Grenzwerte, Zeichen, Sprache: Juli Zehs Roman „Nullzeit“

Manchmal reicht eine einzige Sekunde aus, in der sich jemand im Akt des Handelns intuitiv und augenblickshaft für die eine Option und damit – ebenso intuitiv – gegen eine andere entscheidet, um durch eine solche Entscheidung nicht nur das Geschehen, sondern zugleich ein Leben in eine völlig andere Richtung zu bringen. Dieses eine Wort, was einer spricht und kein anderes, oder eben: gar kein Wort. Wenn ein Mann schweigt, wie in Truffauts Film „Schießen Sie auf den Pianisten“, worauf sich jene Frau dann etwas später ums Leben bringt. Solche Momente, solche Wendemarken scheinen Juli Zeh zu faszinieren. Sie tauchen in ihren Romanen immer wieder auf. An solchem Punkt des Lebens verdichtet sich die Zeit, und um diesen Punkt herum spinnen sich die Geschichten. Denn wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, so muß es auch einen Möglichkeitssinn geben, Möglichkeiten, daß alles auch ganz anders sein könne. Der Möglichkeitssein ist das Sensorium des Schriftstellers und zugleich sein Arbeitsfeld.

„Nullzeit“ ist ein Begriff aus der Sprache des Tauchens. Er bezeichnet die Zeit, die bleibt, um nach einem Tauchgang ohne den Zwischenstopp der Dekompression wieder über Wasser zu gehen, ohne sich einem Gesundheitsrisiko auszusetzen. Von der korrekten Berechnung der Nullzeit kann das Überleben abhängen.

Was geschieht in „Nullzeit“? Ein Kammerspiel, das einen eigenwilligen Ausgang nimmt. Der ganz normale Alltag eines Tauchlehrers, eines Jedermann, der sich seiner Normalität immer mehr entkleidet: Sven schreibt ihn nieder als Rückblick auf das, was geschah und auf ein Leben, das sich in der Sicherheit des Aussteigers wähnte. Aber dieses Leben kippte mit einem Mal um und entgleitet seiner Kontrolle, und zwar in dem Moment als jene zwei Gäste auf die Insel kamen, um das Tauchen zu lernen. Eine junge Serienschauspielerin und ein Mann in den Vierzigern. Rückblicke geschehen in der Regel im Imperfekt, dies ist die Kunst des Erzählens: „Der einzig passende Ort für all das ist die Vergangenheit.“ So notiert Sven.

Sven lebt und arbeitet als Tauchlehrer auf Lanzarote; er betreibt in dem (fiktiven) Ort Lahora zusammen mit seiner von ihm mäßig geliebten Lebensgefährtin Antje eine Tauchschule. In seinem Leben vor der Zeit als Aussteiger, studierte Sven Jurisprudenz. Eine Wissenschaft, die Exaktheit, Gründlichkeit, Genauigkeit zwar anstrebt, aber diese Begriffe in der Vielzahl an Auslegungen der Gesetze sowie ihrer Kommentierungen nicht ganz einlösen kann. Am Ende berufen sich Kommentatoren oder Richter auf die ständige Rechtsprechung oder die herrschende Meinung – eben auf das, was von den Juristen als common sense, als allgemein geteilte Ansicht aufgefaßt werden kann. Es muß am Ende eines Prozesses ein Urteil gefällt werden. „Spieltrieb“ zum Beispiel handelt genau von einem solchen Moment und der Frage, wie ein Urteil zu finden und zu fällen sei. Die Geschichte wird erzählt, damit sich die Leser ein Urteil bilden, damit jene Richterin, die als „Kalte Sophie“ bezeichnet wird, sich orientieren kann. Auch wenn dem Roman „Nullzeit“ nicht die Frage der Schuld im Sinne der Jurisprudenz zugrunde liegt, so fließen in den Text dennoch Motive und Muster des Juristischen ein – was nicht verwundern mag, ist die Autorin doch ausgebildete Juristin.

In Zehs Roman stehen sich zwei Arten von Aufzeichnungen gegenüber: einmal die von Sven selbst und dann das Tagebuch der Jolanthe Augusta Sophie von der Pahlen, genannt Jola – eine junge Serienschauspielerin, Ende zwanzig, die für die Filmrolle der Lotte Hass das Tauchen trainieren möchte. Zusammen mit dem um fünfzehn Jahre älteren Schriftsteller Theodor reisen sie auf Lanzarote an, Sven holt sie vom Flughafen ab, und eine eigentümliche Serenade zu viert beginnt.

Allerdings: die Heiterkeit weicht schnell einer angespannten Atmosphäre, die ihren Reiz aus der Gegensätzlichkeit dieser vier Charaktere bezieht. Sven: ein Mensch, der es haßt, andere Menschen zu beurteilen – dieses „allumfassende Netz aus gegenseitigen Beurteilungen“ ist ihm zuwider. Urteilende und Beurteilte befinden sich in einem dauernden Kriegszustand, weshalb Sven es nach dem ersten Staatsexamen aufgab, sich weiterhin mit der Jurisprudenz zu beschäftigen und Deutschland verließ, denn Jurisprudenz bedeutet eben genau das: urteilen und damit auch: beurteilen. Bereits sein Verhältnis zu seiner Freundin ist von dieser eigentümlichen Epoché geprägt: „Antje hob die Hand zum Dank. Wir hatten uns kaum begrüßt. Ich mochte es nicht, wenn sie mich in Gegenwart anderer Menschen berührte. Obwohl wir seit Jahren zusammenlebten, kam es mir immer noch komisch vor, daß wir ein Paar sein sollten. Jedenfalls öffentlich.“ (S. 19) Über andere Menschen zu urteilen, bedeutet bereits, sich in ihr Leben einzumischen. „Raushalten“ ist das Fundament, auf dem Sven seine Weltsicht baut.

Jola von der Pahlen ist die Tochter eines Filmproduzenten, die in einer Vorabendserie eine Rolle spielt und von dort weg zum Film will. Sie ist nervös, willens Karriere zu machen und hocherotisch. Jola versteckt ihren Körper nicht. Der Körper ist kulturelles und soziales Kapital. Und auch ansonsten besitzt Jola Geld; sie kommt aus reichem Hause.

Theo ist ein zynischer, ziemlich viel trinkender, abgebrühter, vom Geld seiner Partnerin Jola lebender, kalt beobachtender Schriftsteller, der vor einem Jahrzehnt – Selbstbezug der Literatur – denRoman „Fliegende Bauten“ schrieb – seinen einzigen. Seitdem ist sein Schreiben blockiert. Dieser Roman „Fliegende Bauten“ diente bereits in „Spieltrieb“, als Buch im Buch, für ein selbstreferentielles und zugleich abgefucktes Spiel postmoderner Menschen-Konditionierung. Sowohl Jola wie auch Theo entstammen jener über die Altersgrenzen verlaufenden virtuellen Generation, die ihre Gewichtigkeit nach den Googletreffern bemiß. Bei Frau von der Pahlen sind es rund 384000, bei Theodor Hast etwa 12000. Die Beziehung von Jola und Theo ist zerrüttet und von gegenseitigem Sticheln und von Kämpfen geprägt.

