und um eine Präsenzkritik geht, die zwar einerseits mit der literarischen Form der 1. Lieferung in einem Zusammenhang steht, die aber in der Durchführung und insbesondere in dem teils literarisch gehaltenen Stil doch etwas anderes betreibt, etwa über der Postkarte als Kommunikationsmedium, den Begriff der Telekommunikation, einer Art von actio in distans, was zugleich ein Verweis auf die Zauberei und eben auch auf Nietzsches gleichnamigen Aphorismus in der „Fröhlichen Wissenschaft“ ist: die Wirkung der Frauen aus der Ferne und der Begriff „Frau“ ist dabei nicht bloß als empirische Reifizierung gemeint und auch nicht als Prinzip, sondern „Frau“ und „Weib(lichkeit)“ stehen für eine bestimmte Bewegung eines anderen Denkens. Eine Komplexion an Bezügen also – gerade das machte für mich damals Anfang der 1990er diese „Postkarte. 1. Lieferung“ für mich reizvoll. Was bei Derrida „Dekonstruktion“ ist, kann man eben immer nur am konkreten Text selbst zeigen.

Das universitäre Milieu

Für meinen eigenen philosophischen Werdegang gehörte der Text Derrida in den junge, den wilden und verwegenen Jahren des Studiums wesentlich dazu, sicherlich auch ein wenig als Attitüde gegen einen saturierten Habermasianismus der bundesdeutschen Philosophie, und er bestimmte mein Denken: zusammen mit Kant, Hegel, Nietzsche, Adorno, Foucault, Benjamin und eben auch Martin Heidegger. Dialektisches Denken Hegelscher Provinienz bzw. dialektische Kritik, die von Marx, Hegel und Adorno her kam,  einerseits und Dekonstruktion bildeten die beiden Pole, um die sich mein Schreiben gruppiert. (Und möglicherweise ebenso meine Photographien.) Ein Schüler zu sein, ein gehorsamer zumal, der gelehrig aufnimmt, sich in die Schrift vertieft und talmudartig entziffert und unentwegt kommentiert, bedeutet jedoch nicht, es dem Meister dieser Philosophie gleichzutun. Genaues und gründliches Lesen will gelernt sein und oft überhebt man sich in den jungen Jahren in Gesten und Simulation von Philosophie – Philosophie hat in diesem Sinne auch etwas mit dem Finden der eigenen Position zu tun, und deshalb identifizieren manche sich zuweilen zu sehr. Das ist nicht weiter schlimm. Schlimm wird es, wenn man es im Laufe des Prozesses nicht bemerkt.

Die schlechteste Art dieses Überlassens an einen Text geschah in der unreflektierten Mimesis: wenn da, was es leider bis heute gibt, der Jargon des „Meisters“ in einer seltsamen Blödig- und Hörigkeit nachgeahmt wird: Neologismen kaum zu unterscheiden, ob das nun Dada oder Derrida oder Derridada ist. Gefasel, das sich klug dünkt und als wissenschaftlicher Text oder als Essay oder einfach nur als Kommentar doch über die bloße und leere Assoziation nicht hinauszukommen vermag, Parodie auf Philosophie und bis heute leider eine Praktik. Schon damals im Studium saßen da in den Seminaren jene postmodernen Jünger des Jargons der Uneigentlichkeit mit ihrem Hang zum ortlosen Verschwafeln. Man mochte da fast wieder zum Habermasianer werden.

Against methode?

Die sogenannte Dekonstruktion (und ebenso die Dialektik) sind keine Methoden, die starr zu handhaben sind. Mit solcher imitatio wird keiner glücklich – es sei denn, die Duplizierung des Meisters gelingt auf eine derart überzeugende Weise, daß daraus wiederum eine Gestalt hervortritt, die überbordend in der Imitation und dadurch im stillen verformend (und das Wesen des Meisters radikal befolgend und strikt gelesen) dennoch eine Verschiebung ums ganze erzeugt, indem durch solches Verfahren eine neue Gestalt des Denkens freigelegt wird. Dies freilich ist selten. Eine Striktur. Was sich idealerweise aus dem Kokon spinnt, ist immer eine neue Gestalt, mögen ihr die Fäden noch anhaften, die aber irgendwann reißen. Der Faden der Ariadne kann aus dem Labyrinth bringen. Eine der Aufgaben der Philosophie ist es jedoch, die Labyrinthe zu begehen, zu sichten und ihnen einen Ort zuzuweisen, sie zu befragen. Und dennoch überlassen wir uns diesen Labyrinthen der Texte, die Gewebe, Faden und Kokon sein können. Was immer wir in diesem Labyrinth antreffen mögen. Wenigen nur gelingt dieses Spiel.

