Franz Kafka zum Geburtstag – Leben als Schrift: Macht und die Aporien von Subjektivität

Heute feiern wir Kafkas 136. Geburtstag und das sollte – naturgemäß – auch die Lektüre seiner Werke mit einschließen und nicht bloß Andenken für einen geschätzten Autor als irgendwie zu absolvierende Pflicht. Wir finden da eine Prosa, die bis heute ästhetische Standards setzt und hinter die doch – im Segment bundesdeutscher Selbstbespiegelungsliteratur insbesondere – immer wieder zurückgefallen wird. Wir finden bis heute eine Prosa, von der wir sagen können: Sie ist immer noch, nach 95 Jahren nach über 100 Jahren zeitgenössisch.

Vor allem was die Schrecken der Heimat- und Ortlosigkeit betrifft, sei „Der Verschollene“ empfohlen – von 1927, von Max Brod unter dem falschen Titel „Amerika“ herausgegeben und noch bis in die 1980er Jahr unter dem falschen Titel gehandelt. In einem Brief an Felice Bauer vom 11. November 1912 schrieb Kafka:

„Und nicht nur deshalb werde ich Ihnen von jetzt ab nur kurze Briefe schreiben (dafür sonntags allerdings immer einen mit Wollust ungeheueren Brief) sondern auch deshalb, weil ich mich bis zum letzten Atemzug für meinen Roman aufbrauchen will, der auch Ihnen gehört oder besser eine klarere Vorstellung von dem Guten in mir Ihnen geben soll als es die bloß hinweisenden Worte der längsten Briefe des längsten Lebens könnten. Die Geschichte, die ich schreibe und die allerdings ins Endlose angelegt ist, heißt, um Ihnen einen vorläufigen Begriff zu geben »Der Verschollene«« und handelt ausschließlich in dehn Vereinigten Staaten von Nordamerika. […] Es ist die erste größere Arbeit, in der ich mich nach 15jähriger, bis auf Augenblicke trostloser Plage seit 1 1/2 Monaten geborgen fühlte. Die muß also fertig werden, das meinen Sie wohl auch und so will ich unter Ihrem Segen die kleine Zeit, die ich nur zu ungenauen, schrecklich lückenhaften, unvorsichtigen, gefährlichen Briefen an Sie verwenden. könnte, zu jener Arbeit hinüberleiten, wo sich alles, wenigstens bis jetzt, von wo es auch gekommen ist, beruhigt und den richtigen Weg genommen hat. Sind Sie damit einverstanden? Und wollen Sie mich also nicht meinem trotz alledem schrecklichen Alleinsein überlassen? Liebstes Fräulein, ich gäbe jetzt etwas für einen Blick in Ihre Augen.“

Interessant sind diese Passagen Kafkas freilich nicht nur unter der Optik der Literatur und im Hinblick auf den Romantitel, sondern ebenso weisen sie ganz zentral auf eine Ökonomie des Schreibens – die in Kafkas Briefen an Felice immer wieder das Thema ist. Frauen begleiteten Kafkas Schreiben und dabei ging es immer auch um die Frage nach Distanz und Rückzugsort, eine Nähe, die in die Distanz kippt. Kafka lockte und stieß zugleich ab.

Man kann sich die Frage stellen, ob diese Briefe die Dokumente eines Narzißten sind oder aber der unbändige Wunsch nach einer Existenz im Schreiben, in der Literatur – ein Leben, das sich nur dort, quasi als eine Ästhetik der Existenz erfüllt: dort in der Schrift seine Wahrheit zu finden. Rüdiger Safranski zeigt diese Literatur-Lebens-Möglichkeit bei Kafka als eine Form der geglückten Existenz in seinem Essay-Band „Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?“. Während Rousseau, Kleist und Nietzsche an dieser Aufgabe einer Lebenskunst scheiterten: nämlich Wahrheit, Wirklichkeit, Denken und Leben zu vermitteln oder zumindest auszutarieren, gelang es Kafka – zumindest in der Lesart Safranskis – diese Fremde doch in einer Form lebbar zu machen.

Das Motiv der Fremdheit taucht in allen Romanen Kafkas auf und ebenso in seinen Erzählungen. Bis hin zur Selbstentfremdung, wo sich ein Angestellter in ein seltsames Insekt verwandelt oder aber, wie im „Urteil“, wo ein Mann in den besten Jahren zur Wasserleiche wird – man kann vermuten, daß der Sprung in den Fluß, der wohl durchaus als die Moldau in Prag zu lesen ist, wenngleich die Novelle darauf keinen Hinweis gibt, tödlich endet.

In Sachen Heimat- und Ortlosigkeit als Migratonsgeschichte eines Individuums, aber auch im Sinne jener von Georg Lukács in seiner „Theorie des Romans“ bezeichneten „transzendentalen Obdachlosigkeit“, die eben auch eine metaphysische ist, gelangt man – neben Kafkas „Schloß“ – schnell zum „Verschollenen“, zu jenem Karl Roßmann in Kafkas erstem Roman. Fragment geblieben und Torso, wie alle anderen Romane auch. Roßmann muß in die Fremde, in die USA, weil es in Europa einen Fehltritt mit einem Dienstmädchen gab, das, wie man so schön sagt, unpäßlich wurde, ohne daß da das heilige Sakrament der Ehe schon wirkte, was allein ob der sozialen Stellung der Frau kaum möglich gewesen wäre. Die große Überfahrt über ein Meer zu wagen, ist kein Selbstzweck und schon gar nicht etwas, daß Menschen aus freien Stücken tun. Bereits auf dem Dampfschiff tut sich Unschönes auf, wenn man sich an das Kapitel zum „Heizer“ erinnert, das als selbständige Erzählung erschien. Arbeitsbedingungen unter Deck. Auch dieses Szenario ließe sich als Botschaft fürs Heute lesen. Kafka ist Literatur für Zeitgenossen, für uns Bewohner im Hotel Occidental. Aber nicht nur gilt dies fürs Gesellschaftliche, sondern ebenso in bezug auf die ästhetische Form, wenn man etwa die Erzählperspektive und die Redesituationen dieser Heizer-Szenen sich betrachtet.

Roßmanns Ankommen gestaltet sich von Anbeginn an schwierig. Er gerät an Menschen, an die man besser nicht gerät. Im Gegensatz aber zu den meisten Migranten hat er in den USA zunächst immerhin einen vermögenden Onkel, der ihn freilich nach einiger Zeit verstößt. Ein vermeintlicher sozialer Fehltritt, ein privater Affront. Immer wieder ist es bei Kafka ein solches unergründliches Schicksal, halb an soziale Willkür, halb an den Mythos erinnernd, das über einen Protagonisten hereinbricht, und Verwicklungen, in die Roßmann gerät. Zugleich aber ist „Der Verschollene“ ein Großstadtroman, so wie in jener Epoche der 1910er Jahre mit der gesteigerten Moderne und den sozialen Anforderungen einer komplexen Welt die Großstadt zunehmend das Sujet von Literatur wurde. Wir begegnen im „Verschollenen“ streikenden  Arbeitern, dem Lärm und dem unendlichen Verkehr der Großstadt. Lauter Getriebene. Kafka schafft für solches Leben starke Bilder, so etwa, wenn er in seiner Freizeit nach der Arbeit im Hotel Occidental (nomen est omen, ein sprechender Name) als Liftboy zusammen mit dem Zimmermädchen Therese in New York Besorgungen macht: Sound der Großstadt, lange vor Döblin:

„Einmal in der Woche hatte er beim Schichtwechsel vierundzwanzig Stunden frei, die er zum Teil dazu verwendete, bei der Oberköchin ein, zwei Besuche zu machen und mit Therese, deren kärgliche freie Zeit er abpaßte, irgendwo, in einem Winkel, auf einem Korridor und selten nur in ihrem Zimmer, einige flüchtige Reden auszutauschen. Manchmal begleitete er sie auch auf ihren Besorgungen in der Stadt, die alle höchst eilig ausgeführt werden mußten. Dann liefen sie fast, Karl mit ihrer Tasche in der Hand, zur nächsten Station der Untergrundbahn, die Fahrt verging im Nu, als werde der Zug ohne jeden Widerstand nur hingerissen, schon waren sie ihm entstiegen, klapperten, statt auf den Aufzug zu warten, der ihnen zu langsam war, die Stufen hinauf, die großen Plätze, von denen sternförmig die Straßen auseinanderflogen, erschienen und brachten ein Getümmel in den von allen Seiten geradlinig strömenden Verkehr, aber Karl und Therese eilten eng beisammen in die verschiedenen Büros, Waschanstalten, Lagerhäuser und Geschäfte, in denen telephonisch nicht leicht zu besorgende, im übrigen nicht besonders verantwortliche Bestellungen oder Beschwerden auszurichten waren.“

Zugleich aber ist „Der Verschollene“ immer noch Fragment oder der Rest eines Bildungsromans unter den Bedingungen des frühen 20. Jahrhundert. Der Protagonist wird, wie in Goethes „Wilhem Meister“ oder Novalisʼ „Heinrich von Ofterdingen“ im Titel zwar nicht mehr mit Namen genannt, sondern bleibt eine anonyme Instanz, nämlich ein Verschollener – was auch für die Schlußszene des Romans im Naturtheater von Oklahma eine Rolle spielt–, dennoch zeichnet auch „Der Verschollene“ den Werdegang eines jungen Menschen nach, der am Anfang seines Lebens steht. Roßmann zählte immerhin erst siebzehn Lenze. Das Ende dieses Romans freilich bleibt ein offenes: ob die Reise mit einer Theatertruppe, in der jeder nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten arbeiten bzw. spielen kann – der Mensch ist bekanntlich nur da ganz Mensch, wo er spielt –, bleibt offen. Diese Reise in andere Zonen trägt freilich vermittels der Landschaftsbeschreibungen teils bedrohliche Züge. Was bleibt ist ein junger Mensch, der im Ungewissen verschwindet und nicht mehr auftaucht. Ein Verschollener eben. Das Fragment ist die angemessene Form für das Individuum der Moderne. Eines Menschen in der Fremde. Fern der Heimat, die in diesem Falle das alte Europa ist.

Romane sollen keine Handlungsanweisungen fürs Politische abgeben, denn das Kunstwerk ist nun einmal autonom und steht nicht im Dienste von Bekenntnisprosa. Romane sind auch keine Spiegel der Gesellschaft, sondern vielmehr deren Chiffreschrift als Rätselgestalt. Im „Verschollenen“ finden sich Schreckensbilder der Ortlosigkeit sowie eine entfesselte Gesellschaft, die bis ins Individuum hinein wirkt. Machtpraktiken, auch in den sozialen Interaktionen der Menschen untereinander. Man denke an Roßmann sowie die beiden Vagabunden Delamarche und Robinson oder die Szenen im Landhaus bei New York, wo Karl an jene herrlich triebhaft- gewalttätige Klara gerät – die erotischen Frauengestalten Kafkas sind ein Thema für sich: effigie von Verheißung und grausamer Mythos in einem. Der Aufenthalt dort, bei einem Geschäftsfreund des Onkels, führt dazu, daß Roßbmann auch aus dem Kreis des Onkels verstoßen wird und endgültig auf der Straße landet.

Kafka gehört zu jenen großen Autoren des 20. Jahrhunderts, die die Macht in Literatur brachten. Solche perfiden Machtszenen, die die Subjekte konditionieren und bestimmen, sind bis in die Gegenwart tragend. Kafka ist unser Zeitgenosse.

Wer sich für diese zum Anfang genannte Vermittlung von Literatur, Schreiben und Leben interessiert, sei unbedingt auf die Briefe Kafkas an Felice Bauer und Milena Jesenská (gestorben 1944 im KZ Ravenbrück) verwiesen und ebenso an die Tagebücher sowie den Band mit Briefen an Freunde. Briefe sind zwar, selbst da, wo sie schön geschrieben wurden und ästhetisch gut in Form sind, keine Literatur. Bei Kafka jedoch bilden sie eine Nahtstelle, an der das Schreiben von Prosa und das von privater Post in eine Art Unschärfe gerät – eine Unschärfe und ein Verschwimmen nebenbei, wie wir es immer wieder auch in Kafkas Prosa finden. „Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus“, so der Geistliche im Domkapitel von Kafkas „Proceß“. Solches Verschwimmen von Bezügen realisiert sich in der Legende vom Mann vor dem Gesetz, in der Erzählung „Der Bau“ oder aber in jenem wunderbaren „Wunsch, Indianer zu werden“, eine Feier des Konjunktivs, der am Ende das, was ist oder was sein könnte zum Verschwinden bringt und damit eben in Literatur, in Imagination auflöst:

„Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“

Indianer sein, heißt, sich als Subjekt und Sujet von Literatur in Auflösung zu begreifen. Auch eine Form von Verschollensein. Briefe sind keine Prosa, aber sie können einen Blick in den Maschinenraum des Schreibens werfen, sie gewähren Sicht in die Werkstatt literarischer Produktionen, manchmal, wie bei Kafka in düsteren Zügen gezeichnet, so in jenem Nachtbrief vom 14. auf dem 15. Januar 1913 an Felice Bauer und zugleich als seltsame Paradoxie entfacht:

„Oft dachte ich schon daran, daß es die beste Lebensweise für mich wäre, mit Schreibzeug und einer Lampe im innersten Raume eines ausgedehnten, abgesperrten Kellers zu sein. Das Essen brächte man mir, stellte es immer weit von meinem Raum entfernt hinter der äußersten Tür des Kellers nieder. Der Weg um das Essen, im Schlafrock, durch alle Kellergewölbe hindurch wäre mein einziger Spaziergang. Dann kehrte ich zu meinem Tisch zurück, würde langsam und mit Bedacht essen und wieder gleich zu schreiben anfangen. Was ich dann schreiben würde! Aus welchen Tiefen ich es hervorreißen würde! Ohne Anstrengung! Denn äußerste Koncentration kennt keine Anstrengung. Nur, daß ich es vielleicht nicht lange treiben würde und beim ersten, vielleicht selbst in solchem Zustand nicht zu vermeidendem Mißlingen in einen großartigen Wahnsinn ausbrechen müßte. Was meinst Du, Liebste? Halte Dich vor dem Kellerbewohner nicht zurück!

