Die Geburt des Absurden aus dem Geist der US-Moderne: Lee Friedlander in Berlin

Ich treffe meine Begleitung vor dem Café des c/o Berlin, dem alten Amerika-Haus. Sie möchte, bevor wir die Photographien von Lee Friedlander schauen, noch eine Kleinigkeit trinken, so sagte sie und so bestellen wir, da ich ihren Wünschen gerne nachkomme, je eine Cola. Da jene Begleitung und ich uns lange nicht sahen, gab es viel zu berichten. Fast verpaßten wir den eigentlichen Anlaß unseres Treffens: nämlich die Ausstellung. Es gibt solche Tage, da will man gar nicht ins Museum, weil’s so viel zu erzählen gibt. Und man muß es und will es am Ende doch – zumal einen bei komplizierten Geschichten die Bilder dazu zwingen, sich anders zu fokussieren und in der Kunst seinen Blick zu ändern. Werke fordern. Du mußt nur die Blickrichtung ändern!

Vorab schon sei gesagt, daß ich unbedingt zu dieser umfassenden und in Teilen witzigen Ausstellung rate: denn inmitten des Absurden dieser Gegenwart bietet sie einen guten Gegenpart. Zudem bekommt der Betrachter einen guten Überblick über das Werk des 1934 in Aberdeen im Nordwesten der USA geborenen Photographen. Als ich den Namen Friedlander hörte, dachte ich zunächst: Ach, auch einer dieser toten US-amerikanischen Streetphotographer. Aber nein: Friedlander lebt noch, wenngleich er eine Herz-OP hinter sich hat, wie man einem seiner Selbstportraits entnehmen kann. Ob Friedlander freilich noch Bilder macht, weiß ich nicht. Im c/o Berlin finden sich Photographien von 1956 bis 2014, die meisten Bilder sind in den USA geschossen, einige wenige stammen aus Spanien, Hongkong und Kyoto. In diesem Sinne ist das Werk von Friedlander auch ein Abriß moderner US-Geschichte aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und teils auch der Pop-Moderne. Einige der wenigen Farbphotographien sind Portraits von schwarzen Jazzern: Duke Ellington, King Curtis, Miles Davis, John Coltrane – teils auch für Plattencover verwendet. Friedlander photographiert ansonsten durchgehend und konsequent in schwarz-weiß. Er ließ sich nicht zur New New American Color Photography hinreißen, wie wir sie bei Stephan Shore, William Eggleston oder Joel Sternfeld finden. Dieses Beharren auf dem Klassiker schwarz-weiß ist zumindest konsequent und gerade dort, wo wir bei der Stadtphotographie über die Farbe neue Kontraste und den Reichtum im Detail qua Farbe ausmachen können, stellt Friedlander sich immer wieder dieser Herausforderung der Graustufen.

Die Photographien hängen weitgehend chronologisch, aber es macht auch nichts, sich in der Ausstellung gegenzeitlich von hinten nach vorne zu bewegen. So oder so erschließt sich das nach Themen geordnete Œuvre ganz gut. Wir sehen Portraits, Selbstportraits, Familienbilder, Stillleben, einige wenige Aktphotographien, Landschaften und Straßen- sowie Stadtszenen vor allem. Was wir aber insbesondere bemerken: Friedlanders Photos wirken zuweilen wie Amateurbilder, wo der Photograph nicht recht sieht, worauf er sich fokussieren muß, weil da zu viele Dinge gleichzeitig im Bild sind. Es wirkt zunächst, als könne Friedlander nicht ordnen: wenn da irgendwas ins Bild ragt, was vermeintlich gar nicht dort hingehört oder wenn viel zu viele Details ineinander wirken. Da finden sich scheinbare Bildfehler, da verrutschen Perspektiven. Aber genau das ist von Friedlander gewollt. Ich komme darauf weiter unten zu sprechen.

Oft arbeitet Friedlander mit Spiegelungen in Schaufensterscheiben, so daß sich zwei Bildebenen überlagern: die Realität der Straße draußen, in der Scheibe gespiegelt, mit einem Auto und einem Motorroller, vor dem Fenster ein Junge hockend, den Blick vom Photographen abgewandt und im Schaufester eines Antiquitätengeschäfts ein paar Objekte: ein Jagdhund aus Porzellan, ein antikes Möbelstück, Geschirr und feine Gläser. Das Interieur aus einer anderen Zeit und eine seltsame, heutige Welt da draußen schieben sich ineinander. Manchem Photo von Friedlander eignet eine gewisse metaphysische Verschliertheit, eine Art Rätselwelt. Ein in das Nichts eines dunklen Raumes gestellter Sessel, auf den durch Jalousien ein Licht fällt. Dinge, kalt und fern, wie in einem Gemälde Vilhelm Hammershøis.

Friedlander hat einen Blick für solche Dinge und Menschen, für den Witz von Szenen und Situationen, die uns begegnen. Vor allem aber sieht er im scheinbar Alltäglichen das Absurde oder das Komische. Lustiges oder Seltsames, das wir mit unseren normal betrachtenden Augen nicht unbedingt immer wahrnehmen: wenn in einer tristen US-amerikanischen Suburban-Ödland-Landschaft in Schwarz-weiß aus der Rückseite eines Vorfahrt-achten-Dreiecks über der breiten Seite eine Wolkenkrone wächst und zugleich der Schatten des Dreiecks auf den Gehsteig schlägt. Oder eine dem Anschein nach banale Straßenszene: von links unten aus der Diagonale heraus ein Zaun mit Stacheldraht. Schaut man aber genauer, so zeigen sich in jener Szene plötzlich zwei unterschiedliche Geschichten: links vom Zaun ein ödes Betonhaus in Fertigbauweise, hinter dem ein Hochhaus noch hervorragt, vor dem Haus parkt ein Auto. Die Szene rechts davon ist aber ganz anders, als ob da zwei Bilder in einem wären. Deckt der Betrachter die linke Bildhälfte mit der Hand ab, so blickt er auf südliches Urlaubsflair wie auf einer Promenade, eine leere Straße zwar, aber im Hintergrund ragen Palmen, in der Ferne erheben sich Berge und das ganze könnte am Ende doch eine anmutige südliche Ferien-Landschaft irgendwo in San Diego sein. Mit solchen Brüchen und Irritationen spielt Friedlander.

Wie auch jenes auf einer Stange ragende Auto, das aus dem Auto heraus photographiert aus der Luft auf den Betrachter zustößt und damit auch auf den Photographen sich hin bewegt – das Automotiv zudem im Spiegel noch einmal aufgreifend. Wir beschauen Photos, in denen Ungewöhnliches sich zuträgt. Ähnliche Seltsamkeiten auch in den Portraits: teils blicken wir auf angeschnittene Köpfe, in einer anderen Photographie wächst aus einem Kinderkopf ein Tannenbaum heraus. Und was in einem Photo, das eine Straßenszene festhält, zunächst wie ein großer, schwarzer Entwicklungsfleck oder eine Überbelichtung im Bild wirkt, entpuppt sich als die von hinten aufgenommene Afro-Frisur eines Schwarzen: nur noch der Kopf und ein winziger Teil des Jackenkragens ragen ins Bild. Oder aber eine Frau in New York, die wir von der Rückansicht sehen und auf ihren Pelzmantel fällt der harte, schwarze Schlagschatten eines Männerkopfes. Birth of the cool, birth of a nation. Sozialgeschichte in smarten Bildern, oftmals versteckt und man muß manchmal ein wenig schauen.

Solches Suchen nach Überraschungen aber macht beim Betrachten Spaß. Verfremdungen und Verwirrungen in Photographien, die dazu einladen, daß der Betrachter die Geschichten darin entziffert oder entspinnt oder den Witz darin entdeckt und sich daran wie auch an einer komplexen Wirktlichkeit, die sich in den Photos widerspiegelt, erfreut und zugleich ins Grübeln kommt.

Wie genial und witzig solche Photos sind, illustriert sich vielleicht exemplarisch an einem ganz besonderen nicht-besonderen Bild aus der Rubrik US-Touristenphotographie: Da schaut in Urlaubsstimmung eine Frau durch ein Fernglas, schräk auf den Betrachter des Photos zu, neben ihr der Mann, mit der Fernglastasche umgehängt, wie es sich für einen braven Ehemann gehört, der der Frau das kostbare Gerät für einen Augenblick anvertraute, um es bald zurückzuverlangen, während der Mann gerade im Begriff ist, ein Photo zu machen und das, was die Frau durchs Glas sieht, in einem ewigen Bild der Kamera zu bannen. Wir Betrachter sehen etwas, das von beiden angeschaut und auf einem Film festgehalten wird, was aber wir nicht sehen können. Hinter dem Paar ein Gebäude mit einer großen, in zehn Rechtecke abgeteilten Fensterfront. Im Gebäude befinden sich eine Vielzahl von Menschen, die wir durch die Fenster sehen. Wir Zuschauer fragen uns, was um alles in der Welt das Bild zeigt, worauf es hinaus will und was das soll: „Gut“, denkt der Betrachter, „die beiden älteren Touristenherrschaften, die da schauen und photographieren. Aber was nur und warum ist das ein Einzelphoto wert?“ Bis man, in der Scheibe gespiegelt, die uns so gut bekannten und ansonsten in Übergröße gesehenen oder reproduzierten Präsidentenköpfe am Mount Rushmore in Sout Dakota entdeckt. Winzig und klein und als Reflexion bloß ein einem der Rechtecke der Scheiben.

Nicht jedes Photo von Friedlander würde ich als gelungen bezeichnen, manches kann man als Experiment nehmen oder als Versuch, Photographie-Normen zu brechen, ohne daß es immer gelingt, daraus eine eigene Bildästhetik zu schaffen. Aber der Versuch, einmal anders als Ansel Adams in den Graustufenschablonen klassisch-photographisch-schön eine Landschaft zu fixieren, muß unbedingt gelobt werden. Bei Friedlander paaren sich der Wille zur Gestaltung mit Phantasie und vor allem mit dem Blick für Ungewöhnliches und Witziges in den Alltagszenen. Manchmal reicht es bis ins Verstörende – so etwa die menschenleeren Räume, darin Sessel oder Komoden stehen.

Ästhetisch ansprechend sind auch die Baum- und Busch-Landschaften (anders als Adams nicht Weite, sondern Enge), die in ihrem Grau-in-Grau fast schon wie ein getupftes Gemälde wirken. Formen entrücken und lösen sich. Schwarz-weiß-Impressionismus, der sich in Abstraktion verliert, wenn das Grau-in-Grau von Geäst, Baumblüten und Gras in eine schwirrende Struktur übergeht, die zu zerfließen scheint. Oder wenn sich wie im surrealen Zufall im Weiher ein Fisch und ein kahles Baumgeäst ineinanderschieben und treffen: das eine gespiegelt, das andere im Fluß treibend. Lange kann man sich in all diese schönen Landschaftsphotographien versenken. Daß einige der Bilder in Japan aufgenommen wurde, mag im Assoziationsraum das Meditative womöglich noch verstärken.