Antje ist eine brave Frau, die so farblos ist, daß sich ihre Konturlosigkeit am besten dadurch ins Bild bringen läßt, in dem sie von Zeh kaum geschildert wird. Sie ist blond und hat einen Schwedinnenbusen. Diese Attribute bleiben haften. Selbst als Antje gegen Ende des Romans Sven verkündet, daß sie ein Verhältnis zu einem der Inselspanier habe, verstört oder befremdet dies kaum. Im Grunde verkörpert sich in Antje jene Enthaltung von jeglichem Urteil, wie es Sven präferiert. Im Grunde für Sven die ideale Frau.

Svens Welt, in der er sich auskennt, ist die Welt unter Wasser – im Grunde eine Welt ohne Menschen. Für Sven eine Welt des Friedens, weil nichts von der Sprache, von Bedeutungen erstickt wird „Kommunikation wurde zu einer tänzerischen Choreographie aus Zeichen und Gesten. Unter Wasser waren die Beziehungen einfach, die Bedürfnisse eindeutig und Reaktionen radikal“ Der Mensch reist beim Tauchen in zehn Millionen Jahre Evolutionsgeschichte zurück und zugleich an den Anfang der eigenen Biographie, so geht die Rede Svens: „Dorthin, wo das Leben begann, im Wasser schwebend und stumm. Ohne Sprache keine Begriffe. Ohne Begriffe keine Begründungen, ohne Begründungen keine Kriege. Ohne Kriege keine Angst. Nicht einmal die Fische fürchten uns.“ Aber dieser Ort ist eine Welt des Scheins, denn es gibt kein Außerhalb, keine urteilsfreien Zonen. (Davon abgesehen, daß das Urteil eben auch ein Modus ist, um Wahrheit und Gerechtigkeit zu spreche, zu schreiben.) Es gibt jedoch in letzter Konsequenz keine Enthaltungen. Und so gerät der „Rausch der Tiefe“ während des letzten großen Tauchganges für Sven zum Alptraum.

Jola und Theo taktieren während ihres Aufenthaltes, sie sind ein exzessives Paar, das sich mehr durch Haß und Zorn als durch Freundlichkeit verbindet, und Sven gerät in ein Spiel, das zwischen Machtausübung, Zuneigung (zumindest von Seiten Jolas für Sven) und Psychokrieg switcht. Am Ende des Textes sind die Würfel zwar gefallen, aber im Grunde hätte, frei nach der Viele-Welten-Theorie in Zehs Roman „Schilf“, alles auch ganz anders sein können.

Das Buch von Zeh ist eine Mischung aus Psychothriller, Krimi, Kammerspiel, Menschenerkundung. Es bezieht sich, wie so häufig in Zehs Büchern, auf die Welt der Jurisprudenz. Und dennoch sind die Bezeichnungen Krimi oder Psychothriller ungenügend. „Nullzeit“ schildert auf komprimiertem Raum einen post- oder spätmodernen Mann ohne Eigenschaften, der vor der Welt samt ihren Aporien, Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten abtaucht. Aber Urteile, Beurteilungen und der Blick des anderen holen jeden Menschen irgendwann ein, denn es gibt kein Draußen, es existiert keine Epoché, und auch die Ataraxie vermag einer nur im Raum ohne Menschen auszuüben. Aber solche Räume lassen sich nicht dauerhaft bewohnen und sie sind selten; nicht einmal unter Wasser in der Welt der Schiffswracks gibt es sie, weil jeder Mensch irgendwann aus der größten Tiefe wieder auftauchen muß – die Dekompressionsphasen beachtend. Und es geschieht dieser Aufstieg nur dann auf eine nicht die Gesundheit schädigende Weise, wenn der Taucher jene Nullzeit beachtet. Die Zeit, die bleibt.

Mit „Nullzeit“ schrieb Juli Zeh ein außergewöhnliches Buch. Ihre analytisch-philosophische Schärfe, die sie teils essayartig in ihren Romanen „Spieltrieb“ und „Schilf“ entfaltete und wo sie sich trotz der Brillanz (oder gerade deshalb) an mancher Stelle des Textes in die Theorie vergaloppierte, abdriftete und das Schreiben zu bemüht wirkte, diese philosophisch-essayistische Sicht kommt ihr in „Nullzeit“ zugute, weil diese Weise von Philosophie bzw. Theorie die Handlung strukturiert und die Theorien nur noch selten den Figuren als eigenes Sprechen in den Mund gelegt werden. Das, was in „Schilf“ an manchen Stellen als überambitionierte Reflexion eines externen Erzählers auftritt, gelingt, wenn Zeh diese Reflexionen in die Figuren selbst verlegt. So scheint die Innenperspektive, die Leserinnen und Leser durch Jolas Tagebuch erfahren überzeugend. Und auch die philosophisch angereicherten Überlegungen Adas in „Spieltrieb“ sind stimmig. Jola ist eine von Zweifeln, Erfolg und Verzweiflung betriebene junge Frau Jahrgang 1981.

Intensiv und eindringlich beschreibt Juli Zeh Szenen: wie zwei Menschen interagieren, unter Wasser: an jenem Ort, wo es keine Sprache, sondern nur Zeichen gibt. Juli Zeh besitzt die wundervollen Gabe, absurde und zugleich anrührende Liebesszenen zu schildern, die in die Intensität des Moments getaucht sind. So zum Beispiel jener Augenblick, wo sich inmitten der für Sven so friedliche Unterwasserwelt zwischen ihm und Jola körperliche Liebe anbahnt, die aufgrund der Neoprenanzüge im Grunde jeglicher Sinnlichkeit und jeglichen Sinnes entbehrt, weil sich kein Millimeter Haut ertasten läßt, und Brüste sowie Schwänze unter einem Tauchanzug mögen allenfalls für Gummifetischisten eine gewissen Reiz ausüben. Dies Art aber wie der Protagonist seine Tauchschülerin berührt, und bereits vorher: die ganze Szenerie erotisch knisternd aufgeladen: diese Beschreibung gelingt ausnehmend gut.

Zeh nennt ihr Buch vorweg auf dem Titelblatt einen Roman, aber dies ist im Grunde nur die halbe Wahrheit, denn bei „Nullzeit“ handelt es sich zugleich um eine Novelle: Die Schilderung einer unerhörten Begebenheit. Doch diese Begebenheit erweist sich als ausgesprochen variabel, und im Rahmen einer Viele-Welten-Theorie könnte sie auch ganz anders sich zugetragen haben. Allenfalls das Erzählen selbst, jenes (raunende) Beschwören des Imperfekts, vermag es, die Ereignisse zusammenzutragen. Zumindest aus einer von vielen Perspektiven heraus. Doch egal wie die Perspektive sei, nur der Akt des Schreiben bannt: „Andernfalls würde das Gedächtnis bald anfangen seine eigene Geschichte zu schreiben. Nichts sei korrupter als die menschliche Erinnerung. Erst würden die Details der Ereignisse verschwimmen, dann die Ereignisse selbst.“ Liquidierung eben, Verflüssigungen, Unterwasserwelten, die sich eintrüben. Das Ereignis – egal welches es sei – bleibt nur, indem es in einen Text gebracht wird. Allerdings ist das Ereignis offen für Interpretationen und damit: für neue Texte.