Franz“

Wie man in einer Wand verschwinden kann oder hinter die Tapetentüren gerät, so kann man sich auch in den Aufzeichnungen aus bzw. in diesem Falle in einem Kellerloch verlieren. Sich als Schreibsubjekt entwerfen – gar mit der Hilfe von Frauen, wenn wir Klaus Theweleits Kafkalektüre in „Buch der Könige, Bd. 1: Orpheus und Eurydike“ nehmen.  Adorno pointiert das literarische Prinzip der Subjektkonstitution in seinen „Aufzeichnungen zu Kafka“:

„Das hermetische Prinzip ist das der vollendet entfremdeten Subjektivität. […] Was Kafkas Glaskugel umfängt, ist einstimmiger und darum gräßlicher noch als das System draußen, weil im absolut subjektiven Raum und in absolut subjektiver Zeit nichts Platz hat, was deren eigenes Prinzip stören könnte, das der unabdingbaren Entfremdung.“

„Bei Kafka ist ihr Entzauberungsschlag das ‚So ist es‘. Er berichtet, wie es eigentlich zugeht, doch ohne Illusion übers Subjekt, das im äußersten Bewußtsein seiner selbst – seiner Nichtigkeit – sich auf den Schrotthaufen wirft, nicht anders als die Tötemaschine mit dem ihr Überantworteten verfährt. Er hat die totale Robinsonade geschrieben, die einer Phase, in der jeder Mensch sein eigener Robinson wurde und auf einem mit zusammengerafftem Zeug beladenen Floß ohne Steuer umhertreibt. Die Verbindung von Robinsonade und Allegorie, die ihren Ursprung in Defoe selber hat, ist der Tradition der großen Aufklärung nicht fremd. Sie gehört dem frühbürgerlichen Kampf gegen die religiöse Autorität an.“

Kafkas Prosa schreibt den Mythos und ist Kampf gegen diesen in einem Zug – wir erinnern uns nur ans „Schweigen der Sirenen“ und wie der Held Odysseus diesem Schweigen listenreich begegnete: Kunst und bürgerliches Subjekt in einer Als-ob-Konstellation. Und das Naturtheater von Oklahama ist Utopie, Verheißung und Schrecken in einem. Dieses Changierende in der Prosa macht den ästhetischen Reiz Kafkas aus – bis heute hin. Wie wohl keinem Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gelangen ihm Portraits von Macht, Szenen vom Überwachen, vom Strafen, von den Möglichkeiten entfalteter Subjektivität, wenn auch meist ex negativo. In seinen Rätselfiguren sedimentiert sich die Gesellschaft der Moderne. Nicht qua Engagement oder Parteinahme, sondern durch die detailversessene Beobachtung, die bis ins Gestische seiner Figuren hineinreicht.

Im Eifer politischer Korrektheit, wo säkular-calvinistische Taliban- und Hashtag-Literaturwissenschaftler Prosa nach der richtigen Gesinnung abklopfen, gehörte Kafka vermutlich wieder einmal zu den verbotenen oder zumindest zu den markierten Autoren. Der einzige Platz, um Gesellschaft zu beobachten und zugleich auch zu kritisieren – und das gilt auch für die literarische bzw. ästhetische Variante des Betrachtens –, ist im Außen zu finden. Zwar dabei sein, aber nicht darin.

„Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat-Beobachtung, Tat-Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und je höher sie ist, je unerreichbarer von der ‚Reihe‘ aus, desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg.“ (Franz Kafka, Tagebuch v. 27. Januar 1922)

Das Weben am Mythos ist Gesellschaft – Kafkas „Proceß“ (3)

„Durch den Glauben empfing Abraham die Verheißung [Gal. 3, 8], daß in seinem Samen alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollten. Die Zeit ging hin, die Möglichkeit eröffnete sich, Abraham glaubte; die Zeit ging hin, es wurde zum Widersinn, Abraham glaubte.“ (Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern)

Es ist ein geheimnisvoller und seltsamer Prozeß, den Kafka 1914 begann. Dieses Rätsel als Literatur, das uns Kafka darbrachte, mochte jenes Mädchen mit der lila Latzhose damals verwirren, es zwang sie in die Abwehrhaltung und dieses Verrätseln irritierte auch mich, den seltsamen Jungen mit Hang zu Godard- und Tarkowski-Filmen. „Opfer“, „Stalker“, „Solaris“ und der Nebel einer Zone im All, die unsere Gedanken saugt und uns unsere geheimen Wünsche spiegelt. „Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnitten ist.“ Jener Satz von André Bazin, der „Die Verachtung“ einleitete und den ich mir niemals merken konnte, wie die meisten Zitate. Er paßte, so dachte ich, als ich damals in einem jener Programm-Kinos Godards „Le Mepris“ sah, ebensogut auf die Literatur Kafkas. Eine Zone, die die Gedanken saugte und zog, die dehnte und befeuerte. Und eben jene Welt ganz eigener Art: eine Fiktion als Reales.

Und es gesellte sich diese Prosa zu jenen frühen 1980er Jahren, nicht bloß als eine äußere Korrespondenz und weil da ein Schüler seiner Lebensfaulheit mittels Literatur kaschieren wollte, sondern es entstand ein katastrophisches Szenario, das ganz gut zu zum Zeitgeist jener Jahre paßte. Atombewegte Zeit, Zonenzeit, Nato-Nachrüstung und Anti-AKW-Proteste: Sweet Child in Time, Friedensbewegung, Le WALDSTERBEN. Nichts ist, wie es scheint. Zahlenspiele. 23. Sondern in das Politisch-Grelle und in die Angstkommunikation der sozialen Bewegungen gesellte sich ein noch viel wirkmächtigeres Störfeuer. In der Form von Literatur. In der Prosa Kafkas, wo das Ungeheure so beiläufig auftrat.

Ich faßte diese Irritationen qua Kunst immer als produktives Moment. Als Anlaß, Fragen zu stellen. Rätselhaftes. „Ein / Rätsel ist Rein- / entsprungenes“, wie Celan jene Hölderlinstelle aus „Der Rhein“ bedichtete und zugleich durchs doppelte Enjambement neu sistiert. Verrätseln des Rätsels. Das war für mich damals die Prosa Kafka. Und zugleich bedeutet dieses Verfahren ebenso: bei der Rätselgestalt verharren, sie als Rätsel belassen, weil manchmal vertrackte Rätsel spannender sind als ihre Auflösung, sie nicht zu knacken oder zumindest doch die Lösung als nur eine Möglichkeit unter anderen aufzuzeigen.

Die Leser erfahren nicht, weshalb der Prozeß angestrengt wurde. Kein Grund wird genannt – weder erfährt ihn K. noch wir. Die Instanz, die hinter dem Prozeß steckt, bleibt bis zum Ende verborgen – nicht anders als in jener Parabel vom Torhüter jenes Verborgene, dahin der Mann vor dem Gesetz strebte. Doch im Verlauf des Romans zeigt sich diese Instanz zugleich in unterschiedlichen Gestalten und Ausprägungen: jeder, dem K. begegnet, kann dazugehören, es ist ein Gericht, das allgegenwärtig ist. Die verschiedensten Personen stehen irgendwie mit ihm in Verbindung oder wissen um K.s Prozeß – mehr als Josef K. selbst. Er, so hat man den Eindruck, weiß am allerwenigsten, während jene, denen er begegnet, gut eingeweiht scheinen. Was die Sache um so unheimlicher macht. Und immer wieder tappt K. in die Fallen oder überschätzt sich maßlos, hält sich fürs souveräne Subjekt. Aber wir sind nicht gut zu Hause in der gedeuteten Welt. Wußte Rilke, wie ich damals las, und wußte mit Rilke auch ich. Jungs mögen Pathoston. Ich mochte Rilke nicht. Dafür aber Kafka

Die Verhaftung beruht nicht etwa auf einem Rechtsakt, wie es zunächst aussieht, sondern es steckt, so scheint es, anderes dahinter. Ein Haftbefehl oder eine Anklageschrift existiert nicht. Die Sache wird mündlich verkündet. Die Wächter benehmen sich eigentümlich, verzehren das Frühstück von K. und auch an seinen Legitimationspapieren zeigen sie auffallend wenig Interesse. Die Behörde selbst, von der die Anklage ausgeht, ist eine eigentümliche Instanz, im Nebel, so zumindest für einen der Männer:

„‚Unsere Behörde soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken.“ (Franz Kafka, Der Proceß, S. 14, Kritische Ausgabe, Fischer Verlag)

Dieses Schwebende zeigt sich auch in der Sprache. Es kennzeichnet diese Prosa bereits auf den ersten Seiten der Frage-Modus:

„Was waren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu überfallen?“ (Kafka, Der Proceß, S. 11)

Was man aus solchen Fragen herausliest, ist die existentielle Verunsicherung eines Individuums in seinen Lebensbezügen. Und solcher Schub von Fragen streut sich immer wieder in diese Prosa ein und hält sich bis zum Ende des Romans durch, steigert sich dort in einen Exzeß – Rest noch und expressionistischer Einschlag jenes „Oh Mensch“-Pathos. Hohe, hohe Mitternacht. Zum Ende terminieren jene Daseinsfragen in eine Hinrichtungsszene:

„K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt hatte. Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.“

(Die Bedeutung von Händen und auch die der Gesten in Kafkas Prosa – seien es die Briefe oder die Romane – wäre ein gesonderter Text für sich. Hände, Kinder und Gespenster. Auch Kinder können solche Spukgestalten sein.)

Auffallend, daß im ganzen Roman über kein psychologischer Entwurf der Figur des Josef K. erfolgt, besondere Merkmale sind an K. nicht festzustellen. Er taumelt von Szene zu Szene. Es ist ein Herr Jedermann. Prokurist in einer Bank.

Heinz Politzer schreibt in seiner Kafka-Studie:

„Als Menschengestalt zeigt Josef K. so wenig Leib und Seele wie die grotesken Kleinfiguren, die Kafka mit spitzer Feder an den Rand seiner Manuskripte zu zeichnen pflegte. Es ist ein Sinnbild und kein Portrait, geschweige denn das Selbstportrait eines Autors.“

In diesem Sinne kann man sagen, daß es in Kafkas Roman nicht so sehr um eine konkrete Person geht, gar im Sinne eines (positiven) Bildungsromans, wie man ihn noch in Kafkas „Der Verschollene“ herauslesen kann, sofern man diese Schlußszene auf der Eisenbahn, diese Reise in immer felsiger Regionen, als eine Ausfahrt ins Bessere lesen mag, sondern vielmehr trifft das, was  zum Schluß des Prozesses geschieht, eine beliebige Existenz. Und insofern heißt der Roman nicht „Josef K.“, sondern „Der Proceß“, wenngleich ansonsten für solche Art von Geschichten von Individuen durchaus Namen gewählt wurden. „Leutnant Gustl“ von Schnitzer, „Wilhelm Meister“ von Goethe, „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“, von Musil. Selbst bei „Der Verschollene lesen wir keinen Namen mehr, sondern nur noch eine abstrakte Personalisierung.

Die Deutungen von Kafkas „Proceß“ sind vielschichtig – das machte ihn damals sicherlich auch für den Deutschunterricht zum Anschauungsmaterial. Und nimmt ihm dadurch, als Schulstoff, womöglich seinen ästhetischen Reiz. Man kann diesen Roman religiös interpretieren, das Domkapitel gibt dazu einigen Anlaß, man kann ihn im Sinne von Alfred Webers Analyse zur Bürokratie und zum Beamten verwaltungssoziologisch lesen oder man kann diesen Prozeß gesellschaftlich nehmen, denn er weist auf den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts. Linke wie rechte Diktaturen, die zu Kafkas Zeiten dem Jahrhundert noch bevorstehen. Kafka wußte von ihnen nichts: Willkürliches Verhaften bei abweichender Meinung. Muster links- wie rechtstotalitärer Politik, die bis heute aktuell sind: unter dem Namen einer vorgeblichen Befreiung wird die Säuberung und die Eliminierung des Gegners vorbereitet.

