Vor einigen Tagen wurde das World Press Photo des Jahres 2024 ausgewählt. Das Bild entbehrt nicht einer gewissen Dramatik und eines ikonographischen Aufbaus. Es besitzt, anders als viele politaktivistische Photographien, eine auch ästhetisch hohe Inszenierungsqualität und dies in einem gleich mehrfachen Sinn in einer zeichenhaften Weise: Pietà-Assoziationen, für die Westler, auch das wird gut von Mohammed Salem bedient, Farbkontraste und ein klar fokussiertes Zentrum, welches freilich fast den gesamten Bildraum einnimmt, so daß weitere Details nicht ablenken. Aber es sind auch andere Lesarten denkbar.
Was wird auf dieser prämierten Photographie inszeniert? Das Leid von Opfern? Was ist auf dieser Photographie zu sehen? Alles und nichts: das Photo bildet eine Leerstelle. Die Photographie könnte auch heißen „Dienstfrau mit Wäschebündel in einem Hamas-Palast in Katar“; oder auch „Gaza-Araberin, nachdem sie Wohnungen in Sderot ausgeräubert hat und sich müde auf ihre Beute stützt“. Ob es sich bei dieser Gestalt überhaupt um eine Frau handelt, ist am Ende nicht sicher. Vor einigen Monaten kamen in Gaza aus einem Krankenhaus fünf verschleierte arabische Frauen in Schwesterntracht auf eine Gruppe israelischer Soldaten zu. Als sie dicht genug an den Soldaten waren, warfen die „Frauen“ ihre Verkleidungen ab, zum Vorschein kamen Männer, die sofort das Feuer auf die israelischen Soldaten eröffneten. Es sollte sich also niemand wundern, daß beim Anti-Terroreinsatz der IDF zuweilen auch Frauen und Kinder zu schaden kommen, wenn sie als militärische Schutzschilde eingesetzt werden oder ihre Gestalt als Verkleidung gebraucht wird. (Aber das ist wieder ein anderes Thema. Wenngleich diese prämierte Photographie indirekt auch diese Geschichten miterzählt: Tricksen, täuschen, terrorisieren.)
Photographien, gerade solche, die mit Photopreisen bedacht werden, sollen uns berühren, doch dieses Bild trifft mich nicht. Auf mich wirkt es wie ein Filmstil aus einem surrealen Jodorowsky-Film: absurd und von einer erschreckenden Leere. Oder vielleicht wie eine (ungeschriebene) Szene aus Samuel Becketts „Quadrat I+II“. Ich denke zugleich an all die Pallywood-Bilder, wo scheinbar tote Kinderkörper in der nächsten Einstellung plötzlich wieder munter durchs Bild hüpfen, oder wo immer derselbe arabische Opferdarsteller immer einmal wieder als Leichen sich zur Schau stellt. Vielleicht sind es Fünflingsbrüder – wer weiß das schon? –, aber ich glaube daran nicht. Leider wissen wir als Betrachter bei solchen Photographien, die von arabischen Aktivisten stammen, nicht, ob sie echt oder inszeniert sind. Und ich gehe davon aus, daß solche Inszenierung nicht in derselben Absicht geschieht, wie dies etwa der kanadische Photograph Jeff-Wall betreibt, der genau mit diesem Moment von Inszenierung, Dramatisierung und Echtheit spielt.