Riß aus dem Zusammenhang

Also, ich nehme Kunst in der Regel nicht selektiv wahr und ich schneide mir nicht die Filetstücke heraus, so wie es mir gefällt, um zu verwursten; schon gar nicht, wenn ich einen Text zu einem Roman schreibe. Aber diese Passage von Zeh gefällt dem melancholischen Ironiker aus dem Grandhotel Abgrund ausgesprochen gut. Juli Zeh kann pointiert Perspektiven erzeugen:

„Eines Tages – ich lebte schon einige Jahre mit Antje zusammen – hörte ich den Werbeprofi Donald Draper in der Fernsehserie Mad Men zu seiner Frau sagen: ‚Was du Liebe nennst, haben Typen wie ich erfunden, um Nylonstrümpfe zu verkaufen.‘ Fortan ging es mir besser.“ (S. 95)

Es ist diese Sprache die des Tauchlehrers Sven. Dieser ist, wie auch Smutek in „Spieltrieb“ Opfer eines Spiels und zugleich – das macht ihn interessant – dessen indifferenter Teilnehmer, und durch eine intuitive Handlung, die er im Grunde gar nicht beabsichtigte, errettet Sven sich am Ende selber vor einer Frau, die in sein Leben einbricht und ihn als Spielball benutzt. Zugleich benötigt Sven diese Frau, weil sie den Ausgleich ihm verschafft für eine zwar sehr attraktive, aber nicht wiedergeliebte Frau. Er ist mit einer Frau zusammen, die er gerade so erträgt, weil sie an ihm hängt, nicht anders als der Hund in den Jugendjahren, den diese Frau als Mädchen damals ausführte. Die Altersdifferenz zwischen Sven und Antje beträgt einige Jahr.

Schwerst gestörte oder problematische Figuren kann Juli Zeh gut entfalten. Glück hat, wer solchen Typen im Leben niemals begegnen muß, und schlecht ist es, wenn jemand solchen Schauspielerinnen oder Schauspielern begegnet, die ihr Leben für ein Stück Literatur halten und mit der Inszenierung aufheitern, um sich den letzten Thrill zu verschaffen.

Schaun wir mal, wie die Kritik von „Nullzeit“ ausfallen wird. Sie kommt in der nächsten Woche.

Haptischer Tauchgang – Juli Zehs Roman „Nullzeit“, zunächst in aisthetischer Hinsicht gefühlt

Präludiernd hebt der Betreiber dieses Blogs im Rahmen einer Buchkritik hervor, daß der Verlag Schöffling & Co schöne, fein-griffige sowie optisch ansprechende Bücher fertigt – um hier über den Begriff der Form aufzutakeln, die bekanntlich mit dem Inhalt nicht nur zusammenhängt, sondern ihn zugleich determiniert. Solche fühlige Form ist in der Welt der Verlage nicht selbstverständlich. Was nützt der beste Inhalt, wenn er auf Klopapierrollen daherkommt oder auf Kratz- und Nichtpapier geschrieben wurde? Aus diesem Grunde lese ich keine E-Books. Nicht weil ich gegen das Medium etwas einzuwenden hätte – ganz im Gegenteil –, sondern aus Gründen der Ästhetik und weil die Weise, wie Dinge wirken, mich motiviert oder eben: abstößt. Das E-Book ist, sozusagen analog zum Ficken – dem eigentlichen Genuß –, die Zigarette danach, bei der dann als Abspann die Analyse und die Reflexion erfolgen. War das nun Löfflerchensex oder doch etwas mehr?, so fragt’s im Kopfe, während der Rauch ausströmt und der Tabak verglüht. Und wenn eine Substanz in Rauch aufgeht und zu Asche pulverisiert, so gibt es Situationen, wo der Akt in phänomenologischer Direktheit jenseits jeder Ökonomie – zumindest – geschieht. Unter Wasser sind Brand, Glut und Asche nicht möglich. Dort gelten andere Gesetze, was im Rahmen der Jurisprudenz als nicht ganz unwichtig anzusetzen ist.

Sex, Zigarette, E-Book. Im E-Book kann ich auf die schnelle suchen, Textstellen abgrasen, Passagen markieren und kopieren.

Aber das Buch!: Papier ist ein besonderer Saft und wenn ich es berühre, so affiziert es die Haut. Es schmeichelt, schimmert, rauht, schneidet Haut, wenn eine/r es an seinen Rändern in falscher Richtung anfaßt, und ein sanftes Schleifen tönt, wenn die Finger darüber fahren. Diese Affizierungen vermögen weder Elektronik noch die Kapital und Bewußtsein generierenden Welten von Amazon auszulösen. Weshalb verweisen Dummköpfinnen und -köpfe eigentlich immer wieder und mit unendlicher Penetranz auf Amazon, wenn sie ein Buch besprechen oder in irgend einer Weise erwähnen wollen (selbst hier im Blog, wo die Aversion des Hausherren gegen Amazon eigentlich bekannt sein sollte: doch das Bekannte ist eben noch lange nicht das Erkannte), anstatt auf die Homepage des Verlages zu verlinken, wo das Buch genauso gut aufzufinden ist? [Ceterum censeo!] Insbesondere bei Blogs, die ansonsten mit dem Oberton des kritischen Impetus auftreten, verwundert’s mich allemal, wenn solche Dummbatzigkeit gepflegt wird.

Wie es auch sei: Juli Zehs Roman „Nullzeit“ tritt äußerlich ansprechend auf, wenn das Buch in der Hand liegt und Finger das gerippte Vorsatzpapier berühren oder über den feinen Chromoluxschutzumschlag fahren: Alle diese schönen Dinge, wie bei Schöffling & Co in bewährter Qualität nicht anders gewohnt, erfahre ich nur im Begreifen und Berühren einen Buches; und es gibt gute Gründe, weshalb Jahr für Jahr eine ausgewählte Jury das schönste Buch des Jahres kürt. Nein, ich besitze keine Aktien an dem Verlag Schöffling & Co und erhalte keinerlei Vergünstigungen, doch dieser Verlag macht schöne Bücher. Diesen Aspekt halte ich für erwähnenswert, weil es nicht mehr selbstverständlich ist, solche guten Dinge zu produzieren. Und, neben dem aisthetischen Moment und dem Faible fürs Sinnliche, ich verrate es vorab: Es scheint „Nullzeit“ von seiner Konstruktion her ein gutes Buch zu sein. Womöglich Zehs bestes Buch. Weshalb? Das, werte Leserinnen und Leser, erfahren Sie demnächst hier auf Ihrem Service- und Qualitätsblog Aisthesis. Und wer – zum Abschluß des Abends gegeben – ein nettes Plaudergespräch zwischen Juli Zeh und ihrem Verleger Klaus Schöffling – unter anderem über E-Books – lesen möchte, der schaue hier.

Kommen Sie ansonsten gut ins Wochenende, trinken Sie nicht zu viel. Ich selber bin morgen auf einer mysteriösen Kunst-Aktions-ich-weiß-nicht-was-Party, zu der mich eine Freundin freundlicherweise mitnimmt, denn von alleine und ohne fremden Antrieb verlasse ich meinen Rollstuhl im Grandhotel Abgrund nicht („J’étais bien au centre, n’est-ce pas?“), und werde meinen eigenen Rat – naturgemäß – nicht befolgen.

Tonight’s The Night, Maupassant, der Eiffelturm sowie eine Umfrage

Auch Ihr Qualitäts- und Serviceblog Aisthesis möchte sich einmischen und für heute und insbesondere für alle US-Bürgerinnen und -Bürger, die zu meiner Leserschaft zählen, eine Wahlempfehlung abgeben: Wählen Sie Mitt Romney zu Ihrem neuen Staatsratsvorsitzenden! Ein Mann, der Mormone ist, kann kein ganz schlechter Mensch und damit auch kein schlechter Präsident sein – insbesondere in den Fragen der Frauenpolitik nicht. Hoffen wir, daß die UN zahlreiche Wahlbeobachter in die USA entsendet, denn die demokratischen Strukturen von Ländern der Dritten Welt bzw. von Schwellenländern sind nicht immer ganz lupenrein.