Dieser Überschuß an Deutungen – und diese Erkenntnis weist dann wiederum weit über bloß Didaktisches heraus – erzeugt einen verschlungenen und unabschließbaren Kommentar zur Prosa. Kafkas Text freilich – in der Prosa wie in den Briefen und den Tagebüchern – hat diese Deutungsebenen mitgedacht. Auch in jenen Worten des Geistlichen im Domkapitel kommt es zum Ausdruck:

„‚Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus. ‘“

„‚Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber. In diesem Falle gibt es sogar eine Meinung nach welcher gerade der Türhüter der getäuschte ist.‘“

Aber all diese Fragen sind die von Literaturwissenschaftlern und ästhetischen Theoretikern, die einen Text unter der Optik ihrer Disziplin oder mit den Augen des Philosophen sehen – Literatur als eine Form der Philosophie. Mich faszinierte damals, in jenen jungen Jahren und bis heute hin die Bildlichkeit dieser Prosa, vor allem aber ihr Reflexionsniveau: nämlich sich selbst als Literatur immer wieder zum Thema zu machen: Das Schreiben als Akt der Erkenntnis, Forschungen eines Hundes. Bei größtmöglicher Offenheit der Deutungen – wozu auch die Fragmentstruktur des Romans beitrug.

Denn da beim „Proceß“ kein von Kafka autorisierter Text vorliegt, dem er das Imprimatur erteilte, sondern eine Anordnung von Kapiteln oder Szenen, mithin eine Sammlung von Fragmenten, war die Forschung lange Zeit auf Spekulationen bzw. auf die Zusammenstellung von Max Brod, dem Freund und Nachlaßverwalter Kafkas, angewiesen. Erst jüngere Forschungen haben eine etwas andere Anordnung der Kapitel eruiert als in der von Max Brod autorisierten Ausgabe. Wenn man aber einige Schritte hinter diese eher positivistische Deutung zurücktritt, zeigt sich an diesen Fragen vielmehr ein anderer Umstand, der gut mit dieser literarischen Moderne, eigentlich seit dem Don Quijote, korrespondiert, nämlich einerseits im Sinne literarischer Autoreflexivität auf den Werkcharakter des Romans aufmerksam zu machen und qua Fragmentstruktur das Offene und Lose dieses Textes aufzuzeigen, das zur ästhetischen Gestalt des Romans dazugehört – vom Autor freilich nur bedingt intendiert, sondern dem Umstand ästhetischer wie subjektiver Unentscheidbarkeit geschuldet. Aber diese Unsicherheit gerade verschaffte der Prosa die adäquate Form. Daß nämlich die um Anfang und Ende gruppierten Kapitel genausogut auch anders angeordnet werden könnten. Ein Spiel also mit der Anordnung der Kapitel, wie es später dann ganz bewußt eingesetzt Julio Cortázar in „Rayuela“ betreibt.

Es gibt Bücher, die qua ihrer ästhetischen Form einen anderen Blick auf die Welt liefern und dieser neue Blick überträgt sich auf den, der das Buch liest. Verpeilte Jungs in jungen Jahren sind dafür gut empfänglich. Sie produzierten Deutungen und ihren Privatexzeß für Frauen in Deutschkursen oder für ihren seltsamen Weg suchten sie jene Sprache, die ihnen entsprach.

Im Falle Kafkas wurde dem jungen Mann dieses Spiel der Lektüre als ästhetisches Prinzip unabdingbar zum ewig webenden Mythos vom Gesang, von der Schönheit, der Kunst und am Ende dem Schweigen wie dem Verstehen – man denke an den Verurteilten der „Strafkolonie“: da wo es – beim Exzeß, als die Nadel ins Fleisch ritzte und das Vergehen in die Haut schrieb – nach Bekunden des Offiziers noch dem Blödesten aufgeht: die Wahrheit. Die aber für die Zuschauer jener Prozedur unentzifferbar bleibt. Eine Hieroglyphe. Jenes Schweigen, als Rätselschrift, nimmt in Kafkas Werk eine zentrale Stelle ein – man denke nur an seine letzte Erzählung „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“. Hier aber soll zum Ende dieses Langessays einzig von der Sprache der Sirenen die Rede sein. Weiber mit schönen Brüsten nicht nur. Jene Verlockenden, deren Gesang gleichsam, wenn man Adornos „Dialektik der Aufklärung“ folgen mag, eine Urszene der Kunst bedeutet. Kafka hat in dieser Prosa-Miniatur das wohl treffendste Bild für die Hermeneutik der Dekonstruktion gestaltet.

„Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden  alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.

(…)

Sie aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie solange als möglich erhaschen.

Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.

Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.“

Teil 1 des Essays

Teil 2 des Essays

Hamstern mit Kafka

Ein letztes Mal nur noch muß man als Protagonist und als Subjekt der Handlung heraustreten, um sich die notwendigen Vorräte zu besorgen oder vielleicht, wenn die Zeit bereits fortgeschritten ist, sie zu erjagen – eine Art Jäger Gracchus, die schlechte Unendlichkeit als Wühlarbeit.

 „Die häufige Beschäftigung mit Verteidigungsvorbereitungen bringt es mit sich, daß meine Ansichten hinsichtlich der Ausnutzung des Baus für solche Zwecke sich ändern oder entwickeln, in kleinem Rahmen allerdings. Es scheint mir dann manchmal gefährlich, die Verteidigung ganz auf dem Burgplatz zu basieren, die Mannigfaltigkeit des Baus gibt mir doch auch mannigfaltigere Möglichkeiten und es scheint mir der Vorsicht entsprechender, die Vorräte ein wenig zu verteilen und auch manche kleine Plätze mit ihnen zu versorgen, dann bestimme ich etwa jeden dritten Platz zum Reservevorratsplatz oder jeden vierten Platz zu einem Haupt- und jeden zweiten zu einem Nebenvorratsplatz u. dgl. Oder ich schalte manche Wege zu Täuschungszwecken überhaupt aus der Behäufung mit Vorräten aus oder ich wähle ganz sprunghaft, je nach ihrer Lage zum Hauptausgang, nur wenige Plätze.

(…)

Dann gibt es wieder Zeiten, wo mir die Vereinigung aller Vorräte auf einen Platz das Allerbeste scheint. Was können mir die Vorräte auf den kleinen Plätzen helfen, wieviel läßt sich denn dort überhaupt unterbringen, und was immer man auch hinbringt, es verstellt den Weg und wird mich vielleicht einmal bei der Verteidigung, beim Laufen eher hindern. Außerdem ist es zwar dumm aber wahr, daß das Selbstbewußtsein darunter leidet, wenn man nicht alle Vorräte beisammen sieht und so mit einem einzigen Blicke weiß, was man besitzt. Kann nicht auch bei diesen vielen Verteilungen vieles verloren gehen? Ich kann nicht immerfort durch meine Kreuz- und Quergänge galoppieren, um zu sehen, ob alles in richtigem Stande ist. Der Grundgedanke einer Verteilung der Vorräte ist ja richtig, aber eigentlich nur dann, wenn man mehrere Plätze von der Art meines Burgplatzes hat. Mehrere solche Plätze! Freilich! Aber wer kann das schaffen? Auch sind sie im Gesamtplan meines Baus jetzt nachträglich nicht mehr unterzubringen. Zugeben aber will ich, daß darin ein Fehler des Baus liegt, wie überhaupt dort immer ein Fehler ist, wo man von irgend etwas nur ein Exemplar besitzt.

(…)

Ich lecke und nasche am Fleisch, denke abwechselnd einmal an das fremde Tier, das in der Ferne seinen Weg zieht, und dann wieder daran, daß ich, solange ich noch die Möglichkeit habe, ausgiebigst meine Vorräte genießen sollte. Dieses letztere ist wahrscheinlich der einzige ausführbare Plan, den ich habe. Im übrigen suche ich den Plan des Tieres zu enträtseln. Ist es auf Wanderschaft oder arbeitet es an seinem eigenen Bau? Ist es auf Wanderschaft, dann wäre vielleicht eine Verständigung mit ihm möglich. Wenn es wirklich bis zu mir durchbricht, gebe ich ihm einiges von meinen Vorräten und es wird weiterziehen. Wohl, es wird weiterziehen. In meinen Erdhaufen kann ich natürlich von allem träumen, auch von Verständigung, trotzdem ich genau weiß, daß es etwas derartiges nicht gibt, und daß wir in dem Augenblick, wenn wir einander sehen, ja wenn wir einander nur in der Nähe ahnen, gleich besinnungslos, keiner früher, keiner später, mit einem neuen andern Hunger, auch wenn wir sonst völlig satt sind, Krallen und Zähne gegeneinander auftun werden.“ (Franz Kafka, Der Bau)

Dieser Text ist zudem eine interessante Auskoppelung des Herr/Knecht-Kapitels sowie eine Lesart des Freund/Feind-Schemas von Carl Schmitt. Eine Innenborderline des absoluten Hermetismus samt einer Hermeneutik der Angst. Durchspielbar in vielen Varianten. Die Literatur ist in jedem Falle besser als die Wirklichkeit. Ein unterirdischer Möglichkeitssinn.

Zeitschründe der Ewigkeit und all diese Zeiten des Vergeblichen: Call me Ishmael

„Warum ist das Leichte so schwer? An Verführungen hatte ich –. Laß die Aufzählung. Das Leichte ist schwer. Es ist so leicht und so schwer. Wie ein Jagdspiel, bei dem der einzige Ruheplatz ein Baum jenseits des Weltmeeres ist.

Warum sind sie von dort ausgewandert? – An der Küste ist die Brandung am stärksten, so eng ist ihr Gebiet und so unüberwindlich.

Nichtfragen hätte dich zurückgebracht, Fragen treibt dich noch ein Weltmeer weiter. – Nicht sie sind ausgewandert, sondern du.

Immer wieder wird mich die Enge bedrücken.

Ewigkeit ist aber nicht das Stillstehen der Zeitlichkeit.

Was an der Vorstellung des Ewigen bedrückend ist: die uns unbegreifliche Rechtfertigung, welche die Zeit in der Ewigkeit erfahren muß und die daraus folgende Rechtfertigung unserer selbst, so wie wir sind.“
(Franz Kafka, Oktavhefte)

 Das schreiben wir in die Leere hinein, als Aufzeichnungen in die Oktavhefte, Notturno, Nachtstücke der Phantasie, in dem böhmischen Dorf Zürau aufs Papier gebracht. Rechtfertigungsleere im Jüdisch-Sein. Sind diese Sätze bereits eine Poetik der Vergeblichkeit von Literatur; eine Poetik für eine Literatur der kleinen Dinge und Szenerien? Oder sind diese Sätze noch vom Dasein gedeckt: der Gang des Lebens als der Lauf ins Leere? Nur die Laufrichtung mußt Du ändern! Oder der Fließrichtung des Flusses Dich aussetzen. Sich treiben lassen. Unter den Strömungen, nicht gegen sie.

Bezeichnen diese Sätze Kafkas das Nebeneinander von verschiedenen Aspekten oder gehören sie in ihrer Diversivität dennoch zusammen? Immerhin wurden sie am selben Tag geschrieben, am 8. Februar 1918.  Ewigkeit ist aber nicht das Stillstehen der Zeitlichkeit bleibt als Satz rätselhaft, denn zunächst vergegenwärtigen wir uns die Ewigkeit als nunc stans, in dem nichts mehr fließt, sondern gefriert, stillsteht, an seinem Platz und doch nicht ganz an dem Platz, weil in der Ewigkeit eben auch der Begriff des Raumes sich aufhebt. (Das freilich ist zugleich die größte Enge und Einschränkung des Raumes.) Wo der Moment niemals endet und als stillgestellter Augenblick harrt, scheint es sinnlos, noch von Zeit zu sprechen. Allerdings schreibt Kafka nicht von der Zeit selber, sondern von der Zeitlichkeit. Wenn Ewigkeit nicht mit dem Stillstehen der Zeitlichkeit gedeutet oder in Parallele gebracht werden darf, dann ist sie in diese gebettet oder hängt auf eine besondere Weise mit der Zeitlichkeit zusammen, es kommt der Zeitlichkeit eine besondere Form zu. Zwar mag in der Ewigkeit die Zeit stillgestellt sein oder es (er)scheint so, als stünde sie im erfüllten Augenblick, der wie Ewigkeit anmutet, oder in dieser selber still, weil kein Bewußtsein mehr für Zeit herrscht. Nicht aber die Zeitlichkeit.  [Ich will das gar nicht so sehr mit Heidegger zusammenschließen, weil das nur zu einer existenzphilosophischen Vereinnahmung Kafkas führte.] Dennoch fällt die Ewigkeit aus unserer physikalischen Zeit heraus, so wie die Unendlichkeit das menschliche Denken übersteigt, allenfalls anregend für die Phantasie, für die Einbildungskraft, die die Räume erschließt und über die Meere fährt, sich durch die Gebirge in die Höhe treiben läßt.

Der klare Blick Kafkas – auch fürs Bedrückende und sein Vergrübeltes. Wir müssen uns Kafka jedoch als einen glücklichen Menschen vorstellen. Sein Image als Miesepeter und Nihilist ist durch und durch falsch. Das mag man bereits an dem Vortrag sehen, den er in München hielt: aus seinem Roman „Der Prozeß“ lesend und beim Lesen kam er aus dem Lachen nicht mehr heraus, was manche der Zuhörer verwunderte. Und selbst wenn diese Anekdote Legende sein sollte, so steckt in ihrer Fabulierung doch die Wirklichkeit, so ist sie dennoch wahr.