Vor allem kann man in manchen der Bilder, gerade in den scheinbar unorthodox komponierten, die Photographenregeln brechenden Bildern, ganze Geschichte herauslesen. So wird ein Gesicht gerade deshalb interessant, weil der Photograph beim Portraitieren alles nur Erdenkbare falsch macht: ein Frauengesicht von einem Holzpfeiler durchschnitten, der vor dem Gesicht ins Bild steht, so daß hinter dem Pfeiler nur ein Auge noch hervorblickt. Dieses Auge aber bekommt, da der Rest des Gesichts verdeckt ist, gerade erst durch diesen Mangel die besondere Intensität. Der scheinbare Photographenfehler erweist sich als wohlmotiviert.

Dieses Suchen, das Lesen der Details und das Verblüfftwerden macht Friedlander derart spannend. Da steht auf einem Denkmalsockel ein einsames Pferd mitten in der Wüste von Arizona. Der Betrachter fragt sich, warum dieses Denkmal da steht, im Schattenriß schaut es aus wie Jolly Jumper und wir wähnen, daß gleich der rauchende Lucky Luck um die Ecke kommt, jener herrliche Cowboy, der schneller zieht als sein Schatten. Schöner kann man US-Mythen nicht erzählen und sie zugleich um ein winziges verschieben. Absurdes auch in den Landschaftsbildern, wenn da in der Weite einer US-Landstraße irgendwo im Westen auf einem Laster eine Holzhütte in den Horizont hinein fährt: manchmal sagt ein einziges Bild mehr über die Unbehaustheit und die Heimatlosigkeit als eine Abhandlung im Essay.

Friedlanders Photos stehen in der Tradition von Walker Evans und Robert Frank. Sie zeigen eine teils witzige, eine teile derrangierte und eine teils surreale US-Gesellschaft – gerade auch dann, wenn in den leeren Landschaften oder Städten keine Menschen zu sehen sind, sondern nur ein einzelnes mit Staub bedecktes Auto in einer Garage irgendwo in Florida, der vordere Teil in hartem Schatten und schon nicht mehr sichtbar, während aufs Heck grell die Sonne fällt.

Gesellschaftliches findet sich vor allem in seinen in den frühen 1960er Jahren aufgenommenen Photos von Fernsehgeräten, ebenfalls in schwarz-weiß: kalte, kahle Zimmer, darin sich ein TV befindet, irgendwo in Hotels abgelichtet oder in Wohnungen, manchmal blicken wir auf kleine, tragbare TVs. Das Massenmedium der Spätmoderne, Gesichter und Personen jedoch sehen wir nur auf dem Bildschirm. Die Räume selbst sind menschenleer. In einem schauen wir, in einem Spiegel, auf ein ungemachtes Einzelbett. In einem anderen Photo blicken wir rechts auf eine Toilette, deren Tür ist geöffnet und darin befindet sich ein Spiegel, der einen Teil des Wohnzimmers mit Sofa reflektiert; links im Bild ein Fernseher, darin drei Frauen mit Toupet-Frisuren und ein Junge in weißem Anzug und mit schwarzer Fliege zu sehen ist. Ein fast unheimliches Photo. Wir sind es, die in die Fernseher blicken. Verlassen, leer und es spiegeln diese Bilder die Kälte der Dingwelt, die von menschenleeren Räumen. Verdinglichung – jedoch mit ästhetischem Reiz aufgeladen. Das bekannteste Photo wohl jenes, wo der Motorradfahrer auf den Betrachter zuhält. Der Mythos von Freiheit, in die Enge des Raumes gebannt und neben dem Heizkörper der guten Stube. Rebel Without a Cause. Im Nachtlager eines Hotelzimmers im Irgendwo. Americana.

Zu dieser Ausstellung und zum Vertiefen gibt es ebenso einen Katalog. Mit 62,50 EUR ist der nicht ins Deutsche übersetzte Katalog freilich vom Preis nicht gerade günstig, dafür aber in einer schönen Leinen-Ausstattung gehalten und recht umfassend. Soweit ich sehe, finden sich alle in der Ausstellung gezeigten Bilder darin.

Friedlander liefert, und das macht ihn besonders, eine originelle Spielart der Straßen- wie auch der Sozialphotographie. Vor allem, daß wir Betrachter bei manchem Photo, wo wir auf den ersten Blick uns fragen: „Was soll das denn nun, diese unkomponierte Gewimmel von Linien, Details und Spiegelungen?“ beim nächsten Blick aufmerken, bis wir beim zweiten, dritten und manchmal beim ersten Sehen den Witz im Bild entdecken und weshalb das genau so sein muß, wie gezeigt.

Zu sehen ist diese feine Ausstellung noch bis zum 3. Dezember im c/o Berlin.

Herbstzeit, Bücherzeit – die Photochallenge (5): William Klein

Teil 5 der Serie: Ich zeige sieben Bücher, die sich in irgendeiner Weise mit Photographie beschäftigen und die mich prägten und faszinierten – seien das Bildbände oder aber Theoriebücher. Dies aber nicht stur sieben Tage hintereinander, sondern in loser Folge.

Das Herausgreifen bestimmter Photographen zur Buchauswahl ist immer ein Stück beliebig und eine Frage der Tagesform auch – was reizt oder interessiert einen gerade an Themen? William Klein gehörte für mich von früh an zu den prägenden Photographen, weil er in den 1950er Jahren einen neuen Stil in die Straßenphotographie brachte – nach den Klassikern Brassaï, Cartier-Bresson, André Kertész oder Walker Evans als dem New York-Photographen; und genauso kann man hier viele andere, weniger bekannte Photographen nennen – die viel zu spät entdeckte und erst in den letzten zehn Jahren zu Ruhm gekommene Vivian Maier etwa. Maier hat nichts mehr davon gehabt, da sie 2009 verstarb. Eine der ungewöhnlichsten und spannendsten Photographen. Über Vivian Maier wäre noch gesondert zu schreiben. Und dies nicht nur deshalb, weil ihr seltsames Leben zur Legendenbildung beitrug, sondern weil da jemand die Stadt, New York in den 1960er Jahren und später dann für die 1990er Chicago, genau beobachtete und ins Bild brachte.)

Von jenen Klassikern der Photographie setzte Klein sich ab, indem er Schnelligkeit und einen Alltag ins Bild brachte, den man glaubte, so noch nicht gesehen zu haben. Was Klein schaffte und was mich faszinierte: er brachte den Rhythmus, die Hektik, die Lautstärke, den Sound des New Yorks der 1950er Jahre ins Bild, und zwar durch die Auswahl ungewöhnlicher Bildausschnitte, durch die Bewegung im Bild, indem bewußt Unschärfen und die Grobkörnigkeit der hochempfindlichen Filme eingesetzt wurden. Nah, sehr nah herangehen, war Kleins Motto. Und da beherzigte er den Spruch des Kriegsphotographen Robert Capa: Ist das Photo schlecht, bist du zu weit weg gewesen!

Also: in die Menge nie mit dem Tele photographieren, sondern mit dem 28 mm Weitwinkel, in der Menge und aus der Menge heraus und gleiches gilt für die unbelebte Stadt, wenn da keine Menschen sind. Nur mit dem Weitwinkel zu arbeiten, war lange Zeit auch meine Devise. Ich habe selten das 50 mm-Normalobjektiv benutzt und auch ein 35 mm-Weitwinkel war mir noch zu sehr am normalen menschlichen Blick dran.

Da sieht man vier Frauen an einem Tisch in einem New Yorker Diner sitzen, im Hintergrund am Tresen ein Mann mit einem Trenchcoat, der dem Betrachter den Rücken zukehrt dazu auf dem Tresen unscharf und eher als Schemen zu sehen Utensilien wie Zuckerstreuer, eine Kuchenvitrine, ein Serviettenhalter. Die Szenerie dunkel und kontrastreich gehalten, von vorne frontal durch die Fensterscheibe photographiert. Insignien des amerikanischen Lebens: eine Coca Cola-Werbung an der Scheibe und eine Werbung für die Zigarettenmarke „Tareyton“, die ausgestreckte Finger zweier Hände halte je eine Zigarette, und gleichzeitig halten Daumen und Zeigefinger die Zigarettenschachtel – eine seltsame Anordnung von Fingern und ein befremdliches Geknäuel. Dazu ein Schneemann, der das in der Werbung gezeigte Coca Cola-Glas schiebt. Drei der jungen Frauen schauen skeptisch und auch irritiert in die Kamera. Sie wurden vermutlich durch das aufdringliche Objektiv des Photographen überrascht. Eine Alltagsszene mit Interieur.

Doch nicht nur das. Genauso geht Klein ganz nah an die Gesichter der Menschen heran. Die ersten Bilder in diesem Band, das ist nicht die Stadt selbst, die Klein da in Szene setzt – etwa wie Woody Allen es herrlich in seinem Film „Manhattan“ macht, sondern es sind ihre Bewohner, die Menschen, die in New York leben. Vielfach photographiert Klein jene, die im Abseits stehen, Unterschicht, Slumbewohner, Negerkinder, Latinos, aber genauso die Welt der kleinbürgerlichen WASPs: White Anglo-Saxon Protestant. Der Band selbst ist in Kapitel eingeteilt, die verschiedene Szenen vergegenwärtigen. Dieses New York der 1950er Jahre wird in Kleins wilden und schönen und zugleich harten, kontrastreich abgezogenen Photographien lebendig erst durch die unterschiedlichen Menschen. Vor allem immer wieder, im 5. Kapitel des Buches: Kinder, die mit Pistolen spielen. In einer der Photographien richtet Kind die Waffe genau auf den Photographen, als Spiel oder ganz im Ernst, der Spielzeugrevolver ganz unscharf und auch der Junge noch und das Mädchen da hinter dem Jungen, das den Mund aufreißt sind unscharf gehalten. Fronal blickt der Betrachter wie auch die Kamera in die Mündung des Revolvers. Die Augen des Jungen sind zugekniffen. [Die Photographie ist z.B hier zu sehen.]

New York ist die Stadt der Verbrechen, und so photographiert Klein im selben Kapitel zugleich einen Stapel Zeitungen, die täglich am Kiosk ausliegen. Immer wieder ist der linke Ausschnitt einer Zeitungsphotographie zu sehen. bei der letzten Zeitung dann ganz rechts das vollständige Photo, auf dem sechs Polizisten eine Leiche die Treppen hinuntertragen. Die Zeitung gibt es für vier Cent. Sie heißt irgend etwas mit „Daily“. Klein kann New York deshalb derart gelungen in Photographien einfangen, weil er seinen Blick auf solche Details und aufs Besondere richtet. Und wenn einmal doch irgendwelche Sehenswürdigkeiten gezeigt werden, dann sind sie versetzt mit dem Alltag der Menschen. So wie im Bild untern jene Fahrt mit der Fähre.