Ansonsten aber treiben mich eher solche Fragen um: Lese ich nach Juli Zehs Roman „Spieltrieb“, wie vorgesehen und um meine Besprechung über das aktuelle Buch von Zeh zu schreiben, nun als nächstes „Nullzeit“ oder doch eher das ganz und gar wunderbare, für Bibliophile ein Muß-ich-haben-Fetisch, dieses haptisch-optisch ansprechende Buch aus dem mare Verlag „Auf See“ von Guy de Maupassant?

In einem aparten Schuber verpackt, cremefarben oder auch: Chamois. Das Buch, gebunden in schönem, blau schimmernden Leinen, mit einem Lesebändchen versehen, blau-silbernes Kaptalband: dieses Buch ist eine kleine feine Preziose, eine Kostbarkeit für Menschen, die schöne Dinge mögen. (Und am Ende sind nur die Dinge schön: Menschen sind es selten oder sie langweilen irgendwann, sie altern, werden gehässig und im Alter meist böse und selten weise, und die welche sich weise geben oder sich dafür halten, brabbeln unsäglichen Unfug. Dinge hingegeben, die bleiben. Menschen sind enttäuschend und nach längerem Umgang meist ohne Bedeutung.)

„Auf See“ bietet sich im aufreißerischen Werbetrailer bereits vielversprechend an. So heißt es auf dem Rücken des Schubers:

„Ich spüre, wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt, der süße Rausch der Ruhe, die nichts stören wird, kein weißer Brief, kein blaues Telegramm, nicht die Klingel meiner Tür, noch das Bellen meines Hundes. Ich bin allein, wirklich allein, wirklich frei.“

Guy de Maupassant haßte, Anekdote am Rande, manche (bauliche) Entäußerung der aufziehenden Moderne, insbesondere den ab 1887 errichteten Eiffelturm – im gleichen Jahr formulierten zahlreichen Künstler gegen jenes Monument einer heraufziehenden neuen Zeit des Stahls einen Protesttext. Es nützte nichts: Der Turm wurde kurz vor der Pariser Weltausstellung von 1889 fertiggestellt. Irgendwann sah man Maupassant jeden Tag im Restaurant des Eiffelturms speisen und er wurde gefragt, weshalb er dort säße und äße, wenn er diesen Turm so sehr verabscheute. „Es ist dieser Platz“, so entgegnete Maupassant, „in Paris der einzige Ort, an dem ich den Eiffelturm nicht sehen muß!“

Eine feine Anekdote. Und nun stimmen Sie bitte mit mir ab, ich kann mich nicht entscheiden: was soll ich lesen?

Mit einem koksversuchten Hirn – die Welt zu überwinden

Jesus, meine Zuversicht: Die Frankfurter Buchmesse, nun ist sie zum Ende gekommen, jedes Jahr das gleiche; alle reden oder schreiben darüber, einige mögen sie, manche hassen sie; viel Rummel, viel Bewegung, viele Partys, viel Beifick, alles unabänderlich, unveränderlich. Immerzu klagen alle Beteiligten, daß sie zur Messe müssen, aber nicht wollen, und gäbe es diese Messe nicht, so klagten Besucherin und Besucher aus der Verlags- oder Schriftsteller(innen)welt ebenfalls darüber, daß es keine Messe gibt. Es ist das immergleiche Kokettieren. Alles unwichtig. Die Frankfurter Buchmesse ist mal angenehm, mal lästig, aber sie ist immerda und unvermeidlich. Wie der Tod. Nur der kommt nicht jedes Jahr, sondern – in der Regel – bloß einmal. Lassen wir die Nahtoderfahrungen mal beiseite.

Wie drückt man sich eigentlich vor einer Buchbesprechung und schreibt dabei dennoch eine? Gute Frage – machen wir es mal auf diese Weise: Ich möchte Rezensionen (oder auch: Buchbesprechungen) so schreiben, daß man sie gerne liest. Solche Texte müssen den Drive haben, der unter Umständen sogar besser ist als der des besprochenen Buches. Natürlich ist das anmaßend, hat sich ein Schriftstellerin oder ein Schriftsteller doch in der Regel viel Zeit für den Text genommen. Bei diesem Buch freilich, das ich gelesen habe, fällt es mir schwer, die guten Aspekte des Textes noch im Blick zu behalten. Es handelt sich um den Debütroman von Juli Zeh: „Adler und Engel“. Eine Besprechung, die etwa elf Jahre zu spät kommt.

Da sitzt Max mit zugekokstem Kopf in seiner Wohnung in Leipzig – ein junger Mann, Jurist, auf der Karriereleiter gut positioniert, in einer Leipziger Anwalts-Kanzlei arbeitend, die sich mit der EU-Osterweiterung beschäftigt. Nur leider hat sich einige Tage zuvor seine zuweilen etwas verrückte und in anderer Weise doch wieder sehr klarsichtig-cool-abgefuckte Freundin Jessie mit einer Pistole ins Ohr geschossen, während sie am anderen Ohr einen Telefonhörer hielt in dessen Muschel sie mit Max sprach. Plötzlich ein Schuß und das ergab in der anderen Leitung einen ziemlichen Krach. Max ist seit diesem Moment – verständlicherweise – aus der Spur und befindet sich in dauerverkokstem Zustand, aus dem heraus sich seine Reflexionsschleifen und Monologe entspannen, womit sich die Erzählperspektive des Romans generiert – es ist die eines delirierenden, todesversessenen Ichs, das einen Sinn in dieser Geschichte sucht, den es aber unmittelbar und auch nachdem die Fäden entwirrt wurden, nicht gibt.

Sein Leid klagt Max einer junge Radiomoderatorin, die sich Clara nennt, in den Telefonhörer. Die junge Frau betreibt zur Nachtzeit ein Talk-Radio. Claras Interesse als Psychologie-Studentin, die sich mit pathologischen Fällen, genauer gesagt mit der Pathologie von Verbrechern befaßt, ist geweckt, sie steht mit einem Male vor Max‘ Wohnungstür und begibt sich mit ihm zusammen auf eine Spurensuche, die von Leipzig nach Wien führt.

Dieser Rückblick, diese Rekonstruktion von Leben und die Geschichte, die auf einem Rekorder aufgezeichnet wird, reicht bis in die Jugendzeit hinein, wo sich Max, Jessie und ihr damaliger Freund, der bildhübsche Knabe Shershah, ein persischer Diplomatensohn, auf einem Internat für gut betuchte Jugendliche kennenlernen. Jessies Herkunft aus der feinen Gesellschaft ist mit leichtem Makel behaftet, aber zu den Besserverdienenden auch wieder gut passend. Ihr Vater Herbert und sein Sohn Ross sind Großdealer, die über den Balkan, über die Albanien- sowie die Jugoslawienroute die Drogen befördern, und auch Jessie ist mittlerweile eine erstklassige Stoffvertickerin, besser als alle, in ihrer naiven Art unschuldig wirkend und doch hinreichend durchtrieben, um einer solchen Aufgabe sich gewachsen zu zeigen. Teile des Jugoslawienkrieges werden mit Geldern aus Drogen finanziert.<

Doch ist Jessie zugleich ein Opfer dieser Verhältnisse, sie flüchtet sich in spinnerte Fabel- und Bilderwelten, agiert teils durchgeknallt und findet sich im Leben eigentlich nicht mehr zurecht. Ihre Geschichten von den weißen Wölfen und den Schnecken, die sie lieb hat, sind wirr. Aber in diesem Bildern steckt ein Moment von Wahrheit, und im Angesichts eines Grauens, das Jessie miterlebte, reicht einzig die Produktion von Bildern an den Schrecken heran – mithin das, was die Romantik eines Novalis das Poetisieren nannte: dem Endlichen den Schein eines Unendlichen verpassen. Hier allerdings geschieht dies einzig ex negativo.

