Ich treffe meine Begleitung vor dem Café des c/o Berlin, dem alten Amerika-Haus. Sie möchte, bevor wir die Photographien von Lee Friedlander schauen, noch eine Kleinigkeit trinken, so sagte sie und so bestellen wir, da ich ihren Wünschen gerne nachkomme, je eine Cola. Da jene Begleitung und ich uns lange nicht sahen, gab es viel zu berichten. Fast verpaßten wir den eigentlichen Anlaß unseres Treffens: nämlich die Ausstellung. Es gibt solche Tage, da will man gar nicht ins Museum, weil’s so viel zu erzählen gibt. Und man muß es und will es am Ende doch – zumal einen bei komplizierten Geschichten die Bilder dazu zwingen, sich anders zu fokussieren und in der Kunst seinen Blick zu ändern. Werke fordern. Du mußt nur die Blickrichtung ändern!
Vorab schon sei gesagt, daß ich unbedingt zu dieser umfassenden und in Teilen witzigen Ausstellung rate: denn inmitten des Absurden dieser Gegenwart bietet sie einen guten Gegenpart. Zudem bekommt der Betrachter einen guten Überblick über das Werk des 1934 in Aberdeen im Nordwesten der USA geborenen Photographen. Als ich den Namen Friedlander hörte, dachte ich zunächst: Ach, auch einer dieser toten US-amerikanischen Streetphotographer. Aber nein: Friedlander lebt noch, wenngleich er eine Herz-OP hinter sich hat, wie man einem seiner Selbstportraits entnehmen kann. Ob Friedlander freilich noch Bilder macht, weiß ich nicht. Im c/o Berlin finden sich Photographien von 1956 bis 2014, die meisten Bilder sind in den USA geschossen, einige wenige stammen aus Spanien, Hongkong und Kyoto. In diesem Sinne ist das Werk von Friedlander auch ein Abriß moderner US-Geschichte aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und teils auch der Pop-Moderne. Einige der wenigen Farbphotographien sind Portraits von schwarzen Jazzern: Duke Ellington, King Curtis, Miles Davis, John Coltrane – teils auch für Plattencover verwendet. Friedlander photographiert ansonsten durchgehend und konsequent in schwarz-weiß. Er ließ sich nicht zur New New American Color Photography hinreißen, wie wir sie bei Stephan Shore, William Eggleston oder Joel Sternfeld finden. Dieses Beharren auf dem Klassiker schwarz-weiß ist zumindest konsequent und gerade dort, wo wir bei der Stadtphotographie über die Farbe neue Kontraste und den Reichtum im Detail qua Farbe ausmachen können, stellt Friedlander sich immer wieder dieser Herausforderung der Graustufen.
Die Photographien hängen weitgehend chronologisch, aber es macht auch nichts, sich in der Ausstellung gegenzeitlich von hinten nach vorne zu bewegen. So oder so erschließt sich das nach Themen geordnete Œuvre ganz gut. Wir sehen Portraits, Selbstportraits, Familienbilder, Stillleben, einige wenige Aktphotographien, Landschaften und Straßen- sowie Stadtszenen vor allem. Was wir aber insbesondere bemerken: Friedlanders Photos wirken zuweilen wie Amateurbilder, wo der Photograph nicht recht sieht, worauf er sich fokussieren muß, weil da zu viele Dinge gleichzeitig im Bild sind. Es wirkt zunächst, als könne Friedlander nicht ordnen: wenn da irgendwas ins Bild ragt, was vermeintlich gar nicht dort hingehört oder wenn viel zu viele Details ineinander wirken. Da finden sich scheinbare Bildfehler, da verrutschen Perspektiven. Aber genau das ist von Friedlander gewollt. Ich komme darauf weiter unten zu sprechen.