William Klein zumindest, der auch Modephotographie machte und ebenfalls feine Bilder von Paris und Rom, prägte für die Photographie einen neuen Stil. Bahnbrechend dabei sein New-York-Buch. Solche Photographien wirken nicht als Reportage in einem Magazin, sondern rein als Bildband. Es bedarf in meinen Augen dazu keines weiteren Textes. Diese Photos erzählen für sich genommen die Geschichte dieser Stadt in diesen Jahren.

Zuletzt war vor ein paar Jahren im c/o Berlin eine Ausstellung mit Bildern von Klein zu sehen, die einen Eindruck über sein Werk verschaffte. Wer aber einen guten Überblick über diese besondere Art von Photographie gewinnen will, schaue sich die Bilder von William Klein aus jenem New-York-Band an. Es ist Bewegung, es ist Härte und es ist Schönheit, die wir da in diesen Bildern finden. Photographien, die die Geschichte dieser Stadt erzählen. Als Ausschnitt, als Short Cut.

Herbstzeit, Bücherzeit – die Photochallenge (4): Roland Barthes

Teil 4 der Serie: Ich zeige sieben Bücher, die sich in irgendeiner Weise mit Photographie beschäftigen und die mich prägten und faszinierten – seien das Bildbände oder aber Theoriebücher. Dies aber nicht stur sieben Tage hintereinander, sondern in loser Folge.

Ein Buch, das für die Theorie der Photographie so zentral ist, wie 45 Jahre zuvor Benjamins Kunstwerkaufsatz. Es war Barthes letztes Buch – erschienen 1980. Vieles an diesem Buch teile oder teilte ich nicht; damals im Seminar zur „Soziologie der Photographie“ schien es mir krude und falsch: etwa die Kategorisierungen der Photographie in „verrückt“ und „zahm“, ebensowenig die These, daß der Film an der Zähmung der Photographie seinen Anteil hat. Auch stört mich zuweilen an einigen Stellen der apodiktische Ton des Buches, der freilich bei Theorien und Gedanken dazugehört. Wenige nur, die einräumen, daß es womöglich andere Aspekte noch geben könnte als die eigenen.

Aber wenn man dieses Buch als einen Essay liest, der eine Sichtweise aufs Photo zuspitzt, suchend, fragend, tastend nach einem Phänomen, und vor allem als einen Essay, dem es in seiner Textur um eine einzige Photographie geht, nämlich die der eigenen Mutter, ein Essay also, der um dieses Bild und damit die Erinnerung und damit auch um eine einmal reale Person kreist, und wenn man zudem annimmt, daß die Textform des Essays seinen Gegenstand von einem teils subjektiven oder auch spekulativen Punkt aus betrachtet (nicht nur, aber eben auch) und in diesem Sinne übers Ziel hinausschießen darf und dadurch vielleicht gerade gewinnt, bekommt dieser Text eine andere Kontur. Und liest man genauer, stellen Leserin oder Leser fest, daß sich zunächst ausschließende Aspekte überlagen, scheinbare Dichotomien sich bei Barthes immer wieder auflösen und etwas schwer Einholbares von ihm in Sprache umkreist wird, was vielleicht nur ein Bild zeigen, ausdrücken, ja sogar vielleicht nur sagen kann. Barthes brachte Photographien zum Sprechen – auch in den kurzen Analysen und Betrachtungen einzelner Photos, die sich in diesem Buch im ersten Teil finden.

Und solche vielleicht zunächst apodiktisch anmutenden Sätze haben bei Barthes auch eine poetische Kraft und zeigen in dieser subjektiven Sicht ein Moment von Wahrheit, die im Augenblick aufscheint:

„Eine Photographie ist immer die Verlängerung dieser Geste; sie sagt: das da, genau das, dieses eine ist’s! und sonst nichts; sie kann nicht in den philosophischen Diskurs überführt werden, sie ist über und über mit der Kontingenz beladen, deren transparente und leichte Hülle sie ist. Zeige deine Photographien einem anderen; er wird sogleich die seien hervorholen und sagen: ‚Sieh, hier, das ist mein Bruder; das da, das bin ich als Kind‘ und so weiter; die Photographie ist immer nur ein Wechselgesang von Rufen wie ‚Seht mal! Schau! Hier ist’s!‘; sie deutet mit dem Finger auf ein bestimmtes Gegenüber und ist an diese reine Hinweis-Sprache gebunden. Daher kann man zwar sehr wohl von einer Photographie sprechen, doch, wie mir scheint, mitnichten von der PHOTPOGRAPHIE.“

Dieses Zeigen-wollen des Dies-da, jenes Was-es-ist-dies-zu-sein, als Abbild, scheint bei Roland Barthes ein wesentlicher Aspekt dieses, auch in der Sprache teils schönen Buches. Und es scheint mir dieser Bezug auf ein Einzelnes, einen unwiederbringlichen, schönen, dramatischen, traurigen oder auch nur zufälligen Augenblick, der da aus dem Leben herausgegriffen und aus der Zeit gestohlen wurde, gerade in Zeiten von Telephonen, die auch photographieren können, aktuell. Kritik einer Ubiquität der Bilder. Während man seinerzeit noch die Photoalben oder die Schachteln und Schuber hervorkramen mußte, in denen die Photographien aufbewahrt wurden, geht das Betrachten heute in Blitzeseile. Man zückt sein Smartphone, zeigt, stellt auf Instagram oder Flickr ins Internet. Photographien potenzieren und depotenzieren sich damit. Alles ist vorhanden, alles ist nichts. Nicht weil jedes einzelne Bild ein Nichts ist, sondern weil uns die Photographien fluten. Was fehlt, ist die Aufmerksamkeit. Nicht bei allen, aber leider doch vielfach.

Barthes machte die Einmaligkeit einer Photographie stark und das ist eben auch eine Feier des Augenblicks, jenes Augenblicks, der immer schon vergangen ist, und der zugleich in dem, was Barthes punctum nennt, wiederkehrt. Das Reale wird vom Photo in die Vergangenheit verlagert: Das „Es-ist-so-gewesen“, darin die Melancholie der Photographie liegt.

Was Barthes in eine Sprache zu bringen versucht, ist dieser bestimmte-unbestimmte Moment an einer bestimmten Photographie, der einen Betrachter unmittelbar anspringt und in einen Schock versetzt, und dabei gleichsam sein ontologischer Wunsch herauszufinden, was die Photographie „an sich“ war. Daß auch Barthes von der Phänomenologie herkommt, merkt man seinem Buch an, und ebenso konsequent ist es bei dieser Lektüre, daß er dieses letzte Buch Sartre widmet:

Sartres Schrift
über
Das Imaginäre
zu ehren

Diese Einmaligkeit und dieses Besondere als Nicht-Einholbares und zugleich doch Fixiertes ist eine Erfahrung, die uns heute vielleicht aufgrund der Vervielfältigung, der Vielzahl von Bildern, von Photographien kaum noch geläufig ist. Auf eine phänomenologische, betrachtende, sinnierende, vielleicht montaignische-pascalsche Weise wieder jenes Dies-da zu finden, das einen einmal angesprungen hat und in einer Photographie berührte. Ich denke fast, daß solche Kontemplation aufs Photo inzwischen schwierig ist: zu abgelenkt die meisten und obwohl alle deutlich mehr Zeit haben als noch vor 100 Jahren, hat kaum einer Zeit. Zwischen Twitter, Instagram, Facebook, dem Klingeln von Whats-App-und-sonstwasfür-Benachrichtigungen auf dem Telephon, das eigentlich gar kein Telephon mehr ist.

Allenfalls vielleicht, wenn wir uns einmal nur die Muße nehmen, wenn wir die Photographie von Menschen sehen, wie wir einmal liebten und die nun tot sind oder auch solche, die noch leben, beim Blick ins Familienalbum oder ins Photobuch von Freunden, und wenn einen da plötzlich dieser eine Augenblick ins Gedächtnis schießt und wir uns einmal nur die Zeit fürs lange Betrachten nehmen. Ansonsten sind wir häufig blind für Photographien geworden. Oder vielmehr: nicht blind, sondern im Zuviel betrachten wir kaum noch und verweilen. Dieses Buch von Barthes zumindest zeigt, was den ungeheuren Reiz und zugleich das Kontemplative einer bestimmten Photographie ausmacht. In diesem Sinne der Öffnung des Blickes bleibt Barthes Essay eines jener großen und wesentlichen Werke über Photographie.

„Die Gesellschaft ist darauf bedacht, die PHOTOGRAPHIE zur Vernunft zu bringen, die Verrücktheit zu bändigen, die unablässig im Gesicht des Betrachters auszubrechen droht. Zwei Mittel stehen ihr hierfür zu Gebote.

Das erste besteht darin, die PHOTOGRAPHIE zur Kunst zu machen, denn keine Kunst ist verrückt. […] Der Film hat teil an der Zähmung der PHOTOGRAPHIE, zumindest der Spielfilm, eben jener, von dem behauptet wird, er sei die siebte Kunst; […]

Die zweite Möglichkeit, die PHOTOGRAPHIE zu zügeln, besteht darin, sie in solchem Maße einzuebnen zu vulgarisieren, banal zu machen, daß neben ihr ein anderes Bild mehr Bestand haben kann, gegenüber dem sie sich auszeichnen, ihre Eigentümlichkeit behaupten zu können, ihren Skandal, ihre Verrücktheit. Eben dies geschieht in unserer Gesellschaft, wo die PHOTOGRAPHIE tyrannisch alle übrigen Bilder erdrückt: es gibt keine Stiche mehr, keine figürliche Malerei, …“

Ein fast konservativer und berechtigter Klageton. Und hier finden wir eine anderen Blick auf die Photographie und ihre Möglichkeiten als es Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz 1935 beschrieb. Aber es verging inzwischen Zeit, und im Laufe der Möglichkeiten, die die Technik bot: von der Kleinbildkamera der 1930er Jahre bis zu den 1970er Jahren, änderten sich die Möglichkeiten der Photographie: sie wurde zum Massenmedium, sie wurde dank moderner Kameras schnell und sie wurde vor allem zur Kunst. Das Nachauratische und die damit verbundenen Möglichkeiten einer taktilen, zerstreuten Rezeption, die Benjamin als Möglichkeit und Hoffnung setzte, haben sich nur bedingt bewahrheitet – zumindest nicht in dem von Benjamin gewünschten idealtypischen und revolutionären Sinne. Das Medium Photographie im Zeitalter der Reproduzierbarkeit wurde eben genau durch diese Reproduzierbarkeit und als Übermaß entleert.

Solches Entschärfen von Photographien durchs Ausstellen in Galerien kritisierte Barthes schon in den „Mythen des Alltags“ von 1957 unter dem Eintrag „Schockphotos“:

„Genevieve Serreau erinnert in ihrem Buch über Brecht an eine Photographie in Paris-Match, das eine Szene der Hinrichtung guatemaltekischer Kommunisten zeigt. Mit Recht bemerkt sie, daß diese Photographie nicht als solche grauenhaft ist, daß das Grauen vielmehr daher rührt, daß wir sie aus unserer Freiheit heraus betrachten. Eine Ausstellung von Schockphotos in der Galerie d’Orsay, von denen uns strenggenommen nur sehr wenige schockieren konnten, gibt Genevieve Serreaus Bemerkung dennoch recht: Es genügt für den Photographen nicht, uns das Schreckliche zu bedeuten, damit wir es empfinden.