Kafkas Prosa entbehrt nicht der Komik – an vielen Stellen seines Werkes: Die Prüglerszene etwa im Prozeß: Was für eine Vorstellung, wenn wir in einem der Büroräume dieser Welt, wo der eine oder die andere ihren Lohn erwirbt, plötzlich eine dieser geheimen oder aus Gewohnheit heraus unsichtbar gewordenen Türen öffneten, hinter denen wir nichts als Ablagen, Akten, Ordner oder eine Kammer mit Reinigungsgeräten fürs Subunternehmen Putzdienst vermuten, und darin spielte sich eine Szene ab, wie sie so ganz und gar ungeheuerlich ist, wie wir sie aus einschlägigen S/M-Studios kennen. In Leder und Lack und mit der Lust der Gerte, die die Haut streift, ritzt und schlägt. (Ich sehe immer noch, so wie jener Erzähler Marcel in Prousts letztem Teil seiner „Recherche“ den Baron de Charlus vor mir, wie er sich peitschen läßt. Was für eine Szene! Ins Verborgene zu blicken und einen Menschen dort zu erleben, der Dinge tut, die wir niemals von ihm ahnten. Auch das besitzt Reiz. Wie der Blick auf die intimsten Stellen einer Frau. Oder auf den Fetisch, der diese Stellen verhüllt. Feuchtigkeit und die Hitze der Haut sind wunderbare Elemente. Aber diese Sinnesbilder führen wohl ein wenig von Kafka und der Literatur fort, sofern wir sie nicht wieder in dieselbe zurückverwandeln.)

Könnten wir einen Anti-Kafka, einen Gegenprozeß schreiben? Wenn ein Schriftsteller kein Gegenkonzept zu den großen Romanen der Literatur entwürfe und dann verfaßte, so gäbe es keinen Anti-Meister, und es schriebe damit Novalis seinen „Heinrich von Ofterdingen“ nicht. Literatur kann in der Auseinandersetzung mit Vorbildern (im Sinne eines Anti- oder Gegenromans) wirkungsmächtig sein. [Wobei das nun wieder keinen Imperativ oder eine Regel(Poetik) abgeben soll, wie Literatur zu machen  sei.] Allerdings geht es in solchen Anti-Prozessen und Anti-Zauberbergen nicht darum, einen anderen Roman zu widerlegen. Denn gelungene Kunst läßt sich nicht widerlegen. Sondern den Gegenpol zu schaffen, eine Idee aufzugreifen, sie in ihr Gegenteil zu verkehren, sie zu verwandeln, den Metamorphose sich anheimzugeben oder um zu zeigen, daß ein bestimmtes Konzept von Literatur nicht mehr funktioniert. Wie es dann Novalis und F. Schlegel an Göthens Wilhelm Meister aufging. Erst hingerissen, später dann voller Skepsis und Zweifel. Unendliches Poetisieren. Nicht nur von Welt, sondern im Sinne der Autopoiesis auch innerhalb der Literatur. Freilich nicht als Selbstzweck, sondern aus der Notwendigkeit einer Sache heraus, wofür es das leicht überstrapazierte Wort der Selbstreferenzialität gibt. Ich schriebe den Anti-Moby-Dick. Aus den Innenräumen heraus. Als Haß aufs System und als Jagdszene der BRD. Wir kriegen sie alle! Eine Reise der Immanenz.

Es kommt aber am Ende des Denkprozesses nicht auf die These an, was geht und was nicht, sondern auf den Text, auf die Literatur, die geschrieben wird. Erlaubt ist, was funktioniert. Leider bin ich kein Schriftsteller, ich hätte jetzt meinen nächsten Roman. So aber wartet die Ewigkeit oder die Literaturtheorie oder die Philosophie auf mich.

Überhaupt überlebt zu haben. Ein Sarg als Rettungsboot. Rückblenden, Sankt-Elms-Feuer in den Masten. Licht und Blendung, Nachtblende, Gegenblende, die letzten Tage in der tosenden See, auf der großen, unendlichen Fahrt, die im Sinne der literarischen Romantik ebenso  Topos und Motiv abgibt.

„Wenn ich das Leben überdenke, das ich führte und noch führe – trostlose Einsamkeit – vermauertes, umwalltes Ausgeschlossensein des Kapitäns, zu dem kaum ein warmer Hauch von draußen aus der Welt lebendiger Herzen dringen darf – o Mühsal, Trübsal.“ (Herman Melville, Moby Dick) Das sind die Sätze Kapitän Ahabs kurz vor seiner letzten Jagd.

Eine ganz und gar andere Schiffsszene, die von einer völlig anderen Reise erzählte, schrieb Franz Kafka 1920 als Prosa-Miniatur auf:

„‚Bin ich nicht Steuermann?‘ rief ich. ‚Du?‘ fragte ein dunkler hoch gewachsener Mann und strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuche er einen Traum. Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf, und nun war dieser Mann gekommen und wollte mich beiseiteschieben. Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Stäben des Steuerrades hing und beim Niederfallen es ganz herumriss. Da aber fasste es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg. Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: ‚Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben!‘ Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. ‚Bin ich der Steuermann?‘ fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum und, als er befehlend sagte: ‚Stört mich nicht‘, sammelten sie sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab. Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?“

Kafkas untergründige Schreibströme. Der Gerichtshof zu Berlin – jener „andere Prozeß“

So nannte Elias Canetti sein Buch über den Briefwechsel zwischen Franz Kafka und Felice Bauer. War es eine vertane Zeit? Vermutlich. Für beide. Was Kafka an diese Frau und diese Frau an Kafka band, bleibt wohl für immer ein Rätsel – unterschiedlicher hätten Menschen kaum sein können. Felice Bauer: Lebenspraktisch, mitten in Beruf und Leben stehend, an Literatur und Kunst kaum interessiert. Kafka: ein Mensch, der in Zwänge gepfropft, nur für die Literatur lebte. Erst zehn Jahre später sollte er seinen einzigen und wunderbaren Lebensmenschen finden, nämlich Dora Diamant. Lange sollte das Glück freilich nicht währen, weil Kafka 1924 in der Nähe von Wien, in Klosterneuburg unter Qualen und sprachlos verstarb.

Vor 100 Jahren fand am 12. Juli im Hotel „Askanischer Hof“ nahe dem Anhalter Bahnhof in Berlin jenes für Kafka hochnotpeinliche Ereignis statt, das er als einen Gerichtshof über ihn bezeichnetet: die immer wieder von Kafka unter mehr oder weniger fadenscheinigen Gründen aufgeschobene Verlobung zwischen ihm und Bauer erfolgte am 1 Juni 1914. Nun wurde sie als Gerichtstag, der unvermittelt über Kafka hereinbrach, wieder aufgelöst. „Askanischer Hof“, 12. Juli, 11 Uhr vormittags. Kafka betritt einen Raum, in dem bereits drei Frauen sitzen: Felice Bauer, ihre Schwester Erna, sowie Bauers Freundin Grete Bloch, die in dieser Angelegenheit ein zwiespältige Rolle spielte. Aber auch die von Kafka dürfte nicht sonders rühmlich sein. Felice Bauer meldete Ansprüche an, die Kafka wohl niemals – zumindest nicht mit F.B. – würde erfüllen können und wollen. Es geht nicht gut aus. Felice Bauer läßt alle Zurückhaltung fallen und nennt vor den beiden Zeuginnen intimste Details aus ihrem Leben, liest Briefe vor. Am Ende dieses Prozesses stand die Auflösung der Verlobung. Kafka reiste, seltsam unbeteiligt, von Berlin weiter an die Ostsee.

„23. Juli. Der Gerichtshof im Hotel. Die Fahrt in der Droschke. Das Gesicht F.ʼs. Sie fährt mit den Händen in die Haare, wischt die Nase mit der Hand, gähnt. Rafft sich plötzlich auf und sagt gut Durchdachtes, lange Bewahrtes, Feindseliges. Der Rückweg mit Frl. Bl. Das Zimmer im Hotel, die von der gegenüberliegenden Mauer reflektierte Hitze. Auch von den sich wölbenden Seitenmauern, die das tiefliegende Zimmerfenster einschließen, kommt Hitze. Überdies Nachmittagssonne. Der bewegliche Diener, fast ostjüdisch. Lärm im Hof, wie in einer Maschinenfabrik. Schlechte Gerüche. Die Wanze. Schwerer Entschluß sie zu zerdrücken. Stubenmädchen staunt: es sind nirgends Wanzen, nur einmal hat ein Gast auf dem Korridor eine gefunden.

Bei den Eltern. Vereinzelte Tränen der Mutter. Ich sage die Lektion auf. Der Vater erfaßt es richtig von allen Seiten. Kam eigens meinetwegen von Malmö, Nachtreise, sitzt in Hemdärmeln. Sie geben mir recht, es läßt sich nichts oder nicht viel gegen mich sagen. Teuflisch in aller Unschuld. Scheinbare Schuld des Frl. Bloch.

Abend allein auf einem Sessel unter den Linden. Leibschmerzen. Trauriger Kontrolleur. Stellt sich vor die Leute, dreht die Zettel in der Hand und läßt sich nur durch Bezahlung fortschaffen. Verwaltet sein Amt trotz aller scheinbaren Schwerfälligkeit sehr richtig, man kann bei solcher Dauerarbeit nicht hin- und herfliegen, auch muß er sich die Leute zu merken versuchen. Beim Anblick solcher Leute immer diese Überlegungen: Wie kam er zu dem Amt, wie wird er gezahlt, wo wird er morgen sein, was erwartet ihn im Alter, wo wohnt er, in welchem Winkel streckt er vor dem Schlaf die Arme, könnte ich es auch leisten, wie wäre mir zumute. Alles unter Leibschmerzen. Schreckliche, schwer durchlittene Nacht. Und doch fast keine Erinnerung an sie.

Im Restaurant Belvedere, an der Stralauer Brücke mit Erna. Sie hofft noch auf einen guten Ausgang oder tut so. Wein getrunken. Tränen in ihren Augen. Schiffe gehn nach Grünau, nach Schwertau ab. Viele Menschen. Musik. Erna tröstet mich, ohne dass ich traurig bin, d. h. ich bin bloß über mich traurig und darin trostlos. Schenkt mir ‚Gotische Zimmer‘. Erzählt viel (ich weiß nichts). Besonders wie sie sich im Geschäft durchsetzt gegenüber einer alten giftigen weißhaarigen Kollegin. Sie wollte am liebsten von Berlin weg, selbst ein Unternehmen haben. Sie liebt die Ruhe. Als sie in Sebnitz war, hat sie öfters den Sonntag durchgeschlafen. Kann auch lustig sein. – Auf dem andern Ufer Marinehaus. Dort hatte schon der Bruder eine Wohnung gemietet.

Warum haben mir die Eltern und die Tante so nachgewinkt? Warum saß F. im Hotel und rührte sich nicht, trotzdem alles schon klar war? Warum telegraphierte sie mir: ‚Erwarte Dich, muß aber Dienstag geschäftlich verreisen.‘ Wurden von mir Leistungen erwartet? Nichts wäre natürlicher gewesen. Von nichts (unterbrochen von Dr. Weiß, der ans Fenster tritt) [bricht ab]“

Was für ein Strom an Beobachtungen von nebenbei, der sich um das eigentliche rankt bzw. es fast verdeckt. Leben, das im nachhinein (nicht im Akt des Vollzuges: das ist nicht zu verwechseln!) zu einem Stück Literatur gerinnt. So wie überhaupt die Briefe und das Tagebuch Kafkas immer wieder diese eigentümliche Ambivalenz aufweisen. Der Eintrag schließt mit Frageszenen, wie sie dann auch am Schluß seines Romans „Der Proceß“ vorkommen. Verhängnisvolles Final. Zwei Wochen nach diesem Verhängnis von Berlin machte Kafka sich an die Niederschrift dieses Romans. Erste Notizen dazu finden sich schon in seinem Tagebucheintrag vom 29. Juli: „Josef K., der Sohn eines reichen Kaufmanns, ging eines Abends nach einem großen Streit, den er mit seinem Vater gehabt hatte – …“ Auch tritt in dieser Skizze ein Türhüter auf: Schuld- und Strafphantasien knüpfen sich in diesen Schreibübungen lose zu einem Assoziationsteppich: Ein Angestellter, der von seinem Chef des Diebstahls in der Ladenkasse überführt wird. Schuld und Sühne, Urteil und Strafe nehmen als Motive Raum ein. Am Ende dieses Schreib-Prozesses wird einer der bemerkenswertesten Text Gestalt annehmen und doch Fragment bleiben: eine rätselhafte, zu einer Vielzahl an Deutungen animierende Prosa um eine Strafe ohne Verbrechen.

Wie im Falle des Gerichts am „Askanischen Hof“ Biographie und Literatur eins zu eins zusammenzuschließen, bleibt in der Regel banal. Allenfalls geben Ereignisse des Lebens den Anlaß für einen Text, können Anstoß sein. Goethes „Marienbader Elegien“ sind ein solcher Text: die Liebe eines Greises zu einer 19 Jährigen Frau. Banal und traurig, dennoch entstand ein Text von ungeheurer Art. Und nur von solchen Texten handelt Literatur samt der ästheischen Kritik. Insofern geht Canettis Text dann auch an zentralen Aspekten der Prosa Kafkas vorbei, unterläuft sie und verfehlt damit den Roman im ganzen. Wieweit Biographisches einen Text am Ende tatsächlich strukturiert, liegt meist im dunkeln, wenngleich sich im Sinne positivistischer Literarturtheorie in Kafkas „Proceß“ sicherlich Stellen finden lassen, die mit Realem korrespondieren oder doch zumindest als Erlebniswelt Kafkas durchsichtig sind. Hartmut Binder unternahm immer wieder diese Versuche. Doch für die Struktur eines Textes sind solche Details am Ende des Lektüreprozesses marginal, denn sie liefern keinerlei Grund für die literarische Form und weshalb ein Text, so und nicht anders konstruiert wurde. Bekanntlich ist nach Abschluß der Produktion jeder Text mehr als sein Schöpfer, wächst über ihn hinaus, gelangt zu einem Sein ganz eigener Art.