Oft arbeitet Friedlander mit Spiegelungen in Schaufensterscheiben, so daß sich zwei Bildebenen überlagern: die Realität der Straße draußen, in der Scheibe gespiegelt, mit einem Auto und einem Motorroller, vor dem Fenster ein Junge hockend, den Blick vom Photographen abgewandt und im Schaufester eines Antiquitätengeschäfts ein paar Objekte: ein Jagdhund aus Porzellan, ein antikes Möbelstück, Geschirr und feine Gläser. Das Interieur aus einer anderen Zeit und eine seltsame, heutige Welt da draußen schieben sich ineinander. Manchem Photo von Friedlander eignet eine gewisse metaphysische Verschliertheit, eine Art Rätselwelt. Ein in das Nichts eines dunklen Raumes gestellter Sessel, auf den durch Jalousien ein Licht fällt. Dinge, kalt und fern, wie in einem Gemälde Vilhelm Hammershøis.
Friedlander hat einen Blick für solche Dinge und Menschen, für den Witz von Szenen und Situationen, die uns begegnen. Vor allem aber sieht er im scheinbar Alltäglichen das Absurde oder das Komische. Lustiges oder Seltsames, das wir mit unseren normal betrachtenden Augen nicht unbedingt immer wahrnehmen: wenn in einer tristen US-amerikanischen Suburban-Ödland-Landschaft in Schwarz-weiß aus der Rückseite eines Vorfahrt-achten-Dreiecks über der breiten Seite eine Wolkenkrone wächst und zugleich der Schatten des Dreiecks auf den Gehsteig schlägt. Oder eine dem Anschein nach banale Straßenszene: von links unten aus der Diagonale heraus ein Zaun mit Stacheldraht. Schaut man aber genauer, so zeigen sich in jener Szene plötzlich zwei unterschiedliche Geschichten: links vom Zaun ein ödes Betonhaus in Fertigbauweise, hinter dem ein Hochhaus noch hervorragt, vor dem Haus parkt ein Auto. Die Szene rechts davon ist aber ganz anders, als ob da zwei Bilder in einem wären. Deckt der Betrachter die linke Bildhälfte mit der Hand ab, so blickt er auf südliches Urlaubsflair wie auf einer Promenade, eine leere Straße zwar, aber im Hintergrund ragen Palmen, in der Ferne erheben sich Berge und das ganze könnte am Ende doch eine anmutige südliche Ferien-Landschaft irgendwo in San Diego sein. Mit solchen Brüchen und Irritationen spielt Friedlander.
Wie auch jenes auf einer Stange ragende Auto, das aus dem Auto heraus photographiert aus der Luft auf den Betrachter zustößt und damit auch auf den Photographen sich hin bewegt – das Automotiv zudem im Spiegel noch einmal aufgreifend. Wir beschauen Photos, in denen Ungewöhnliches sich zuträgt. Ähnliche Seltsamkeiten auch in den Portraits: teils blicken wir auf angeschnittene Köpfe, in einer anderen Photographie wächst aus einem Kinderkopf ein Tannenbaum heraus. Und was in einem Photo, das eine Straßenszene festhält, zunächst wie ein großer, schwarzer Entwicklungsfleck oder eine Überbelichtung im Bild wirkt, entpuppt sich als die von hinten aufgenommene Afro-Frisur eines Schwarzen: nur noch der Kopf und ein winziger Teil des Jackenkragens ragen ins Bild. Oder aber eine Frau in New York, die wir von der Rückansicht sehen und auf ihren Pelzmantel fällt der harte, schwarze Schlagschatten eines Männerkopfes. Birth of the cool, birth of a nation. Sozialgeschichte in smarten Bildern, oftmals versteckt und man muß manchmal ein wenig schauen.

Solches Suchen nach Überraschungen aber macht beim Betrachten Spaß. Verfremdungen und Verwirrungen in Photographien, die dazu einladen, daß der Betrachter die Geschichten darin entziffert oder entspinnt oder den Witz darin entdeckt und sich daran wie auch an einer komplexen Wirktlichkeit, die sich in den Photos widerspiegelt, erfreut und zugleich ins Grübeln kommt.