„Nach und nach aber erkannte ich Details aus ihrem Geplapper in der Außenwelt wieder, und mir wurde klar, dass Jessie alles, was sie sah und erlebte, ein Stück weit verwandelte, um es einzufügen in ihre eigene, märchenhafte Welt. Sie dachte sich nie etwas aus. Vielleicht bin ich hier, um noch die letzten Bestandteile aufzuspüren, aus denen sie ihre inneren Landschaften zusammensetzte, vielleicht werde ich mich dann komplett fühlen. Endlich bereit zu gehen.“

Dieses Begehren nach einer Erklärung sowie die Todessehnsucht Maxens durchziehen den Text, und diese letzten beiden Sätze sind zwar einerseits schön gesagt, aber andererseits klingt es eine Spur zu pathetisch. Doch ist Kritisieren bekanntlich leichter als Selber- oder Bessermachen, und es ist „Adler und Engel“ immerhin das Erstlingswerk eines noch jungen Menschen. Manch gute Sentenz oder metaphorisch-pointierte Beobachtung liegt in Zehs Prosa vor dem Leser, aber es zerstreuen sich diese gelungenen Momente; sie kommen über die bloße aphoristische Sentenz nicht hinaus, die genauso in einem ganz anderen Zusammenhang, im Kontext einer völlig anderen Story, eines anderen Plots formuliert werden könnte, ohne daß diese Sentenz mit der Geschichte selber etwas zu tun hätte und ihr den nötigen Halt gäbe. Wie dem auch sei: Jessies Tod bleibt sinnlos und er klärt sich nicht, es ist dieser Tod, dieser Schuß in den Kopf und das verspritzende Hirn die Leerstelle, um die der Text kreist und die er doch niemals auszufüllen vermag, weil der Tod als Leerstelle unausgefüllt bleiben muß. Dieses Moment abstrakter Negativität führt der Text richtig vor, indem er sich über jeglichen Grund ausschweigt. Was bleibt, ist die reine Sinnlosigkeit eines jeden Todes.Ein wenig hätte ich mir freilich gewünscht, daß der Text diesen Strang ausformulierte und in eine ästhetische Gestalt brächte, insbesondere im Hinblick auf die von allen Seiten begangenen Morde in den Jugoslawienkriege in den 90er Jahren, die das Buch ebenfalls zum Thema erhebt. Wenn der Roman zu seinem Ende kommt, hinterläßt er Leserin und Leser ratlos.

Wie soll man die verzweigte Geschichte zusammenfassen? Wer es ganz genau will, der lese hier. Ich mag diese ausführlichen Inhaltsangaben nicht. Die Story ist von Zeh durchaus flott erzählt und treibt rasant voran, es gibt zahlreiche Momente der Spannung, es verquicken sich die Ebenen, vom Drogenschmuggel auf dem Balkan über die Gemetzel der Serben an den Bosniern, den Albanern, den Moslems und in bezug darauf die Aspekte des Völkerrechts. Flüchtlinge, die als Drogenkuriere mißbraucht werden, und mit den Drogengeldern werden Waffen für die Serben finanziert. Brutale Szenen von Massaker und Vergewaltigung schneidet der Roman kurz an. Aber all diese Dinge bleiben undurchsichtig. Es knüpfen in Zehs Duktus sich an diese Ereignisse juristische Fragen zum Völkerrecht. Wann ist der Punkt erreicht, an dem interveniert werden darf? Wieweit kann der Grundsatz der territorialen Integrität und der Staatensouveränität getrieben werden? Doch diese rechtstheoretischen Fragen bleiben dem Plot im Grunde äußerlich. Und auch die Figur des Max bleibt in gewissem Sinne blaß. Allerdings: Max ist Teil des (Drogen-)Systems, selbst wenn er nur als Anwalt arbeitet, ist er über seinen Arbeitgeber verstrickt. Ein Rädchen, das erst durch Jessies Tod aus dem Ruder läuft. 

Alle diese juristischen Aspekte geben aber bloß die Folie für ein komplexes Geschehen ab, das sich im Grunde zersplittert und ausfasert wie ein Rauschzustand. Nicht Koks, sondern Gras bzw. THC scheint mir allerdings für den Drive des Textes die probatere Drogen, denn wie hinter Nebeln und Schwaden liegt das Geschehen. Koks hingegen ist klar und strukturiert wie ein Riesling, sozusagen mineralisch und ohne Trübung. Undurchsichtig präsentieren sich die verschiedenen miteinander verwobenen Stränge, nicht anders als die Zusammenhänge der Politik. (Wieweit diese Unschärfe ästhetisches Prinzip in der Konstruktion ist, bleibt eine andere Frage) Es sind die auf Tonband gesprochenen Rückblicke von Max, die für eine wissenschaftliche Untersuchung zur Pathologie von (Kriegs-)Verbrechern dienen, denn Jessie und Max standen solchen auf dem Balkan und in Italien in Bari gegenüber. Dieses Buch koppelt zwei Welten: die des Politischen und die des Privaten.

Insbesondere der Aspekt des Völkerrechts bleibt der Geschichte im Grunde äußerlich und dient lediglich dazu, einen Rahmen zu schaffen, der den Fluß der Erzählung in der nötigen Spannung hält und der Kriminalstory eine gewisse Fallhöhe verleiht. Es wird ins Buch ein wenig die Rechtstheorie in den Stoff hineingepreßt: „und Völkerrecht ist kein richtiges Recht. Mehr eine Religion.“ „Die Beschäftigung mit dem Recht hat immer eine beruhigende Wirkung. Alles findet darin seinen Platz.“ Reflexionsphilosophie der Romanfiguren. Aber ich würde diese Art der Konstruktion Zeh nicht unbedingt zum Vorwurf machen, es ist dies eine sehr europäische Art zu schreiben – Marcel Prousts „Recherche“ und insbesondere Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ wären durch diese Art des Essayistischen als Texte kaum denkbar. Was den Roman stellenweise scheitern läßt, ist, daß diese Dinge am Ende äußerlich bleiben. Der Text will vieles bringen und vermag am Ende nichts richtig und im Detail zu entfalten. Das ist schade, weil sowohl im Stoff als auch in Juli Zehs profundem Wissen ein Potential steckt.