Mit dem „Proceß“ ist Kafka wohl eines der bedeutendsten Bücher des 20. Jahrhunderts gelungen: in der Sprache selber nicht mehr expressionistisch übersteigert und im Ton des „Oh Mensch …“ gehalten, sondern vielmehr kühl, spannt das Buch Fragmente an Szenen aus, mit einem Bild Kleists gesprochen, könnte man an jenen freistehenden Torbogen denken, in dem die einzelnen Teile einander tragen: Von den Advokaten- und Gerichtsszenen, der Angestelltenexistenz, dem Prügler, der in einer Hinterkammer der Büros – wie in einer wilden Traumsequenz der BDSM-Szene – seine Tätigkeit ausübt, über jene Leni mit den Schwimmhäuten zwischen den Fingern, Gerichte, die auf Dachböden tagen und spielende Kinder: das Domkapitel dann mit jenem Pfaffen auf der Kanzel sowie dem Gespräch über die Dimensionen der Wahrheit bildet einen weitern der Höhepunkte dieses Romans.  „Warum,“ so schreibt Kleist 1800 an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge, „dachte ich, stürzt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen.“ Dieses Bild mag auch für Kafkas „Proceß“ taugen. Wie wir wissen, lieferte Kafka die Prosa Kleists einige Anregungen und gab ihm zu denken. Aber diese Teile und Szenen des Buches entstanden bei Kafka in loser Folge – lediglich der Anfang also die Verhaftungsszene morgens im Bett – und das Ende – jene Hinrichtung durch Männer, die wie Tenöre aussahen – standen von Anbeginn an fest.

Insbesondere gilt es, in Kafkas Prosa den Blick auf das Gestische zu lenken. Die Handbewegungen der Menschen, wie sie ihre Gliedmaßen strecken, wie sie sich bewegen oder wie sich ihre Körper im Raum anordnen und auf welche Weise Kafka Szenen zu beschreiben vermag: So die vor dem Gericht oder wenn K. mit seinem Onkel und dem Advokaten Huld spricht, der ihm helfen soll, den Prozeß zu „gewinnen“, das Urteil abzuwenden. Eine Filmszene, vom Spiel des Lichts getragen, das den Spannungsbogen aufbaut (zum Filmischen bei Kafka, lese man Peter-André Alt, Kafka und der Film. Über kinemathographisches Erzählen):

„Im Licht der Kerze, die der Onkel jetzt hochhielt, sah man dort, bei einem kleinen Tischchen, einen älteren Herrn sitzen. Er hatte wohl gar nicht geatmet, daß er so lange unbemerkt geblieben war. Jetzt stand er umständlich auf, offenbar unzufrieden damit, daß man auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Es war, als wolle er mit den Händen, die er wie kurze Flügel bewegte, alle Vorstellungen und Begrüßungen abwehren, als wolle er auf keinen Fall die anderen durch seine Anwesenheit stören und als bitte er dringend wieder um die Versetzung ins Dunkel und um das Vergessen seiner Anwesenheit. Das konnte man ihm nun aber nicht mehr zugestehen.“

 Mehr zum „Proceß“ folgt. Im Laufe dieses Jahres. Verstreut, eingeschoben, assoziativ. In loser Folge. Selten nur ist es Menschen vergönnt, solche Texte  zu schreiben, wie Kafka es tat. Viel an Literatur gibt es, doch wenig nur, was auf diese Weise einschlägt und bis ins Detail hinein gelungen ist.

Der Begriff des Begriffs: Es werde Licht: Kafka-Schriften

Nein, keine dialektische Dialyse, keine Aufhebungstiraden, keine Angst, werte Leserin, geschätzter Leser: Hypocrite lecteur, – mon semblable, – mon frère. Ich finde es langweilig, die eigenen Suchbegriffe im Blog wiederzugeben, das macht man meist, wenn nichts mehr zu schreiben ist, aber „Titten Selfie“ gestern fand ich ganz gut. (Erinnert mich an Dresden und Anne Helm, die dort im warmen Monat Februar werbemäßig für Winterkopfbekleidung posierte.) Leider habe ich in meiner bisherigen Blogzeit noch keines erhalten. Wer mir von meinen Kommentatorinnen oder mitlesenden Bloggerinnen eines schicken möchte: bitte, gerne: ich würde ja zur Freude meines Lebens mal einen Girls-Wet-Shirt-Bloggerinnen-Contest machen und hernach einen dick-contest der männlichen Blogger für die Frauen. Egal. Ein andermal. Darum geht es nicht. [Das waren natürlich ironische Passagen, natürlich meine ich es nicht so. In der heutigen Gleichförmigkeitserziehug des Politischen und im Neuen Linken Puritanismus (NLP) muß man das dazuschreiben.]
 
14_04_23_01

Das schönste Suchwort gestern war: „Ersatzlampe für den Parlograph“. Als Kafka-Leser freut mich diese Nennung. Wäre zwischen Felice Bauer und dem abweisenden Frank Kafka, der lieber schrieb als liebte, alles anders verlaufen, gäbe es für den Parlographen eine Ersatzlampe? Wären Felice Bauer und Franz Kafka sich näher gekommen und berührten ihre Hände sich zärtlich unter der Ersatzlampe des Parlographen? Vielleicht.

Für die Prosa Kafkas wäre diese mögliche Berührung freilich ein Verlust gewesen. Was ergab sich bei dieser ersten Begegnung 1912 in Prag im Hause der Brods? Das leere knochige Gesicht, das seine Leere offen trug, freier Hals, überworfene Bluse, wie Kafka in sein Tagebuch notierte. Die erste Begegnung zwischen Kafka und Bauer mußte ein Debakel und die Nichtigkeit par excellence gewesen sein, wenn einer in dieser Weise am geheimen Ort sich Rechenschaft ablegt, und dennoch gab es da etwas, das Kafka an Felice Bauer fasziniert haben mußte: dieser unerklärliche eigentümliche Abbruch im Tagebuch: „Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon einen unerschütterliches Urteil. Wie sich … [bricht ab]“

Der Bruchteil einer Sekunde, als Satz geformt im Tagebuch, zwischen dem Setzen und dem Sitzen. Diese Passage bereits ist Literatur. Nach der Prosa Kafkas kann man sich das Schreiben im Grunde sparen, das meiste, was danach kam, waren Fingerübungen. Na gut, es gibt Proust und Beckett und Joyce und Cortázar und Don DeLilo und David Foster Wallace, mit dem Lovley Linda mich immerhin verglich (aber vielleicht bloß wegen seines Zustandes und nicht wegen seines Schreibens) und und und. Die Ersatzlampe für den Parlographen aber wird heute eine Energiesparlampe sein. Unter dem Licht der Energiesparlampe bleibt jede Sucht nach dem Andersmensch oder in die Vulgärphrase des trockenen Befindlichkeitstons gebracht: die zwischenmenschliche Begegnung in der Gelassenheit des So-seins im Zen-Zauber von Zenotaph und Zentrifuge eher die Farce. Und Schreiben bleibt Schriftübung. Der Parlograph als Diktiergerät bringt die Stimme in einer Gravur auf eine Platte, was an den Apparat in der „Strafkolonie“ erinnert. Im Kafka-Anfänger-Seminar waren jene Kommilitonin, mit der ich Hegel las, und ich, die einzigen, denen dieser Szene so etwas wie ein Lächeln hervorlockte. Wir haben uns beim Lesen angeblickt, ein kaltes Augenpaar ins andere. Hinter den Schleiern der Unwissenheit gab es uns beide, die die Hautspurung verstanden und die im Grausamen die Lust entdeckten. Entgegen dem ewigen Seier- und Eia-Popeia-Sound, dem Klang der Harmonie.

Jede Stimme und jedes Bild müßte in einer Art Hautätzung eingeschrieben werden. So wie Kafka es in die Literatur brachte. Als gestisches Moment, jeder Mensch als bloße Schrift und Text. Das leere knochige Gesicht, das seine Leere offen trug. Kafka machte daraus die Literatur. [Nebenbei geschrieben: Felice Bauer war eine für ihre Zeit ausgesprochen emanzipierte Frau, die zudem in der Parlographenfirma, in der sie in Berlin arbeitete, eine leitende Stellung einnahm. Wer mehr zu der Begegnung von Kafka und Bauer lesen möchte: ich schrieb dazu seinerzeit hier und ebenfalls an dieser Stelle.]

Eine Frau als feinstofflicher Ersatzstoff – 100 Jahre Franz Kafka. Oder auch: Teil 3 der Formen des gelingenden Scheiterns

Ein Katalysator bedeutet in der Chemie ein Stoff, der eine Reaktion antreibt bzw. die Geschwindigkeit der Reaktion merklich erhöht, aber im Reaktionsprodukt dann nicht weiter auftaucht und als Stoff nicht weiter verbraucht wird. In der Welt der Literatur bzw. im Zusammenspiel von Leben und Literatur sowie empirischer und ästhetischer Subjektivität verhält es sich diesbezüglich komplexer. Es gibt Wahlverwandtschaften und es gibt Katalysatoren, die einen Text antreiben und darin zuweilen als Stoff, Motiv oder Gestalt durchaus wieder auftauchen können. Manche Leserinnen und mancher Leser vom „Zauberberg“ und den „Buddenbrooks“ wußte davon ein Lied zu singen. Und auch das Fräulein Bürstner (F.B.) in „Der Prozess“ (Bürstner – welch schöne Namenswahl mit leicht anzüglichem Subtext) oder Frieda Brandenfeld im „Urteil“, geschrieben in jener legendären Nacht, knapp einen Monat nachdem er Felice Bauer kennenlernte und drei Tage, bevor Kafka den ersten von rund 700 Briefen an Felice Bauer schrieb. Die Sucht nach Surrogaten.

Die unzähligen Briefe zwischen Prag und Berlin, die Felice Bauer und Franz Kafka einander schrieben – diese „Gespensterposten“ –, sind eine Form von Telekommunikation, die genauso ihr Ziel verfehlen kann. Geisterkommunikation. „Und nichts ist trauriger, als einen Brief an eine unsichere Adresse zu schicken, das ist dann ja kein Brief, das ist ein Seufzer.“ (F. Kafka) Niemand gibt die Garantie, daß eine Sendung ihren Empfänger erreichen muß. In vielfacher Hinsicht. Es sind die Gespenster, vor denen sich Kafka zeitlebens fürchtete, und es saugen diese Gespenster den Briefen ihre Kraft aus – die Kraft des Realen. Es entleert sich das reale Gegenüber in den Text, wird konturlos. Wiedergängertum. Aber es konstituieren diese (Leben) raubenden Gespenster etwas anderes: einen Text.

Der Maulwurfstunnel, der von Prag nach Berlin gegraben und der über das Medium des Briefes in Gang gesetzt werden sollte – im September 1912 nahm er seinen Anfang – bedeutete eine Form von bürgerlicher Normalität mit der Aussicht auf Ehe und gemeinsames Leben. So zumindest ließe sich zunächst und auf den ersten Blick eine solche umfassende Korrespondenz lesen und deuten. Denn wozu sonst nehmen zwei Menschen im Jahre 1912 die Mühen der Ferne und des Ausharrens in Kauf? Sicherlich nicht nur, um sich freundliche, anregende, aufregende Briefe zu schreiben, und zumal es sich bei Felice Bauer nicht um eine Frau handelte, die irgendwie im Umkreis der Berliner Literatenbohème wirkte oder gar selber schrieb, so daß sie für Kafka als literarische Gesprächspartnerin von Interesse hätte sein können. Im Gegenteil: Felice Bauer schrieb nicht und sie interessierte sich auch nicht sonderlich für die Prosa Kafkas, besaß keinerlei Gespür für die Kraft dieser Texte. Anders als später Milena Jesenská, die, was das Literarische betraf, ein vollkommen anderes Kaliber als Felice Bauer abgab. (Am 10. August 1896 in Prag geboren, am 17. Mai 1944 von den Deutschen im KZ Ravenbrück ermordet. So nebenbei in den Text-Raum geworfen.) Andererseits sollte man Felice Bauer nicht unterschätzen. Sie war eine emanzipierte und unabhängige Frau, in leitender Stellung tätig. Was mochte sie, neben der gemeinsamen Vorliebe für Palästina, an diesem Mann gereizt haben?

Sich kennenlernen – einander kennenlernen: In der Korrespondenz und im Austausch von Briefen, um immer neue Vorhänge aufzuziehen, hinter denen ein (zuvor unsichtbares) Wesen liegt, das nun in den Blick gerückt wird, um auf diese Weise hinter die Schleier zu blicken. Briefe zu schreiben, fungiert als ein Motor, der das Spiel von Nähe und Distanz als erotische Verlockung und als Attraktion hochtourig aufstachelt. Je länger ich mich in diese Korrespondenz hineindenke, desto mehr Rätsel geben die Briefe auf. Es ist bedauerlich, daß keiner der Briefe von Felice Bauer erhalten blieb bzw. zur Veröffentlichung freigegeben wurde.