Auf dem World Press Photo von 2023 – einer Kriegsphotographie aus der Ukraine, diesmal von einem tatsächlichen Angriffskrieg – sind Menschen zu sehen, die ein Gesicht haben. Auf dieser prämierten Photographie jedoch ist niemand zu sehen. Außer Stoffballen. Das berühmte „Napalm-Mädchen“ von 1972 aus dem Vietnamkrieg wirkte gerade deshalb, weil man ihr Gesicht sah, darin sich die Angst zeigte. Dieses Gesicht und der nackte Körper spiegelten das Entsetzen und das Grauen eines Krieges. Hinzu kommt: Wir kennen weitgehend die Situation und die Umstände, unter denen das Bild entstand. Auch das Vietnam-Bild ist zwar komponiert, da Teile des Bildausschnittes nicht gezeigt werden, aber es ist dies keine Manipulation, sondern eine Fokussierung auf die Szene. Das Bild wirkt durch Emotionen – wobei auch solche Emotionalisierung kein Selbstzweck ist, sondern einen Kontext besitzt. Während das World Press Photo von 2024 eine seltsame Kälte zurückläßt und auch die Frage, weshalb Frauen in der arabischen Welt derart gesichtslos sind. Diese Photographie ist insofern gelungen, weil sie zwar wenig von der durch die Hamas verursachten Gewalt zeigt, aber sehr viel von der Unterdrückung der Frau in vielen muslimischen bzw. arabischen Ländern. Es paßt diese Photographie insofern gut zu einer Religion, die Frauen zwingt, sich zu verhüllen. Stichwort Iran auch, wo die tapferen Frauen einen Kampf dafür führen, so auf die Straßen zu gehen, wie sie es wollen.
In diesen Kontext manipulativer Photographen, die hier aber nicht der Ästhetik, sondern einer Propaganda dienen, passen auch die Bildarbeiten von Mohammed Salem. Wenn ich mir seine Photographien anschaue, die er auf Instagram zeigt, dann sehe ich keinen Journalisten, sondern einen arabischen Aktivisten, der tendenziöse Photos präsentiert, die lediglich die eine Seite zeigen. Ursache und Wirkung werden aufgehoben, wenn nicht vertauscht. Aber vielleicht gibt es von ihm auch andere Bilder, etwa solche von den Massakern an Juden und dem Dauerbeschuß aus Gaza auf Israel. Nur habe ich diese bisher bei meinen Recherchen nicht entdecken können. Und was die Bezeichnung „Journalist“ betrifft: auch dort ist Kritik angebracht, seitdem bekannt wurde, daß angeblich „seriöse“ Photoreporter, mithin „Journalisten“ von Agenturen jene mordenden Gaza-Araber beim Überfall auf Israel und bei den Massakern an Juden und Nicht-Juden begleiteten. Als was wollen wir sowas bezeichnen? Embedded Journalism würde ich es nicht nennen, sondern Beihilfe zum Terror.
Was nun diese Preisvergabe anbelangt, kann man aber auch, so wie es die postkoloniale Linke teils gerne tut, ideologiekritisch nachfragen: Wer prämiert solch eine Photographie? Und warum gerade diese? Wer sitzt in solchen Jurys? Da es üblich ist, die Mechanismen der Macht und Strukturen zu befragen, die eine bestimmte Auswahl von Bildern ermöglicht und andere verunmöglichst, wäre es dann in diesem Fall angebracht zu fragen, warum, nach dem entsetzlichen Massaker vom 7. Oktober, ausgerechnet eine Photographie (mutmaßlich aus Gaza) mit einem solchen renommierten Preis ausgezeichnet wird. Wird hier einmal wieder Bild- und damit Machtpolitik gemacht, um aus brutalen Tätern arme Opfer zu machen? Ich bin mir, wenn es um die Bilderauswahl geht, sicher, daß es Photographien gibt, die deutlich preiswürdiger wären als ein solches mich vielmehr an eine Theater- oder Filminszenierung gemahnendes Bild, das zwar eine ästhetische Wirkung hat, aber seine Absicht bei mir und bei vielen Menschen völlig verfehlt. Von den völlig verdrehten politischen Implikationen einmal ganz zu schweigen.