Solche Wege ins Abseitige eines Textes beschritt Derrida. Eine unscheinbare oder gar „wolkige“ Stelle gab den Anlaß zur Lektüre, möglicherweise dem Leser unwesentlich erscheinend, wie etwa in „Sporen. Die Stile Nietzsches“ jener Satz Nietzsches, daß er seinen Regenschirm vergessen habe. Derrida insistierte in seiner Lektüre auf genau diesem winzigen Detail. So brachte er auf diese Weise die undialektische Oppositionsbildung bei Michel Foucault auf den Begriff. Eine eher zu überlesende Passage in Foucaults 1961 erschienenem Buch „Wahnsinn und Gesellschaft“ war es, wo Foucault eine Ausführung Descartes in seinen „Meditationen“ aufgriff, in der die Gestalt des Wahnsinnigen im Kontext des Wissens auftrat. Derrida zeigte in seinem Aufsatz „Cogito und die Geschichte des Wahnsinns“ (1964), daß Foucault in dieser Lesart einem viel zu starren Schema der Oppositionsbildung nachhing. Das genial Perfide Derridas – sozusagen die Strategie des Textes – bestand nun insbesondere darin, daß er Foucaults Text strikt befolgte, in einer Art von Kommentar und immanenter Lektüre, wie Derrida schreibt: „… wir werden der Absicht Foucaults so getreu wie möglich folgen, indem wir erneut die Interpretation des kartesianischen Cogito in das Gesamtschema des Foucaultschen Buches einschreiben.“ (J. Derrida, Cogito und die Geschichte des Wahnsinns) Einmal unabhängig davon, wieweit Derridas Foucault-Lektüre hier plausibel ist, zeigt sie das Interessante, aber auch das Heikle solchen Vorgehens. Schnell kann solche Lektüre freilich ebenso ins Beckmesserische, ins Rechthaberische driften. Derrida und Foucault waren nach diesem Derrida-Text keine guten Freunde mehr, erst sehr viel später wieder enspannte sich deren Verhältnis.

Wer die Details zu diesem Disput nachlesen will und noch vieles anderes aus dem Leben Derridas, der greife unbedingt zu der lesenswerten Biographie von Benoît Peeters. Sie zeigt die intellektuellen Dispute mit Lacan, Foucault, Lévy-Strauss und vielen anderen wie etwa dem legendären Streit zur Sprachphilosophie mit John Searle – auch hier wieder zeigt sich, daß die Verhärtung der Fronten oftmals das Gemeinsamein der Differenz zurücktreten läßt. Auch findet sich darin ein schöner Blick auf  jene wilden 1960er Jahren in Paris, zwischen Revolte, Revolution, Sartre, Althusser, Foucault, Kristeva, Derrida und auch manches zur Tel Quel-Gruppe. Und als ich die Biographie damals las, dachte ich mir zugleich, daß es doch schön wäre, wenn es für Deutschland auch eine Geschichte zu jener den intellektuellen Diskurs prägenden Tel Quel-Gruppe bzw. der Zeitschrift gäbe, vielleicht so, wie das Philipp Felsch im „Langen Sommer der Theorie“ zum Merve Verlag tat und den dort stil- und denkbildenden Diskursen, die aus dem Spektrum zwischen Kritischer Theorie, Poststrukturalismus und Dekonstruktion entstanden, ein Erinnerungsbuch schrieb, das die Geschichte von Denksystemen, freilich launig erzählt, uns liefert.

Vor allem aber, und das macht diesen Text als Gegenpol interessant, kommt Peeters nicht aus dem Umkreis der Dekonstruktion, liefert insofern keine irgendwie in den Fußspuren Derridas sich einschreibende Lektüre. (Was man freilich ebenso als ihren Schwachpunkt lesen kann.)