Wie genial und witzig solche Photos sind, illustriert sich vielleicht exemplarisch an einem ganz besonderen nicht-besonderen Bild aus der Rubrik US-Touristenphotographie: Da schaut in Urlaubsstimmung eine Frau durch ein Fernglas, schräk auf den Betrachter des Photos zu, neben ihr der Mann, mit der Fernglastasche umgehängt, wie es sich für einen braven Ehemann gehört, der der Frau das kostbare Gerät für einen Augenblick anvertraute, um es bald zurückzuverlangen, während der Mann gerade im Begriff ist, ein Photo zu machen und das, was die Frau durchs Glas sieht, in einem ewigen Bild der Kamera zu bannen. Wir Betrachter sehen etwas, das von beiden angeschaut und auf einem Film festgehalten wird, was aber wir nicht sehen können. Hinter dem Paar ein Gebäude mit einer großen, in zehn Rechtecke abgeteilten Fensterfront. Im Gebäude befinden sich eine Vielzahl von Menschen, die wir durch die Fenster sehen. Wir Zuschauer fragen uns, was um alles in der Welt das Bild zeigt, worauf es hinaus will und was das soll: „Gut“, denkt der Betrachter, „die beiden älteren Touristenherrschaften, die da schauen und photographieren. Aber was nur und warum ist das ein Einzelphoto wert?“ Bis man, in der Scheibe gespiegelt, die uns so gut bekannten und ansonsten in Übergröße gesehenen oder reproduzierten Präsidentenköpfe am Mount Rushmore in Sout Dakota entdeckt. Winzig und klein und als Reflexion bloß ein einem der Rechtecke der Scheiben.
Nicht jedes Photo von Friedlander würde ich als gelungen bezeichnen, manches kann man als Experiment nehmen oder als Versuch, Photographie-Normen zu brechen, ohne daß es immer gelingt, daraus eine eigene Bildästhetik zu schaffen. Aber der Versuch, einmal anders als Ansel Adams in den Graustufenschablonen klassisch-photographisch-schön eine Landschaft zu fixieren, muß unbedingt gelobt werden. Bei Friedlander paaren sich der Wille zur Gestaltung mit Phantasie und vor allem mit dem Blick für Ungewöhnliches und Witziges in den Alltagszenen. Manchmal reicht es bis ins Verstörende – so etwa die menschenleeren Räume, darin Sessel oder Komoden stehen.
Ästhetisch ansprechend sind auch die Baum- und Busch-Landschaften (anders als Adams nicht Weite, sondern Enge), die in ihrem Grau-in-Grau fast schon wie ein getupftes Gemälde wirken. Formen entrücken und lösen sich. Schwarz-weiß-Impressionismus, der sich in Abstraktion verliert, wenn das Grau-in-Grau von Geäst, Baumblüten und Gras in eine schwirrende Struktur übergeht, die zu zerfließen scheint. Oder wenn sich wie im surrealen Zufall im Weiher ein Fisch und ein kahles Baumgeäst ineinanderschieben und treffen: das eine gespiegelt, das andere im Fluß treibend. Lange kann man sich in all diese schönen Landschaftsphotographien versenken. Daß einige der Bilder in Japan aufgenommen wurde, mag im Assoziationsraum das Meditative womöglich noch verstärken.
Vor allem kann man in manchen der Bilder, gerade in den scheinbar unorthodox komponierten, die Photographenregeln brechenden Bildern, ganze Geschichte herauslesen. So wird ein Gesicht gerade deshalb interessant, weil der Photograph beim Portraitieren alles nur Erdenkbare falsch macht: ein Frauengesicht von einem Holzpfeiler durchschnitten, der vor dem Gesicht ins Bild steht, so daß hinter dem Pfeiler nur ein Auge noch hervorblickt. Dieses Auge aber bekommt, da der Rest des Gesichts verdeckt ist, gerade erst durch diesen Mangel die besondere Intensität. Der scheinbare Photographenfehler erweist sich als wohlmotiviert.