Eine der eigenwilligsten Brautwerbungen verfaßte Kafka Ende August 1913 an den Vater von Felice Bauer, die er in seinem Tagebuch entwirft. Jedoch wurde dieser geplante Brief – wie auch der an Kafkas eigenen Vater – nie abgeschickt, und er stieße kaum auf die Zustimmung von Felices Vater, hätte dieser Brief ihn denn erreicht. Die – vermutlich gewünschte – Reaktion wäre die, daß der Vater sein Placet nicht gäbe. Wir können vermuten, daß es sich hierbei eher um einen Anti-Brief handelte, dessen eigentliches Ziel es war, den Empfänger gar nicht erst zu erreichen. Ein Brief als Selbstbefragung, um sich der eigenen Existenz im Schreiben zu vergewissern, eine Distanz zu erzeugen und von dieser Distanz im Schreiben Rechenschaft abzulegen. Ästhetische Subjektivität und Subjektentgrenzung des werdenden Schriftstellers entstehen im Akt des Briefeschreibens. [Zur ästhetischen Subjektivität im Zusammenhang mit der deutschen Romantik interessant ist Karl Heinz Bohrers Buch Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität.] Das ästhetische Ich löst sich von dem empirischen Ich ab:

„Sie zögern mit der Beantwortung meiner Bitte, das ist ganz verständlich, jeder Vater würde es jedem Bewerber gegenüber tun, das veranlaßt diesen Brief also ganz und gar nicht, äußersten Falls vergrößert es meine Hoffnung auf ruhige Würdigung dieses Briefes. Diesen Brief aber schreibe ich aus Furcht, daß Ihr Zögern oder Ihre Überlegung mehr allgemeine Gründe hat, als daß es, wie es allein notwendig wäre, von jener einzigen Stelle meines ersten Briefes ausgeht, die mich verraten konnte. Es ist dies die Stelle, die von der Unerträglichkeit meines Postens handelt.

Sie werden vielleicht über dieses Wort hinweggehn, aber das sollen Sie nicht, Sie sollen vielmehr ganz genau danach fragen, dann müßte ich Ihnen genau und kurz folgendes antworten. Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf, das ist der Literatur, widerspricht. Da ich nichts anderes bin als Literatur und nichts anderes sein kann und will, so kann mich mein Posten niemals zu sich reißen, wohl aber kann er mich gänzlich zerrütten. Davon bin ich nicht weit entfernt. Nervöse Zustände schlimmster Art beherrschen mich ohne auszusetzen und dieses Jahr der Sorgen und Quälereien um meine und Ihrer Tochter Zukunft hat meine Widerstandslosigkeit vollständig erwiesen. Sie könnten fragen, warum ich diesen Posten nicht aufgebe und mich – Vermögen besitze ich nicht – nicht von literarischen Arbeiten zu erhalten suche. Darauf kann ich nur die erbärmliche Antwort geben, daß ich nicht die Kraft dazu habe und, soweit ich meine Lage überblicke, eher in diesem Posten zugrunde gehen, aber allerdings rasch zugrunde gehen werde.

Und nun stellen Sie mich Ihrer Tochter gegenüber, diesem gesunden, lustigen, natürlichen, kräftigen Mädchen. Sooft ich es ihr auch in etwa fünfhundert Briefen wiederholte und sooft sie mich mit einem allerdings nicht überzeugend begründeten ‚Nein‘ beruhigte – es bleibt doch wahr, sie muß mit mir unglücklich werden, soweit ich es absehen kann. Ich bin nicht nur durch meine äußerlichen Verhältnisse, sondern noch viel mehr durch mein eigentliches Wesen ein verschlossener, schweigsamer, ungeselliger, unzufriedener Mensch, ohne dies aber für mich als ein Unglück bezeichnen zu können, denn es ist nur der Widerschein meines Zieles.  Aus meiner Lebensweise, die ich zu Hause führe, lassen sich doch wenigstens Schlüsse ziehn. Nun, ich lebe in meiner Familie, unter den besten und liebevollsten Menschen, fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt. Mit meinen verheirateten Schwestern und den Schwägern spreche ich gar nicht, ohne etwa mit ihnen böse zu sein. Der Grund dessen ist einfach der, daß ich mit ihnen nicht das Allergeringste zu sprechen habe. Alles, was nicht Literatur ist, langweilt mich und ich hasse es, denn es stört mich oder hält mich auf, wenn auch nur vermeintlich. Für Familienleben fehlt mir dabei jeder Sinn, außer der des Beobachters im besten Fall. Verwandtengefühl habe ich keines, in Besuchen sehe ich förmlich gegen mich gerichtete Bosheit.

Eine Ehe könnte mich nicht verändern, ebenso wie mich mein Posten nicht verändern kann.“

Eine ungeheuerliche Selbstanklage und Abweisung, Kafka konstruiert Verwerfung auf Verwerfung, Aporie auf Aporie und allesamt sind sie am Ende (auch objektiv) wahr. „… in Besuchen sehe ich förmlich gegen mich gerichtete Bosheit“ ist allerdings eine der schönsten Sentenzen mit fast Berhardschem Format. Und es verhält sich ja auch in genau dieser Weise: Wozu Besuche, wenn man auch alleine schreiben kann? Wie schon in jenem Brief an Felice, wo sich Kafka als jener schreibende Kellerbewohner in die Schrift-Szene setzt, graviert sich hier eine Existenz als Literatur ins Tagebuch. Nein, nicht dort hinein im Grunde, sondern in eine Schrift, einen universalen, literarischen Text, der „Franz Kafka“ heißt. Empirisches und ästhetisches Ich klaffen auseinander, teilen sich. Es geht um die Veränderung der Existenzweise: die Lebensexistenz im bürgerlichen Habitus, zwischen Ehe und Arbeit, kann nicht zur Literatur führen. Hier, in dieser von Kafka angekündigten Existenzweise der Schreibzustände – unter anderem auch der des Kellerbewohners – gelingt es, daß Literatur und Leben eine wundervolle Melange bilden, daß ein Mensch in den Text tritt, für den Text entflammt, in den Text eintritt, wie der Mann vorm Gesetz es nicht wagte, als ihm die Möglichkeit offenstand, durch diese eine Tür, die nur für jenen einen Mann bestimmt war, hindurchzugehen. In die Schrift, ins Gesetz einzutreten.

Es gibt eine Erzählung bzw. ein Märchen aus China von einem Maler, der jahrelang an jenem einen Bild, jenem absoluten Werk malte und feilte und der über dieser Arbeit alt wird. Als er glaubte, daß dieses Gemälde nun vollendet sei, lud er sich seine sämtlichen, ihm noch verbliebenen Freunde ein. Die Freunde gruppierten sich in der Nähe des letzten Bildes, das dieser Maler in jahrzehntelanger Arbeit schuf, sie plauderten und tranken, standen um das Gemälde herum und betrachteten es. Darauf war ein lieblicher Park zu sehen, darin ein schmaler Weg entlangführe, um den herum Wiesen wuchsen. Der Weg führte eine geschwungene Anhöhe sanft hinauf und dort oben, am Ende des Weges stand ein Haus. Als die Freunde sich wieder dem Maler zuwandten, war der Mann nicht mehr da. Und wie die Freunde wieder ins Bild sahen, ging darin der Maler den Weg entlang, die Anhöhe hinauf, hin zu jenem Haus. Er öffnet die Tür, dreht sich noch einmal langsam um, lächelt, winkt ein letztes Mal in seinem Leben den Menschen zu, die ihn liebten, verschwindet in dem Haus und schloß die gemalte Tür hinter sich.

Dieses Changieren zwischen Nähe und Ferne, dem Wunsch nach leiblicher Nähe und nach der äußersten Distanz im Schreiben bestimmte das Denken und Handeln Kafkas im Umgang mit Felice Bauer bis zum Bruch ihrer Beziehung im Jahre 1917.

Klaus Theweleit schreibt in „Orpheus und Eurydike“: „Mit Unrecht haben die Herausgeber der ‚Briefe‘ Erich Heller und Jürgen Born, diese als Kafkas ‚Minnelieder‘ bezeichnet: die Briefe an Felice Bauer sind eins der aufschlußreichsten Bücher, die Schriftsteller über das Schreiben hinterlassen haben (nicht über die ‚Liebe‘). (…) War je ein einziger Brief davon wirklich an Felice Bauer adressiert?“ Letzteres wird sicherlich der Fall gewesen sein, denn niemand schreibt ins Leere für einen Menschen, für den man nicht entflammt oder den man nicht in irgend einer Weise reizvoll, bezaubernd oder interessant findet. Dennoch gingen diese Briefe auf ihre Weise ins Leere, konstituieren einen Schreibprozeß und verweisen auf eine Form von ästhetischer Subjektivität, die Kafka im Zuge seines Schreibens immer weiter entfaltete, bis hin zur Vollendung.

Motivationen und Motive für das Schreiben von Briefen an einen Menschen lassen sich schwierig ergründen. Erst recht nicht ex post facto. Die Leere des Gesichts der F.B., von dem Kafka schriebt, bleibt eines jener Rätselbilder. Ob Kafka „eine Frau als Anschreib-Pol“ (Theweleit) benutzte, ist Spekulation, mag allenfalls Theweleits teils sehr bemüht und konstruiert wirkende, wenngleich nicht unoriginellen Thesen tragen. Interessant scheinen sie mir lediglich in dem Punkt, wo es nicht mehr um das in Biographie verortete Wesen Frank Kafka, sondern einzig um den Text „Franz Kafka“ geht. Inwiefern sich ein Leben in der reinen literarischen Form durchstreicht und sich zur ästhetischen Subjektivität transformiert.

100 Jahre Franz Kafka: Leben als Literatur. Formen des gelingenden Scheiterns (2)

Es ließe sich – als Reminiszenz an diesen Autor der Moderne – jeden Tag ein Text über Kafka schreiben: Ein Auszug aus seinem Tagebuch, aus einem seiner drei Romane oder aus einer der vielen Erzählungen und Prosa-Miniaturen könnte kommentiert werden. 100 Jahre Franz Kafka eben. Die Serie endete am 3. Juni 1924. Allein – dies ist aus Zeitgründen kaum möglich, und es näherte der Betreiber dieses Blogs sich womöglich einer solchen Existenz derart an, daß beide Lebensweisen zu einer Deckung kämen und sich ineinander verschöben: Die Kunst Franz Kafka zu werden. Und es wäre Prag plötzlich Berlin. (Wobei Kafka schließlich einige Jahre in Berlin zubrachte. Da hatte Prag, das Mütterchen mit den Klauen, ihn bereits losgelassen oder aber er entkam ihrem harten Griff durch Entschlossenheit.) Ovidsche Metamorphosen in die letzte aller Welten – transponiert in die Postmoderne. Wie ein Autor zu einem anderen wurde. Das Schreiben des Franz Kafka: ein Exzeß in Konstruktion, „kinematographisches Erzählen“ (Peter-André Alt), Prosa als unüberbrückbare Schock-Distanz bei gleichzeitigem Schock der Nähe, eine Prosa exponierter Bilder und Gesten mit zahlreichen „wolkigen Stellen“.

Aber es existiert neben dieser einschneidenden, sich in Körper und Kopf einschreibenden Prosa noch ein anderer Text – nämlich Kafkas zahlreiche Briefkorrespondenzen. Die „Briefe an Felice“ zum Beispiel befinden sich im Jahre 1913 auf ihrem Höhepunkt, ausufernd, zahlreich, teilweise mehrmals täglich zwischen Berlin und Prag hin und her gehend, und es gibt in diesem Jahr Besuche Kafkas in Berlin. Es sind Offenbarungen in Literatur: eine Lebens-Existenz als Text. Als Geständnis an eine Frau geschrieben, und eine wohl sehr eigentümliche Weise, jemandem seine Liebe zu erklären. So schreibt Kafka in der Nacht vom 14. auf den 15. Januar 1913 – so wie er häufig des Nachts seine Prosa, seine Briefe in die Welt brachte:

„Oft dachte ich schon daran, daß es die beste Lebensweise für mich wäre, mit Schreibzeug und einer Lampe im innersten Raum eines ausgedehnten, abgesperrten Kellers zu sein. Das Essen brächte man mir, stellte es immer weit von meinem Raum entfernt hinter der äußersten Tür des Kellers nieder. Der Weg um das Essen, im Schlafrock, durch alle Kellergewölbe hindurch wäre mein einziger Spaziergang. Dann kehrte ich zu meinem Tisch zurück, würde langsam und mit Bedacht essen und wieder gleich zu schreiben anfangen. Was ich dann schreiben würde! Aus welchen Tiefen ich es hervorreißen würde! Ohne Anstrengung! Denn äußerste Koncentration kennt keine Anstrengung. Nur, daß ich es vielleicht nicht lange treiben würde und beim ersten, vielleicht selbst in solchem Zustand nicht mehr zu vermeidendem Mißlingen in einen großartigen Wahnsinn ausbrechen müßte. Was meinst Du, Liebste? Halte Dich vor dem Kellerbewohner nicht zurück.“

Es ist eine Welt der Konstruktionen, eine vielschichtige Distanzierungsmaschine, ein Liebeswerben, das zugleich Nähe und Ferne in einem einzigen Zug benötigt. Eine großartige Textpassage, bildgewaltig, wortgewaltig und überwältigend, nahm als Sendung ihren Weg nach Berlin. Es sind diese Briefe, als Texte gelesen, ein Stück Weltliteratur. „Der Bau“, „Vor dem Gesetz“ und andere Erzählungen und Proastexte verdichten sich in dieser Briefpassage an Felice Bauer , oder zumindest kündigen sich jene Motive in diesen Briefen, die ein Skizzenbuch sind, bereits an. Allerdings, und das dürfte die Vertreter jener These erstaunen, die – an Theweleits Kafka-Deutung andockend – die Frau, also Felice Bauer, als eine Art von Schreib-Katalysator sehen, der jedoch am Ende unsichtbar blieb und durchgestrichen wurde: Es entstanden im Jahre 1913 keine Prosatexte Kafkas, es bleib, was das Schreiben von Prosa betraf, für Kafka ein seltsam unproduktives Jahr. Dennoch entwickelte er sich in dieser Zeit zu jenem Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, dessen Prosa die Weltliteratur verändern sollte. Ob gerade wegen oder trotz jener Frau mit diesem leeren Gesicht, ist vermutlich schwierig zu entscheiden: „Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug.“ So Kafka in seinem Tagebuch am 16. August 1912, geschrieben drei Tage, nachdem Kafka bei einer Gesellschaft im Hause der Brods Felice Bauer traf.

