„Ein echter Schweizer neigt mehr zum Jodeln als zum Kubismus“ – 100 Jahre Dada

IMG_20160205_0001 (2)Ausgerechnet die Schweiz – so ruhig und beschaulich liegt sie da – als Geburtsort von Dada, wenn man Kunst an Daten knüpfen mag. Zürich 1916, als die erste Klub- und Kabarett-Performance im Geistes Dadas vor rund 50 Zuschauern über die Bühne sich schob. Noch waren die Dadaisten nicht mit festem Namen und Kunst-Programm institutionalisiert. Doch mit schrägem Ton, im Geiste von Futurismus, Kubismus und das Berliner Kabarett der Neopathetiker weiterführend, traten sie auf, mit Simultan- und Lautgedicht stürmten sie die Bühne, das Publikum tobte, mit Hooosenlatz-Rufen und „Umba, umba, die Neger tanzen auf den Bastmatratzen“, so wob einer der Performer seine Szenelegende, ganz im Übersee-Sound der Zeit gehalten, verkündet und noch nicht Postkolonial- oder Postkoital-Studies verbittert, sondern mit Carl Einsteins „Negerplastik“ und halb-unschuldigem und doch eurozentrischem Maskenkult fremde Völker im derben Hinterkopf, mit Russenorchester, die sangen und Balalaika zupften, und Lenin wohnte keine zehn Hausnummern weiter. Wenn das man keine Revolte gibt!

„Der Abend ist mir nicht gelungen,
So sagen böse Zungen,
Doch mir hat’s gefallen,
Ich bin immer noch am Lallen“
(Schnipo Schranke, aus ihrem Song „Pisse“)

Am 5.2. eröffnete in der Spiegelgasse 1 das Cabaret Voltaire. Einen bedeutsamen Namen wählten deren Betreiber Hugo Ball, Richard Huelsenbeck und Emmy Hennings für ihren Spelunken-, Spiel- und Performanzort: Voltaire, den man zunächst mit der französischen Aufklärung und nicht mit Hohn und Zertrümmern in Verbindung bringt, der aber mit seiner Figur des Candide doch einen guten Namenskandidaten abgab, weil jener Roman den Spott über die beste alle möglichen Welten und auch über das absurde Treiben und Tun in dieser unserer Welt vorführt. Und der Spiegel als Bild für das Treiben der Dadaisten dürfte selbstevident sein. Nur schlug der Spiegel irgendwann zu Trümmern. Splitting Images. Die Schwiez aber erwies sich als probates Rückzugsidyll und war als neutraler Ort inmitten des Kriegs- und Weltenbrandes ideal für die aus Deutschland geflohenen Künstler Ball, Hennings, Huelsenbeck. Zu ihnen gesellten sich der rumänische Allesdichter Tristan Tzara, der Maler Marcel Janco und der Maler, Bildhauer, Dichter Hans Arp aus dem Elsaß: mal France, mal Deutsch. Keine drei Wochen später nach ihrem ersten gemeinsamem Auftritt und keine 400 Kilometer entfernt fand die erste entfesselte Materialschlacht des 1. Weltkriegs statt, die von Verdun – sinnlos und grausam wie jede Schlacht, Menschen als Kanonenfutter, Eruptionen, die Erde und Mensch zerrissen.

IMG_20160205_0001Was Futuristen wie Marinetti propagierten und mancher Intellektuelle als die große Erlösung aus dem Dämmern empfand: das reinigende Stahlgewitter, das von der Last des erstarrten Europas löst, eine neue Zeit oder eine Entscheidung herbeibombt und die Acedia im Malstrom ungehemmten Artilleriefeuers bricht – Krieg als Befreiung und ästhetisches Ereignis –, war für die nach Zürich Emigrierten keine Option. Zumindest nicht in der Praxis. Wenngleich die operative Gruppe Dada, die sich in Zürich fand, von dem Bewegungssound und dem Rennwagenkrach der Futuristen sich inspirieren ließ und dessen Taktik des Lärmens und Zertrümmerns übernahm – sowohl der Konventionen wie auch des auratischen Kunstwerks. Da lag die Nike von Samothrake mit gebrochenem Flügel und zerfetztem Gewand als Steinschutt: Fragment vom Fragment. Der spätere Soziologe und marxistische Theoretiker Henri Lefebvre schrieb1924: „Dada zerschmettert die Welt, aber die Scherben sind schön.“ Doch ging es Lefebvre wie auch den Dada-Performern nicht darum, später die Scherben wieder zusammen und zu einer neuen Ordnung zu fügen, auf das ein Teil zum andern fände. Sondern es wurden die Possen weiter auf die Spitze getrieben. Kein System, kein Staat, keine autonome Bürgerliche Kunst. Oder doch? Die Hegelsche List der Vernunft ist meist klüger als die Akteure von Kunst und Geschichte.

Die Schönheit dieser Kunst, die das klassische Schöne mied, wie die Jungfrau das Kind, bestand im Akt als solchem, Kein Zeugen, sondern Destruktion. Die Schönheit lag im Zerlegen, im Zerlegten, das ohne Sinn und Kontext schlicht da war als das, was es gerade war, und so wirkte es auch: das Zersplitterte, Disparates, als Dinghaftes, das aufschlug – a bigger splash – und es zersprang, der Laut, der Ausdruck von Aufprall – zum Teil natürlich durch den Expressionismus angehaucht, durch Jakob von Hoddisʼ Dichtung zum Beispiel, wo qua Sprache Disparates ins Simultane übersetzt wurde: Oh Mensch, aber als Phrase nur noch vernutzt und zum Schreien komisch geschmettert. Die typographische Assemblage, das wirre Verlaufen der Buchstaben auf einem Plakat oder in einer der Dada-Zeitschriften, das versprengte Ding, das Objet trouvé, wie es ein paar Jahre später dann hieß, oder das Readymade: herausgebrochene Realien aus dem Produktionsstrom. Keinem Zusammenhang mehr trauend als dem bloßen Vollzug und der Aktion, kein Sinn, sondern Ereignis.

Ereignisse, die sich an Daten und Orte knüpfen, denn nur wenn wir  an die Stimmung eines Abends andocken, an einen flüchtigen, aber bedeutsamen Augenblick, können solche Auftritte jenen Kultcharakter gewinnen, der ein paar Jahrzehnte später dann für die Pop-Kultur symptomatisch werden sollte. Kein System mehr war die Losung. Aber die Parolen „Kein System“ und „Stop making sense“ können schnell zum System sich bügeln und insofern zeitigte Dada die Paradoxonfalle jeglicher provokanten Kunst: „Epimenides der Kreter sagte: Alle Kreter sind Lügner.“ Losungen werden zu dem, was die Sprache der Jäger mit Losung bezeichnet: Ausscheidungen, die als Rest der im Darm verarbeiteten Nährstoffe ausgeschieden werden und als Hirschkack den Wald zieren. Alles das: Post-Dada auf das System autonom-bürgerlicher Kunst gestülpt. Doch inmitten des Bruchs, im Obskuren wie Obskuranten (und überhaupt die Paradoxien): keine Kunst und keine Kunstrichtung brachte mehr Pamphlete, Proklamationen und Manifeste hervor als Dada – sieht man einmal von den eher bürokratisch formulierten Manifesten der Surrealisten um Breton ab, die kalkuliert und gesteuert auftraten. Wenig vom gepriesenen Unterbewußten war darin zu spüren. Anders als in den Manifesten der Dadaisten. Indem sie erklärten, was sie alles nicht taten und wollten und wie Dada als Funktion des Nichtfunktionalen nicht funktioniert.