Dieses Suchen, das Lesen der Details und das Verblüfftwerden macht Friedlander derart spannend. Da steht auf einem Denkmalsockel ein einsames Pferd mitten in der Wüste von Arizona. Der Betrachter fragt sich, warum dieses Denkmal da steht, im Schattenriß schaut es aus wie Jolly Jumper und wir wähnen, daß gleich der rauchende Lucky Luck um die Ecke kommt, jener herrliche Cowboy, der schneller zieht als sein Schatten. Schöner kann man US-Mythen nicht erzählen und sie zugleich um ein winziges verschieben. Absurdes auch in den Landschaftsbildern, wenn da in der Weite einer US-Landstraße irgendwo im Westen auf einem Laster eine Holzhütte in den Horizont hinein fährt: manchmal sagt ein einziges Bild mehr über die Unbehaustheit und die Heimatlosigkeit als eine Abhandlung im Essay.
Friedlanders Photos stehen in der Tradition von Walker Evans und Robert Frank. Sie zeigen eine teils witzige, eine teile derrangierte und eine teils surreale US-Gesellschaft – gerade auch dann, wenn in den leeren Landschaften oder Städten keine Menschen zu sehen sind, sondern nur ein einzelnes mit Staub bedecktes Auto in einer Garage irgendwo in Florida, der vordere Teil in hartem Schatten und schon nicht mehr sichtbar, während aufs Heck grell die Sonne fällt.
Gesellschaftliches findet sich vor allem in seinen in den frühen 1960er Jahren aufgenommenen Photos von Fernsehgeräten, ebenfalls in schwarz-weiß: kalte, kahle Zimmer, darin sich ein TV befindet, irgendwo in Hotels abgelichtet oder in Wohnungen, manchmal blicken wir auf kleine, tragbare TVs. Das Massenmedium der Spätmoderne, Gesichter und Personen jedoch sehen wir nur auf dem Bildschirm. Die Räume selbst sind menschenleer. In einem schauen wir, in einem Spiegel, auf ein ungemachtes Einzelbett. In einem anderen Photo blicken wir rechts auf eine Toilette, deren Tür ist geöffnet und darin befindet sich ein Spiegel, der einen Teil des Wohnzimmers mit Sofa reflektiert; links im Bild ein Fernseher, darin drei Frauen mit Toupet-Frisuren und ein Junge in weißem Anzug und mit schwarzer Fliege zu sehen ist. Ein fast unheimliches Photo. Wir sind es, die in die Fernseher blicken. Verlassen, leer und es spiegeln diese Bilder die Kälte der Dingwelt, die von menschenleeren Räumen. Verdinglichung – jedoch mit ästhetischem Reiz aufgeladen. Das bekannteste Photo wohl jenes, wo der Motorradfahrer auf den Betrachter zuhält. Der Mythos von Freiheit, in die Enge des Raumes gebannt und neben dem Heizkörper der guten Stube. Rebel Without a Cause. Im Nachtlager eines Hotelzimmers im Irgendwo. Americana.
Zu dieser Ausstellung und zum Vertiefen gibt es ebenso einen Katalog. Mit 62,50 EUR ist der nicht ins Deutsche übersetzte Katalog freilich vom Preis nicht gerade günstig, dafür aber in einer schönen Leinen-Ausstattung gehalten und recht umfassend. Soweit ich sehe, finden sich alle in der Ausstellung gezeigten Bilder darin.
Friedlander liefert, und das macht ihn besonders, eine originelle Spielart der Straßen- wie auch der Sozialphotographie. Vor allem, daß wir Betrachter bei manchem Photo, wo wir auf den ersten Blick uns fragen: „Was soll das denn nun, diese unkomponierte Gewimmel von Linien, Details und Spiegelungen?“ beim nächsten Blick aufmerken, bis wir beim zweiten, dritten und manchmal beim ersten Sehen den Witz im Bild entdecken und weshalb das genau so sein muß, wie gezeigt.
Zu sehen ist diese feine Ausstellung noch bis zum 3. Dezember im c/o Berlin.