Die meisten der Photographien, die hier versammelt wurden, um uns zu erschüttern, bleiben wirkungslos, gerade weil der Photograph sich beim Aufbau seines Sujets allzu großzügig an unsere Stelle versetzt hat: Fast immer hat er das Schreckliche, das er uns vorführt, überkonstruiert und durch Kontraste oder Nebeneinanderstellungen dem Faktum die effektheischende Sprache des Grauens hinzugefügt: Einer stellt eine Menge Soldaten unmittelbar neben ein Feld von Totenköpfen; ein anderer zeigt uns einen jungen Soldaten bei der Betrachtung eines Skeletts; wieder ein anderer nimmt eine Kolonne von Verurteilten oder Gefangenen in dem Moment auf, in dem sie einer Schafherde begegnet. Doch keines dieser allzu geschickt aufgenommenen Photos erschüttert uns. Das liegt daran, daß wir ihnen gegenüber jedesmal unserer Urteilskraft beraubt sind: Man hat für uns gezittert, für uns nachgedacht; der Photograph hat uns außer dem Recht auf intellektuelle Zustimmung nichts übriggelassen. Was uns mit diesen Bildern verbindet, ist ein technisches Interesse; …“

Was schockieren oder engagieren sollte, schockiert oder engagiert in solchem Aufbau als Kunst nicht. Schaudern und Entsetzen, wie es in Aristoteles‘ Poetik beschrieben wird, laufen qua Überinszenierung ins Leere. Ein Aspekt, nebenbei, den Susan Sontag in ihrem Essay „Über Fotografie“ im Grundsätzlichen und auch am einzelnen Photo kritisiert: daß solche engagierten Dokumente des Grauens nicht funktionieren. (Ihre harten Thesen gegen die Photographie revoziert sie in ihrem Buch „Das Leiden anderer betrachten“, worin es um den Jugoslawien-Krieg geht – leider in einer etwas zu einseitigen Parteinahme, so wie ich das Buch in Erinnerung habe.) Barthes schreibt weiter:

„Das Einfangen des einen Augenblicks erscheint willkürlich, allzu effektheischend, aus einem verqueren Willen zur Sprache entstanden, und die dabei geglückten Bilder haben keinerlei Wirkung auf uns. Das Interesse, das wir an ihnen nehmen, überschreitet nicht den kurzen Moment ihrer Lektüre; sie hallen nicht nach, sie verwirren uns nicht, unsere Aufmerksamkeit verengt sich zu rasch wieder auf ein reines Zeichen. Die perfekte Lesbarkeit der Szene, ihre Gestaltung, befreit uns davon, das skandalöse Bild in seiner ganzen Tiefe aufzunehmen; auf einen rein sprachlichen Zustand reduziert, bringt uns die Photographie nicht aus der Fassung.“

Die Kunst solcher Photographie vermag es zwar zu skandalisieren oder vielmehr: aufgrund solch Heischens nach Effekt bleibt der tatsächliche Skandal aus. Das Grauen wird zum Amüsement, das man in Galerien bei einem Glas Champagner oder im Vorbeidefilieren genießt, mit einem „Oh!“ auf den Lippen. Nicht bei allen, aber bei vielen. Gleichzeitig aber lobt Barthes jene in der Ausstellung ebenfalls gezeigten Agenturphotos, die unspektakulär daherkommen – gerade deshalb, weil sie ohne Namen sind und daher von keinem Künstler oder einem besonderen Photographen mit jenem Eigennamen gezeichnet: es sind jene (anonymen) Photos, die in Barthes Lesart auf den ersten Blick befremdlich wirken, die beinahe ruhig scheinen, die der Sache, dem Krieg, dem Grauen gegenüber angemessen sind: namenlose Dokumente. Nicht ganz klar wird hier zwar, worin Barthes – außer im Namen – die Unterschiede setzt, weil für uns Leser diese Photographien – passenderweise – nicht zu sehen sind, so daß wir uns auf eine Textszene verlassen müssen: die von Barthes‘ Blick. Barthes nennt es das „Natürliche dieser Bilder, ohne Emphase und ohne Erläuterung“ und dieses 

 „nötigt den Betrachter zu einer intensiven Befragung, bringt ihn auf den Weg zu einem Urteil, zu dem er selbst kommt, ohne von der weltschöpferischen Präsenz des Photographen gestört zu werden. Es geht hier also um jene kritische Katharsis, die von Brecht gefordert wurde, und nicht mehr wie im Falle der Sujetmalerei um eine Reinigung des Affekts. Vielleicht begegnet man hier den beiden Kategorien des Epischen und des Tragischen wieder. Die buchstäbliche Photographie führt in den Skandal des Grauens, nicht ins Grauen selbst.

Ein zentraler Unterschied! Der des Erzählens und des Tragischen als Pointieren und als Einstich. Als Geschehen, als Ereignis, als etwas, das direkt berührt. Man kann hier sicherlich auch Barthes‘ Unterscheidung von studium und punctum der Photographie in Anschlag bringen, die er dann in  „Die Hellen Kammer“ gebraucht. studium dabei gedacht als ein allgemeines Interesse an einer Photographie, die

„Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit. Aus studium interessiere ich mich für viele Photographien, sie es, indem ich sie als Zeugnisse politischen Geschehens aufnehme, sei es, indem ich sie als anschauliche Historienbilder schätzen: denn als Angehöriger einer Kultur (diese Konnotation ist im Wort studium enthalten) habe ich teil an den Figuren, an den Mienen, an den Gesten, an den äußeren Formen, an den Handlungen.“

Das also, was wir kulturelle Codes, Verhaltensweisen und Prägungen nennen. Das studium bezieht sich dabei eher auf so etwas wie Geschmack, auf ein I like/I don’t like, wie Barthes schreibt: to like und nicht to love. Das punctum ist anders und weist auf einen Anderen. Es ist to love. Es durchbricht das studium. Nicht das Subjekt selbst ist es, wie im studium, das aufsucht, sondern hier geschieht eine Weise des Ergriffenwerdens – ähnlich wie in der Tragödie. Barthes spricht von jenem Pfeil in einer Photographie, der mich als Betrachter durchbohrt. punctum eben. Wozu freilich jenes lange und genaue Hinsehen mehr als erforderlich ist. Es bringt das studium aus dem Gleichgewicht.

„Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, was mich besticht (mich aber auch verwundet und trifft.)

Sich mit diesem Besonderen, jenem Funken, jenem Stich und dem sistierten bohrenden Augenblick, jener Szene in einer Photographie auseinanderzusetzen, die den Effekt und zugleich auf jenen Affekt erzeugt, dem man sich nicht entziehen kann und der über den bloßen Geschmack und Prägungen hinausgeht, macht Barthes Buch spannend zu lesen. Leserin und Leser folgen Barthes Blick auf Photos – da, wo sie ansprechen im Sinne eines punctum, da wo sie in der Phase des studiums verweilen, da wo es um den das Verhältnis von Malerei und Photographie geht. Am Ende des ersten Teils gerät das Buch fast zu einer Descarteschen Meditation des Zweifelns und des Suchens – zumindest wäre das ein Motiv, das ich ausmachen würde:

„Auf meinem Weg von einem Photo zum anderen (bisher waren es freilich lauter öffentliche Photos) hatte ich vielleicht erfahren, welchen Gesetzen mein Verlangen folgte, doch die Natur (das eidos) der PHOTOGRAPHIE hatte ich nicht entdeckt. Ich mußte mir eingestehen, daß meine Lust ein unvollkommenes Mittel war und daß eine auf ihr hedonistisches Ziel beschränkte Subjektivität das Universale nicht zu erkennen vermochte. Ich mußte tiefer in mich selbst eindringen, um die Evidenz der PHOTOGRAPHIE zu finden, das, was jeder, der ein Photo betrachtet, sieht, und was sie in seinen Augen von jedem anderen Bild unterscheidet. Ich mußte meine Einstellung ändern.“

Diese Entdeckungsreise hin zu einem geliebten Menschen macht dieses Buch so lesenswert und aus diesem Grunde ist es auch deutlich mehr als ein Dokument zur Philosophie der Photographie.

Jenes Bild der Mutter in ihren jungen Jahren wird von Barthes freilich – und das ist nur konsequent – nicht gezeigt. Am Ende hat dieses Buch viel von einer proustschen „Suche nach der verlorenen Zeit“ an sich. (Daß der Photograph Brassaï ein Buch über Proust schrieb, dürfte kaum dem Zufall geschuldet sein, wenn man an die Rolle denkt, die die Photographie in Prousts Roman spielt.) Barthes Suche geht dahin, jenen kairos und jenen besonderen Moment zu finden, dessen wir vielleicht nur dann teilhaft werden, wenn wir über ihn schreiben und vor allem: wenn wir uns erinnern und eingedenken. Der Toten ebenso wie der Lebenden, den deren Zeit ist in dem Augenblick, als einer da auf den Auslöser der Kamera drückte, ebenfalls schon lange abgelaufen. 

Herbstzeit, Bücherzeit – die Photochallenge (3)

Teil 3 der Serie: Ich zeige sieben Bücher, die sich in irgendeiner Weise mit Photographie beschäftigen und die mich prägten und faszinierten – seien das Bildbände oder aber Theoriebücher. Dies aber nicht stur sieben Tage hintereinander, sondern in loser Folge.
[Hier geht es zu Teil 1 (Time-Life-Bücher) und zu Teil 2 (Helmut Newton)]

Wer sich mit Photographie beschäftigt, sei es als Betrachter von Photos oder in der Praxis, wer photographiert, eigenen Bilder zeigt, Photos von anderen intensiver betrachtet und sich dazu Gedanken macht, wird am Ende auch um die Theorie der Photographie nicht herumkommen – allein deshalb, weil einem die eigenen Gedanken nicht mehr genügen und der Betrachter sich seine Perspektiven erweitern möchte. Solche Theorie beginnt basal bereits in der Dunkelkammer, über den Weg der Technik und des Wissens ums Machen, wenn der Jüngling oder das Girlie anfängt die eigenen Filme und die eigenen Bilder zu entwickeln. Man muß wissen, was man da mit der Chemie, im Entwicklerbad und am Vergrößerer tut und wie das geht – auch rein technisch. Was ist ein Negativfilm und wie funktioniert er? Was ist Photopapier, was ist eine Photographie und wie entsteht sie – physikalisch wie auch technisch? Und ähnliches gilt fürs Photographieren selbst, die ich in der Dunkelkammer abziehe, nicht nur die Seele in der Silberschicht, sondern die krude Chemie darin: wie lange belichte ich, welches Papier wähle ich, welchen Härtegrad? und so haben vermutlich Millionen von Menschen Ansel Adams Zonensystem studiert oder Klassiker der Bild-Komposition wie Harald Mante oder eine der bekannten Photoschulen gelesen. Wer weiß, wie es technisch geht, weiß am Ende auch, was er in der Landschaft oder auf der Straßensafari mit einer Kamera machen soll und wo man gekonnt eine Regel bricht und wo besser nicht, so daß durch diese Kombination von Phantasie, Können und Vermögen eben jene „Seele in der Silberschicht“ sich zeigt, die eine besondere Photographie ausmacht.