Zeh schreibt, nicht anders als in „Schilf“, bilderreich und zahlreich sind die Wie-Vergleiche. Schon zu Anfang als Clara vor der Haustür von Max auftaucht: „Ich nähere ein Auge dem Türspion und sehe direkt in einen übergroßen, weitwinklig verbogenen Augapfel, als läge im Treppenhaus ein Walfisch vor meiner Tür …“ oder beim Arbeitsantritt in der neuen Kanzlei als Max von Wien nach Leipzig versetzt wird: „Ich sah alles klar und deutlich wie durch eine Taucherbrille unter Wasser, ich war der neue Zierfisch im Karpfenbecken.“ Es gibt bei Zeh Metaphern und Bilder, die pointiert und genau gesetzt werden. Diese Bilder treiben die Geschichte weiter, aber es sind am Ende zu viele und der Text verliert sich, weil diese Vergleiche zum Selbstzweck geraten und eine gewisse Sucht nach dem ornamentalen Spiel die Überhand behält.Weniger wäre mehr gewesen, das war bereits bei „Schilf“ so und es läßt nicht gut hoffen, wenn es an „Spieltrieb“ herangeht. Manches freilich trifft es auf den Punkt, selbst wenn als Ton zuweilen ein sehr hoher angestimmt wird – etwa in jenem Gedanken von Clara: „Das Leben ist merkwürdig, flüsterte sie, es besteht eigentlich nur aus Griffen und Schritten. Ein paar wenige davon und schon ist alles anders.“ Oder wie Max es feststellen muß: „Es paßt zu Gottes bekanntermaßen seltsamer Art von Humor, dass er den Menschen nicht mal im Schlaf Ruhe gönnt vor dem eigenen Hirn.“ Die Protagonisten Jessie (und auch Max bei ihrer Reise nach Bari) haben Schreckliches erlebt. Aber es wird alles nur angespielt.

Und da mag man zum Schluß als Jurist ausrufen: „Vitia, quae ex ipsa re oriuntur“! (Mängel, welche an der Sache selbst auftreten.) Leider. Allerdings: einem solchen Totalverriß wie es die FAZ und Deutschlandradio seinerzeit lieferten, kann ich nicht zustimmen. Juli Zeh schrieb einen interessanten Debüt-Roman, der sich flott liest.

Beobachtungen zweiter Ordnung – Juli Zehs „Schilf“ (2)

Der Mensch ist das mit Vernunft bzw. Sprache begabte Tier, so heißt es in der Philosophie. Und die Natur stattete ihn zugleich mit der Gabe des Spiels und der Phantasie aus. Nicht immer zu seinem Segen, denn Vernunft, Phantasie und Spiel passen häufig nicht gut zusammen, und das Realitätsprinzip versagt zuweilen vor dem Spieltrieb oder den bloßen Launen des Zufalls. Diese Aspekte des Lebens hängen manchmal am Detail, am seidenen Faden, sogar, wie in „Schilf“, an einem einzigen Wort, das nicht richtig verstanden wird. Es ist der Zufall, eine kleine (Laut-)Verschiebung (die sich kaum hören, sondern nur in der Schrift realisieren läßt), die um das Ganze entscheiden, so daß einer der Protagonisten einen Menschen tötet, den er nicht hätte töten müssen und auch nicht töten sollen. Die Konstellation ist wie folgt: Zwei hochfahrende, begabte Physiker: Oskar und Sebastian, ein zehnjähriger Junge – der Sohn Sebastians –, der entführt wird, Sebastians Frau Maike, ein Anästhesist an einem Krankenhaus, eine eigenwillige Ermittlerin der Freiburger Kripo und Kommissar Schilf aus Stuttgart. Am Ende stirbt der Kommissar.

Der Wirklichkeitssinn und der Möglichkeitssinn geben zwei verschiedene Weisen ab, sich in der Welt zu verhalten; es sind diese Begriffe zugleich philosophische Kategorien im Rahmen der Metaphysik bzw. der Erkenntnistheorie: bei Kant in eine Tafel der Kategorien gebracht als Verstandesbegriffe, und zwar unter der Rubrik der Modalität – Möglichkeit, Dasein, Notwendigkeit. Es dreht sich freilich nicht nur im erkenntnistheoretischen oder metaphysischen Sinne, sondern auch in bezug auf die theoretische Physik um die Frage des Notwendigen und des Kontingenten. Sebastians Sucht nach verschiedenen Welten, so Oskar, in denen er verschiedene Möglichkeiten durchspielen kann, ohne die Verantwortung zu übernehmen – auch oder in diesem Roman: gerade im Hinblick auf die Sexualität – bleibt kein rein physikalisches Problem oder ein erkenntnistheoretisches Spiel akademischer Philosophie, sondern es verstrickt dieses Denken sich in die moralphilosophischen Fragestellungen, weil das Perspekivische essentiell auf bestimmte Weisen, wie zu leben sei, zielt. Diesen Weg von der theoretischen Physik sowie von der philosophischen Frage zu Zeit und Perspektive schreitet der Roman ab, und dieses Verhältnis oder eher: die Polarität zweier Weisen von Weltordnung impliziert den Bereich der Moral und damit des Handelns. Eine Viele-Welten-Theorie entbindet von jeglicher Entscheidung, von jeglicher Moral: Es ist, von dieser Theorie der Physik her gedacht, alles möglich, und es kann zugleich alles anders sein, so die These des Physikers Sebastian; wobei er sich nicht ganz klar ist, ob er diese These auch vertritt oder aber dem Publikum nur erläutert, ohne dabei groß Stellung beziehen zu wollen. Schon an dieser Stelle zeigt sich seine Unentschiedenheit. In einer solchen Weise der Wirklichkeitserzeugung läßt es sich jedoch nicht leben, wenn man Leben auch unter dem moralischen oder pragmatischenAspekt von unwiderruflichen Entscheidungen sieht. Es führt kein Weg zurück, um es im Pathos des Romanes auszudrücken.

Aber zugleich verkehren sich die Perspektiven innerhalb des Roman-Textes: der in seiner Theorie so verantwortungslose Sebastian erweist sich als Mensch, der die Verantwortung – dieses schreckliche Wort! – gegenüber seinem Sohn nicht scheut, und Oskar, der zur Verantwortung und zur Verortung in der Theorie steht, ist ein bindungsloser Dandy sowie ein intellektueller Snob, wie es nur wenige davon gibt. Verantwortung bleib bei ihm bloße Theorie – eine Theorie, die am Ende des Romans nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Dieses Prinzip der Verkehrung der Begriffe und der Umpolung der Gegensätze ist in der Literatur ein feiner Trick – von den „Wahlverwandtschaften“ bis zu den vertauschten Namen in Hesses „Narziß und Goldmund“.

Juli Zeh, so heißt es, schätzt den Schriftsteller Robert Musil, und es könnte das von ihr ersonnene Szenario dieses Roman sich gut mit jener Passage aus Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ zusammenlesen lassen:

Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen. Trotzdem werden es in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten bleiben, die sich wiederholen, so lange bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie.“ (R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 17, Reinbek 1981)

Aber es ließe sich auch anders sagen, nämlich mit Siegfried Kracauers Studie zum Detektiv-Roman: „Der durch den Detektiv-Roman abgesteckte Gesellschafts- und Weltbereich ist nur einer von vielen, er bezeichnet eine Stufe menschlichen Seins, der andere Seinsstufen an Wirklichkeitsgehalt übergeordnet sind. Umgreift die Sphäre, die er darstellt, einen lediglich von der emanzipierten ratio verbürgten Zusammenhang, so geben die höheren Sphären mehr und mehr dem Gesamtmenschen Raum, dem die ratio eingetan ist.“ (S. Kracauer, Werke 1, S. 109, Fft/M 2006)

Krimis sind mehr als nur Krimis, ihre Problem- und Erkenntnislage ist gesellschaftlich vermittelt und dem Stand des gesellschaftlichen Bewußtseins angepaßt – dies führte Kracauer in seiner großen soziologischen Studie aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts vor.