Derridas konstellatives Denken

Begriffe wie Dekonstruktion und Aufpfropfung greifen für den Text Derridas zu kurz, sind eine Abbreviatur komplexen Denkens. Denn jedesmal, an jedem Text, in jedem Idiom und Stil des Schreibens, an jeder Struktur eines Textes oder eines Satzes entwirft sich die Dekonstruktion neu. Als Stil. Das macht ihr literarisches Element  aus und aus diesem Grunde kann man bei der derridaschen Dekonstruktion nicht von einer Methode sprechen. Sie ist dabei unbedingt affirmativ, indem sie ihren Gegenstand beläßt. Darin unterscheidet sie sich womöglich von der (hegelschen) Dialektik, in der ein Gegenstand und ein Begriff an sich selber kollabieren und dabei zugleich weiter und über sich hinaus treiben und wie Phönix und die bekannte Asche steigt und steigert eine neue Verbindung. [Der Kohlenstoff ist ein ganz und gar eigenwilliges und vielseitiges Element der Bindung und des Lebendigen. Die Bedeutung der Asche als verstreubarer Rest, Vernichtung und Spur in einem ist für Derrida zentral. Das zeigt seine Celan-Lektüre ebenso wie „Feu la cendre“ und das darin entfaltete Spiel mit dem Geben, der Gabe, dem Feuer, dem „Es gibt …“. Ähnliches in „Falschgeld. Zeit geben I“, wo wir zum einen eine Lektüre von Baudelaire und zugleich eine Poetik des Tabaks finden.]

Es ließe sich zwar ein Feld von Begriffen nennen, die das Denken Derridas charakterisierten: Kultur und Natur, Schrift, Kommunikation, Sprechen, Text, Logozentrismus, Gerechtigkeit, Gabe, Differenz, der Eigenname, das Idiom, die Psychoanalyse, die Spur. Mit all diesen Begriffen verbinden sich bestimmte Texte Derridas und Phasen seines Denkens. Die Zahl seiner Bücher und Aufsätze ist schier unnennbar.

Zentral für den Text Derridas bleibt jedoch der Begriff der différance – jener Kunstbegriff, der vom lateinischen Wortstamm her über das Verb differer auf zwei Aspekte verweist: verschieden sein und verschieben. Ein bedeutungstragender, graphischer Unterschied, der sich beim Klang, beim Aussprechen des Wortes jedoch nicht ausmachen läßt und nur in der Schrift selber in seiner Mehrdeutigkeit lesbar ist. Ein Begriff, der eine Verschiebung in der Zeit bezeichnet, als Aufschub und Entfernung dessen, was niemals in eine volle Präsenz gebracht werden kann und niemals als Präsenz zu haben ist, denn diese bleibt immer Phantasma. Die reale Gegenwart ist ein Trug. Darin teilt Derrida sicherlich Hegels Kritik der Unmittelbarkeit. Wie sich überhaupt Derrida und Hegel in der Bewegung des Textes ähneln, wo Begriffe und Bestimmungen des Denkens flüssig werden – wo sie mithin liquidiert werden, indem starre Festsetzungen und Fixierungen aufgelöst werden sollen. Mit dieser différance verbunden ist ein räumlicher Aspekt des Aufschubs, der sich als Spur manifestiert, eine Heterogenität und Alterität. Zudem ist es das andere seiner selbst, als Verschiedenheit, absolute Differenz, wie im Idiom oder Eigennamen, der das eigene bezeichnet und der dennoch wiederholbar ist und ebenso auf andere zutrifft, die denselben Namen tragen.

Aber diese différance ist im strengen Sinne kein Wort, kein Begriff, sondern in den Diktion Derridas ein „Bündel“, in dem sich verschiedene Aspekte verdichten, sammeln und formieren, um sich jedoch immer neu wieder zu verschieben und zusammenzuschießen: nicht still zu stellender Sinn: von der Ökonomie (des unendlichen Aufschubs) von Präsenz bis hin zu einem strategischem Spiel der Kräfte und Bündnisse.

„Ich bestehe darauf, die différance ist keine Opposition, nicht einmal eine dialektische Opposition: Sie ist eine Bejahung-aufs-neue des Selben, eine Ökonomie des Selben in seiner Beziehung zum Anderen, ohne daß es notwendig ist, damit sie existiert, sie einzufrieren oder sie in einer Unterscheidung oder in einem System dualer Oppositionen zu fixieren.“ (Jacques Derrida/Elisabeth Roudinesco, Woraus wird Morgen gemacht sein?)