Es sind bei Dada die Proklamationen, was alles Dada ist und was es nicht ist: ob Tristan Tzaras sieben Dada-Manifeste, die es bei der Hamburger Edition Nautilus zu erstehen gibt, oder die Ausführungen Richard Huelsenbecks. Im Vordergrund steht die Performanz und das Paradoxon unendlich-unsinniger und herrlich absurder Anläufe zu Sinnkohärenz:

„Dada kann man nicht begreifen, Dada muß man erleben. Dada ist unmittelbar und selbstverständlich. Dadist ist man, wenn man lebt. (…) Dada ist die amerikanische Seite des Buddhismus, es tobt, weil es schweigen kann, es handelt, weil es Ruhe ist.“

IMG_20160205_0003In Zürich nahm etwas seinen Anfang, für das ein Begriffsraster nur unzureichend paßt – zumal sich Dada-Zürich in ganz unterschiedliche Richtungen auffächerte. Ob George Groszʼ und John Heartfields politischer Berlin-Dada, Hans Richters Film- und Bewegungsexperimente, New York-Dada, Max Ernsts Collagen, die dann zu formfeinen Montagen sich steigerten, Kurt Schwitters Merz-Kunst und seine Anna Blume oder aber Tristan Tzara, der Dada nach Paris brachte, wo diese Form der Dekomposition mit den ungewußten Träumen der Surrealisten in Berührung kam. Kunst entzog sich dem bürgerlichen Aneignungsmechanismus, der bürgerlichen Selbstrepräsentation, die sich in den gediegenen klassischen Werken gerne spiegelte und mit Hölderlin und Nietzsche in einen sinnlosen Krieg zog. Kunst konterkarierte in Dada die Sinnstiftung. In einem Simultan- und Lautgedicht wie „L’admiral cherche une maison à louer“, wie in Zürich im Februar vorgetragen, gibt es wenig zu verstehen, aber viel zu hören. Transmutationen der Objekte und in der Malerei der Farben und Formen, wie es die Kubisten um Picasso betrieben und was die Dadaisten als formgebende Formsprengung lustvoll aufgriffen. Eine Welt unter neuer Optik.

„Damenseidenstrümpfe können be-griffen werden,
Gauguins nicht.“ (Walter Serner)

Über Dada etwas in Theorie zu texten, ist müßig, denn es ist kunsttheorietechnisch fast alles gesagt, die Messen gesungen, selbst die des Oberdada Johannes Baader, der mit Jagdschein versehen, mitten im Gottesdienst des Berliner Dom schrie: „Was ist Christus dem gemeinen Mann? Er ist ihm wurscht!“. Allenfalls Details und besondere Anekdoten oder Vergessenes lassen sich in Erinnerung rufen: Wenn etwa Richard Huelsenbeck keck ganz im Geist der Zeit von Kubismus und Exotiksehnsucht nach den außereuropäischen Kulturen – die Europäer werden ihren inneren Rousseau nicht los – wie auch im Sinne von Carl Einstein „Negergedichte“ grölte. (Dada-Berlin etwa war sehr viel politischer und provokanter als die Show in Zürich.)

„Épater le bourgois“ war immer schon die Parole radikaler Kunst, die mehr als nur klassisch antichambrieren wollte. Bis hin zu Jonathan Meese – wenngleich die meisten denn doch gerne von den Tischen aßen, die sie im Gestus des Antibürgerlichen schmähten, oder zumindest nach den abfallenden Krümmeln haschten. Für den wohldosierten Schock zuständig, und es waren die Dadaisten nicht die ersten, die ihn unters Volk brachten, und sie sind nicht die letzten. Wenn aber eine Gestalt des Lebens alt geworden ist, wird es in der Kunst schwierig: „Keine Zähne im Maul, aber La Paloma pfeifen.“

Greil Marcus sieht es in seinem Buch unbedingt lesenswerten Buch „Lipstick Traces. Von Dada bis Punk“ so: „Dada wurde erst im nachhinein zur Freiheitslegende; in Aktion war Dada ein gnostischer Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts.“ Diese Sicht mag gewiß auch der eigentümlichen Gemengelage dieser Zeit zwischen Aufbruch, Reformbewegungen und Revolte geschuldet sein, und insbesondere dem Denken Hugo Balls, das weniger revolutionär, sondern eher von einer Art katholisch-mystischen Esoterik angehaucht war.

Die Avantgarde ist vergangen und es hallt nur das „Nach“. Nach der Avantgarde ist nicht mehr das davor. Nach der Avantgarde ist das Heute. Der Platz ist leer, die Spiele gespielt, alle Provokationen gefahren. Allenfalls variieren wir das, was einmal ausgeklügelte und witzige Mode war und versuchen, neue Strategien der Überwältigung zu finden. So wie Warhol die Idee, die hinter Duchamps Ready-mades steht, in die moderne Warengesellschaft trug und als Repro-Technik auf das System Pop applizierte, das es zu Duchamps Zeit nicht gab.

Von all der Kunst als Antikunst, von all den Destruktionen und der Umwälzung aller Werte bleibt nichts als der Nachhall oder aber eine kanonisierte Bewegung, die im Museum mündet. (Wozu Dada niemals taugte: es war an Aufführung und Ort gebunden.) Stillgestelltes für den bloßen Ausstellungswert. Denn alle Simultanität, alles Lautdichterische, wenn Klang, Wort, Bild und Sinn einander bezirzen, durchtreiben und durchstreichen, hat irgendwann ein Danach, und es ist dann das Spiel vorbei, die Party ist, wie jedes überbordende Fest und jede wunderbar trunkene Nacht irgendwann, zu Ende. Und mit dem Schluß von Apollinaires Gedicht „Zone“ gedacht:

„Und du trinkst diesen Alkohol der brennt wie dein Leben
Dein Leben das du trinkst wie einen Aquavit

Du machst Dich auf den Weg nach Auteil du willst zu Fuß nach Hause
Willst schlafen zwischen deinen Fetischen von der Südsee und aus Guinea

Christusse sind es von andrer Gestalt und eines anderen Glaubens
Es sind niedere Christuse dunkeler Hoffnungen

Ade Ade

Sonne Hals durchhackt“

IMG_20160205_0004Als Nachwort dies: Ein Effekt jedoch hat sich herübergerettet, der die zukünftigen Programme der Kunst, der Avantgarden und vor allem des Pop bestimmen wird: Das Event, das Ereignis, die Performance – das zweckfreie Tun um dieses Tuns willen nämlich. Das Spielen auf Gitarren im Probenraum, das gemeinsame Improvisieren am Klavier, das wilde Texten von Songs oder wenn zwei sich Gedichte vorlesen, eine Ausstellungseröffnung, irgendwo in einer Fabriketage, mit billigem Wein, viel Bier, den unendlichen Gesprächen, die Launen des Augenblicks, wenn man mit Menschen zusammen etwas Besonderes, Wildes veranstaltet oder einfach wenn wir „Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind“, wie Adorno an einer Stelle seiner Ästhetik über die Arbeit der Kunst schrieb. Es ist das ästhetische Ereignis, der Moment, den Dada für die Kunst fruchtbar machte, und dieses „Prinzip“, das keines sein will und sich nicht kontrollieren lassen mag, bleibt als Intensität, als Moment und als der geile coole wilde Fetisch Augenblick.

„Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“

Bildernachweise:
Bild 1 aus dem Katalog „ Dada in Zürich “ , im Arche Verlag, (vergriffen)
Bilder 2-4: Reprint der Dada-Zeitschriften in der Edition Nautilus (vergriffen). Es finden sich im Nautilus Verlag aber noch andere Bücher zu Dada. Unbedingt auf die Homepage schauen!

