Heute feiern wir Kafkas 136. Geburtstag und das sollte – naturgemäß – auch die Lektüre seiner Werke mit einschließen und nicht bloß Andenken für einen geschätzten Autor als irgendwie zu absolvierende Pflicht. Wir finden da eine Prosa, die bis heute ästhetische Standards setzt und hinter die doch – im Segment bundesdeutscher Selbstbespiegelungsliteratur insbesondere – immer wieder zurückgefallen wird. Wir finden bis heute eine Prosa, von der wir sagen können: Sie ist immer noch, nach 95 Jahren nach über 100 Jahren zeitgenössisch.
Vor allem was die Schrecken der Heimat- und Ortlosigkeit betrifft, sei „Der Verschollene“ empfohlen – von 1927, von Max Brod unter dem falschen Titel „Amerika“ herausgegeben und noch bis in die 1980er Jahr unter dem falschen Titel gehandelt. In einem Brief an Felice Bauer vom 11. November 1912 schrieb Kafka:
„Und nicht nur deshalb werde ich Ihnen von jetzt ab nur kurze Briefe schreiben (dafür sonntags allerdings immer einen mit Wollust ungeheueren Brief) sondern auch deshalb, weil ich mich bis zum letzten Atemzug für meinen Roman aufbrauchen will, der auch Ihnen gehört oder besser eine klarere Vorstellung von dem Guten in mir Ihnen geben soll als es die bloß hinweisenden Worte der längsten Briefe des längsten Lebens könnten. Die Geschichte, die ich schreibe und die allerdings ins Endlose angelegt ist, heißt, um Ihnen einen vorläufigen Begriff zu geben »Der Verschollene«« und handelt ausschließlich in dehn Vereinigten Staaten von Nordamerika. […] Es ist die erste größere Arbeit, in der ich mich nach 15jähriger, bis auf Augenblicke trostloser Plage seit 1 1/2 Monaten geborgen fühlte. Die muß also fertig werden, das meinen Sie wohl auch und so will ich unter Ihrem Segen die kleine Zeit, die ich nur zu ungenauen, schrecklich lückenhaften, unvorsichtigen, gefährlichen Briefen an Sie verwenden. könnte, zu jener Arbeit hinüberleiten, wo sich alles, wenigstens bis jetzt, von wo es auch gekommen ist, beruhigt und den richtigen Weg genommen hat. Sind Sie damit einverstanden? Und wollen Sie mich also nicht meinem trotz alledem schrecklichen Alleinsein überlassen? Liebstes Fräulein, ich gäbe jetzt etwas für einen Blick in Ihre Augen.“
Interessant sind diese Passagen Kafkas freilich nicht nur unter der Optik der Literatur und im Hinblick auf den Romantitel, sondern ebenso weisen sie ganz zentral auf eine Ökonomie des Schreibens – die in Kafkas Briefen an Felice immer wieder das Thema ist. Frauen begleiteten Kafkas Schreiben und dabei ging es immer auch um die Frage nach Distanz und Rückzugsort, eine Nähe, die in die Distanz kippt. Kafka lockte und stieß zugleich ab.
Man kann sich die Frage stellen, ob diese Briefe die Dokumente eines Narzißten sind oder aber der unbändige Wunsch nach einer Existenz im Schreiben, in der Literatur – ein Leben, das sich nur dort, quasi als eine Ästhetik der Existenz erfüllt: dort in der Schrift seine Wahrheit zu finden. Rüdiger Safranski zeigt diese Literatur-Lebens-Möglichkeit bei Kafka als eine Form der geglückten Existenz in seinem Essay-Band „Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?“. Während Rousseau, Kleist und Nietzsche an dieser Aufgabe einer Lebenskunst scheiterten: nämlich Wahrheit, Wirklichkeit, Denken und Leben zu vermitteln oder zumindest auszutarieren, gelang es Kafka – zumindest in der Lesart Safranskis – diese Fremde doch in einer Form lebbar zu machen.
Das Motiv der Fremdheit taucht in allen Romanen Kafkas auf und ebenso in seinen Erzählungen. Bis hin zur Selbstentfremdung, wo sich ein Angestellter in ein seltsames Insekt verwandelt oder aber, wie im „Urteil“, wo ein Mann in den besten Jahren zur Wasserleiche wird – man kann vermuten, daß der Sprung in den Fluß, der wohl durchaus als die Moldau in Prag zu lesen ist, wenngleich die Novelle darauf keinen Hinweis gibt, tödlich endet.