Gleichzeitig bedeutet diese différance eine Weise der Ermöglichung, sie ist Bedingung von Diskursen, Texten, Äußerungen. Insofern kommt ihr – unter anderem – eine transzendentale Struktur zu. Wie jenes kantische „Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können …“ läßt sich die différance nicht reifizieren und in dieser Weise des Empirischen exponieren. Derrida umschreibt diese Form der différance in seinem gleichnamigen Text. Dieser Text ist schwierig, er braucht Zeit, er muß genau gelesen werden, er ist auf den ersten Blick rätselhaft in seiner Gestalt, und das hat bei mir damals im Studium seinen Reiz ausgemacht. Poetisch manchmal. Eine Philosophie des Entzugs. Und damit ganz und gar mimetisch einerseits: der Text führt das vor, was er beschreibt, Inhalt und Form stehen in einem Verhältnis, das nicht bloß zufällig ist. Andererseits sich jeglicher Verwertungslogik entziehend. Diese „Struktur“ der différance macht die ästhetische wie auch die philosophisch-kritische Kraft dieses Neologismus, der weder Begriff noch Zeichen ist, aus. Den Unterschied einzuschreiben, zu bewahren, ihn aufzuheben, ihn zugleich aber nicht im Sinne der Oppositionsbildung absolut zu setzen, ist eine der Tätigkeiten der différance. Denn der Dekonstruktion Derridas geht es um die Auflösung und Verflüssigung von Oppositionen: was wir als naturgegeben annehmen, erweist  sich als kulturell gemachte Unterscheidung. Das freilich ist seit Marx so neu nicht. Aber Derrida polt diese Verhexung, die unser Denken beständig präformiert und gesellschaftlich Gemachtes als Naturwüchsiges  simuliert, auf Bereiche, die sich unserem überkommenen Blick entzogen und die wir bisher als randständig erachteten.

Politik der Dekonstruktion oder Die Ethik des Textes

Derrida wird immer wieder vorgeworfen, seine Dekonstruktion sei unpolitisch und ein sinnfreies Spiel, das die Wirklichkeit zugunsten schierer Textualität auflösen will. Solche Kritik summiert Derrida meist unter dem pejorativ gemeinten Slogan „Postmoderne“. Aber es ist das bloß eine Postmoderne – sofern es diese denn überhaupt gibt –, die zu einem reduzierten Preis ins Angebot der Theoriedesigns gestellt wird. Sie ist eher unterhaltender Natur und bedient das Feuilletonistische. Mit den Begriffen der Philosophie Derridas und noch weniger mit Derridas philosophischer Operation hat all das nicht viel zu tun: die Realität löst sich nicht in Texte auf. Jener dazu bemühte Satz Derridas aus der „Grammatologie“ „[e]in Text-Äußeres gibt es nicht“ bedeutet nicht, daß wir nichts als Texte hätten, sondern vielmehr, daß wir bei der Lektüre von Texten immer nur auf Texte uns beziehen können; darin folgt Derrida zunächst einmal einer ganz und gar hermeneutischen Einsicht. Wenn wir uns lesend und in intensiver Lektüre uns auf Texte beziehen, dann sind es zunächst Texte, mit denen wir umgehen und die aufeinander verweisen und in Beziehungen stehen. So auch dieser Blogeintrag: ein Text. Inwiefern sich in jeden Text auf eine ganz bestimmte Schreibweise ein Idiom und damit ein Privates darin einschreibt, das eine Spur erzeugt und als Einzelnes verschwindet, um sich dennoch in Anzeichen wieder lesbar zu machen, ist  eines der Themen Derridas. Der Text selbst ist der Maßstab und wird als Text genommen.