Diese höheren Sphären zeigen sich bei Zeh (unter anderem) aus der Perspektive der Vögel, die im Roman eine Rolle spielen und von oben herab, aus dem Schwarzwald kommend, auf die Stadt Freiburg schauen, sich darin tummeln und immer wieder in der Stadt und in der Geschichte auftauchen. (Zumindest sympathisiert der auktoriale Erzähler mit diesen Vögeln.) Bis hin zu jenem vogeleigroßen Gehirntumor im Kopf des Kommissars, der ihm den Tod bringen wird. Am Ende kehren die Vögel zurück in die Natur der Berge, nordöstlich von Freiburg.

Die Beobachtung sowie die Position des Beobachters bestimmt, was wir sehen und was wir denken können. Die Beobachtungsperspektive bestimmt die Theorie, um es ein wenig im Sinne des Radikalen Konstruktivismus zu formulieren. Es ist – zum Ende des Romans hin – die Perspektive von oben, die alles zurechtrückt und zerfließen läßt, und diese Frage der Perspektivität ist für den Roman ausgesprochen wichtig, insbesondere im Hinblick auf jene zwei Modelle der Physik, eben der Quantenmechanik und der Multiple-Welten-Theorie sowie der Definition von Kausalität und Zeit. Teilchen und Welle sind nicht zugleich und im selben Blickfeld zu beobachten, es existiert eine Relation der Unschärfe. Aber ebenso im Verhältnis zum Tod als der letzten Instanz kommt der Perspektive und dem Abschied von ihr Bedeutung zu: „Auf Wiedersehen, Beobachter, denkt der Kommissar“ als er stirbt: Jener Beobachter, der sich im Inneren des Kommissars beständig selber ins Visier nimmt und in die Reflexion bringt, die innere Stimme – jener daimon.

Was für eine Welt wäre es, wenn die Wahrheit nur eine Möglichkeit von vielen ist? Dies ist – auch im Hinblick auf Orwells Roman „1984“, wo die Menschen unter der Folter lernen, etwas gleichzeitig für wirklich und unwirklich zu halten, die Frage, um die der Roman kreist. Allerdings – ich verrate es vorweg – löst er diese Frage von der Konstruktion her und im Rahmen der sprachlichen Darstellung sowie seiner ästhetischen Mittel nur unzureichend ein, sondern es bleiben die Wendungen und Windungen des Spiels teils konstruiert und der Problemlage äußerlich. Es fehlt diesem Roman das, was die Amerikaner so gut können: eine Geschichte zu erzählen, die zwar von der Philosophie, von der Theorie getragen wird, ohne daß diese Theorie jedoch wie implantiert oder wie eingespritzt wirkt. Sie kommt in den Sätzen des Textes, in den Äußerungen der Protagonisten nicht (oder selten) vor. Ich verweise hier auf David Foster Wallace – mit dem mich immerhin Lovely Linda verglich (entweder wegen seiner überschießenden Phantasie oder aufgrund seines Endes) –, auf den großartigen Don DeLillo, auf Paul Auster und auf Cormac McCarthy. Natürlich ist es ungerecht, das eine gegen das andere auszuspielen. Ich will Juli Zeh da gar nicht an den Wagen fahren. Aber es gibt bei ihr diese Stellen im Text, die nicht funktionieren.

Der Krimi ist, wie Kracauer schreibt, im Rahmen der Konstruktion eine Chiffre. Juli Zeh verwebt die Stränge und kleidet die Theorie in den Kriminalroman. Ich ginge allerdings nicht so weit, sie aufgrund der vielfältigen Bezüge und Korrespondenzen, die sie liefert, zu einer der Universalgelehrten zu machen, wie mir kürzlich eine wilde und zuweilen bissige, raubvogelfangende Königstigerin mitteilte. Dafür wirkt der Roman – zumindest stellenweise – zu bemüht – es wird in alle Richtungen hin fabuliert. Das postmoderne Wissen kommt gut ohne Wissen aus, sondern braucht und benutzt die Versatzstücke, welche in Variation gebracht werden. Plappern und klappern: Teils plappern die konturlosen Figuren ihre Thesen daher. Der Roman ist vielfach zwar gut gebaut in der Abfolge und im Suspense und dennoch klappern einige der Details darin. Die Kriminalstory als ein Trick, um Fragen der Physik und damit korrespondierend der Moralphilosophie sowie der Schuld (freilich nicht im juristischen Sinne) zum Thema zu machen, ist ein probates, ausgesprochen geeignetes Mittel (sei das bei dem Surrealisten Léo Malet oder bei R. Chandler), und diese philosophisch motivierte Konstruktionsleistung fesselt, aber andererseits funktionieren die Sprache, der Rhythmus des Textes nicht immer so, wie es im gelungenen ästhetischen Objekt laufen sollte. Bilder geraten schief oder sind dick aufgetragen: „Er pfeift seine Gedanken zurück wie ein Rudel tollender Hunde und steht noch einmal auf, …“ oder „Die gnädige Nacht verflüssigt sich und rinnt nach allen Seiten auseinander. Hier wie dort zeigt sich der neue Tag als ein scharfkantiger Fels, bereit, jedem Herausforderer die Haut zu schälen.“ Das lese ich weder ironisch, noch als Spiel des Textes mit übertriebener Metaphernbildung, sondern es stört den Fluß des Textes und macht insbesondere die gelungenen Bilder und Metaphern kaputt.

Auch die Vögel werden als Metapher und als Bild für eine Natur, die sich entzieht und die doch überall wirkt, überstrapaziert. Die Figuren des Romans sind in der Durchführung und in ihrem Auftritt blaß gezeichnet, weil sie bloße Stellvertreter sind. Lediglich Oskar und Sebastian gewinnen Kontur. Was am Anfang in der Lektüre noch fesselte, weil zwei Figuren als Antipoden aufgebaut werden und Leserinnen und Leser auf den ersten Blick wissen: es wird sich um diese Männer eine Tragödie um Liebe, Leid, Erkenntnis spinnen, das verfranst sich im Verlauf. Es wird alles und nichts als Thesenliteratur angetippt. Die Sätze geraten viel zu bedeutungsvoll, kommen daher wie Sätze aus dem bürgerlichen Feuilleton. „Niemand könne sich heutzutage länger als ein paar Tage an etwas erinnern, …“ (S. 58) Stellenweise erschien der Roman mir, als illustriere sich in ihm eine Theorie der Halbbildung. Manches wirkt in der Schilderung wahr und es schießt dieser So-ist-es-Blitz in den Kopf, wenn man solche Sätze liest – Situationen, die jeder schon einmal dachte oder erlebte: „Das schreckliche Gefühl, im eigenen Leben bloß Gast zu sein, kennt er schon lang.“ (S. 67) Anstatt daß diese These bzw. dieses Merkmal, welches Sebastians Charakter ausmacht, im Modus des Erzählens, durch die Sprache sich entfaltete und entwickelte, wird es lediglich proklamiert. Der Roman spielt mit solchen Sentenzen strategisch und bezieht den Leser ein. Aber diese Taktik der Sprache und des Textes gereicht dem Roman am Ende zur Schwäche, weil zu viel nur behauptet und mit Bedeutung aufgeheißt wird, statt daß es sich in der Handlung und der Gestaltung einlöste.