Ähnliches auch mit der Theorie. Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild? Nein, das ist es nicht. Eine Photographie von Jeff Wall, von Martin Parr, von Alfred Stieglitz oder von Joel Meyerowitz sind vier sehr unterschiedliche Arten mit Bildern umzugehen. Aber wie sich nähern, was lesen? Wer nicht gerade einen Lehrstuhl für Photoästhetik hat oder sich mit diesem Thema als Forscher und Wissenschaftler befaßt, wird über einige wenige Bücher kaum hinausgekommen sein: Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz, vielleicht noch seine „Kleine Geschichte der Photographie“ und Kracauers wichtige, aber nicht gut bekannte Schrift „Die Photographie“, ansonsten Roland Barthes „Die helle Kammer“, vielleicht noch ein Text von André Bazin und von Villem Flusser „Für eine Philosophie der Fotografie“. Aber schon Namen wie Douglas Crimp, Michael Fried und Rosalinde Krauss werden vermutlich nur noch den Theoriemenschen der Ästhetik etwas sagen.

Wer also ein Arbeiter des Details im Weinberg des Herrn ist oder wer solcher werden will und wer weit in die Geschichte der Photographie hineinblicken möchte, nämlich in ihre Anfänge Ende der 1830er Jahre, mithin ihrer „Erfindung“ – im eigentlichen Sinne gab es mehrere Erfindungen verschiedener photographischer Verfahren, die Welt und uns selbst realistisch und mittels der Sonne abzulichten – wer es also gründlich und im Detail mag, mit einem Theporie-Ausblick bis in die Gegenwart, der muß unbedingt zu dem von Wolfgang Kemp und Hubertus von Amelunxen herausgegebenen Bandes „Theorie der Fotografie. 1839-1995“ greifen. Dabei aber wollten die Herausgeber dieser vier Bände, die 2006 in einem kompakten Einzelband erschienen sind, „keine Quellensammlung der Theorie-Geschichte, sondern ein „Kompendium aktiver, aktivierender Aussagen“ entstehen lassen – also auch solche Texte von Leuten, die aus der Praxis kommen, werden gezeigt und dazu verschiedene, einander befehdende oder auch ergänzende Theoriestränge. Dabei geht es immer wieder, bis in die Gegenwart hinein, um die Frage, ob Photographie eine Kunst ist und auch, wie es um die Kunst des Realismus in der Malerei bestellt ist – verbunden durch das neue Medium Photographie, das die Verfahrensweise jene Malerei (Futurismus und Kubismus sind eben auch Reaktionen auf die neuen optischen Medien), erheblich tangierte und auch umgekehrt, indem um 1900 und darüber hinaus Photographien nun die Malerei nachahmten: so bei den Piktoralisten.

Dieses Verhältnis von Photographie und Malerei und die Bedeutung der neuen Reproduktionstechnik für die Malerei zeigt sich etwa in Baudelaires Text von 1859 „Die Fotografie und das moderne Publikum“, darin bereits die Frage aufgeworfen wird, die dann 75 Jahre später prominent Walter Benjamin umtreiben wird: wie nämlich durch die Entwicklung einer neuen Technik und dadurch, daß sich Bilder in der Zukunft durch jene Form der Reproduktion massenhaft verbreiten können, es um die Bildende Kunst selbst bestellt ist und wie also die Photographie als solch neues Reproduktionsmedium nicht nur eine unmittelbare und mittelbare Auswirkung auf die Kunst, sondern auch auf die Rezeption und die Vermittlung von Kunst haben wird: Denn nun können jene vom eigenen Wohnort weit entfernte Gemälde betrachtet werden, die z.B. in Museen hängen, zu denen im 19 Jahrhundert nicht jeder unmittelbaren Zugang hatte, weil Reisen nicht nur beschwerlich, sondern auch teuer war. Wer in Washington ein Gemälde aus dem Louvre sehen wollte, war nicht mehr nur auf die Repro im Kupferstich oder auf ein Abmalen angewiesen, sondern konnte damit rechnen, daß ein Bild auch auf einer Photographie anschaulich wurde, wenn auch noch nicht in Farbe. Zu dieser Frage der Bedeutung der Reproduktion ist im übrigen das Buch von Wolfgang Ullrich interessant: „Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen“ (Wagenbach Verlag, 2009).

Will man sich, von den Anfängen der Photographie bis zur Gegenwart, einen generellen und zugleich kompakten Überblick über Geschichte und Positionen der Photographie verschaffen, um dann in die Texte des einen oder des anderen Autor einzusteigen, dann stöbere und lese man in diesem kompakten und klugen Buch. (Glücklich, wer noch die vier Einzelbände besitzt, da diese doch etwas besser in der Hand liegen als der Klotz.) Wer freilich lieber einen schnellen Überblick zum Thema möchte, greife zu „Texte der Theorie der Fotografie“ aus dem Reclam Verlag oder auch Reclams „Kleine Geschichte der Fotografie“; und wer es im philosophischen Detail lesen will, dem sei von Peter Geimer die Einführung bei Junius empfohlen: „Theorie der Photographie“. Für die Fragen der Technik(geschichte), von der Daguerreotypie über das Negativ-Positiv-Verfahren des William Henry Fox Talbot bis hin zur Erfindung der Kleinbildkamera und des Kodakfilms und damit auch der modernen und vor allem schnellen und unauffälligen Photoreportage sei von Beaumond Newhall die „Geschichte der Photographie“ empfohlen (Schirmer/Mosel, zuerst erschienen 1937, dann erweitert 1982)

Mit dem Buch von Kemp/von Amelunxen jedoch wird man im Hinblick auf unterschiedliche Theorie-Aspekte zum Experten bis ins Detail und nicht nur fürs grobe und vor allem bekommt der Leser einen Überblick über die (Theorie)Geschichte des Faches. Den einzelnen Texten sind zudem kleine Kommentare vorangestellt. Man kann also anlesend, stöbernd und flanierend sich durch dieses Buch bewegen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Und dieses Lesen und dieses Wissen ist im Laufe der Zeit dann mehr als nur den Auslöser einer Kamera zu betätigen und mehr, als sich nur Bilder anzusehen, denn in diesem Buch gerät zugleich die Geschichte der Photographie in den Blick, auch in solchen Formen und Versionen, die für unsere Gegenwart und fürs Heute kaum noch vorstellbar sind: angefangen von der Größe der Aufnahmegeräte, mit denen man bis in die 1920er Jahre, als die ersten Kleinbildkameras auf den Markt kamen, sich kaum unauffällig bewegen konnte, so daß das, was wir heute als Straßenphotographie und als gelungenen Schnappschuß kennen, nicht möglich war. Auch dieses technische Wissen und das Wissen um die Möglichkeiten gehört zur Photographie. Ebenso wie der ästhetische Status und der ästhetische Schauer einer Photographie, sei es gesellschaftlich oder auch erinnerungspolitisch, wie das in unterschiedlichen Formen Benjamin und Barthes aufschrieben und wie es insbesondere Barthes in bezug auf das Berührtwerden durch eine bestimmte Photographie festhielt.

Landschaftspark Duisburg-Nord – Duisburg (2)

„Was in der Wissenschaft ungesagt bleiben muß, ist die Gegenwart der ‚ganzen Natur‘ als der Himmel und die Erde, die zum Erdenleben des Menschen als seine sinnlich anschauliche Naturwelt gehören. Daher hat Carus die Landschaftskunst ‚Erdlebenbildkunst‘ genannt. Landschaft ist die ganze Natur, sofern sie als ‚ptolemeische‘ Welt zum Dasein des Menschen gehört. Sie bedarf da der ästhetischen Aussage und Darstellung, wo die ‚kopernikanische‘ Natur diese nicht in sich begreift und außer sich hat. Wo der Himmel und die Erde des menschlichen Daseins nicht mehr in der Wissenschaft wie auf dem Boden der alten Welt im Begriff der Philosophie gewußt und gesagt werden, übernehmen es Dichtung und Kunst, sie ästhetisch als Landschaft zu vermitteln.“ (Joachim Ritter, Landschaft)

Was ist Landschaft? Diese Frage stellt sich nicht nur, wenn man Natur und das darin für uns enthaltende Naturschöne oder einfach nur die Natur in unserer Wahrnehmung sich betrachtet, sondern ebenso an Orten, wo Gesellschaft und Zivilisation ihre Spuren hinterließen und in die Natur hineinragen oder aber mit ihr interagieren. So etwa, wenn man sich den Landschaftspark Duisburg-Nord betrachtet, den ich jedem, der ins Ruhrgebiet reist, unbedingt empfehlen kann. Landschaft ist nicht einfach nur Natur: Wälder, Bäche, Wiesen, Berge, Meer. Das sehen wir insbesondere in der Landschaftsmalerei eines Carl Blechen, wenn da ins Gebirge über den reißenden Fluß eine Brücke gebaut wird oder aber ein Walzwerk mit rauchendem Schlot in die Natur ragt: da steht plötzlich  inmitten der vermeintlich schönen Natur etwas Fremdes. Die Industrialisierung hält Einzug in die Malerei. Das Sägewerk in der vermeintlich romantischen, unberührten Landschaft weist darauf, daß diese Landschaft schon lange eine Kulturlandschaft ist, die von Menschen benutzt wird.

Beim Landschaftspark Duisburg-Nord handelt es sich ganz explizit um eine solche Kulturlandschaft, genauer gesagt um eine Industrielandschaft: Die Landschaft einer untergegangenen Kultur, der Welt der Arbeit einst, Kohle und Stahl, nun begehbar für jeden, teils mit Aussichtspunkten in die Weite des Umlandes, von den Hochöfen aus; und dazu erobert sich die von dort verdrängte Natur immer mehr Raum, wächst in die Welt der Arbeit. Und auch vermittels menschlicher Eingriffe als Projekt einer Renaturierung. Die Emscher etwa, ein noch in den 1980er Jahren entsetzlich dreckiger Fluß, für den eher der Name Brühe als Bezeichnung taugt, ist weitgehend sauber. Selbst der sagenhafte Emscher Neck wurde wieder gesichtet – so sagt man. Im Landschaftspark Duisburg-Nord korrespondieren auf eine spannende und gut in die Inszenierung gebrachte Weise alte Industrie, die als Funktionsträger ihre Zeit hinter sich hat bzw. nun eine neue Funktion besitzt, nämlich als Kulturlandschaft, und neue Natur, die wiederum zu betriebsamer Freizeit einlädt. Und es zeigen solche Orte auch, wie kurz doch eine bestimmte historische Epoche sein kann. Das Zeitalter dieser Hochindustrialisierung dauerte keine 150 Jahre. Nun kann man es besichtigen.