In seiner Auto-Biographie „Zirkumfession“ vergleicht Derrida die Abnahme des Blutes – der Moment, wo aus dem eigenen Körper das unsichtbare Innere, jene Flüssigkeit, die am Leben hält, nach außen freigesetzt wird – mit dem Schreiben: Die Feder, also das Schreiben mit der Hand, denn für Derrida kam, wie auch für Heidegger, der Handschrift eine ganz besondere Bedeutung zu, gebiert einen Text – sei es Prosa oder Philosophie. Blut wie auch Schreiben entlassen ein zunächst Unsichtbares aus dem Inneren, die Schrift bringt dieses Unsichtbare als Text in eine (wiederholbare) Anordnung. Die Spritze, in die das Blut aus der Vene fließt, gibt jene Flüssigkeit in ein Röhrchen ab, die dort eingeschlossen, mit einem Namen beschriftet und dann untersucht wird. Feder und Spritze stehen in einem Verhältnis, sie stellen das Innerstes eines Lebens nach außen zur Schau. Insofern ist die Annahme, die von mancher und manchem gehegt wird, ein Text sei körperlos, eine den Charakter der Schrift verkennende Illusion. Auch eines dieser Phantasmen. Der Text hingegen löst sich im Prozeß unwiederbringlich vom Körper ab und wird unbeherrschbar. Niemandes Eigentum. Eine Gabe.

Am 15. Juli wurde Derrida in El Biar, einem Vorort von Algier, als algerisch-französischer Jude geboren. Daß Herkunft prägt und zugleich einfache Identitätsmuster zum Durchstreichen bringen kann, zeigen die unterschiedlichen Texte Derridas – insbesondere seine Celan-Lektüre zur Poetik des Datums, zur Beschneidung und eben zum Schibboleth, das ja gerade ein Identitätsausweis ist, gleichsam mit dem Körper gemacht und als tödlichfaktisches Wort, als Codewort und Erkennungszeichen kann die Aussprache dieses Wortes ganz unmittelbar über Leben und Tod entscheiden, wenn wir an jene Bibelstelle denken:

„Gilead schnitt Efraim die Jordanfurten ab. Und wenn die Flüchtlinge aus Efraim sagten: Ich will hinüber!, fragten ihn die Männer aus Gilead: Bist du ein Efraimiter? Wenn er Nein sagte, forderten sie ihn auf: Sag doch einmal Schibbolet! Sagte er dann Sibbolet, weil er es nicht richtig aussprechen konnte, ergriffen sie ihn und machten ihn dort an den Furten des Jordan nieder. So fielen damals zweiundvierzigtausend Mann aus Efraim.“ ( Buch der Richter 12,5–6)

Geburt bedeutet, einen Anfang zu setzen: in diesem Falle ganz empirisch und relativ einfach. Beim Denken ist dies bereits anders: wir eigenen uns an, stehen auf den Schultern von Riesen. Es gibt keinen Anfang und im chronologischer Weise zu lesen hat wenig Sinn, weil wir nach Interessen auch lesen. Derridas Lesepensum war gewaltig. Wie wir im Text als Leben und im Leben als Schrift wirken, die Lektüren und Re-Lektüren gestalten und eine Tradition des Denkens als Neues und immer wieder neue Spur reanimieren, zeigen uns Derridas Texte. Zugleich war Derrida ein unermüdlich Reisender als sei’s eine Flucht: die Stationen und Konflikte dieses Lebens eines französischen, in Algerien geborenen Juden, der sich identitär nicht festlegen lassen mochte und in kein Bündnis einzubinden war, lassen sich gut in Benoît Peeters‘ Biographie nachlesen. Ebenso lesenswert ist auch Geoffrey Bennington Buch „Jacques Derrida. Ein Portrait“, darin befinden sich, was für eine Biographie ungewöhnlich ist, aber gut zu Derridas Schreibweise paßt, Fußnoten und Ergänzungen von Derrida selbst zum Text von Bennington. In diesem Sinne ein Duett in Schrift, „Zirkumfession“, wie Derrida es nennt, „Neunundfünfzig Perioden und Periphrasen geschrieben in einer Art innerem Rand zwischen dem Buch Geoffrey Benningtons und einem Werk in Vorbereitung“. Während Bennington solche für Derrida wesentlichen Begriffe wie „Gabe“, „Kontext“; „Übersetzung“, „Zeichen“, „Schrift“, „Husserl“ oder „Eigenname“ umschreibt und Korrespondenzen zu Derridas umfangreichen Werk herstellt.