 

After Postmodernism. Oder aber: nach der Moderne ist vor der Moderne

tumblr_lg9me0AkMy1qa0onxo1_1280Es gibt diese Woche auf 3sat, jeweils um 19 Uhr 25, eine inspirierende Sendung: „Der Meisterfälscher“. Die Wahrheit der bildenden Kunst der Moderne manifestiert sich in den Bildern von Wolfgang Beltracchi. Bei Beltracchi fallen im Zeichen der sich vollendenden Postmoderne die Autonomie der Kunst, Wiederholungsdiskurse, Simulacrum von Wahrhaftigkeit und Ausdruck, der inzwischen drastisch gebremste ästhetische Fortschritt des Materials, Markt samt dem damit korrespondierenden Monetären in eins. Wer möchte und das Geld hat, kann sich von Beltracchi einen Max Ernst oder einen Heinrich Campendonk auf Bestellung malen lassen. In den Museen und den gravitätisch auftretenden Galerien wird Beltracchi nicht gut aufgenommen. Sie werden wissen, weshalb. Hätten Sie einen Blick für die Lage der Kunst, änderte sich ihr Gespür.

Wolfgang Beltracchi trieb die Kunst in eine Ecke, in der sie an sich (das meine ich in diesem Zusammenhang ganz hegelianisch) bereits lange schon kauerte, ohne es recht zu wissen, und er brachte diese Position der bildenden Kunst auf den Punkt. In anderen Ländern ginge man mit diesem grandiosen Scherz der Kunstgeschichte vermutlich sehr viel souveräner um. Beltracchi selbst und ebenso seine Bilder sind Bestandteil der postklassischen Moderne, weil sie die Verquickungen und das Scherzhafte, wie auch das aleatorische Moment moderner bildender Kunst aufzeigen. Im Grunde ahnten wir dies bereits vor 100 Jahren, als die Dadaisten in Zürich im „Cabaret Voltaire“ (sinniger und passender Name) ihre großartige Performance starteten und als der (wie Beltracchi technisch-malerisch hochgradig begabte) Marcel Duchamp seine Objet trouvé wie den Flaschentrockner und die Fountain präsentierte. (Daß die Kunst Marcel Duchamps, einem der unterschätztesten Künstler des 20 Jahrhunderts, sehr viel weiter als über diese Frage nach Kunstdingen und Gebrauchsdingen ausgreift, zeigt sich in „Das Große Glas“ samt dem damit korrespondierenden Textkonvolut der „Grünen Schachtel“. An dieser Stelle sind wir an dem Punkt, als die bildende Kunst der Moderne zu ihrer Höhe aufstieg.)

Beltracchi selbst sagte von sich, daß er die Bilder malte, die Max Ernst, Pechstein oder Campendonk gerne gemalt hätten. Beltracchi hat sich mit seinem Sujet, mit dem entsprechenden Künstler, mit der Technik immer und vor allem intensiv auseinandergesetzt. Jahrelang gingen ihm die Fälschungen durch. Die Bewohner des Kunstmarktes haben sich täuschen lassen. Der Ruf von Werner Spieß ist leider dahin. Er hat sich ebenfalls täuschen lassen. Über das Wirken der modernen bildenden Kunst und insbesondere über den Künstler als vermeintliche Genie-Instanz sagen diese Fälschungsszenen einiges aus.

Das Original mag von einer Reproduktion noch zu unterscheiden sein. Vor einer Fälschung ist es nicht gefeit.

Die letzte Folge mit dem Schauspieler Christoph Waltz , der im Stile von Max Beckmann gemalt wird, sollte sich das geneigte Publikum unbedingt ansehen. Es lohnt sich auch aus dem Grunde, weil Wolfgang Beltracchi ein ausgesprochen interessanter und souveräner Mensch ist. „Ich kann alle Stile, es gibt keinen Maler, den ich nicht kann“ so Beltracchi. Daß Kunst inzwischen und schon lange Auftragsarbeit ist, wissen wir nicht erst seit Jeff Koons oder Marina Abramović, die eine Performance bereitete, die zugleich als Werbung für Sporttreter von Adidas diente. Das Genie ist genau dort wieder auf seinen Punkt gebracht, wo es einst entsprang: Am Fürstenhof. Lieber Maler male mir. Unsere Exzesse des Punk in Kunst oder Kleinkunst waren der letzte Versuch, auszubrechen. Der Immanenz zu entrinnen, zu entragen. Der Versuch mißlang. „Mit Danone kriegen wir euch alle!“ So lautete ein Werbespot der 80er Jahre. Und ein weiterer „Prunk mit Punk bei Kaufhof“. Botschaft verstanden. Der Kampf geht weiter?

Das Design bestimmt das Kunstsein. Kleiner topologischer Abgesang

„Wie gesagt: Jede Ware kann als Kunst gesehen und erlebt werden. Die totale Ästhetisierung der Welt, inklusive der Warenwelt, bildet den Horizont, in dem sich der moderne Kunstbetrachter notwendigerweise bewegt. Der Unterschied zwischen dem üblichen, ‚prosaischen‘ und dem ästhetischen, ‚poetischen‘ Konsum – zwischen Bedürfnis und Begehren, zwischen Notwendigkeit und Exklusivem – ist damit längst verschwunden.“

 Diese Sätze schrieb – hellsichtig, wie es gute Philosophen nun einmal sind – Boris Groys unlängst im Jahre 2003 in seinem Buch „Topologie der Kunst“. (Wobei Groys am Ende, das muß man mit dazu schreiben, diese Sicht vom Nachlassen der Kunst als Kraft und als sinnliche Überwältigung, als Prozeß der Kreation nur bedingt teilt.) Mit Duchamps Ready-mades ahnten wir diesen Umstand bereits, als er seinen Flaschentrockner und das Urinoir (Fontaine) präsentierte, und einige Jahrzehnte später dann lehnte sich der Werbegrafiker und umfassende Factory-Künstler Andy Warhol an diesen Aspekt der Kunst an und führte die Reproduktion des gewöhnlichen Gegenstands als Kunst fort.

Wenn dann, wie Hanno Rauterberg in seinem neuen Buch „Die Kunst und das gute Leben: Über die Ethik der Ästhetik“ beschreibt, die Performerin Marina Abramović 2014 zur Fußball-WM in Brasilien eine ihrer Kunstaktionen für Adidas ummünzte und als Werbung zur Verfügung stellte, tangiert diese Ästhetisierung der Waren und die Anästhesie der Kunst – so mutmaße ich – zwar nicht Kunst insgesamt, aber doch die der Frau Abramović. Mit böser Zunge könnte man behaupten, daß diese Anästhesie an sich bereits in ihrem Werk angelegt war, um in dieser Drastik die Kunst eben auch für die ästhetisierende Werbung  nutzbar zu machen. Machen wir uns nichts vor: Das Kunstwerk ist lediglich eine Ware unter vielen anderen.