Das Problem ist: Photographien – gerade politische und journalistische, aber im Grunde auch rein ästhetisch rezipierte – haben immer Hintergründe, die wir für eine adäquate Beurteilung kennen müssen. Solche Photographien erzählen nur sehr bedingt eine Geschichte, eher noch liefern sie Emotionen. Und Emotionen sind leicht zu mißbrauchen. Tote in Ruinen stimmen einen Betrachter selten heiter. Tote Terroristen, ohne Kenntnis, um wen es sich handelt, werden wir, wenn wir ein solches Photo sehen, möglicherweise betrauern. Wissen wir aber, daß es sich etwa um SS-Männer handelt oder um Hamas-Terroristen, die noch Monate zuvor Menschen folterten, läuft unsere Bewertung möglicherweise anders. Man sollte also beim Betrachten von Photos seine Emotionen gut prüfen. Und guter Betrachter muß bereits viel Hintergrundwissen mitbringen.
Bei Kunstphotographien ist solche Kenntnis von Hintergründen oftmals zweitrangig: Fällt sie weg, mag das nicht so sehr von Gewicht sein: eine Frau in einem blauen Kleid, die durch New York geht – etwa wie Saul Leitner sowas photographiert haben mag –, ist einfach eine Frau in einem blauen Kleid, die durch New York schlendert, und es zeugt für die Schönheit oder auch den Reiz einer Szene, weil Kontraste, Struktur, hell-dunkel, also die Bildkomposition in diesem Fall eine zentrale Rolle spielen. Wir betrachten solche Bilder rein ästhetisch und mit einem gewissen Wohlgefallen oder manchmal auch belustigt oder angeregt, wenn wir Streetphotogaphy sehen. Freilich gibt es auch dort Ausnahmen, wenn wir etwa an Doisneaus berühmtes Kußphoto denken: A kiss isnʼt just a kiss. Bei politischen Photos ist es jedoch etwas grundsätzlich anderes. Wir müssen die Kontexte kennen. Die Photographie benötigt eine Geschichte.
Freilich wirken zugleich auch solche ausgestellten oder derart präsentierten journalistischen Photographien ästhetisch – etwas, das Roland Barthes in seiner Abhandlung zu Schockphotographien in „Mythen des Alltags“ scharf kritisierte, und auch Susan Sontag hat diesen Aspekt des Lustgewinns in ihrem Buch „Über Fotografie“ – eigentlich müßte es „Gegen Fotografie“ heißen – bemängelt. (Etwas anders dann in ihrem späteren Buch „Das Leiden anderer betrachten“.) Roland Barthes schreibt:
„Genevieve Serreau erinnert in ihrem Buch über Brecht an eine Photographie in Paris-Match, das eine Szene der Hinrichtung guatemaltekischer Kommunisten zeigt. Mit Recht bemerkt sie, daß diese Photographie nicht als solche grauenhaft ist, daß das Grauen vielmehr daher rührt, daß wir sie aus unserer Freiheit heraus betrachten. Eine Ausstellung von Schockphotos in der Galerie d’Orsay, von denen uns strenggenommen nur sehr wenige schockieren konnten, gibt Genevieve Serreaus Bemerkung dennoch recht: Es genügt für den Photographen nicht, uns das Schreckliche zu bedeuten, damit wir es empfinden.