Herbstzeit, Bücherzeit – die Photochallenge (2)

In den sozialen Medien gibt es das Spiel der literarischen Challenge: Man nominiert jemanden, den man mag oder auf den man neugierig ist – eine schöne Form des Interesses, weil diskret. Der Erwählte darf eine Woche lang jeden Tag ein Buch, eine LP oder einen Film postet, die dem Nominierten etwas bedeuten. Ich mache es anders.  Ich erwählte mich für diesen Blog selbst. Frei nach Thomas Mann: Der Selbsterwählte. Ich werde zudem, wie es bei Büchern meist üblich ist, keine Belletristik oder Lyrik nehmen und auch keine Sachbücher, sondern ich zeige sieben Bücher, die sich in irgendeiner Weise mit Photographie beschäftigen und die mich prägten und faszinierten – seien das Bildbände oder aber Theoriebücher. Dies aber nicht stur sieben Tage hintereinander, sondern in loser Folge. Und ich schreibe zu den Bildern ein paar Zeilen – also nicht einfach nur wird bezugslos die Photographie eines Buches gepostet. Ansonsten habe ich die Kolumne von der Sommerzeit nun in die Herbstzeit umbenannt, da es draußen doch recht ungemütlich zugeht.

Heute sei einer meiner ersten Bildbände vorgestellt, und zwar von Helmut Newton der Bildband „Welt ohne Männer“ erschienen 1984 und in einer Neuauflage mit anderem Titelbild dann 1993 noch einmal herausgebracht, weil sich der Verlag Schirmer Mosel (und womöglich der Autor auch) wohl dachte, daß Pelz und Bär an der Leine vielleicht nicht mehr so gut ankommen. Das Buch von 1984 ist seiner Frau June gewidmet.

Wer aus Hamburg ist, wird sich vielleicht noch an die Internationalen Buchhandlung in der Johnsallee erinnern. Sie liegt nahe der Universität, und ich fuhr schon als Schüler gerne in dieses Viertel, um zu stöbern und zu sehen. Es gab dort linke Bücher, vor allem DDR-Sozialismus, Lehrbücher zum Historischen und zum Dialektischen Materialismus, und kurz nach der Wiedervereinigung gab es die Buchhandlung dan nicht mehr. Was für Koinzidenzen im Leben doch existieren!

Mit einem Freund ging ich Anfang, Mitte der 1980er Jahre öfters dort hin, weil man da das eine oder andere gute und kritische Buch entdecken konnte. Und an einem dieser Tage lag auf einem der Tische dieser Newton-Bildband. Den wollte ich haben, ich liebte diese Art von Photographie, aber als ich den Preis sah – es waren damals glaube ich 70 oder 75 DM – legte ich das Buch nach einigem Blättern traurig beiseite. Aber der Freund sah meinen tantalischen Schmerz, und er war nicht auf den Mund gefallen. Er ging zu dem Buchverkäufer – einer jener immer ein wenig muffig dreinblickenden und auch so angezogenen DKP-Linken –, und er sprach ihn an: dieses Buch würde er, also der Händler, in diesem Kommunistenladen, so sagte er es wörtlich, doch niemals wirklich verkaufen können, auch sei das Buch sexistisch und bevor man es als unverkäuflich im Lager verschwinden ließe, wäre es doch sinnvoll, es zum halben Preis zu verkaufen.

Der Händler, vielleicht ein paar Jahre älter nur als wir, knurrte, murrte und zierte sich, wie sich DDR-Grenzer zieren, wenn man aus ihrem Land ausreisen will. Aber am Ende und nach dem Hinweis, daß in dem Buch ja auch schon ein Kratzer sei, den der Freund gerade und vor den Augen des Buchhändlers dort hineingemacht hatte, gab der tapfere Grenzsoldat nach, und so erstand ich das Buch für 35 DM. Ich habe es bis heute nicht bereut, und ich liebe bis heute die Photographien von Helmut Newton: jene starken, selbstbewußten Frauen, deren Sport nicht „eine Opferrolle vorwärts“ (W. Droste) ist, sondern konsequent ihren kräftigen, ihren schönen Körper zu zeigen: starke Frauen, die sich als starke Frauen abgelichtet sehen wollen. Und natürlich auch die Modewelt, in Newtons kontrastreichem, harten Schwarzweiß wie auch in Farbe bebildert.

Als politisch damals hart links stehender junger Mann hätte ich diese Bilder wohl niemals mir ansehen dürfen. Diese Art von Photographie war in jener Szene Anathema und perhorresziert – auch von feministischer Sicht war Newton erheblich angefeindet. Was aber – und das ist beim Jammerfeminismus der Klageweiber heute nicht anders – bei solchen Bildern und Inszenierungen vergessen wird: es gibt in der Frauenwelt, wie überhaupt in der Welt, sehr unterschiedliche Typen von Menschen, und es wollen nicht alle das gleiche. Unterschiedliche Sichten und Perspektiven nicht nur denken zu können, sondern sie im Sinne der Toleranz auch aushalten zu können, ist leider nicht sehr verbreitet: es gab Frauen, die liebten diese Bilder und die fühlten sich davon angesprochen. Und zwar weil sie selber stark waren und sich nicht als Opfer, sondern als Macherinnen ansahen.  Ebenso wie es manche Männer gab, die diese Bilder mochten – sei es aus ästhetischen, aber eben auch aus erotischen Gründen, weil das Schöne, gemischt mit einer gewissen Strenge, Gefallen erregt. Als unmittelbaren und gar sexistischen Fetisch kann man diese Bilder kaum sehen: da bot damals jeder Playboy, jedes Lui-Heft und jeder Katalog vom Otto-Versand mit Frauenunterwäsche mehr.

Wer übrigens die Newton-Photos gebündelt und zahlreich sehen will, besuche das herrliche Newton-Museum in Berlin beim Bahnhof Zoo. Nicht wundern, daß es gut bewacht ist: Newton war Jude und es gibt in Deutschland keine jüdische Einrichtung, die nicht unbewacht ist. Und das liegt leider nicht nur an Rechtsradikalen und Nazis.

 

Lee Miller auf Arte und Lee Miller 2016 im Martin-Gropius-Bau

Gestern gab es auf arte ein sehenswertes Portrait von Lee Miller: Muse von Man Ray, Model und doch begnügte sich Lee Miller nicht damit, einfach Muse zu sein. Sie war selbst genug inspiriert und sie inspirierte: unter anderem auch Man Ray. Aus diesem Anlaß hier noch einmal mein Text zur Lee Miller-Ausstellung in Wien und in Berlin. Und dazu gibt es im Buchhandel auch einen entsprechenden Katalog, wo man sich die Photographien von Miller noch einmal in Ruhe anschauen kann. Der Kauf lohnt sich. In der Buchhandlung Walter König (und vermutlich auch bei anderen Händlern) gibt es diesen  Katalog vergünstigt zu kaufen.

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Unter dem Titel Zweiter Rat für Wien: Die Albertina und Lee Miller schrieb ich im Juli 2015 eine Besprechung, die ich an dieser Stelle zweitverwerte, da in Berlin ab dem 19. März  eine Ausstellung über eine der bemerkenswertesten Photographinnen zu besuchen ist. Ich kann nur jedem ans Herz legen, sich diese Bilder anzusehen!

Bei einer wüstenähnlichen oder aber aus den Tiefen des Balkans, irgendwo südlich der Stadt aus Transdanubien herüberwabernden und andauernden Hitze, die sich im Sommer 2015 wie ein böser Fluch über Wien gelegt hatte und alles Leben ersterben ließ, eine Hitze, die nicht weichen will – drückend, feucht, klebrig am Körper – ist es klug, auf ein Museum zuzusteuern. Denn die meisten Museen sind, damit die schönen Gemälde haltbar bleiben, mit einer guten Klimaanlage ausgestattet. Also bewegte ich mich am sonntäglichen Vormittag in eines dieser Museen – in die Albertina nämlich. Und ich reiste ja genau deshalb nach Wien, um die Ausstellung mit Photographien der wunderbaren Lee Miller (1907-1977) zu sehen. Sie läuft bis zum 16.8.; dann zieht sie in die USA nach Fort Lauderdale.

Nun also auch in Berlin. Da ich noch nicht dort war, vermag ich nicht zu sagen, ob dieselben Photographien gezeigt werden wie in Wien.

Über Lee Miller berichtete ich bereits an dieser Stelle zur documenta 2012. Im Fridericianum sahen wir jene Photographie, auf der sie 1945 in München in Hitlers Badewanne posierte: Ein gekacheltes Bad, im Stil der 50er Jahre gehalten, rechts eine Statue im klassizistischen Stil. Ob sie Lee Miller, der sie ablichtende Photograph David E. Scherman oder aber Hitler selber dort plazierte, ist unbekannt. Links am Beckenrand ein Portrait von Adolf Hitler. In diesem Falle können wir  sicher sein, daß der Führer in der Wohnung am Prinzregentenplatz nicht mit seinem eigenen Bildnis nackig in die Wanne stieg. Obwohl man es nicht genau weiß, inwiefern der Größenwahn Menschen verstiegen macht und sie zu seltsamem Verhalten nötigt. Die Inszenierung dieser Szenerie ist ein subtiles und zugleich hartes Spiel mit den Bild- und Bedeutungsebenen: der dokumentierte Ort der Führerbadewanne, die ihn in Besitz nehmenden Sieger der US-Army, dazu noch eine Frau, deren nackter Leib in der Wanne liegt, der Photograph selber, der die Photographin photographiert. Der Abglanz des Führers.

In der Albertina wird eine zwar kleine, aber repräsentative Auswahl ihrer Photographien geboten. Von den Kriegsreportagen, als die Alliierten in der Normandie landeten, hängt nur weniges, und auch die Photo-Ausbeute der Pariser Zeit in den 30er Jahren ist gering. Von dem, was sie für die Vogue schoß, sind kaum Bilder zu sehen. Das ist schade, gerne hätte ich mir ihre Mode-Photos betrachtet. Die Albertina präsentierte zwar eine reduzierte Ausstellung, doch das muß nicht unbedingt schlecht sein, weil sie in diesem Konzept der Blick auf Wesentliches fokussiert, und sie liefert denen, die Lee Miller nicht kennen, einen ersten Blick auf ihr Werk.

Lee Miller reiste 1929 von New York nach Paris. Das Handwerk der Photographie war ihr bereits aus den USA vertraut. Zudem kam ihr entgegen, daß in diesem Metier Frauen akzeptiert waren. Edward  Steichen  empfahl sie an Man Ray. Sie wurde sein Modell und lernte bei Man Ray die Detailarbeit der Photographie, insbesondere die Verfremdungseffekte.