Der österreichische „Kurier“ schreibt über Abramović:

„Die Marke Marina
Marina Abramović bleibt dennoch eine globale Marke für Direktheit, Sensibilität – und für Humorlosigkeit. Eine Marke, die auch nicht davor zurückscheut, mit anderen Marken zu kooperieren und sich deren Strategien zunutze zu machen. So tat sich mit dem Sportartikelhersteller Adidas zusammen, um rechtzeitig zur Fußball-WM ein Video zu lancieren. Die Idee zu der Performance, bei der es laut PR-Text um die Kraft von Teamgeist und Zusammenarbeit geht, stammt aus dem Jahr 1978. Nur wird sie nun Fußball-affin von 11 Performern ausgeführt, die – Überraschung – spezielle Turnschuhe tragen.“

 Die Intensität der bildenden Kunst [ihrer Überschneidungen, wenn die Gattungen sich, wie in der Performane-Kunst, verfransen, die Struktur des Werkes als Kunstwerk, sein Wahrheitsgehalt] weicht dem bloßen Ausstellungswert als Ware. Die Wahrheit der Kunst erweist sich – freilich mit einer in der Logik der Sache gegründeten Notwendigkeit – im Prozeß der Geschichte als die Ware. Dicht liegen wir hier bei der Philosophie Walter Benjamins, der im Detail und in ihren Kontexten die Welt der Waren im Paris des 19. Jahrhunderts betrachtete und dazwischen den Künstler als Flaneur, als Sammler, als Lumpensammler sah. Nur wirkte dieser Künstler noch – Paradefall wären hier Flaubert und Baudelaire – rein im Sinne einer Kunst um der Kunst willen: Dem Bürger Schrecken einzuflößen, eine Welt im Werk zu bewältigen, ja zu überwältigen und die Abgründe zu durchschreiten. Die Ware als Kunst war jedoch als Tendenz bereits schon für den Blick des Flaneuers, der sich durch die Pariser Passagen treiben ließ, angelegt. Zur Vollendung gebracht wurde dieser Prozeß dann in der Gegenwart: „Wir sind fähig, jede Ware ‚ästhetisch‘ zu erleben – es ist nur eine Frage der Optik, der Perspektive, die man leicht umstellen kann, wenn man entsprechend trainiert ist. Und inzwischen sind alle – oder fast alle – Betrachter entsprechend trainiert.“ (B. Groys)

Dieses Verhalten camoufliert sich als ironische Subversion, so daß man noch dem blödesten Warengegenstand und dem schlechtesten Musikstück einen irgendwie gearteten Mehrwert abpressen kann. (Anders wäre das Verhängnis vermutlich auch gar nicht auszuhalten.) Der Pop und überhaupt das, was sich popular culture nennt, ist das Lebenselixier dieser (vermeintlichen) Subversion. An dieser warenförmigen Kunst haben viele Künstlerinnen und Künstler teil, nicht nur Marina Abramović, die Nanas von Niki de Saint Phalle wie auch die Kitschobjekte Jeff Koons oder die Kunst Damien Hirsts, die ihren Warencharakter gar nicht mehr verbirgt, sondern als Kunst offen zur Schau stellt. Einen interessanten Text über jene kunstgewerblichen Nanas verfaßte der Alte Bolschewik auf dem Blog „Shifting reality“, wo er über seine Reise ins Guggenheim-Museum in Bilbao berichtete. Ich teile seine Sicht weitgehend. Ähnliches Unbehagen befiel mich, als ich mir 1985 in Paris den Strawinski- bzw. Tinguely-Brunnen in Paris beim Centre Pompidou betrachtete. Kunst geht den Bach runter, dachte ich mir. Es ist schier und schlicht entsetzlich. Was sich als Unbefangenheit und vermeintlich frohes Spiel inszeniert, ist in seiner Darstellung nun aber hochgradig befangen und bloßer Trug. „Es ist vorbei und die Moderne trug sich zu Grabe“, ging es mir beim Anblick dieser farbbesprenkelt-bunten, eigenwillig geformten Figuren durch den Kopf. Die Kunst der Moderne ist zur Schädelstätte geworden. Freilich möchte ich diese These nicht in dieser Absolutheit stehen lassen. Sie verweist jedoch eminent auf jene Reflexionsfigur vom Ende der Kunst, wie wir sie in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik finden. Dezidiert freilich konstatierte bereits im Jahre 1971 Wolfgang Fritz Haug dieses Verhältnis von Ware und Sinnlichkeit in seiner „Kritik der Warenästhetik“.

 „Im Ausdruck Warenästhetik kommt eine doppelte Verengung hinzu: einerseits auf ‚Schönheit‘, d.h. auf eine sinnliche Erscheinung, die auf die Sinne ansprechend wirkt; andererseits auf solche Schönheit, wie sie im Dienste der Tauschwertrealisierung entwickelt und den Waren aufgeprägt worden ist, um beim Betrachter den Besitzwunsch zu erregen und ihn so zum Kauf zu veranlassen.“ (Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik)

 Inzwischen bestimmt vielfach leider das Design das Sein der Kunst. Was Haug als These in bezug auf die Ästhetisierung der Waren entwickelte, kann weitergeschrieben werden im Blick auf die Warenförmigkeit des Kunstwerkes. Galt es Heideggers Kunstwerkaufsatz noch, das Dinghafte eines Werkes und was dieses von dem Kunstwerk scheidet, gleichsam im Sinne einer Ontologie des Kunstwerkes, in seinem Grund freizulegen, so müssen wir heute uns auf das Warenhafte besinnen. Wieweit kann die in der Gegenwart produzierte Kunst in ihrer immanenten Verfaßtheit und Struktur sich diesen Aporien überhaupt noch entziehen?

Gallery Weekend 2014 – Die Listen der Kunst

Im Grunde bin ich nach all dem Umherschweifen durch die Galerien und Räume ein wenig ratlos: eine solche Gewalttour ist angesichts von über 50 Galerien lediglich für Sammler und Museumsdirektoren etwas, die ihrem Kunstraum etwas Neues hinzufügen möchten. Denn angesichts der Überfülle an Material – eben an Kunst – scheint mir ein angemessener Umgang mit diesem kaum möglich. Gehetzt eilt der Blick von Bild zu Bild, tragen einen die Schritte von Galerie zu Galerie. Und so bleibt am Ende nichts hängen. Die Betrachtung von Kunst ist eine kontemplative Angelegenheit, wie auch das Lesen von Literatur oder das Hören bestimmter Musik erfordert es eine Form von Konzentration und Eingehen auf die Sache selbst. Eine Vielzahl an Menschen sowie ein Überfluß an Werken mögen allenfalls die assoziativen Komponenten im Kopfe anreizen und zur Geltung bringen. Aber das hat mit den Werken selber wenig zu tun. Zumal es sich bei solchen Veranstaltungen ebenfalls um die Origen des Konsums handelt: Geldwert und genießerisch in einem. Kapital und Geschmack (in einem nicht nur produktiven Sinne) stellen sich zur Schau. Exzesse der Bildhaftigkeit: Teilnehmer und Werke gleichermaßen inszenieren und kapitalisieren ihren Ausstellungswert. Tauschwerttransformationsprozesse im Champagnergewitter.
 
OLYMPUS DIGITAL CAMERA [Plakat am Schöneberger Ufer (Landwehrkanal), Mai 2014]
 
Am Ende geht es bei solchen Veranstaltungen vielmehr um Sicht und Sichtung: wie verhält sich der Kunstmarkt im eher bescheiden-kleinen Berlin? Denn anders als Düsseldorf oder Köln war Berlin bis nach der Wende keine Galeriestadt. Die reichen Kunstkäufer saßen am Rhein. (Von den Kunstmärkten Londons, Basels oder New Yorks ganz zu schweigen.) Wer sich in Berlin für Kunst interessiert, wird sicherlich nicht das Gallery Weekend benutzen, um sich umzutun. Bei vielem, was ich sah – insbesondere im Bereich der Gemälde – verstärkte sich bei mir der Eindruck, dies bereits 100-fach gesehen zu haben. Die Bildende Kunst der Moderne ist an ihr Ende gekommen. Das avancierte Material ist verbraucht, vom Superlativ des Adjektivs ganz zu schweigen, die Fortschrittsspirale in der Beherrschung der Form stillgestellt. Es gab all dies bereits, und wer gewinnbringend seine Bilder ausstellen darf, die oder der hat in gewissem Sinne Glück gehabt. Es gibt Künstlerinnen und Künstler, die keinen Fuß aufs Parkett (sprich in die Kunstzeitschriften und die renommierten Ausstellungen) bekommen, die freilich in ihren Werken genauso gut in Museen ausgestellt oder in Galerien zum Verkauf angeboten werden könnten wie andere.