Die meisten der Photographien, die hier versammelt wurden, um uns zu erschüttern, bleiben wirkungslos, gerade weil der Photograph sich beim Aufbau seines Sujets allzu großzügig an unsere Stelle versetzt hat: Fast immer hat er das Schreckliche, das er uns vorführt, überkonstruiert und durch Kontraste oder Nebeneinanderstellungen dem Faktum die effektheischende Sprache des Grauens hinzugefügt: Einer stellt eine Menge Soldaten unmittelbar neben ein Feld von Totenköpfen; ein anderer zeigt uns einen jungen Soldaten bei der Betrachtung eines Skeletts; wieder ein anderer nimmt eine Kolonne von Verurteilten oder Gefangenen in dem Moment auf, in dem sie einer Schafherde begegnet. Doch keines dieser allzu geschickt aufgenommenen Photos erschüttert uns. Das liegt daran, daß wir ihnen gegenüber jedesmal unserer Urteilskraft beraubt sind: Man hat für uns gezittert, für uns nachgedacht; der Photograph hat uns außer dem Recht auf intellektuelle Zustimmung nichts übriggelassen. Was uns mit diesen Bildern verbindet, ist ein technisches Interesse; …“
Aus diesem Grunde bin ich skeptisch, wenn qua journalistischer Photographien irgendetwas vermittelt werden soll, was über eine Zeitungsmeldung hinausgeht. Bilder illustrieren sie. Das sollte ihre Funktion sein, oder sie sind Teil einer größeren Reportage. Wobei auch in solchem politisch-journalistischen Kontext die Wirkung eines Photos niemals ganz abzusehen und vorauszubestimmen ist. Auf mich etwa wirkt das prämierte Bild in einer ganz anderen Weise erschreckend: nämlich die Art, wie man solche Preise vergibt, aber auch das ganze Szenario. Es hat für mich, wie es oben beschrieb, etwas von einer Szene aus einem surrealistischen Film. Sofern die Photographie Leid ausdrücken soll, so funktioniert das bei mir nicht. Ich sehe ein Stoffstücke, von denen man vermuten kann, daß sich dahinter ein Mensch verbirgt. Hinzu kommt in meiner Sicht: Dem ganzen Anlaß ist diese Photographie nicht angemessen. In seiner Kritik an dieser Preiswahl schreibt Thomas Schmid:
„Zu einem Skandal wird die diesjährige World-Press-Photo-Award-Veranstaltung aber durch ein Fehlen, eine Unterlassung, eine Leerstelle. Es passierte im vergangenen Jahr viel Furchtbares, das durch Fotografien festgehalten werden sollte. Zu diesem Furchtbaren gehörte auch die Hamas-Mordaktion vom 7. Oktober 2023. Sie war das schlimmste und brutalste antiisraelische und antisemitische Pogrom seit dem Holocaust. Terroristen der Hamas ermordeten mehr als 1.200 Menschen, vergewaltigten israelische Frauen, schändeten Tote. Und anders als beim Holocaust waren die Täter keineswegs bemüht, ihr Morden vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Sie wollten die Welt teilhaben lassen an ihrem Wüten. Sie filmten, sie dokumentierten ihre Taten und stellten sie ins Netz. Noch Tage wie Wochen später waren die Spuren dieser Mordaktion zu sehen und zu besichtigen: Blut, Leichenteile, zerstörte Wohnungen, verwaiste Dreiräder. Viele Fotografen haben sie dokumentiert. Doch die Stiftung „World Press Photo“ hielt keine dieser Aufnahmen einer Anerkennung für würdig. Die Hamas-Morde kommen in dieser ästhetisierenden parteiischen Foto-Welt einfach nicht vor.“
Dem ist nicht viel hinzuzufügen.
Sicherlich ist es schrecklich, sein Kind zu verlieren, wenn wir davon ausgehen wollen, daß diese Szene nicht inszeniert ist. Doch wer Ursache und Wirkung nicht mitnennt, macht sich mit den Tätern gemein. Erst recht, wenn eine Jury zu bestialischen Folterungen an Juden, zum Zerstückeln und Verbrennen von Kindern und Babys schweigt. Es gibt Unterschiede zwischen Tätern und Opfern. Die deutsche Mutter, die 1943 in Hamburg ihr Kind verlor, ist – einerseits – sicherlich genauso ein Opfer wie eine britische Mutter, deren Kind 1940 in Coventry im Hagel deutscher Bomben starb. Aber dennoch gibt es zwischen beiden Opfern qualitative Unterschiede. Für die Opfer in Gaza ist primär die Hamas verantwortlich. Eine solche Preisvergabe will falsche Emotionen zu schüren. Sie ist in diesem Sinne Propaganda für Hamas-Terror. Insofern sagt eine solcher Preis viel über Jurymitglieder aus, die in dieser Weise ihre Gewichtung vornehmen.