Obwohl Derrida in der akademischen Philosophie Frankreichs mit ihren strengen Hierarchien und ihrem trockenen Rationalismus nie recht ankam, wurde er einer der anregendsten, umstrittensten Philosophen. An Derrida scheiden sich bis heute die Geister. Was man unbedingt in den Blick nehmen müßte, auch hier wieder Derrida gegen seine postmodernen Liebhaber oder eher noch: gegen jene schlechte Mimesis verteidigt, ist die eminent rationale Weise seines Philosophierens. Ebenso wie die literarische Frühromantik nicht die Opposition zur Aufklärung und ihren unterschiedlichen Philosophien bildete, sondern diese Philosophie weiterführt und ergänzt, so steht auch Derrida nicht dem Denken der Vernunft und des Logos entgegen. Aus guten Gründen knüpften die Gebrüder Schlegel und Novalis unter anderem an Kant und auch an Fichte an. So wie man Derridas Philosophie in diesem Sinne auch als eine Fortschreibung des Projekts Hegelscher Philosophie lesen kann: nämlich ein Ganzes zu denken, das doch nicht ganz zu denken ist. Es aber in Bewegungen immer wieder und dabei auch selbstreflexiv in den Blick zu nehmen

Turn on, tune in, drop out, stay home: die metaphysischen Lesetips im Grandhotel Abseits

In meiner Nebenstraße hier irgendwo im Südwesten von Berlin, in einem der ruhigen und friedlichen Viertel, auf die Monika Herrmann Gott sei Dank keinen Zugriff hat, ist es die Tage deutlich ruhiger, kaum Verkehr, wenige Menschen. Das ist gut so, genau wie ich es schätze, die Menschen tun das, was sie am schwersten können: Zu Hause bleiben. Was macht man da? Netflix, Serien, Kinder – schauen wir auf die Geburtenraten in neun Monaten. Kann aber auch sein, daß die Leute sich einfach mit Messern die Kehle durchschneiden. Besser ist es da, das Für-sich-sein zu pflegen und um zum An-und-für-sich-Sein zu gelangen, kann man  ein Buch in die Hand nehmen oder die Texte dieses Blogs hier lesen. Ich gebe also für diese sonnigen Tage ein paar Lesetips zum Besten: Bücher zur Sache, Bücher, die man immer mal wieder zur Hand nehmen sollte. (Nein, Camus „Die Pest“ und Boccaccios wunderbares „Decamerone“ oder bei Reclam erschienen und leider vergriffen „Novellino /Das Buch der hundert alten Novellen“ in italienischer und deutscher Sprache empfehle ich nicht, wenngleich allesamt lesenswert. Die ersten beiden Bücher wurden in diesen Tagen immer einmal wieder genannt. Das letztere sei dazu gegeben.)

Mein metaphysischer Lesetip des Hausherrn vom Grandhotel Abseits für diese Tage ist Martin Heideggers Buch „Die Grundbegriffe der Metaphysik“, und daraus insbesondere die Kapitel zur Langeweile, und zwar aus dem ersten Teil, das zweite, dritte und vierte und fünfte Kapitel, sowie das erste Kapitel des dritten Teils, die da tragen folgende Titel: „Die erste Form der Langeweile: das Gelangweiltwerden von etwas“,

„Die zweite Form der Langeweile: das Sichlangweilen bei etwas und der ihr zugehörige Zeitvertreib“,

„Die dritte Form der Langeweile: die tiefe Langeweile als das ‚es ist einem langweilig‘“, „Die Frage nach einer bestimmten tiefen Langeweile als der Grundstimmung unseres heutigen Daseins“

und schließlich der Höhepunkt des dritten Teils: „Das wirkliche Fragen der aus der Grundstimmung der tiefen Langeweile zu entwickelnden metaphysischen Fragen. Die Frage: Was ist Welt?“

Zeit und Dasein dazu dürfte bei vielen vorhanden sein, vielleicht ja auch die Gestimmtheit. Diese Gedanken zur Langeweile sind insofern interessant, weil Heidegger hier von einer (alltäglichen, lebensweltlich gut präsenten) Erfahrung ausgeht, die jeder Mensch in seiner Weise kennt und bereits einmal gemacht hat: Wenn einem die Zeit lang wird. Und diese Langeweile empfinden viele als eine Sache, die zu betäuben ist – Netflix, Serien, Kinder machen – statt sich ihr einmal ästhetisch auszusetzen und zu schauen: Was passiert? Was geschieht?

Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann,
Heidegger Gesamtausgabe Band 29/30
Klostermann Verlag, 3. Auflage 2004; XX, 544 Seiten.
Ln 59,00 €, ISBN 978-3-465-03311-0