Nun gut: jeder möchte von seiner Kunst leben, nicht alle können es. Das ist im Litertaturbetrieb so, der bestimmten Marktgesetzen folgt, das verhält sich ebenfalls in anderen Künsten auf diese Weise. Ich mag nicht lamentieren. Es ist vieles dem Zufall geschuldet. Es könnten meine Photographien ebenso gut in einer Galerie hängen, statt hier im Blog ihr Schattendasein zu fristen. Leider neige ich aber zu Faulheit (Acedia – gleichsam als schwere Sünde – und dazu gehörend die vagatio mentis circa illicita, nämlich das Schweifen des Denkens hin zum Verbotenen, Unerlaubten, hin zu dem, was nicht gedacht werden darf). Und bin zurückgezogen. Andere Menschen anzusprechen und mit meinem Photographien oder Texten hausieren zu gehen, verursacht mir Übelkeit.

Man wird sich also sinnvollerweise bei einer solchen Leistungsschau der Galerie, wo die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in einer Tour de Force präsentiert wird, auf das kaprizieren, was dem ästhetischen Sinn ins Auge springt. Das ist nicht anders als in den größeren Kunstschau-Formaten wie der documenta in Kassel oder der Venedig-Biennale. (Und Ende Mai eröffnet zudem die Berlin Biennale.) Die Betrachter verschaffen sich den Blick über die Szenerie. Andererseits besteht in der Rezeption von Gegenwartskunst doch ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Moment des „Gefällt-mir-subjektiv-gut“ – genau das, was dem ästhetischen Sinn als interessant oder im interesselosen Wohlgefallen ins Auge sticht – und dem Aspekt des ästhetisch Gelungenen, das im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Status der Bildenden Kunst im 21. Jahrhundert steht, so wie es die ästhetische Kritik sichtet, die sich dem Kunstwerk annähert, indem sie selber sich in ihrer begleitenden Lektüre zum Kunstwerk transformiert. Was heißt es mit der Zeit zu sein: kontemporär eben? Die Gegenwart der Kunst zu sichten, ihre Ausprägungen in einen Zusammenhang zu bringen? Und wie vermögen die Kunstbetrachterin und der Kunstbetrachter angesichts einer wuchernden Pluralität der Kunst, die alle Stile zu kombinieren vermag und deren Produkte zwischen dem Dokumentarischen und der spielerischen Inszenierung, der Freiheit der Form und dem Spiel mit dem Zonen wechselt, einen geeigneten Blick auszubilden?

Reduzierte man den herrschenden Kunstbetriebs auf den Kommerz samt Konsum und Geldwert sowie darauf, soziologisch gesehen, Stadtteile standortgemäß aufzuwerten, greift das ebenso zu kurz, als verfiele man der Hybris, daß Kunst so etwas wie einen besseren Blick oder ein geschärftes Bewußtsein hervorbrächte. Das gentrifizierungsmäßige Antikunstsalbadern der Anästhetiker ist genauso inhaltsleer wie die ästhetizistischen Verzückungsschreie perlenkettentragender Frauen oder von Männern in ausgefallenen Kleidungsstücken im Angesicht des vermeintlich exzeptionellen Kunstwerkes. Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte, sondern ist gesellschaftlich vermittelt. Richtiges Bewußtsein manifestiert sich noch im Falschen und falsches in der richtigen Sache: nämlich die der Kunst.

Was sich der Betreiber dieses Blog angeschaut hat, das erfahren Sie, liebe Leserinnen und Leser, morgen, hier, im Blog, in gewohnter Qualität auf Ihrem beliebten Kunstservice-Blog „Aisthesis“
 
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„Wir kriegen sie alle“: Kreativität und Kontrollgesellschaft samt kleinem Blick auf Foucault und Adorno – Die Verschleifungen der Kunst, das Ende der Kunst? (1)

Es gibt Begriffe, die mag man – sofern noch ein Rest an Gespür für Sprache vorhanden und Reflexion auf Gesellschaft Bestandteil kritischen Denkens ist – nicht mehr verwenden oder wenn man diese Wendungen gebraucht, dann mit einer Portion Skepsis versehen. Dazu gehört der Slogan „Kreativität“ und ebenso die Phrasen von der „Lebenskunst“ oder vom unvermeidlichen „sich selbst neu zu erfinden“: Was als Akt der Kreation hätte gemeint sein können, ist zum Werbespot der Schröder-SPD für die Ich-AG geronnen, in der unter entweder prekären Verhältnissen oder aber – als Kehrseite der Medaille – bei teils sehr guter Bezahlung unter dem Extrem der Selbstausbeutung gearbeitet wird. Kreativität wirkt als Antrieb, Motor und Systememergenz. Der Titel des von Christoph Menke und Juliane Rebentisch herausgegebenen Buches „Kreation und Depression“ ist sehr passend gewählt, weil es unter dem Primat und dem Erfolgsdruck des Schöpferischen, die Folgekosten und die Begleiterscheinungen solches funktionalen und verdinglichten Schöpfertums gleich mit nennt: die Depression. Der Soziologe Andreas Reckwitz formuliert es in seinem Buch „Die Erfindung der Kreativität“ als kontrafaktische Annahme einer Art von Widerstandshandlung auf diese Weise:

„Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen. Dies gilt für Individuen ebenso wie für Institutionen. Nicht kreativ sein zu können ist eine problematische, aber eventuell zu heilende und mit geduldigem Training zu überwindende Schwäche. Aber nicht kreativ sein zu wollen, kreative Potenziale bewusst ungenutzt zu lassen, gar nicht erst schöpferisch Neues aus sich hervorzubringen oder zulassen zu wollen, erscheint als ein absurder Wunsch, so wie es zu anderen Zeiten die Absicht gewesen sein mag, nicht moralisch, nicht normal oder nicht autonom zu sein.“

Bei diesen Prozessen der Ubiquität des Kreativen, in denen die Kreativität von Menschen zwar gesteigert wird, diese aber im rein funktionalen Rahmen verbleibt, geht es nicht nur um einen Aspekt von Gesellschaft, sondern ebenfalls wird die Kunst selbst tangiert. Kreativität, einst dem Künstler – dem Genie bei Kant – vorbehalten, bezieht sich nicht mehr nur auf den Bereich der Kunst und kommt den wenigen Erlesenen zu, die unabhängig vom Fürsten oder vom Kirchenwillen Kunstwerke als autonome Werke schaffen, sondern das Schöpferische durchdringt mittlerweile sämtliche Regungen und Lebensbereiche bis hinein in die Büro- und Arbeitswelt: von den Trainingsprogrammen für das kreative Denken in Bildern, die dann in Sprache übersetzt werden, von der Analytischen Beratung bis hin zu Kreativschreibworkshops und allen möglichen Programmen der Selbstentfaltung: vom Zen bis hin zur Philosophie für Manager. Was jedoch als immergleiches Motto hinter all diesen Formen von scheinbarem Ich-Gewinn steckt, ist jenes Programm mit dem Namen „Fit für den Markt“. Der neue kategorische Imperativ der Postmoderne lautet: Sei kreativ! „Handle so, daß die Maxime Deiner ästhetisierenden und schöpferischen Einbildungskraft jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Arbeitsmaximierung und Wertschöpfungskette gelten könne.“