In Sachen Heimat- und Ortlosigkeit als Migratonsgeschichte eines Individuums, aber auch im Sinne jener von Georg Lukács in seiner „Theorie des Romans“ bezeichneten „transzendentalen Obdachlosigkeit“, die eben auch eine metaphysische ist, gelangt man – neben Kafkas „Schloß“ – schnell zum „Verschollenen“, zu jenem Karl Roßmann in Kafkas erstem Roman. Fragment geblieben und Torso, wie alle anderen Romane auch. Roßmann muß in die Fremde, in die USA, weil es in Europa einen Fehltritt mit einem Dienstmädchen gab, das, wie man so schön sagt, unpäßlich wurde, ohne daß da das heilige Sakrament der Ehe schon wirkte, was allein ob der sozialen Stellung der Frau kaum möglich gewesen wäre. Die große Überfahrt über ein Meer zu wagen, ist kein Selbstzweck und schon gar nicht etwas, daß Menschen aus freien Stücken tun. Bereits auf dem Dampfschiff tut sich Unschönes auf, wenn man sich an das Kapitel zum „Heizer“ erinnert, das als selbständige Erzählung erschien. Arbeitsbedingungen unter Deck. Auch dieses Szenario ließe sich als Botschaft fürs Heute lesen. Kafka ist Literatur für Zeitgenossen, für uns Bewohner im Hotel Occidental. Aber nicht nur gilt dies fürs Gesellschaftliche, sondern ebenso in bezug auf die ästhetische Form, wenn man etwa die Erzählperspektive und die Redesituationen dieser Heizer-Szenen sich betrachtet.
Roßmanns Ankommen gestaltet sich von Anbeginn an schwierig. Er gerät an Menschen, an die man besser nicht gerät. Im Gegensatz aber zu den meisten Migranten hat er in den USA zunächst immerhin einen vermögenden Onkel, der ihn freilich nach einiger Zeit verstößt. Ein vermeintlicher sozialer Fehltritt, ein privater Affront. Immer wieder ist es bei Kafka ein solches unergründliches Schicksal, halb an soziale Willkür, halb an den Mythos erinnernd, das über einen Protagonisten hereinbricht, und Verwicklungen, in die Roßmann gerät. Zugleich aber ist „Der Verschollene“ ein Großstadtroman, so wie in jener Epoche der 1910er Jahre mit der gesteigerten Moderne und den sozialen Anforderungen einer komplexen Welt die Großstadt zunehmend das Sujet von Literatur wurde. Wir begegnen im „Verschollenen“ streikenden Arbeitern, dem Lärm und dem unendlichen Verkehr der Großstadt. Lauter Getriebene. Kafka schafft für solches Leben starke Bilder, so etwa, wenn er in seiner Freizeit nach der Arbeit im Hotel Occidental (nomen est omen, ein sprechender Name) als Liftboy zusammen mit dem Zimmermädchen Therese in New York Besorgungen macht: Sound der Großstadt, lange vor Döblin:
„Einmal in der Woche hatte er beim Schichtwechsel vierundzwanzig Stunden frei, die er zum Teil dazu verwendete, bei der Oberköchin ein, zwei Besuche zu machen und mit Therese, deren kärgliche freie Zeit er abpaßte, irgendwo, in einem Winkel, auf einem Korridor und selten nur in ihrem Zimmer, einige flüchtige Reden auszutauschen. Manchmal begleitete er sie auch auf ihren Besorgungen in der Stadt, die alle höchst eilig ausgeführt werden mußten. Dann liefen sie fast, Karl mit ihrer Tasche in der Hand, zur nächsten Station der Untergrundbahn, die Fahrt verging im Nu, als werde der Zug ohne jeden Widerstand nur hingerissen, schon waren sie ihm entstiegen, klapperten, statt auf den Aufzug zu warten, der ihnen zu langsam war, die Stufen hinauf, die großen Plätze, von denen sternförmig die Straßen auseinanderflogen, erschienen und brachten ein Getümmel in den von allen Seiten geradlinig strömenden Verkehr, aber Karl und Therese eilten eng beisammen in die verschiedenen Büros, Waschanstalten, Lagerhäuser und Geschäfte, in denen telephonisch nicht leicht zu besorgende, im übrigen nicht besonders verantwortliche Bestellungen oder Beschwerden auszurichten waren.“
Zugleich aber ist „Der Verschollene“ immer noch Fragment oder der Rest eines Bildungsromans unter den Bedingungen des frühen 20. Jahrhundert. Der Protagonist wird, wie in Goethes „Wilhem Meister“ oder Novalisʼ „Heinrich von Ofterdingen“ im Titel zwar nicht mehr mit Namen genannt, sondern bleibt eine anonyme Instanz, nämlich ein Verschollener – was auch für die Schlußszene des Romans im Naturtheater von Oklahma eine Rolle spielt–, dennoch zeichnet auch „Der Verschollene“ den Werdegang eines jungen Menschen nach, der am Anfang seines Lebens steht. Roßmann zählte immerhin erst siebzehn Lenze. Das Ende dieses Romans freilich bleibt ein offenes: ob die Reise mit einer Theatertruppe, in der jeder nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten arbeiten bzw. spielen kann – der Mensch ist bekanntlich nur da ganz Mensch, wo er spielt –, bleibt offen. Diese Reise in andere Zonen trägt freilich vermittels der Landschaftsbeschreibungen teils bedrohliche Züge. Was bleibt ist ein junger Mensch, der im Ungewissen verschwindet und nicht mehr auftaucht. Ein Verschollener eben. Das Fragment ist die angemessene Form für das Individuum der Moderne. Eines Menschen in der Fremde. Fern der Heimat, die in diesem Falle das alte Europa ist.