Die Photographien sind über drei Räume verteilt. Im ersten Raum befinden sich die Bilder ihrer Zeit in Paris: Photographien, die zusammen mit Man Ray entstanden, aber auch Film-Stils aus „Le Sang dʼun Poète“ (1930) von Jean Cocteau werden gezeigt, wo Lee Miller als Statue wirkte, die mit einem Male lebendig wird. Miller bewegte sich in Paris durch ihre Beziehung mit Man Ray zwar im Umfeld der Surrealisten, schloß sich diesem Kreis jedoch nicht an, und auch ihre Photographien können als eigenständige Arbeit interpretiert werden. Lee Miller wurde, wie es in Arbeitsgemeinschaften zeitweise geschieht, Man Rays Geliebte. Aber anders als die vielen weiblichen Musen, die von Künstlern gehalten werden, wie es früher an königlichen oder kaiserlichen Höfen üblich war, Narren oder Zwerge zur Gaudi sich zuzulegen, wollte Lee Miller eigenständig wirken und arbeiten. Nicht als inspirierende Muse – eine sowieso läppische Vorstellung.  Die Photographien, die Man Ray von ihr machte, sind das Produkt gemeinsamer Komposition,

Miller wollte als Künstlerin, als gleichberechtigte Photographin neben Man Ray wahrgenommen werden und nicht als Bestandteil des Systems Man Ray. Insofern sind auch die Photographien, die Man Ray von ihr schoß, ein Produkt gemeinsamer Arbeit.  Lee Miller entschied über die Pose und Haltung. Man Ray lichtete nach dieser Maßgabe ab. Gemeinschaftsarbeit eines Paars in bestem Sinne. Doch ging es nicht ohne Kontroversen ab.

neckEines der bekanntesten Bilder, jenes wunderbare, zauberhafte Portrait, das ihren Hals und ihr schönes Gesicht im Profil zeigte, den Kopf vom Betrachter fortgewandt, wurde von Man Ray zunächst verworfen. Lee Miller fischte sich das Negativ aus dem Papierkorb, änderte den Ausschnitt und bearbeitete es photographisch nach ihrer eigenen Maßgabe. So wurde eine Photographie geschaffen, die uns gegenwärtig bleibt. Über die Urheberschaft für dieses Photo stritten beide sich.

Surreal wirkt diese Photographie, weil sie in der Komposition Hals und Kopf in der Anordnung verzogen darstellt, und durch die Vergrößerung entstand Unschärfe. Die Photographie zeigt uns einen für Portraits bisher ungewöhnlichen Ausschnitt. Fast ein Gemälde im Stile des Manierismus. Und doch ist es ein durch und durch klassisches Bild, das vom Schwung des Halses her die Schönheitslinie Hogarths nachzeichnet und von der Markierung der Grauwerte und ihrer Übergänge her harmonisch fast, aber zumindest eindringlich die Halspartie samt dem Gesicht fein modelliert. Eine Photographie, die denen im Gedächtnis bleibt, die Sinn für ausgefallene, neue Posen haben. Klassisch-schöne Profilphotographie einer ungewöhnlichen Frau.

0945b6de0f2b83e25a2193fd8764ea5fThema und Sujet ihrer Photographien  der 30er Jahre ist der weibliche Körper, der freilich in der männlichen Optik als jenes Objekt der Begierde daliegt. Aber gleichzeitig werden die Erwartungen des Blickes gestört. Es löst sich der Körper in eine Form auf oder gleitet in die Abstraktion, wird aber in jedem Falle de-kontextualisiert, wie in jener Photographie, die Lee Millers Torso zeigt, auf dem sich das Schattenmuster einer Gardine abbildet. Ebenso jene Photographie, die sie mit einer Fechtmaske zeigt: Insbesondere hier sehen wir ein Spiel von Hülle und Enthüllung. Aber es geschieht mehr als das: eine Fechtmaske ist kein klassischer Fetisch, kein Schleier, kein feiner Stoff, der Gesicht, Körper oder das weibliche Geschlecht verhüllt, sondern jene Maske dient dem Schutz. So wie einige Jahre später – und ich denke, untergründig mit jenem Maskenbild korrespondierend – jene Photographien, die Miller in den Kriegsjahren für die Vogue fertigte: jene zwei Frauen mit den Brandschutzmasken. Einerseits Modephotographien, andererseits den Krieg aufgreifend. Auf diese Weise korrespondieren in surrealistischer Manier des Comte de Lautréamont zwei Bereiche nebeneinander, die nicht zusammengehören.

129.308Ebenfalls finden wir in diesem Raum jenes „Object to Be Destroyed“ von Man Ray in einer Vitrine ausgestellt. Leider erschließt sich für diejenigen Ausstellungsbesucher, die nichts weiter über diesen Kunst-Gegenstand wissen, der Zusammenhang nicht, in dem das Objekt steht. Da sieht man lediglich ein Metronom, an dessen Pendel ein Auge hängt, das aus einer Photographie ausgeschnitten wurde. Ich schrieb zu diesem seltsamen und eindringlichen Objekt 2012 hier im Blog einen Beitrag unter dem Titel „Dieses obskure Objekt der Begierde“ der neben Lee Miller und Man Ray vorab die Struktur des Begehrens behandelt. Zwei Liebende und das, was eine Trennung in der Kunst zu erzeugen vermag.

Im zweiten Raum sehen wir Lee Millers Reisephotographien aus Ägypten und Rumänien sowie einige Bilder von der Landung in der Normandie. Im dritten Raum die Photographien von der Befreiung Deutschlands durch die US-Army. Eindrucksvolle und harte Photographien nachdem die US-Army das KZ Dachau erreichte: Leichen und der entsetzte Blick der US-Soldaten auf das, was sich ihnen vor ihren Augen auftat: der Massenmord, den Deutsche begingen. Lee Miller stieg für eines dieser Bilder in einen der Eisenbahnwaggons, in dem die Leichen sich türmten und photographierte aus einer schrägen Position heraus, so daß sowohl die Toten wie auch die Blicke der Soldaten zu sehen waren.

Wir schauen zudem auf Bilder vom zerbombten Wien, betrachten uns jene bekannten Photographien aus München in Hitlers Wohnung oder Lee Miller, die sich im Bett von Eva Braun inszeniert, womit der Aspekt des Dokumentarischen erweitert wird: in einem Akt der Inszenierung, in dem sich die Photographen David E. Scherman und Miller selber in die Photographie mit einbringen. Auf diese Weise werden Subjekt und Objekt der Photographie zum Sujet, und so werden die Objekte oder Fetische der Besiegten (immerhin die Privatwohnungen von Eva Braun und Hitler) in Beschlag genommen und im Akt der Photographie einer anderen Funktion unterzogen. Wir sehen SS-Wachleute, die sich Zivilkleidung anzogen, um aus Dachau zu fliehen und die zusammengehauen wurden – ihre blutigen und zerschlagenen Gesichter, in einer Zelle knieend. Photographien werden gezeigt von einem NS-Bürgermeister aus Leipzig, der sich das leben nahm und seiner Frau und den Kindern dazu. Harte Bilder, Realität eines Krieges. Dokumentarisch.

Nach dem Krieg hat Lee Miller nie mehr eine Kamera angerührt, niemals mehr photographiert: Zu sehr nahm sie dieses Grauen des Krieges und diese Hölle, die sie gesehen hatte, mit und brannte sich in ihr Gedächtnis. Es gibt innere Bilder, die sind schlimmer als alles, was eine Kamera je festzuhalten, zu bannen und dem kollektiven Bilderstrom hinzuzufügen vermag. Lee Millers Leben ging in den Alkohol über. Eine der begabtesten Photographinnen, die einen solch besonderen Blick besaß, hörte auf. Insbesondere diese Mischung aus Surrealismus und sachlich-harter Reportage machte den Reiz ihrer Arbeit aus. Jenes wunderbares Portrait wurde zu einer Ikone – es ziert unter anderem Hans Beltings Buch „Faces“ – und wer diese Komposition je sah, wird schnell bemerken, daß in diesem Gesicht mehr steckte als nur der Surrealismus.

Was Lee Miller betrifft, so scheint es, daß sich seit der documenta 2012 in den Verlagshäusern und Museen der Blick wandelte. In den deutschsprachigen Verlagen sind inzwischen einige Bücher über sie erschienen. So bei Hatje/Cantz der Katalog zur Ausstellung, im Nautilus Verlag bereits 2013 ein Buch über Lee Millers Kriegsreportagen, bei Scheidegger & Spiess ein Bildband über ihre Modephotographien und ihre Rolle als Muse und Model sowie  vor einem Monat im Juni bei Hoffmann & Campe „Die Amerikanerin in Hitlers Badewanne: Drei Frauen berichten über den Krieg: Martha Gellhorn, Lee Miller, Margaret Bourke-White“ herausgegeben von Elisabeth Bronfen und Daniel Kampa.

 

Sommerzeit, Bücherzeit – die Photochallenge (1)

In den sozialen Medien gibt es das Spiel der literarischen Challenge: Man nominiert jemanden, den man mag oder auf den man neugierig ist – eine schöne Form des Interesses, weil diskret. Der Erwählte darf eine Woche lang jeden Tag ein Buch, eine LP oder einen Film postet, die dem Nominierten etwas bedeuten. Ich bin zwar kein Fan von solchen Challenges, Contests und Spielen, außer es handelt sich um Wetshirtwettcontest, aber wenn ich mir Regeln ändern kann, mache ich dabei, also bei der Challenge natürlich, nicht beim Wetshirtwettbewerb, mit. Und ich dachte mir zudem, daß man dieses Prinzip von Facebbook, Twitter oder Instagram auch auf den eigenen Blog übertragen kann, nur mit dem Unterschied, daß ich für den Blog von niemandem ausgewählt wurde und daß ich auch niemanden auswähle: ich werde niemanden nominieren – ich habe keine Freunde und ich kenne auch niemanden, der mit mir befreundet sein will. Und ich werde zudem, wie es bei Büchern meist üblich ist, keine Belletristik oder Lyrik nehmen und auch keine Sachbücher, sondern ich zeige sieben Bücher, die sich in irgendeiner Weise mit Photographie beschäftigen und die mich prägten und faszinierten – seien das Bildbände oder aber Theoriebücher. Und da ich nun mal meine Klappe nicht halten kann und weil ein Blog für Texte zuständig ist, schreibe ich etwas dazu.

Heute stelle ich das erste Buch bzw. zwei Bücher aus dem TimeLife-Verlag vor – es gibt sie noch antiquarisch zu beziehen. Bücher, die zwar aus den 1980er Jahren stammen, die ich aber nach wie vor für gelungen halte und die jeder, der als Anfänger in die Photographie hineingelanngen will, lesen sollte.