Dort, wo noch zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Produktions- und Wertschöpfungsprozeß das „Stahlgehäuse der Rationalität“, die zweckrationale Ordnung waltete, und in einer Welt der Büro-Organisation, des Verwaltungsapparates einer Bürokratie, die der Soziologe Alfred Weber (Kafka promovierte bei ihm) gut beschrieb, des Fordismus, der Fließbandproduktion samt den Standardisierungen, in der kaum ein Raum für Denken und Empfinden blieb, ist nun die Ästhetisierung von Lebenswelt und Arbeitswelt gleichermaßen eingesprungen und das Subjekt bringt sich freiwillig und mit Freude qua Dynamik und freiem Denken in den Prozeß der Produktion ein – zumindest gilt dies für einen Teil der Arbeitswelt: von der Werbewelt, den Softwarebuden, vom E-Commerce bis hin zu den Projektplanern, die mit Kunst Stadtviertel verändern, wie dies in Hamburg beispielsweise in Wilhelmsburg massiv geschieht und in Berlin-Mitte lange schon geschehen ist. Aber auch in großen Unternehmen wie Unilever oder bei DHL hält dieses Denken, das Kunst und Kreativität in Beschlag nimmt, Einzug. Büroräume sind keine Arbeitszellen mehr, sondern es soll sich darin ein „Flow“ entfalten und der gemeinsame „Spirit“ wirken. Kunst wird zum art-lab, zum Labor der Selbsterfindung, die (am Ende) der Optimierung des Arbeitsprozesses dient. „Work hard play hard“ wie der Dokumentarfilm von Carmen Losmann über die schöne neue Welt der (post-)modernen und post-tayloristischen Arbeit heißt. (Eine Besprechung dazu findet sich hier.)

Was das Gesellschaftliche selbst betrifft, so geraten wir, wie Deleuze, anlehnend an die Machttheorie Foucaults, in seinem Aufsatz „Postscriptum über die Kontrollgesellschaft“ schreibt, von der Disziplinargesellschaft des 18 und 19. Jahrhunderts hin zu einer Kontrollgesellschaft, in der von der politischen Gesinnung bis hin zur körperlichen Fitness, die im Stahlbad des Crossfit-Bootcamps gehärtet wird, alles in den Blick der (Selbst-)Überwachung samt der (notwendigen) Selbstkonditionierung gerät. Es muß auf die Subjekte, auf ihre Körper, auf ihre Einbildungskraft, auf ihr Denken keine Disziplinierung, kein Druck mehr ausgeübt werden, damit ein Individuum funktioniert und sich im Takt fügt, sondern diese Mechanismen wurden – um ein wenig psychoanalytisch zu schreiben – weitestgehend internalisiert: vorauseilende Identifikation mit dem Aggressor. Zumal der Begriff der Kreativität durchweg positiv besetzt ist, wie das Zitat bei Reckwitz zeigt. Ironie der Geschichte ist es bei einem Begriff wie der Kontrollgesellschaft, daß insbesondere in Projekten, die sich immer noch als politisch links verstehen und damit eigentlich in der Tradition von Aufklärung und Kritik stehen sollten, wie ein Teil der „Critical Whiteness“ und der Genderforschung, über die Moralisierungstendenz und die Hygieneerziehung politischer Subjekte genau diese Kontrollfunktion an jenen Subjekten perfekt ausgeübt wird.

Was Foucault (und im Anschluß daran Giorgio Agamben) auf der Ebene kritischer Gesellschaftstheorie im Hinblick auf den Machtbegriff entfalteten, so zum Beispiel in „Sexualität und Wahrheit“ und prägnant in Foucaults Vortrag „Die Maschen der Macht“, muß ebenso mit den Praktiken der Kunst, mit dem Regime von Kunst und Kreativität in Zusammenhang gebracht werden. Dabei geht es weniger darum, Savonarola gleichtuend, die Kunst zu verbannen, ihr Autodafé durchzuziehen oder ikonoklastisch und das heißt: undialektisch zu destruieren, sondern vielmehr muß im Prozeß der Reflexion eine Bestimmung und Kritik der Kunst unter dem Blick des Spätkapitalismus vorgenommen werden, die sowohl das Moment des Gesellschaftlichen als auch die binnenästhetischen Aspekte umfaßt. Ich hatte, was das Binnenästhetische der Kunst betraf, vor zwei Jahren eine Serie mit dem Titel „Wozu Kunst?“ angefangen; dort kann, wer mag, einige Aspekte nachlesen. Ob einer solchen Kunst(-Produktion) im nachbürgerlichen Zeitalter überhaupt noch eine andere Dimension zukommt, als lediglich den Affirmateur des Bestehenden zu spielen, bleibt die Frage. Das Ende der Kunst als autonomer Tätigkeit scheint mir, so meine These, nicht ganz von der Hand zu weisen zu sein. (Von dem Anspruch der klassischen Avantgarden zu Beginn des letzten Jahrhunderts, die Souveränität der Kunst zu befördern ganz zu schweigen; über dieses Scheitern können mittlerweile auch die halbironischen Kaspereiaktionen eines Jonathan Meese, der die Diktatur der Kunst ausruft, nicht hinwegtäuschen.) Der Kunstproduktionsbürger würde gerne weitermachen wie bisher. Aber er kann nicht so recht und weiß nicht wie. Es ist diese Diagnose – einerseits – überspitzt formuliert und geht an die Grenze, aber es liegt in der Übertreibung eben doch ein Moment von Wahrheit.

Diese Situation der Kunst und ihre Entleerung als Reparateuer dessen, was in kapitalistischer Produktionsweise nur suboptimal funktionierte, spiegelt sich in einigen Büchern wider, die auf diese Zustände ihr Schreiben richten. Exemplarisch seien hier das oben genannte Buch von Reckwitz aufgeführt sowie das 1999 in Frankreich und 2003 auf Deutsch erschienene Buch von Luc Boltanski und Ève Chiapello, Der Geist neue Geist des Kapitalismus. Verschiedene Ansätze und Perspektiven leuchtet ebenfalls der oben genannte Sammelband von Menke und Rebentisch aus: Dort heißt es im Vorwort, das den Titel „Zum Stand ästhetischer Freiheit“ trägt:

„Im Zentrum des Bands steht ein Befund gegenwärtiger Gesellschaftskritik: Eigenverantwortung, Initiative, Flexibilität, Beweglichkeit, Kreativität sind die heute entscheidenden gesellschaftlichen Forderungen, die die Individuen zu erfüllen haben, um an der Gesellschaft teilnehmen zu können. Sie haben das alte Disziplinarmodell der Gesellschaft ersetzt, ohne dabei freilich die Disziplin abzuschaffen. An die Stelle einer Normierung des Subjekts nach gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern ist der unter dem Zeichen des Wettbewerbs stehende Zwang zur kreativen Selbstverwirklichung getreten. Man gehorcht heute nicht mehr, indem man sich einer Ordnung unterwirft und Regeln befolgt, sondern indem man eigenverantwortlich und kreativ eine Aufgabe erfüllt. Im Blick auf häufig wechselnde ‚Projekte‘ sollen die Einzelnen ihren eigenen Neigungen folgen, um sich jeweils ganz – mit allen Facetten ihrer Persönlichkeit – ‚einzubringen‘. Es scheint, dass sich Einstellungen und Lebensweisen, die einmal einen qualitativen Freiheitsgewinn versprachen, inzwischen so mit der aktuellen Gestalt des Kapitalismus verbunden haben, dass daraus neue Formen von sozialer Herrschaft und Entfremdung entstanden sind. Tatsächlich ist in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften des Westens ein dramatischer Anstieg an im weitesten Sinne depressiven Persönlichkeitsstörungen zu verzeichnen. Innere Leere, gefühlte Minderwertigkeit, Antriebsschwäche scheinen die Kehrseite der Erwartung zu sein, die Einzelnen mögen sich – unabhängig von ihren jeweiligen sozialen Voraussetzungen – in der Teilnahme am gesellschaftlichen Reproduktionsprozess zugleich flexibel und kreativ selbst verwirklichen.“