Faszinierende Sätze, die das ganze Paradox dieses Verhältnisses bereits vorwegnehmen: „Überworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war. (Ich entfremdete mich ihr ein wenig dadurch, daß ich ihr so nahe an den Leib gehe. …)“ Was für ein Satz! Entfremdung entsteht durch die Nähe des Leibes. Die Verhältnisse, die Prosa der Moderne. Die Distanz erzeugt sich erst durch die viel zu große Nähe. Denn es gibt keine Nähe. Zumindest nicht für manche. Und weiter heißt es: „Allerdings in was für einem Zustand bin ich jetzt, allem Guten in der Gesamtheit entfremdet, und glaube es überdies noch nicht.“

Kafka beschreibt in dieser Passage seines Tagebuches eine Frau, mit der er über fünf Jahre korrespondieren wird und der er mehrere Verlobungsanträge macht, auf eine ungeheure Weise, als ob da vor ihm ein Objekt liege, das es – wie ein Insektenforscher das Insekt – zu betrachten gilt. Vivisektion, wie sie bereits der Meister des modernen Romans, Gustave Flaubert, betrieb. Es schneidet das Seziermesser in die Haut, gleitet ins Gesicht, als Text und macht eine hochgradig emanzipierte und selbständige Frau sichtbar, die ansonsten der Welt verborgen geblieben wäre: „Fast zerbrochene Nase, blondes, etwas steifes, reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil. Wie sich … [bricht ab]“

Eine einzige Sekunde, die eine Person wie ein Röntgenstrahl durchdringt. (Oder aber vollkommen an ihr vorbeigeht und sie nicht einmal im Kern streift und berührt.) Ein Blick und es steht das Urteil im Bruch einer Sekunde bereits fest. (Und der Bruch manifestiert sich noch im Akt des Schreibens selbst, denn der Tagebucheintrag bricht ganz einfach ab, bleibt Fragment. Ein eigenwilliger Umstand. Es bleibt die Leere und die Leerstelle, auch in der Sprache selbst, als ob die Sprache hier aussetzen müßte, weil sie keine Weg mehr findet.) Ein Urteil: Unerschütterlich und mit Gewißheit gefällt, während sich Franz Kafka am Tisch auf dem Stuhl niederläßt, und es schrieb sich in dieser kurzen Sequenz, in diesem Übergang zwischen dem Herantreten an den Tisch, des Gewahrwerdens jener Frau mit diesem so durch und durch normalen Gesicht, dem Platznehmen, während die Hand den Stuhl um einige Zentimeter vom Tisch fortschob, um Raum zu schaffen, und der Körper des jungen Mannes sich auf den Stuhl niedersenkte und dem daran anschließenden Sitzen die Sicht auf jene Felice Bauer ins Denken ein.

Was mag in diesem Moment, an diesem Abend des 13. August 1912 in Prag im Hause der Brods geschehen sein und was wirkte da in jenem Augenblick? Wie strukturieren sich Empfindungen und was strukturiert und transformiert sie, hin zu jenem unerschütterlichen Urteil? Wie entsteht ein solches Bild, das sich ein Mann von einer Frau macht? Zum Beispiel an einem Spätsommerabend im August in Prag, inmitten einer Gesellschaft, drei Tage später in eine Schrift gebracht, oder an einem Herbstabend in Hamburg auf einer Gartenparty, während sich das eine Bein an das des anderen schmiegt, während ihr Blick auf die Naht der Lederjacke fiel, dort unentwegt ruhte, fassungslos und ohne daß sie sich hinterher  an einen einzigen der unzähligen Sätze, die in die warme Nacht hineingesprochen wurden, noch erinnern konnte?

JULIE: Du kennst mich Danton.
DANTON: Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: lieber Georg! Aber – er deutet ihr auf Stirn und Augen – da, da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“
(G. Büchner, Dantons Tod)

Der moderne Gesinnungspositivismus der schönen Worte und der seichten Klarheiten möchte beständig die Schädeldecken aufreißen und im Beichtzwang die Geständnisse entlocken: Wahre Worte finden?: Ware Worte. Aber wie schön läßt es sich in der Wahrheit lügen. Wir loben die Lüge.

Franz Kafka schreibt fünf Tage später, im direkten Anschluß an jenen Eintrag vom 16. August 1912 in seinem Tagebuch:

„Unaufhörlich Lenz gelesen und mir aus ihm – so steht es mit mir – Besinnung geholt.“
(Franz Kafka, Tagebuch, 21. August 1912)

 

Im eigenen Namen – Franz Kafka, Jacques Derrida, Navid Kermani sowie ein Ausblick auf Nietzsche und das Weib – Poetik des Datums

Sätze aus jenen „Briefe an Felice“ stechen ins Auge: „Wollte ich mit Dein unterschreiben? Nichts wäre falscher. Nein, mein und ewig an mich gebunden, das bin ich und damit muß ich auszukommen suchen.“ Ein Ich, das Franz heißt, und so sich im Brief zeichnet: Dein Franz: die monadologische Unterschrift eines Prager Juden.

[Besser und auf die Spitze der Schreib- und Ich-Existenz gebracht als Kafka, kann man es nicht schreiben: so formulierte es die interruptive Stimme in mir.]

Aber interessanter fast als diese Zeilen Kafkas, denn wir kennen seine Texte gut und haben sie germanistisch-forschend, lesend verinnerlicht, wäre die Reaktion Felice Bauers auf diese und manch andere seiner Sätze in jenen Briefen gewesen. Einem solchen (Brief-)Text adäquat zu begegnen – denn immerhin verließ Felice Bauer Kafka nicht, was angesichts der Komplexitätsüberbordung seiner Briefschrift nicht als selbstverständlich anzusehen ist, ich wurde in meinen Briefen in der Studienzeit um weit geringere Verfehlungen verlassen – erfordert Kraft, Mut, Weisheit. Ich möchte dieses Thema, wie der Schreibmotor gebaut ist und woher diese Kraft zur Schrift stammt, nun nicht theweleitisieren, aber die Frage ist, im Sinne eines Perspektivenwechsels, nicht uninteressant. Wie sahen die Briefe Felice Bauers aus? Ob dieses leere, knochige Gesicht, das zur Schreibfläche des bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jhds werden sollte, sich als Folie eignet und ob sich aus dieser Konstellation Schuß und Gegenschuß spinnen ließen.

Der eigene Name, der Name der anderen. F.B. Fräulein Bürstner, Frieda, F.K. oder ein jedes Namens reduzierter Buchstabe: K. als Enteignung des Namens, Franz und Josef, das Spiel mit den Namen und den Buchstaben. Ein Schreib-Prozeß, um ein wenig zu kalauern. Kabbala noch im identitären Diskurs Franz Kafkas, der auf das hermetisch abgeriegelte Ich ausgelegt ist. Schöner, treffender (in mehrfacher Bedeutung) und tiefer gelangte der Solipsismus nicht zur Literatur. Allenfalls Beckett dampfte dieses Identitär-Destruierte auf jenes richtige Maß ein, das als Stimme oder als choreographierte Bewegung wie in Quadrat I und II verharrt – jene „objektlose Innerlichkeit“, die Adorno in seinem immer noch lesenswerten Essay zu Kafka diesem Juden aus Prag in Korrespondenz mit dem Text Kierkegaards zuschrieb. Aber es gibt in der Literatur oder auch: in der Philosophie ebenso andere Unterschriften als die Kafkas in jenem erschütternden Brief vom 11.11.1912 an Felice Bauer. Die Frage Derridas etwa: Wie kann ich in meinem eigenen Namen, mit meinem Namen unterzeichnen? Was ist, sprachphilosophisch-dekonstruktiv gelesen, der eigene Name und was bedeutet Eigentum? Als Theorie und Literatur einer Sendung als Form von Kommunikation, die sich jenseits gelingender, Habermasscher Diskursmodelle und Hegelscher Anerkennungsverhältnisse konfiguriert, um sich als Asche auszulöschen und als Schrift durchzustreichen: Was bedeutet ein Name, ein Eigenname, worauf verweist er? Wie können sich Ziffern, Buchstaben und Daten als Orte von Signaturen mit einem Namen, der nichts als Text ist, bewahren und wie bleiben sie lesbar? Anders als Kafka und doch in derselben Weise von Textualisierung schreibt es Derrida in „Die Postkarte“, indem er an seinen Eigennamen, mit dem er jene eröffnende Postkarte unterzeichnet, einen asteriskusgekennzeichneten Zusatz anknüpft. Ist ein Name, der sich mit einer Fußnote versieht, um sich zu beglaubigen und zugleich zu entziehen, noch eine Name? In unseren Notationssystemen sicherlich nicht:

„Ich bedaure, daß Du nicht sonderlich meiner Unterschrift traust, unter dem Vorwand, daß wir mehrere seien. Das ist wahr, aber ich sage das nicht, um mich zu augmentieren um irgendeine zusätzliche Autorität. Noch weniger, um zu beunruhigen, ich weiß, was das kostet. Du hast recht, wir sind ohne Zweifel mehrere und ich bin nicht so allein, wie ich es bisweilen sage, wenn die Wehklage darüber sich mir entringt oder wenn ich mich wieder abmühe, Dich zu verführen“ (J. Derrida. Die Postkarte)

Immerhin: das Dialogische und Instanzen des Anderen, die bei Kafka Gespenster bleiben oder im monadologischen Abschluß schlicht ausgeschieden werden zugunsten eines komplexen Systems von Literatur, dieses Andere ist als Anrede und Gegenüber bei Derrida in einer bestimmten Form präsent: Präsenz in Abwesenheit und vice versa. Derrida probiert die Formen der Telekommunikation. Auf welche Weise läßt sich Nähe auch aus der Ferne erzeugen? Wie übermitteln sich Texte und Botschaften? Wie stellt sich eine unendliche Nähe in der Schrift, im Akt des Schreibens ein? Actio in distans, jener Zauber, den bereits Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“ als Reiz und eben auch: als Form weiblichen Schreibens festhielt.

„Jedoch! Jedoch! Mein edler Schwärmer, es gibt auch auf den schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm, und leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm! Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst und vor allem – Distanz!“ (F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)

Diese Logik von Denk- und Schreibexistenz läßt sich sicherlich gut auch auf den Text Kafkas applizieren.

Die Bedingung der Möglichkeit von Schrift ist die Ferne, Schrift ist die radikale Abwesenheit, die zugleich den Anschein einer Präsenz erzeugt und im selben Moment wieder sich distanziert.

„Wir haben uns noch nie gesehen. Geschrieben bloß.“ (J. Derrida. Die Postkarte, S. 86)

Es ist die Frage nach der Selbstbezeichnung, der Selbstreferenz, nach dem Selbst, dem Subjekt, die Derrida in „Die Postkarte“ stellt. Derrida durchstreicht den Begriff des Subjekts als Einheit und arbeitet in einer paradoxen Bewegung zugleich mit dieser Kategorie. Aber es ist den Begriffen, den Bezeichnungen und den Namen nicht mehr rein zu trauen. Dies ist seit über 100 Jahren das Signum der Moderne – nicht nur der ästhetischen. Zerrüttung als Chance. Navid Kermani zum Beispiel umschreibt in seinem Projekt „Dein Name“, das den Namen oder die Bezeichnung Roman trägt, seinen eigenen Namen in vielfacher Weise. Die Identität gestaltet sich bei Kermanis Ich-Positionierung vielfach. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung: „Über den Zufall“ schreibt Kermani: „Im Augenblick heißt der Roman, den ich schreibe, Das Leben seines Großvaters. Gemeint ist damit der Großvater des Sohns, Vaters, Manns, Liebhabers, Freundes, Romanschreibers, Berichterstatters, Orientialisten, der Nummer zehn oder von Navid Kermani.“ Die Umschrift eines deutsch-iranischen Moslems, Ich ist viele, so viele wie Tätigkeiten ausgeübt werden. Unsere Wahrnehmung von Ich und Selbstheit hängt am Referenzsystem Wie läßt sich ein Ich, ein Leben eine Berichterstattung der Tage und dem, was am Ende bleibt, in den Text bringen? Menschen vergehen und sterben. Navid Kermani inszeniert sie im Text. „Dein Name“ ist ein Totenbuch und es schreibt sich in Leben und Alltag ein. Es bleiben die Texte. Obwohl auch dies nicht gesagt ist.