Romane sollen keine Handlungsanweisungen fürs Politische abgeben, denn das Kunstwerk ist nun einmal autonom und steht nicht im Dienste von Bekenntnisprosa. Romane sind auch keine Spiegel der Gesellschaft, sondern vielmehr deren Chiffreschrift als Rätselgestalt. Im „Verschollenen“ finden sich Schreckensbilder der Ortlosigkeit sowie eine entfesselte Gesellschaft, die bis ins Individuum hinein wirkt. Machtpraktiken, auch in den sozialen Interaktionen der Menschen untereinander. Man denke an Roßmann sowie die beiden Vagabunden Delamarche und Robinson oder die Szenen im Landhaus bei New York, wo Karl an jene herrlich triebhaft- gewalttätige Klara gerät – die erotischen Frauengestalten Kafkas sind ein Thema für sich: effigie von Verheißung und grausamer Mythos in einem. Der Aufenthalt dort, bei einem Geschäftsfreund des Onkels, führt dazu, daß Roßbmann auch aus dem Kreis des Onkels verstoßen wird und endgültig auf der Straße landet.
Kafka gehört zu jenen großen Autoren des 20. Jahrhunderts, die die Macht in Literatur brachten. Solche perfiden Machtszenen, die die Subjekte konditionieren und bestimmen, sind bis in die Gegenwart tragend. Kafka ist unser Zeitgenosse.
Wer sich für diese zum Anfang genannte Vermittlung von Literatur, Schreiben und Leben interessiert, sei unbedingt auf die Briefe Kafkas an Felice Bauer und Milena Jesenská (gestorben 1944 im KZ Ravenbrück) verwiesen und ebenso an die Tagebücher sowie den Band mit Briefen an Freunde. Briefe sind zwar, selbst da, wo sie schön geschrieben wurden und ästhetisch gut in Form sind, keine Literatur. Bei Kafka jedoch bilden sie eine Nahtstelle, an der das Schreiben von Prosa und das von privater Post in eine Art Unschärfe gerät – eine Unschärfe und ein Verschwimmen nebenbei, wie wir es immer wieder auch in Kafkas Prosa finden. „Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus“, so der Geistliche im Domkapitel von Kafkas „Proceß“. Solches Verschwimmen von Bezügen realisiert sich in der Legende vom Mann vor dem Gesetz, in der Erzählung „Der Bau“ oder aber in jenem wunderbaren „Wunsch, Indianer zu werden“, eine Feier des Konjunktivs, der am Ende das, was ist oder was sein könnte zum Verschwinden bringt und damit eben in Literatur, in Imagination auflöst:
„Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“
Indianer sein, heißt, sich als Subjekt und Sujet von Literatur in Auflösung zu begreifen. Auch eine Form von Verschollensein. Briefe sind keine Prosa, aber sie können einen Blick in den Maschinenraum des Schreibens werfen, sie gewähren Sicht in die Werkstatt literarischer Produktionen, manchmal, wie bei Kafka in düsteren Zügen gezeichnet, so in jenem Nachtbrief vom 14. auf dem 15. Januar 1913 an Felice Bauer und zugleich als seltsame Paradoxie entfacht:
„Oft dachte ich schon daran, daß es die beste Lebensweise für mich wäre, mit Schreibzeug und einer Lampe im innersten Raume eines ausgedehnten, abgesperrten Kellers zu sein. Das Essen brächte man mir, stellte es immer weit von meinem Raum entfernt hinter der äußersten Tür des Kellers nieder. Der Weg um das Essen, im Schlafrock, durch alle Kellergewölbe hindurch wäre mein einziger Spaziergang. Dann kehrte ich zu meinem Tisch zurück, würde langsam und mit Bedacht essen und wieder gleich zu schreiben anfangen. Was ich dann schreiben würde! Aus welchen Tiefen ich es hervorreißen würde! Ohne Anstrengung! Denn äußerste Koncentration kennt keine Anstrengung. Nur, daß ich es vielleicht nicht lange treiben würde und beim ersten, vielleicht selbst in solchem Zustand nicht zu vermeidendem Mißlingen in einen großartigen Wahnsinn ausbrechen müßte. Was meinst Du, Liebste? Halte Dich vor dem Kellerbewohner nicht zurück!