Das Bewußtsein von Pflicht und Erfüllung bleibt jedoch unter den Bedingungen spätkapitalistischer Kreativ-Produktionsweise gleich – nicht anders als im taylorisierten Produktionsprozeß –, die Vermehrung von Wert und die Kapitalisierung bleiben gleich, der Widerspruch von Arbeit und Kapital bleibt bestehen, da mag eine/r noch so viel Kreativität und Phantasie draufpappen: Arbeit bleibt Arbeit. Wir sind weder eine Freizeitgesellschaft noch eine Risikogesellschaft (Ulrich Beck), sondern Gesellschaft erhält und reproduziert sich primär immer noch über die Erwerbs- und Lohnarbeit. Auch die bewußtseinsnormierenden Mechanismen einer Kulturindustrie samt ihrer Wirkungsweise, die sich halb-subversiv maskiert und als halb-kritischer Pop marodiert, bleiben bestehen: ja sie verstärken den Nebel samt den Zublendungen noch, indem sie den Raum des Bewußtseins in der Weise ausfüllen, daß die Anästhesie der Vernunft komplett ist. Denn im Pop ist der Kritik die Affirmation per se eingeschrieben. In Anlehnung an eine Wendung aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (darin in der transzendentalen Dialektik) kann man mit Fug und Recht sagen, daß die Mechanismen und die Ausschüttungen der Kulturindustrie am Ende jene Euthanasie des Denkens (und damit der Vernunft) betreiben, die für das Weiterbestehen dessen, was wir die soziale Wirklichkeit der Arbeit nennen, notwendig ist. Doch wer nicht mittut oder wer im Geiste der Kritischen Theorie eines Adorno opponiert, ist bestenfalls Old school oder fällt ansonsten der Lächerlichkeit anheim. Kritik am Bestehenden, die auf das Grundsätzliche geht, ist des Defätismus verdächtig oder wird ganz einfach vom Witz derer erstickt, die zu kaum einem kritischen Gedanken mehr fähig sind und alles in wohlfeiler Kommunikation auflösen. Zumal es in solcher Kritik nicht darum geht, dem unreflektierten Adornitentum zu huldigen oder an einen dümmlichen Adorno-Ähnlichkeitswettbewerb teilzunehmen. Vielmehr ist es das Ziel von Theorie und Denken, die Gehalte des Adornoschen Textes fruchtbar zu machen und weiterzubringen, die nach wie vor Bestand haben und deren unveränderte Aktualität sich in der Praxis zeigte. Dazu gehört wesentlich sein Kapitel zur Kulturindustrie aus der „Dialektik der Aufklärung“: Es ist, abgewandelt und mit den nötigen Umschriften versehen, dringlicher denn je.

„Früher oder später kriegen wir Sie, mit Danone-Joghurt!“, so lautete ein Werbeslogan in den 80er Jahren. Oder wie dichtete der damalige BKA-Chef Horst Herold im Rahmen der RAF-Fahndung: „Wir kriegen sie alle!“ Dem Zusammenhang der Immanenz ist schwer und nur durch Abstand und kritischem Bewußtsein noch zu entrinnen. Nicht einmal das.

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Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Universitätsverlag Konstanz 2006, 29, – EUR,  ISBN 978-3-89669-555-0

Christoph Menke/Juliane Rebentisch, Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Kadmos Verlag 2010, 19,90 EUR, ISBN: 978-3-86599-126-3

Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Suhrkamp Verlag 2012, 16,– EUR; ISBN 978-3-518-29595-3

Lyrische Arbeitsfläche – aporetisch, dithyrambisch verdreht, mit einem Seitensprung zu Georg Lukács

Morgenlatte morgens,
ohne Erfüllung.
Während der Löffel im Kaffee stakt.
Wo sonst?
Fünf Uhr.
Daß Lyrik noch funktioniert, ist ein Gerücht.
Die Texte rauschen nicht einmal mehr.
Denn Schreiben ist nirgends.

Ich denke, die Aporie der Kunst, daß es keine Kunst mehr gibt, sondern bloße Wiederholungen, läßt sich auch künstlerisch nicht gestalten, denn sonst wäre diese Aporie eine Paradoxie. Paradoxien hingegen sind das Elixier der Kunst. Selbstverständlich müssen die Künstlerinnen und Künstler darauf beharren, sich darauf fixieren, kaprizieren, daß noch Kunst sei, daß Romane noch sich schreiben, Gemälde noch sich malen, Stücke sich komponieren, Filme noch sich drehen ließen: Nur: ich habe alle diese Filme, alle diese Bilder, alle diese Romane bereits gelesen und gesehen. Die ästhetische Form erstarrt, Variation ergibt sich allenfalls aus den Inhalten. Es stellt sich beim Lesen der Gegenwartsliteratur regelmäßig der Ennui ein. Ich lege das Buch zur Seite und sage mir „Ja, ja, ich weiß.“ Ehrlich gesagt, ich lese lieber Proust, Flaubert, Fuentes „Terra Nostra“. Wenige Ausnahmen nur, die ich in Prosa und Lyrik der Gegenwart antreffe. Ist dies nur das alte Lamento, welches es seit undenklichen Ewigkeiten gibt? Sicherlich. Auch. Aber ja doch: es kann immer noch auf die eine oder auf die andere Weise erzählt werden, sei es auktorial, sei es im Bewußtseinsstrom eines Subjekts – assoziativ und selektiv – oder objektivistisch im Sinne des nouveau roman, perspektivistisch oder klassisch realistisch mit jenen Brüchen, wenn das Irreale, das Surreale das Nicht-Reale in den Alltag, in die überkommene Struktur des Erzählens einfällt, oder ein Text startet im Rahmen der neuen, nicht mehr ganz so neuen Internetliteratur – es verschwimmen die Grenzen zwischen Realem und der Fiktion. Figuren des Lebens werden zu solchen des Textes und umgekehrt. Ist der, der den Blogtext schreibt schon Literatur oder noch Textsubjekt? Ist das noch ein bloßer Internet-Blog, in dem ein Text als Biographie sich bekundet, oder ist dieser Text bereits ein Stück Literatur? Zahlreiche Blogs praktizieren das und lassen die Grenze verschwimmen – die einen besser, die anderen eher nicht so gut.

Doch es bleibt bei all diesen Projekten und insbesondere in der Bildenden Kunst ein schaler Nachgeschmack. Irgend etwas läuft in der Kunst als auch in der Ästhetik schief. In der „Zeit“ vom 15. November schrieb Thomas Assheuer einen Essay, der jenes Moment des Atmosphärischen kritisiert, das der Philosoph Hartmut Böhme in den 90er Jahren gegen eine allzu rationalistische Kunstkritik und -rezeption ins Spiel brachte, um jenen Aspekt des Sinnlichen, der dem Kunstwerk ebenso innewohnt, wieder zur nötigen Geltung zu verhelfen.