Die Kunst der Photographie, Time-Life-Bücher, Amsterdam 1982

und

Die klassischen Themen, Time-Life-Bücher, Amsterdam 1983

Diese Bücher zeigten mir in meinen frühen Jahren des Photographierens, als ich die erste Spiegelreflexkamera bekam, die technischen, wie auch die künstlerischen Möglichkeiten dieses Mediums. Das war Anfang der 1980er Jahre, und bei der Kamera handelte es sich um eine russische Zenit. Und wie es mit allen Künsten ist, spielt das Machen eine zentrale Rolle, in diesem Falle das Photographieren selbst. Man muß losgehen und man muß sich seine eigenen Bilder anschauen, sie mit anderen Photos, mit guten Photos, denen der Profis vergleichen. Segeln lernt man nicht am Hafenbecken, sondern im Wasser. Und Photographieren ist auch so etwas wie eine große Fahrt: Hinaus aufs Meer der ungeahnten Möglichkeiten.

Bei Kapiteln wie „Was die Kamera sieht“, „Grundsätze der Gestaltung“; „Reaktion auf das Motiv“, Photographie und Zeit“, „Abkehr von der Tradition“, „Verwirklichte Prinzipien“ lernte ich Grundlagen. Diese Bücher lieferten Texte zu den Aspekten der Form, die mit Licht und Schatten herausmodeliert werden kann, zur Fläche, die betont wird, zu Farben, die es lohnen festgehalten zu werden. Und vor allem, denn nur so lernt der Photograph nicht nur das Sehen, sondern auch das richtige Betätigen des Auslösers zum richtigen Zeitpunkt, gab es zu den Texten zahlreiche Bildbeispiele, teils von renommierten Photographen. Und das ist gut. Denn Lernen hat auch etwas mit Nachmachen zu tun. Ich schaue mir ein Bild an, es gefällt mir, ich will wissen, wie der Photograph das gefertigt hat, ich mache nach, aber das Nachgemachte ist nicht das Gleiche und auch nicht das Selbe, sondern es prägt sich in diesem Tun langsam eine eigene Handschrift aus. Diese gilt es auszubilden, und im Idealfall helfen einem dabei Lehrer an Kunsthochschulen oder aber man muß es sich selbst beibringen. Das bedeutet freilich: am Ball zu bleiben.

Zu jener Kunst der Photographie konnten mich jene Bücher in einer guten Weise anleiten. Photographieren heißt den Blick zu schulen. Gutes Photographieren bedeutet, eine Szene schon vorab, noch bevor sie ensteht, wahrzunehmen und zu sehen, und auch zu ahnen, wann was geschieht, wenn es sich um Straßenphotographie oder als Spezialfall davon um das Photographieren auf Demos mit Polizeieinsatz handelt. Und es bedeutet zugleich, das, was da passiert, in eine Form zu bringen. Bloßes Draufhalten reicht nicht aus, auch in den digitalen Zeiten nicht, wo man einfach nur den Finger auf dem Auslöser läßt. In der Hoffnung, daß da schon irgendein Bild gelungen sein wird.

Solch gründliches Schauen lernt man bei der analogen Photographie: Ein normaler Kleinbildfilm (von Ilford, Kodak und manchmal Orwo oder Tura: Marken, die ich benutzte) hat 36 Bilder und wenn man ihn sparsam und im dunkeln einlegt sogar 38. Und jeder Film kostete damals zwischen drei und fünf Mark, bei Kodak manchmal sogar sechs. Meterware war ein wenig billiger. Als 16jähriger mußte ich Anfang der 1980er Jahre aufs Geld sehen. So lernt man seine Photos zu dosieren. Auch dazu halfen diese beiden Bücher.

Ich lernte, wie man einen Film möglichst schnell und effizient in eine Kamera einlegt, was man mit einem 105mm-Objektiv machen und was man mit einem 28mm-Objektiv anstellen kann, wie man diesen belichteten Film dann im eigenen Schwarz/weiß-Labor entwickelt, wie man einen Photoabzug anfertigt, denn nachdem das Photo gemacht ist, beginnt der zweite und der nicht minder schwierige Teil im Photolabor, manche sagen sogar, es sei die eigentliche Arbeit, nämlich die Aufbereitung der Photographie: Die Wahl des richtigen Papiers, der richtigen Belichtungszeit, um Kontraste oder nuancierte Graustufen in einem Bild herauszuarbeiten. All das macht der Photograph im Blindflug, denn er sieht sein Ergebnis erst, wenn er nach dem Fixierbad das Rot- oder Orangelicht aus- und das normale Oberlicht einschaltet. Der Faszination, wenn aus den Schlieren des Entwicklerbades sich im Rotlicht die ersten Konturen und Umrisse einer Photographie herauskristallisieren, wäre noch einmal eine Geschichte für sich. Man denke nur, um das Klischee zu bedienen, an den herrlichen Film „Blow Up“ von Antonioni. Wie da auf dem Papier plötzlich ein Verbrechen sichtbar wird. Oder eben auch nicht. Wer je in einer Dunkelkammer stand und vorher einige Filme verschoß, um sie dann zu entwickeln und nachdem sie getrocknet waren man den zu sechs Negativen geschnittenen Streifen in die Kassette des Vergrößerungsgerätes schob, um das Papier zu belichten, bei besonderen Photographien das Format 18 x 24 cm oder 24 x 30 cm, wird diese Faszination nicht mehr los: jener Augenblick, wenn das weiße und noch unbeschriebene Papier ins Bad eintaucht und in der dunklen Kammer, die bei Roland Barthes sinnigerweise eine helle Kammer ist, langsam die Photographie sich herausschält. Immer ein Stück weiter,  von der Kontur zu den Details bis der Photograph merkt: Jetzt muß das Bild raus. Es ist genug und genau richtig so wie es ist.

Vor allem lernte ich mit diesen Büchern, sich dessen bewußt zu werden, was der Photograph mit der Kamera in der Hand macht – Ausschuß produziert man beim Üben eh genug. Und wer dann wie ich ab 1985 eine Nikon F3 sein eigen nannte und in der Hand hielt, der hat auch gegenüber dem Geist dieser Kamera eine Verantwortung. Photographieren ist nicht knipsen.

Hamburg (3)

Wenn man nicht mehr so viel verreist, wie eben in Corona-Zeiten oder weil man das Reisen nicht mehr mag, da überall dieselben sich individuell gebenden Menschen tummeln und in Cafés herumlümmlen, bleiben immer noch die Nahbereiche fürs Photographieren und für das Schlendern übrig.Schwer vernachlässigt ist dabei die andere Seite der Elbe in der schönen Stadt Hamburg – sei das die Veddel, Wilhelmsburg, aber auch Harburg oder aber die Kais und Schuppen in Hamburgs ehemaligem Freihafen. All diese Orte zeigen Spannendes: Brachflächen, Spülfelder, Containeranlagen, Kais, Arbeit, Hafenindustrie, Sattelschlepper, Kräne manchmal auch einen Blick in die alte Welt des Hafens – die alten Backsteingebäude der 1950er Jahre oder sogar aus der Vorkriegszeit. Früher mußte man dort hin zum Freihafen die Zollschranken passieren, und wenn der Besucher einmal Pech hatte, wurde er auch gefilzt. Diese Zeiten sind vorbei, und ebenso die alte Welt der Arbeit im Hamburger Hafen. Schiffe werden mit Containern beladen und von Van Carrieren oder Riesenkränen blitzschnell entladen, da Zeit Geld ist und lange Liegezeit vergeudetes Geld. Die alten Schauerleute, die Schutenfahrer und Ewerführer sind überflüssig. Die Hamburger Speicherstadt hat den Weg fast aller Hafenstädte genommen, ob Bordeaux oder London: es zogen Werbeagenturen, Mulitmedia- oder Internetfirmen dort ein, Museen auch, neue Firmen, und Wohnen am Hafen. Schön und begeisternd sicherlich das Miniaturwunderland. Aber die alte Zeit ist weg. Old brave World. Und einen der herrlichen Hamborger Veermaster sieht man allenfalls auf dem Hafengeburtstag noch. Wir haben dieses Lied als Kinder damals noch in der Schule voll Inbrunst gesungen, und wir und ebenso die heute toten Lehrer hätten in der Grundschule wohl nie gedacht, daß diese Welt des Hafens, der Speicherstadt, des alten Fischmarktes mit dem industriellen Wandel der 1980er Jahre einmal zuende ginge:

 

Ein wenig anzusehen von dieser alten Welt der Arbeit gibt es noch im Hafenmuseum Hamburg  oder in Barmbek im „Museum der Arbeit“. Andererseits ist der nostalgische Blick insofern auch wieder problematisch, weil diese Welt der Arbeit eine harte Welt war. Immerhin aber: noch bis in die frühen 1970er Jahre existent, und auch das machte Hamburgs besonderen Flair aus. Ich erinnere mich noch, wenn wir Ende der 1960er und Anfang der 1970er vom Osten Hamburgs aus mit unserem Vater an die Elbe nach Övelgönne fuhren und dann mit dem beige-weißen VW-Käfer die Reeperbahn passierten, an die gemalten riesengroßen Filmplakate des Aladin-Kinos dort: die Westernhelnden in diesen seltsamen Farben gemalt, mit einem Revolver in der Hand, die mich von oben und grimmig anblickten, und das Kind schaute fasziniert in die Höhe. Ich erinnere die Schlachthöfe beim Karoviertel und als in Altona, auf St. Pauli und in der Schanze die Arbeiter noch wohnten, als der FC St. Pauli kein Verein für Werbefuzzis, linksidentitäre Gesinnungscalvinisten und solche Leute waren, für die linke Politik eher eine Attitüde ist, weil es eben schick ist, auf Instagram oder Facebook ein schwarzes Quadrat zu setzen (eine Art von Blackfacing, wenn man es gerne in der Denunziationstradition dieser Leute machen möchte) und Black lives Matter zu rufen, während einem die Schlachtarbeiter in Niedersachsen und NRW, mithin die Vertragsarbeiter aus Osteuropa, aus Rumänien am Arsch vorbeigehen. Auf einer Demo für andere Arbeitsbedingungen sehe ich diese Trieftrinen nie und man wird sie dort auch nicht sehen.

Rebell ist man heute, wenn man für den HSV ist. Und Traditionalist mit Eigensinn ist man, wenn man seit Anbeginn an von den Kindertagen her und bis heute dem HSV die Treue hält. Der wahre Revolutionär ist ein Konservativer, der die „Abende von St. Petersburg“ genießt (und einst die Nächte an der Elbe am Strand zwischen  Övelgöne und Teufelsbrück und es haßt, in einer Stadt zu leben, in der es möglich ist, daß solche entsetzlichen Leute wie Monika Herrmann Bezirksbürgermeister von Kreuzberg werden können. But the times, they are a changing. Aber muß man eben auch nicht jeden Scheiß mitmachen. Was bleibt, ist Widerstand und die Rebellion des Denkens.

Photographien können keine alte Zeit zurückholen. Sie zeigen, was ist – im Auge des Photographen und bei einem Spaziergang auf der anderen Seite der Elbe.

 

Hamburg (2)

Hamburger Hafen, die andere Seite des Flusses – Hafenmuseum.