Freilich, das Buch bietet manches Capriccio, an vielen Stellen lebt es von den gegenläufigen Bildern und Wendungen; es erzeugt Spannungen, es treibt die Story im Fluß voran, der Roman hält manchen Aphorismus bereit, der sich gut liest, der paßt: „‚Das Schlimmste (…) geschieht immer danach. Es geschieht dann, wenn die Menschen glauben, dass sich das Schlimmste bereits ereignet habe.‘“, wie der Protagonist Oskar sagt. Eine solche Sentenz enthält einiges an Wahrheit, aber zugleich kommt sie in einem Dialog viel zu groß daher, so daß sie sich selber durchstreicht. Und so schwankt der Leser zwischen Verheißung, Spannung und Überdruß an zuviel Konstruktion.

Es läßt sich Zehs dritter Roman auch als eine Kritik an einer Postmoderne und einem alles vertilgenden Relativismus lesen, die den Begriff von Wahrheit radikal perspektivieren und damit durchstreichen möchten. Und zum Schluß des Textes bleibt doch ein Bild der Natur sowie die Unbestimmtheit im Modus des Erzählens übrig: „So ist es, sagen wir, in etwa gewesen“, schließt der Roman.

Ja, so kann es einem ergehen, und diesen Widerspruch bringt eine gelungene Kritik ins Denken – ich habe den Roman gerne gelesen und er ist dennoch mißlungen, was häufig geschieht, wenn Thesen und Philosophie in einen Text geplustert werden. Aber es folgen weitere Romane von Juli Zeh, die ich hier begleitend bespreche oder in Essays in einen weiteren Text einschreibe. Es sind die Texte wie Gravuren und Tätowierungen.

Faltungen der Zeit – Juli Zehs „Schilf“ (1)

So beginnt vom Plot her und vom Stoff ein gut gebauter Roman und erzeugt jenen Lesesog: Ein (melancholischer) Rückblick des Erzählers/der Erzählerin auf zwei in der Studienzeit innig verbundene, unzertrennliche Freunde, geniale Ausnahmestudenten der Physik, gekleidet und mit dem Habitus des Dandys, deren Welt und deren Möglichkeiten noch vor ihnen liegen, doch die Zeit bringt Menschen auseinander und erzeugt Brüche und Dellen, die Freundschaft bleibt bestehen, doch die Intensität jener wilden physikalischen Studienjahre, die leidet. Dann gehört zum anfänglichen Personenensemble eine Frau, ein Kind, und ein physikalisches Problem zur Kausalität stiftet den Auftakt sowie eine (wohl nobelpreisverdächtige) Monotheorie der Physik, welche zwei Sichtweisen auf das Universum zu einer holistischen Theorie zusammenbringt, so daß Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie sich vereinigen lassen, so der Physiker Oskar: die Welt sei ein Feingespinst aus Kausalitäten. Während der verheiratete mit Frau und Kind versehene Nanotechnologieforscher Sebastian eine Mehrweltentheorie verteidigt, in der zudem die Zeit nicht chronologische, sondern in einer synchronen Faltung existiert: es müsse mehrere Universen geben.

Aber es handelt sich bei den Ereignissen in diesem Buch wohl kaum bloß um ein Spiel der Physik oder um einen Exkurs zum Zeitsinn; der Krimi deutet sich an, bereits in dem Satz, der folgt, als Sebastian seinen Freund Oskar in seiner Freiburger Familienwohnung zu sich einlädt – wie jeden ersten Freitag im Monat, als Ritual:

„‚In vier Tagen bringe ich einen Menschen um‘, sagte Sebastian. ‚Aber ich weiß noch nichts davon.‘
Das jedenfalls hätte er sagen können, ohne zu lügen. Stattdessen behauptete er:
‚Der Freiburger Sommer ist so schön wie die Menschen, die ihn genießen.‘“

Ein verlogener und verlegener Satz, Sebastian wußte das, aber er war angesichts des Freundes sowie des bevorstehenden Disputes zu den Fragen der Physik nervös.

Und etwas später folgt dann die Theorie jenes wirren Zeitmaschinenmörders: „Nach der Tötung von fünf Menschen hatte der junge Mann ausgesagt, es habe sich keineswegs um Mord, sondern um ein wissenschaftliches Experiment gehandelt. Er sei aus dem Jahre 2015 angereist, u m die Viele-Welten-Interpretation zu beweisen. Diese betrachte die Zeit nicht als fortlaufende Linie, sondern als einen ungeheuren Stapel von Universen, der sich mit jedem Augenblick vergrößere, als eine Art Zeit-Schaum aus unendlich vielen Blasen, weshalb eine Reise in die Vergangenheit keine Rückkehr in ein früheres Stadium der Menschheitsgeschichte darstelle, sondern einen Wechsel zwischen den Welten. Folglich sei es problemlos möglich in die Vergangenheit einzugreifen, ohne dadurch die Gegenwart zu ändern.“

Eine feine und interessante These. Von einem Wahnsinnigen zwar ausgesprochen, aber deshalb, so Sebastian, müsse diese These selber nicht wahnsinnig sein. Solche Konstellationen regen an, und die extremen Probleme und Fragen von Physik und Philosophie erfreuen den regen lesenden Geist. Worum es in diesem Buch geht: ich weiß es noch nicht. Aber die Spannung steigt und wenn unwahrscheinliches sich verschachtelt, so erzeugt dies meist eine Dimension, die auf Dinge pointiert und fokussiert, die den Alltag um ein winziges überschreiten.

Ein Buch läßt sich schlecht besprechen, wenn der Leser gerade am Anfang sich befindet. Und insofern werden diese und mögliche folgenden Text auch keine Bücherbesprechung, keine Rezension oder ein Essay sein, sondern ein Vorlauf hin zu einer umfassenden Juli Zeh-Lektüre, die, so ich den langen Atem des Long-distance- runners besitze und durchhalte, auf einen Besprechungs-Text zu ihrem neuesten Roman „Nullzeit“ hinausläuft. Um diesen neuesten Roman lesen zu können, muß man, so meine These, auch die anderen Romane von Juli Zeh kennen. Denn Texte verweisen auf Texte und sind miteinander verbunden. Ich fange mit „Schilf“ an und gehe dann zu „Spieltrieb“ über, was mir vom Titel sehr gut gefällt. Vielleicht noch ein oder zwei Essaybände und ihr Erstlingswerk, den darin liegen meistens alle Aspekte eines umfassenden Textes gesammelt und in Anspielung und Anklang vor – gleichsam an sich. Von diesem Punkt her entfaltet sich ein Text und so wirkt die Literatur fort.

Zuletzt sei noch ein wunderbares Zitat jenes Physikdandys Oskar gegeben, als er den Trauzeugen bei Sebastians Hochzeit macht:

„Die Hochzeitsgesellschaft sprach hinter vorgehaltener Hand über den Trauzeugen, der an den Wänden des Festsaals entlangschlich und mit seiner dunklen Gestalt persönlich für die Schatten in den Ecken verantwortlich schien. Seine Miene behauptete, sich niemals im Leben so köstlich amüsiert zu haben. Statt eines Schleiers, erzählte er den peinlich berührten Gästen, hätte Sebastian seiner Braut eine grüne Lampe aufsetzten sollen. Bei Notausgängen gehöre sich das so.“

Schöne schwarze Romantik und der bittere Biß des Zynikers, so wie es in der gebotenen Schonungslosigkeit sein muß, weil es der Blick auf die Welt ist, der paßt: Die Dinge in ihrer Bedürftigkeit zu sehen. Ein fast messianischer Blick. Der Zyniker ist der Utopist des 21. Jahrhunderts.