Franz“
Wie man in einer Wand verschwinden kann oder hinter die Tapetentüren gerät, so kann man sich auch in den Aufzeichnungen aus bzw. in diesem Falle in einem Kellerloch verlieren. Sich als Schreibsubjekt entwerfen – gar mit der Hilfe von Frauen, wenn wir Klaus Theweleits Kafkalektüre in „Buch der Könige, Bd. 1: Orpheus und Eurydike“ nehmen. Adorno pointiert das literarische Prinzip der Subjektkonstitution in seinen „Aufzeichnungen zu Kafka“:
„Das hermetische Prinzip ist das der vollendet entfremdeten Subjektivität. […] Was Kafkas Glaskugel umfängt, ist einstimmiger und darum gräßlicher noch als das System draußen, weil im absolut subjektiven Raum und in absolut subjektiver Zeit nichts Platz hat, was deren eigenes Prinzip stören könnte, das der unabdingbaren Entfremdung.“
„Bei Kafka ist ihr Entzauberungsschlag das ‚So ist es‘. Er berichtet, wie es eigentlich zugeht, doch ohne Illusion übers Subjekt, das im äußersten Bewußtsein seiner selbst – seiner Nichtigkeit – sich auf den Schrotthaufen wirft, nicht anders als die Tötemaschine mit dem ihr Überantworteten verfährt. Er hat die totale Robinsonade geschrieben, die einer Phase, in der jeder Mensch sein eigener Robinson wurde und auf einem mit zusammengerafftem Zeug beladenen Floß ohne Steuer umhertreibt. Die Verbindung von Robinsonade und Allegorie, die ihren Ursprung in Defoe selber hat, ist der Tradition der großen Aufklärung nicht fremd. Sie gehört dem frühbürgerlichen Kampf gegen die religiöse Autorität an.“
Kafkas Prosa schreibt den Mythos und ist Kampf gegen diesen in einem Zug – wir erinnern uns nur ans „Schweigen der Sirenen“ und wie der Held Odysseus diesem Schweigen listenreich begegnete: Kunst und bürgerliches Subjekt in einer Als-ob-Konstellation. Und das Naturtheater von Oklahama ist Utopie, Verheißung und Schrecken in einem. Dieses Changierende in der Prosa macht den ästhetischen Reiz Kafkas aus – bis heute hin. Wie wohl keinem Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gelangen ihm Portraits von Macht, Szenen vom Überwachen, vom Strafen, von den Möglichkeiten entfalteter Subjektivität, wenn auch meist ex negativo. In seinen Rätselfiguren sedimentiert sich die Gesellschaft der Moderne. Nicht qua Engagement oder Parteinahme, sondern durch die detailversessene Beobachtung, die bis ins Gestische seiner Figuren hineinreicht.
Im Eifer politischer Korrektheit, wo säkular-calvinistische Taliban- und Hashtag-Literaturwissenschaftler Prosa nach der richtigen Gesinnung abklopfen, gehörte Kafka vermutlich wieder einmal zu den verbotenen oder zumindest zu den markierten Autoren. Der einzige Platz, um Gesellschaft zu beobachten und zugleich auch zu kritisieren – und das gilt auch für die literarische bzw. ästhetische Variante des Betrachtens –, ist im Außen zu finden. Zwar dabei sein, aber nicht darin.
„Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat-Beobachtung, Tat-Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und je höher sie ist, je unerreichbarer von der ‚Reihe‘ aus, desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg.“ (Franz Kafka, Tagebuch v. 27. Januar 1922)