Spekulativer Karfreitag

„Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot (dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: »la nature est telle qu’elle marque partout un Dieuperdu et dans l’homme et hors de l’homme«) -, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muß – die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß.“ (G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie)

Sätze, die einen gleichsam in den Taumel und in das Schwindeligwerden versetzen, so daß einem Leser Hören und Sehen vergeht, wie es Hegel auch als Voraussetzung der Philosophie bemerkte. Tod des einfachen Bewußtseins. Eben Karfreitag. Aber auf den Karfreitag folgt die Auferstehung: Was sucht ihr den lebendigen Geist bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden! Und für diesen Wahnsinn des Sinns habe ich schon früh und in Schulzeiten Hegel gerne gelesen – auch wenn ich wenig bis gar nichts damals verstanden habe.

Tintoretto, Kreuzigung, 1565, Sala dell’Albergo, Scuola di San Rocco, Venedig

„Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“

„Von Christus selbst konnte man keine Reliquien haben, denn er war auferstanden: das Schweißtuch Christi, das Kreuz Christi, endlich das Grab Christi wurden die höchsten Reliquien. Aber im Grabe liegt wahrhaft der eigentliche Punkt der Umkehrung, im Grabe ist es, wo alle Eitelkeit des Sinnlichen untergeht. Am Heiligen Grabe vergeht alle Eitelkeit der Meinung, da wird es Ernst überhaupt. Im Negativen des Dieses, des Sinnlichen ist es, daß die Umkehrung geschieht und sich die Worte bewähren: »Du lässest nicht zu, daß Dein Heiliger verwese«. Im Grabe sollte die Christenheit das Letzte ihrer Wahrheit nicht finden. An diesem Grabe ist der Christenheit noch einmal geantwortet worden, was den Jüngern, als sie dort den Leib des Herrn suchten: ‚Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden‚. Das Prinzip eurer Religion habt ihr nicht im Sinnlichen, im Grabe bei den Toten zu suchen, sondern im lebendigen Geist bei euch selbst. Die ungeheure Idee der Verknüpfung des Endlichen und Unendlichen haben wir zum Geistlosen werden sehen, daß das Unendliche als Dieses in einem ganz vereinzelten äußerlichen Dinge gesucht worden ist. Die Christenheit hat das leere Grab, nicht aber die Verknüpfung des Weltlichen und Ewigen gefunden und das Heilige Land deshalb verloren. Sie ist praktisch enttäuscht worden, und das Resultat, das sie mitbrachte, war von negativer Art: es war, daß nämlich für das Dieses, welches gesucht wurde, nur das subjektive Bewußtsein und kein äußerliches Ding das natürliche Dasein ist, daß das Dieses, als das Verknüpfende des Weltlichen und Ewigen, das geistige Fürsichsein der Person ist. So gewinnt die Welt das Bewußtsein, daß der Mensch das Dieses, welches göttlicher Art ist, in sich selbst suchen müsse; dadurch wird die Subjektivität absolut berechtigt und hat an sich selbst die Bestimmung des Verhältnisses zum Göttlichen. Dies aber war das absolute Resultat der Kreuzzüge, und von hier fängt die Zeit des Selbstvertrauens, der Selbsttätigkeit an. Das Abendland hat vom Morgenlande am Heiligen Grabe auf ewig Abschied genommen und sein Prinzip der subjektiven unendlichen Freiheit erfaßt. Die Christenheit ist nie wieder als ein Ganzes aufgetreten.“
(G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte)

Der bacchantische Taumel. Hegel zum 250. Geburtstag (1)

„Hegel wirkte zwar auch im Hörsaal, aber er schrieb und dachte fürs Universum, nicht für die Zwischenprüfung.“
(Dietmar Dath, Hegel)

„So isch no au wieder
(Schwäbische Redensart, zit. nach Sebastian Ostritsch, Hegel)

Um gleich mit dem zweiten Zitat in den Text und mitten hinein in Hegels Denken zu springen: Dialekt kann zwar Dialektik veranschaulichen. Aber so nun auch wieder doch nicht. Wenn auch darin ein Teil Wahrheit liegt. Dialektik ist nicht bloß die Echternacher Springprozession und hat doch, wie Adorno es in der „Negativen Dialektik“ sagte, einen Bezug: „Dialektik schämt sich nicht der Reminiszenz an die Echternacher Springprozession.“ Jenes „Sowohl als auch“ ist vielleicht ein populäres Bild, um zumindest basal zu veranschaulichen, was es bedeuten kann, verschiedene Hinsichten zu denken und nicht einfach abstrakt zu negieren oder zu bejahen. Aber bei Hegel ist das zugleich mehr. Solches Unterscheiden und solches Auf-Gemeinsamkeiten-Absuchen, auch in der Unterscheidung und im Widerspruch nämlich, ist ein wesentlicher Aspekt, den man bei Hegel lernen kann. Vielleicht aber auch Gershom-Scholem-mäßig mit einer jüdischen Anekdote:

Kommt ein Mann zum Rabbi und klagt ihm sein Leid, daß es mit seiner Frau Streit gäbe und sie beständig zetere und ob er nicht einfach strenger und härter sein solle. Und der Rabbi sagt: „Da hast Du recht, das wäre gut. Sei strenger und härter!“

Und kommt dann einige Stunden später die Frau des Mannes zum Rabbi und klagt ihr Leid, daß der Mann dauernd trinken geht und sich vernachlässige. Und ob sie, also die Frau, den Mann nicht mit Liebesentzug und Strenge strafen solle. Und der Rabbi sagt: „Da hast Du recht, das wäre gut. Sei strenger und härter!“ Und er gibt der Frau recht.

Kurze Zeit später tritt das Weib des Rabbis in die Stube, das beide Gespräche mit angehört hatte: „Ja, bist Du denn so windelweich, daß Du Dir als Rabbi nicht einmal eine eigene Meinung zutraust, den Leuten die Leviten liest und immer allen recht gibst?“ Und der Rabbi entgegnet: „Da hast Du recht, es wäre gut eine eigene Meinung zu haben!“

So ähnlich, meine ich mich zu erinnern, geht der jüdische Witz, der auch einer über Schwaben sein kann. Hegel, geboren am 27. August 1770 in Stuttgart, wenngleich die Meinung bei Hegel nicht noch im Kurs steht.  Aber ich vermute, da es lange her ist, als ich den Witz gehört habe und weil ich schlecht Witze behalten kann, daß er doch irgendwie anders geht. Aber das Prinzip dahinter und die Art, wie der Witz funktioniert zumindest veranschaulicht, was Dialektik sein könnte, und wie man mit Hegel das Denken und das Auffassen lernen kann: so zu sein wie der Rabbi und dann doch wieder nicht. Das Richtige auch in einem Falschen zu sehen und dabei aber doch nicht stehenzubleiben. Man muß nur, weiter als der Rabbi schaut (aber wer weiß, vielleicht sieht er das ja gerade), jede der Geschichten in ihrem Bezug sehen und kann dann zugleich in jeder der Geschichten ihre eigene Richtigkeit sehen, aber daß es dennoch nur im Gang des Denkens und als Entwicklung weitergeht und eine Auflösung bringen kann, um das eine im anderen aufzuheben und die Aspekte in eine geeignete, der Sache gemäße Anordnung zu bringen.

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Philosophie?

Wenn es zuweilen beim Blick in die Philosophiegeschichte heißt, daß auch die Philosophie der Vergangenheit ihren Bezug zur Gegenwart nicht verlieren dürfe, so sollte man zunächst darüber nachdenken, was mit einer solchen Aussage gemeint ist. Ebenso wie bei der Frage „Wofür Hegel heute?“ Um das zu klären, sofern es denn überhaupt klärbar und diese Frage nicht vielmehr philosophisch falsch gestellt ist, muß man zunächst begreifen, was Hegel in seiner Zeit bedeutete, und vor allem, auf welche Fragen der Philosophie seiner Epoche Hegels Denken in seiner Zeit eine Antwort zu geben versuchte. Ohne Hegel in seinem Zeithorizont und in dem Problembereich zu verstehen, in welchem er dachte, ist ein Bezug zur Gegenwart vielleicht keine sinnlose, aber doch eine problematische Sache – zumal zur Erklärung der Gen-Technik oder der Digitalisierung man nicht Hegel zu bemühen braucht, wenn man es gegenwärtig will.

Philosophie, die mehrere hundert oder gar tausende von Jahren zurückliegt, muß nicht ihre Aktualität beweisen, sondern sie ist per se aktuell, ansonsten wäre sie vergessen. Allein aus dem Umstand ist sie aktuell, daß wir sie immer noch lesen und uns über Texte von Platon, von Aristoteles und Hegel beugen. Manchmal das Haupt voll Gram und Haare raufend, weil eine halbe Seite Text einen vollen Tag gekostet hat, weil man in einem Seminar in zwei Stunden gerade einmal drei Sätze geschafft hatte. Aber auch solche Arbeit und solche Zeit, die man braucht, gehören zum Prozeß der Erkenntnis. Oder in anderem Kontext in der Vorrede von Hegels „Phänomenologie des Geistes“, ein sich vollbringender Skeptizismus als Motor der Philosophie:

„Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt vorauszusetzen und es sich ebenso gefallen zu lassen; mit allem Hin- und Herreden kommt solches Wissen, ohne zu wissen wie ihm geschieht, nicht von der Stelle.“

Gentechnik, Digitalmoderne, Twitter, Viren oder Wirren: Hegel mag helfen, solche Ausprägungen eines objektiven Geistes zu begreifen, aber für die Details braucht es Hegel nicht. Was nicht gleichbedeutend mit der Antwort ist, daß Hegel keine Rolle spiele. Ganz im Gegenteil. Hegel ist nötig, aber anders als all die Aktualisierungsbestrebungen es sich ausmachen, die Hegel und alle möglichen anderen Philosophen auf die Gegenwart bürsten möchten, Hegel in Anspruch nehmen und doch besser daran täten, es nicht in Hegels, sondern im eigenen Namen zu formulieren, statt sich mit Hegel zu augmentieren und dann bei der Geistphilosophie womöglich verwechseln, daß für Hegels Begriff des Geistes keineswegs das Bewußtsein und auch nicht das Selbstbewußtsein primär ist.

Wer verstehen will, was Hegel macht, muß Hegels Texte lesen. Das klingt trivial, ist es aber nicht. Und da fangen die Probleme an: wie lesen? Einer der großen Irrtümer ist die Annahme, daß Hegels Philosophie schwierig sei. Dunkel sei sein Denken. Und sperrig – so heißt es immer wieder in den Elogen und Artikel des Feuilletons, die man dieser Tage über Hegel lesen kann. Aber das stimmt nicht. Das alles ist Hegels Philosophie nicht. Sie ist einfach. Und sie ist verständlich, denn es steht ja alles bei Hegel geschrieben. Aber man muß nur, um es dann zu verstehen, am Ende sehr viel und sehr gründlich und immer wieder gelesen haben, genau, langsam und vor allem aufmerksam: das, was wir Close reading nennen, Satz für Satz und doch auch wieder den Kontext im Blick, wie auch das, was man den Stil, die Rhetorik und die Form eines Textes nennt, also sein performatives Vorgehen, der Einsatz der Sprache, die Wortwahl, den Satzbau, die Art der Begriffe, die verwendeten Bilder. Wie wichtig und erkenntnisfördernd solche Lektüre ist, kann man schnell bemerken, wenn man Hegels „Phänomenologie des Geistes“ und seine „Wissenschaft der Logik“ miteinander vergleicht. Beides sind Werke der Philosophie, aber sie unterscheiden sich erheblich in ihrem Stil, in der Bildlichkeit und der Form der Darstellung. Manche sagen, die Phänomenologie sei das literarischste der Hegelschen Werke, ein Bildungsroman gewissermaßen, wie der Wilhlem Meister.

Aber mit der isolierten Lektüre allein kommt man eben auch nicht weiter, wenn Hegel von Wirklichkeit oder Unendlichkeit spricht, sondern genauso muß man gelesen haben den Heraklit und sein Denken der Bewegung, Parmenides und das Verhältnis von Denken und Sein und überhaupt die Vorsokratiker, Anaximander und sein Apeiron, und dann Platon, Aristoteles, Sextus Empiricus samt der Pyrrhonischen Skepsis, Plotin, den von Hegel geschätzten Proklos, Avicenna, Anselm von Canterbury, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Nikolaus von Kues, Pico della Mirandola, Francisco Suárez, René Descartes, Spinoza, Leibnitz, Locke, Hobbes, Hume, Kant, Reinhold, Fichte, Jacobi, Hölderlin, Schelling, Schlegel, Goethe, Schiller. Natürlich hat das keiner, der Anfänger ist. Also muß es anders gehen. Und damit sind wir eben bei der Frage, die auch Hegel für die Philosophie stellte, nämlich zum Beginn seiner „Wissenschaft der Logik“: „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“ Diese Frage stellt sich auch fürs Lesen. Wie anfangen? Am besten mit dem Anfang. Das ist klar.

Wie Hegel lesen?

Vielleicht ist es an dieser Stelle sinnvoll, Grundsätzliches zum Lesen von philosophischen Texten zu schreiben: Manche meinen, es ginge der Weg zunächst über die Sekundärliteratur, gerade bei einem so schwierigen Autor wie Hegel. Aber das ist ein falscher Weg. Wer nach Rom will, geht keinen Umweg, sondern direkt von Berlin, Jena, Heidelberg oder Nürnberg aus über die Alpen nach Rom! Mein Soziologieprofessor im Grundstudium sagt gleich in der ersten Sitzung freundlich, aber mit Bestimmtheit: „Wer die Primärtexte nicht versteht, der versteht am Ende auch nicht die Sekundärliteratur!“ Dem pflichte ich bei. Kommentare können zwar manchmal bei wolkigen Stellen helfen, aber leider gibt es eben auch Deutungen und Einführungen, die doxographisch, polemisch oder hagiographisch den Blick verstellen, indem sie eine bestimmte Lesart etablieren wollen. Das soll nicht sein! Um das zu erkennen, was da im Text selbst geschrieben steht – und nicht ein irgendwie dahinter verborgener geheimer Sinn, frei nach Goethe: „Im Auslegen seid frisch und munter!// Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.“ – muß man einen Text sehr genau lesen: nur dann kann das Auslegen gelingen.