Mittlerweile scheint aber nicht mehr ein übertriebener Rationalismus in der Wahrnehmung von Kunstwerken oder eine Radikalintellektualisierung der Kunst das Problem für jenen aufs Sinnlich-Unmittelbare heruntergebrochenen Geist zu sein. Im Gegenteil: Eine Kunstausstellung in einem Museum muß etwas bieten, um überhaupt wahrgenommen zu werden, sie gleicht sich demEvent an. Es reicht nicht mehr aus, daß da im Raum ein wie auch immer komplexes – sei es auch grenzüberschreitendes – Objekt plaziert wird. Mindestens eine Wackelplatte oder eine Rentierherde müssen zu begehen, zu sehen, zu beriechen sein. Alles muß angefaßt und berührt werden dürfen. Und da möchte man dazwischenschreien: „Berühren verboten!“ „Noli me tangere!“ Im Zeichen solch (kapitalistischer) Vernutzung von Kunst als symbolischem sowie kulturellem Kapital ist eine andere Weise von Kunst und von Kritik erforderlich. Wo die sowieso fragwürdige Rezeptionsästhetik endgültig auf den letzten Hund kam und Kunst den Kunstkonsumenten gefühlsselig und auf der Ebene bloßer Empfindungen umfangen will, um ihn von Reflexion und Kritik zu erlösen, da ist der Kunst sowie der Ästhetik in ihrer herabgesunken regredierten Form grundsätzlich zu mißtrauen. [Ebenso aber der Gegenbewegung.]

Mit der Literatur verhält es sich nicht viel anders. Meist ist sie gefällig. Das große Epos zu schreiben, diese Form, Art und Weise, den heiligen Zorn zu singen: das wäre es. Literatur ist immer auch eine Form von Zorn: Von Homer ab ist dieses Phänomen bekannt. Aber die Aporie einer Form, die auf die Totalität geht, und daß solche Totalisierung unter den Bedingungen fragmentierter Modernität nicht mehr geht, dies zeigte sich bereits in den Texten der Romantiker und wesentlich dann als Theorie in den Texten Friedrich Schlegels. Teils zumindest. Denn das Projekt der Romantik war zugleich das der Universalpoesie – mithin einer totalisierend-totalitären Form, in der umfassend poetisiert wurde. Die Poesie fungierte, in der Nachfolge Kants, als die neue Transzendentalphilosophie. So schreibt Schlegel in den Athenäums-Fragmenten:

„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden.“

Und dieser Spiegel ist eben: Reflexion. Was im Duktus romantischer Theorie nach Schlegel bedeutet, daß sich in der romantischen Poesie „diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihung von Spiegeln vervielfachen.“ Was in unserer Terminologie gesprochen bedeutet: es geschieht in dieser Weise des Poetisieren jene postmoderne Vervielfältigung, Aufspaltung, Dissoziation, Dissemination, in der die Grenzen sich nicht mehr als beständig erweisen [zumindest in der Ästhetik sowie in der Kunst], es löst sich die einheitliche Struktur, der Holismus des Bewußtseins, der des Geistes, die Struktur bezeichnender Sprache in den Spiegelungen der Phantasie und in den Brechungen des Bewußtseins auf zugunsten eines reinen Scheins: jener „Schein des Scheins“ (mithin wieder eine Potenzierung), den Nietzsche in seiner „Geburt der Tragödie“ zum Thema erhob und dessen schwerer Nachtmahr E.T.A. Hoffmann – Freud antizipierend – in jene düstere Schrift brachte: Vom „Sandmann“ über „Das Fräulein von Scuderi“. Die andere Seite der Aufklärung, die düstere, der Schatten der Vernunft, das Projekt der Aufklärung als Destruktion.

Was in der Frühromantik als einzig verbindendes und damit letztlich totalisierendes Moment bleibt ist, contre Hegel gedacht, das Universale der Poesie, die unendlich Poetisierung der Welt, wie sie Novalis und die Romantiker in ihrer Prosa betrieben.

In einer Mischung aus Lebensphilosophie, Modernitätskritik und Geschichtsphilosophie, changierend zwischen Kant und Hegel, beschrieb Georg Lukács 1916 in seiner „Theorie des Romans“ den Zerfall der epischen Form. „Eine nur hinzunehmende Totalität ist für die Formen nicht mehr gegeben: darum müssen sie das zu Gestaltende entweder so weit verengen und verflüchtigen, daß es von ihnen getragen werden kann, oder es entsteht für sie der Zwang, die Unrealisierbarkeit ihres notwendigen Gegenstandes und die innere Nichtigkeit des einzig möglichen polemisch darzutun und so die Brüchigkeit des Weltaufbaus dennoch in die Formenwelt hineinzutragen.“

Polemik, Brüchigkeit, Fragment sowie die Absenz des Sinns werden die Schlagworte der kommenden Ästhetik bilden; und diese Kategorien konditionieren auch einhundert Jahre später den Rahmen der Ästhetik und halten die Kunst am Laufen. Die Grunderfahrung der Moderne wird der Bruch, die Faltung, die Verschlingung, das Fragment. Lukács konstatierte in seiner „Theorie des Romans“ jene „transzendentale Obdachlosigkeit“, die zum Signum der Moderne wurde. Der zu dieser Zeit mit ihm befreundete Max Weber hielt ein Jahr später jenen Vortrag mit dem Titel „Wissenschaft als Beruf“. Darin sprach er von der „Entzauberung der Welt“. Ähnliche Metaphern und Bilder aus unterschiedlichen Denkrichtungen bezeichnen ein und dasselbe Phänomen. Es gibt keine Bleibe und kein Bleiben, „Kein Ort, nirgends“. Die Aufladung der Dinge, der Zauber geschieht nun auf eine andere Weise. Marx analysierte dies auf den Punkt, als er im „Kapital“ vom „Fetischcharakter der Ware“ schrieb. Aber die theologischen oder magischen Mucken der Ware, die Verdinglichung von sozialen Verhältnissen sind der Kritik durchaus zugänglich. Auch heute noch.

Und zugleich gilt es, auch diese letzten Residuen einer Kunst als Wohnstätte durchzustreichen oder sie zumindest ihrer Wohlfühligkeit zu berauben. Denn bereits vor fast einhundert Jahren schrieb Lukács: „Es ist ein neues, paradoxes Griechentum entstanden: die Ästhetik ist wieder zur Metaphysik geworden.“ Und Kunst zur Religion, so sei ergänzt.

Dennoch: es geht in der Kunst weiter. Trotz aller Zwischenrufe und jener Kritik aus dem Grandhotel Abgrund: jener Männer, die den bösen, den kalten, den analytischen Blick auf eine durch und durch entstellte Welt werfen. Philosophie und Essay sind die Beschreibung dieser Welt. Eine Art Positivismus: das was ist, als das zu benennen, was es ist. Dieses Verfahren nennt sich: Kritik. Oder frei nach Hegel: inwiefern sich Begriff und Wirklichkeit entsprechen. Andererseits läßt sich mit dem Dichter Rolf Dieter Brinkmann in bezug auf die Kunst auch diese Passage zitieren, mit der er seinen Gedichtband „Westwärst 1 & 2“ als Vorbemerkung beginnt, geschrieben am 11/12/ Juli 1974 in Köln.

„Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock‘n‘Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zeichen, Zeichen an den Häuserwänden, Zeichen auf der Straße, Zeichen in den Maschinen …“

Es bleiben die Bewegung und das Treiben. Was das für die Kunst bedeutet, sei dahingestellt.