***

Im Merve Verlag erschien im Jahre 2000 ein Buch mit diesem ganz und gar wundervollen Titel: „Nietzsche- Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht.“ Darin gibt es einen Text von Jacques Derrida sowie einen weiteren von Friedrich Kittler.

Eine Theorie der Unterschrift. Benennung und die Namensgebung ist neben dem Schöpferischen zugleich ein Akt der Gewalt. Die adamitische Namensgebung bedeutet Herrschaft. Gegenzulesen wäre hier mit Walter Benjamins Sprachmagie und seiner Theorie des Namens. Die Kunst des Übersetzens. „Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“: „Die Theorie des Eigennamens ist die Theorie von der Grenze der endlichen gegen die unendliche Sprache. Von allen Wesen ist der Mensch das einzige, das seinesgleichen selbst benennt, wie es denn das einzige ist, das Gott nicht benannt hat.“ Schöpfung durch Sprache.

Ich verabschiede mich von meinen Leserinnen und Lesern bis Sonntag, um dann in bewährter Weise wieder die Produktion von Texten aufzunehmen.

In jener Nacht vom 22. auf den 23. September (Part 1)

im Jahre 1912 schrieb Franz Kafka eine Erzählung – manche sagen auch: eine Novelle, was von der Struktur her durchaus angemessen erscheint, wenn man die Novelle als Erzählung einer unerhörten Begebenheit begreift, die einen singulären Konflikt schildert –, welche die Literatur der Klassischen Moderne in eine andere Bahn brachte und eine Wendung ums ganze geben sollte. Es entstand eine der verstörendsten Erzählungen der Weltliteratur, und diese Novelle folgte einer eigengesetzlichen Logik und einer Struktur, die sich herkömmlicher Narration entzieht. Man kann diese Geschichte nacherzählen und man kann es im Grunde doch nicht, weil sich ein Teil dieser Novelle immer wieder verschließt und in die Absurdität des Sinns verschwimmt. Formal handelt es sich zwar um eine Geschichte, die von A. über B. nach C. verläuft, aber wie entstellt und wie die Tagesrest in einem Traum läuft es darin ab (dazu im zweiten Teil mehr). Es existiert in dieser Novelle, wenn man genau liest, keine zusammenhängende Bedeutung und ein irgendwie eruierbarer Sinn, sondern dieser Text schlüsselt sich eher dadurch auf, indem man die Beziehungsgeflechte und das Gleiten des Sinnes liest. In der Tat: eine unerhörte Begebenheit. Ein Vater verurteilt seinen Sohn zum Tod durch Ertrinken, dieser springt über das Geländer einer Brücke in den Fluß: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“ Die sexuelle Konnotation dieser Passage dürfte nicht zu überlesen sein.

Bekanntlich sterben vor den Vätern die Söhne, wie es Thomas Brasch, jener Schriftsteller und Drogist im Geiste dieses Blogs, gut wußte: In der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 schrieb der Prager Jude und Jurist Franz Kafka „Das Urteil“. Und im Untertitel „Eine Geschichte“ welche Kafka „Für F.“ dedizierte. F. wird diesen letzten Satz der Novelle auf ihre Weise gelesen haben.

Es gibt im Leben herausragende Daten, insbesondere in der Literatur, und dieser 13. August 1912 ist eine dieser Konstellationen. Es handelt sich um Augenblicke, für die der Begriff des Kairos, der geglückten Zeit zutrifft. Es bedarf solcher Momente des Zufalls, um Neues hervorzubringen. Am 13 August 1912 traf sich Kafka mit Max Brod in dessen Wohnung, um Texte zu sichten und deren Reihenfolge festzulegen, damit sie am nächsten Tag an den Verleger Rowohlt versendet werden sollten. Kafka kam zu diesem Treffen, wie von Brod schon gewohnt, eine ganze Stunde zu spät. Und es erwartete ihn bei den Brods eine Überraschung („Nur überraschen will ich sie nicht, es gibt keine guten Überraschungen“, so schrieb er an Max Brods Ehefrau Elsa Taussig gut einen Monat später am 18.9.1912). Denn am Tisch der Familie Brod saß eine weitere Besucherin:

„Als ich am 13. August zu Brod kam, saß sie bei Tische und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor. Ich war auch gar nicht neugierig darauf, wer sie war, sondern fand mich sofort mit ihr ab. Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war. (Ich entfremde ihr ein wenig dadurch, dass ich ihr so nahe an den Leib gehe. Allerdings in was für einem Zustand bin ich jetzt, allem Guten in der Gesamtheit entfremdet, und glaube es überdies noch nicht. Wenn mich heute bei Max die literarischen Nachrichten nicht zu sehr zerstreuen, werde ich noch die Geschichte von dem Blenkelt zu schreiben versuchen. Sie muss nicht lang sein, aber treffen muss sie mich.) Fast zerbrochene Nase, blondes, etwas steifes, reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil. Wie sich … [bricht ab]“ (Eintrag vom 20. August 2012)

Allein diese Bruchstelle, diese (performative) Leerstelle im Tagebuch ist ein Stück Literatur. Leben ist am Ende ein Text – mehr nicht. Was erzeugte diesen Abbruch mitten im Satz und in den Überlegungen eines Tagebuchs – diese Schrift im Fragment? Nicht anders als dann später in Kafkas „Prozess“, der als Literatur eine lose Anordnung von Versatzstücken liefert, und in seiner Zerstreuung dennoch eine Struktur besitzt wie nur wenige Werke der Weltliteratur. Das Urteil schrieb Kafka in einem Zuge, in einer einzigen Nacht, die durch nichts – und das war für Kafka selten – unterbrochen wurde. Und ohne nennenswerte Korrekturen ging diese Fassung des Textes im Frühjahr 1913 in den Druck.

Einen Tag nach dieser kühlen, analysierenden Beobachtung, am 21. August, begann das Tagebuch mit folgendem Satz: Unaufhörlich Lenz gelesen und mir aus ihm – so steht es mit mir – Besinnung geholt.“

Felice Bauer war eine entfernte Verwandte der Brods, und zwar eine Cousine von Brods Schwager Max Friedmann – eine Jüdin aus Berlin, die in Prag Zwischenstop machte, um zu einer verheirateten Schwester nach Budapest weiterzureisen. Eine lebenslustige und lebenskompetente Frau, die für ihre Zeit erstaunlich selbständig und emanzipiert war. Felice Bauer arbeitete in verantwortlicher Position bei der Firma Carl Lindström A.G., die Grammophone und Parlographen herstellte – die damals modernsten Diktiergeräte, die es auf dem Markt gab. (Was Kafka und die Medien betrifft, so sei hier auf Friedrich Kittlers Texte „Aufschreibesysteme“ sowie „Grammophon Film Typewriter“ verwiesen. Die Techniken der Reproduktion und der Wiedergabe gewinnen Gestalt.) Die Unterhaltung bei Tisch im Hause der Brods verlief durchaus angeregt. Felice Bauer und Kafka beschlossen im Verlaufe des Abends sogar, als das Gespräch auf den Zionismus kam und Felice Bauer schilderte, daß sie sich mit der hebräischen Sprache beschäftigte, was Kafka aufhorchen ließ, gemeinsam nach Palästina zu reisen. Sie besiegelten dieses Versprechen durch Handschlag. Wiederholt spielte Kafka an diesem Abend auf diese Reise an, um sie in Erinnerung zu behalten, und auch zum Abschied kam er darauf noch einmal zu sprechen. Kafkas Beharrlichkeit und Zähigkeit ist bekannt.

 

Sein Eintrag ins Tagebuch dagegen, knapp eine Woche später, kommt als ein Schlag mit der Faust ins Gesicht daher – in jenes leere, unbeschriebene Gesicht, das später zur Folie der Literatur werden sollte, in das sich die Texte gravieren. Diese Passage aus dem Tagebuch zeigt einen anderen, einen kalten Blick. Zuweilen wird dieser Blick als typisch männlich konnotiert, was freilich von Mangel an Reflexion zeugt, denn genauso gut, könnte diese Zeilen Else Lasker-Schüler geschrieben haben. Es hängen solche Eintragungen in ein Tagebuch nicht am Geschlecht oder an Personalisierungen, sondern es zeigt sich in diesen Stellen von Schreiben eine Struktur der Textualisierung (die allerdings etwas mit dem Blick der Geschlechter zu schaffen hat). In dieser Lektüre und in diesem Geflecht aus Briefen, Romanen und Erzählungen wäre das Gegenbild, der Gegenschuß aus der Perspektive von Felice Bauer interessant. Ihre Briefe und Tagebücher (insofern sie solche Tagebücher schrieb) sind jedoch nicht erhalten.

Es reicht nicht aus, bei einer Gesellschaft nebeneinander zu sitzen und zu parlieren oder daß auf einer Feier plötzlich ein Bein an einem anderen preßt. Kafka ist der kalte und kühle Beobachter der Moderne, er distanziert die Szenerie in die Schrift und er vermag es, die Ereignisse in die (nötige) Reflexion zu setzten. Knapp sechs Wochen später, am 20. September, wird er Felice Bauer einen ersten Brief schreiben:

„Sehr geehrtes Fräulein!
Für den leicht möglichen Fall, daß sie sich meiner auch im geringsten nicht mehr erinnern könnten, stelle ich mich noch einmal vor: Ich heiße Franz Kafka und bin der Mensch, der […] Ihnen (…) über den Tisch hin Photographien von einer Thaliareise, eine nach der anderen, reichte und der schließlich in dieser Hand, mit der er jetzt die Tasten schlägt, ihre Hand hielt, mit der Sie das Versprechen bekräftigten, im nächsten Jahr einen Palästinareise mit ihm machen zu wollen.

(…)

Eines muß ich nur eingestehen, so schlecht es an sich klingt und so schlecht es überdies zum Vorigen paßt: Ich bin ein unpünktlicher Briefschreiber. Ja es wäre noch ärger, als es ist, wenn ich nicht die Schreibmaschine hätte; denn wenn auch einmal meine Launen zu einem Brief nicht hinreichen sollten, so sind schließlich die Fingerspitzen zum Schreiben immer noch da. Zum Lohn dafür erwarte ich aber auch niemals, daß Briefe pünktlich kommen; selbst wenn ich einen Brief mit täglich neuer Spannung erwarte, bin ich niemals enttäuscht, wenn er nicht kommt und kommt er schließlich, erschrecke ich gern. Ich merke beim neuen Einlegen des Papiers, daß ich mich vielleicht viel schwieriger gemacht habe, als ich bin. Es würde mir ganz recht geschehn, wenn ich diesen Fehler gemacht haben sollte, denn warum schreibe ich auch diesen Brief nach der sechsten Bürostunde und auf einer Schreibmaschine, an die ich nicht sehr gewöhnt bin.

Aber trotzdem, trotzdem – es ist der einzige Nachteil des Schreibmaschinenschreibens, daß man sich so verläuft – wenn es auch dagegen Bedenken geben sollte, praktische Bedenken meine ich, mich auf eine Reise als Reisebegleiter, -führer, -Ballast, – Tyrann, und was sich noch aus mir entwickeln könnte, mitzunehmen, gegen mich als Korrespondenten – und darauf käme es ja vorläufig nur an – dürfte nichts Entscheidendes von vornherein einzuwenden sein und Sie könnten es wohl mit mir versuchen.

Ihr herzlich ergebener Dr. Franz Kafka
Prag, Pořič 7“

Eine Photographie nach der anderen, hingeschoben zu jenem leeren, knochigen Gesicht.

Es entwickelt sich zwischen Felice Bauer und Franz Kafka eine Maschinerie des Schreiben, eine Logik der Sendung, des Ankommens und des Verfehlens von Postalischem, die einer eigenwilligen Kontrolle unterliegen, ein Verkehr und eine Logik der Gespenster, wie Kafka es in einem anderen Zusammenhang, im Briefwechsel mit Milena Jesenská, schrieb, und diesen Verkehr von Geister und Gespenstern brachte erst 70 Jahre später Jacques Derrida im Sinne des Judentums und einer Theorie der Schrift sowie einer Logik der Dis-Identität in seinem Buch „Die Postkarte. 1. Lieferung“ auf den Begriff von Literatur und Philosophie in gleicher Weise.

Der 22. September ist Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag – das Versöhnungsfest. Kafka mußte mit der Familie und mit anderen feiern. Kafkas Geselligkeit bei solchen zwanghaften Anlässen ist wenig ausgeprägt, gegen zehn Uhr abends drängt es ihn in sein Zimmer an seinen Schreibtisch.

23. September 1912:
„Diese Geschichte ‚Das Urteil‘ habe ich in der Nacht vom 22. bis 23. von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug geschrieben. Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehen. Die fürchterliche Anstrengung und und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte, wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gesagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehen und auferstehen. Wie es vor dem Fenster blau wurde. Wie ein Wagen fuhr. Zwei Männer über die Brücke gingen. Um zwei Uhr schaute ich zum letzten Male auf die Uhr. Wie das Dienstmädchen zum ersten Male durchs Vorzimmer ging, schrieb ich den letzten Satz nieder. Auslöschen der Lampe und Tageshelle.“ (Franz Kafka, Tagebücher, 23. September 1912)

Und zum Ende des ersten Teils: Literatur goes Pop:

Get hot, get too close to the flame
Wild, open space
Talk like an open book
Sign me up
Got no time to take a picture
I’ll remember someday all the chances we took
We’re so close to something better left unknown“
The Metric