Deshalb mein Rat immer wieder an jene, die lesen und entdecken wollen: Laßt alles, was Ihr über Hegel gehört habt fallen! Vergeßt es, vergeßt die ganze Sekundärliteratur, die Forschungs- und Zitierkartelle, und wenn da die Hegelexperten wie Dieter Henrich, Theunissen, Annemarie Gethmann-Siefert, Klaus Vieweg oder wie sie heißen uns etwas über Hegel erzählen, so laßt es zunächst mal liegen: Ihr, die bisher wenig nur von Hegel gelesen habt. Wer den Original Hegel will, der greift zu Hegel. Anders geht es nicht. Auch wenn das schwierig ist. Zur Unterstützung kann man dann bei Meiner die Kommentare von Pirmin Stekeler-Weithofer nehmen, die sehr genau am Text sind und nicht anhand des Textes eine eigene doxographische Lesart etablieren wollen, aber sehr gut in Problemkreise führen.

Warum zum Anfang keine Sekundärliteratur? Weil sie nur vermeintlich einem einen Text näherbringt. Mir zumindest ging es bei Hegel so, daß ich aus der direkten Lektüre vieles zog, aus den Sekundärtexten kaum etwas, und das, was ich dann in den Erläuterungen fand, stand ja bereits bei Hegel selbst.

Die Lust am Text 

Eines aber ist bei Hegel unerläßlich: ein Impetus, ein Antrieb, ein bestimmtes Interesse, eine Leidenschaft. Wer Hegel liest, weil er ihn lesen muß, verzweifelt schnell und legt die Chose wieder weg. So ging es mir 1991 mit Husserl. Ich las, um zu lesen und fand die Sache stinklangweilig. Irgendwas muß die Leserin oder den Leser also antreiben. Mich hatte Hegel bereits mit 16 Jahren gepackt: Das Kapitel zu Herrschaft und Knechtschaft aus der „Phänomenologie des Geistes“ lasen wir in meinem ersten Schuljahr Philosophiekurs in der elften Klasse, und ein Interesse nicht nur an linker Politik, sondern ebenso an Gesellschaft und auch an der Sprache selbst taten ein übriges. Ich fand diesen Sound des Textes, die Tonlage und diese Art des Schreibens umwerfend gut, schon auch deshalb, weil ich nicht viel verstand, aber da aus dem Unbewußten des Textes dennoch etwas auf mich zurückstrahlte:

„Der Herr ist das für sich seiende Bewußtsein, aber nicht mehr nur der Begriff desselben, sondern für sich seiendes Bewußtsein, welches durch ein anderes Bewußtsein mit sich vermittelt ist, nämlich durch ein solches, zu dessen Wesen es gehört, daß es mit selbständigem Sein oder der Dingheit überhaupt synthesiert ist. Der Herr bezieht sich auf diese beiden Momente, auf ein Ding als solches, den Gegenstand der Begierde, und auf das Bewußtsein, dem die Dingheit das Wesentliche ist; und indem er a) als Begriff des Selbstbewußtseins unmittelbare Beziehung des Fürsichseins ist, aber b) nunmehr zugleich als Vermittlung oder als ein Fürsichsein, welches nur durch ein Anderes für sich ist, so bezieht er sich a) unmittelbar auf beide und b) mittelbar auf jedes durch das andere. Der Herr bezieht sich auf den Knecht mittelbar durch das selbständige Sein; denn eben hieran ist der Knecht gehalten; es ist seine Kette, von der er im Kampfe nicht abstrahieren konnte und darum sich als unselbständig, seine Selbständigkeit in der Dingheit zu haben erwies.“

So stand es da, das lasen wir. Darüber sollten wir schreiben. Da steht man als Schüler und nicht nur als Schüler und schaut, oder es geht einem wie jenem Schüler, der da im „Faust“ Mephistos Reden lauscht: „Mir wird von alledem so dumm,/Als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum.“

Es gibt von Jacob Taubes den Satz, daß er bei manchen Büchern den Inhalt nur durchs Handauflegen erspüren könne. Geradezu eine antihegelianische Volte, aber es zeigt sich in diesem Satz doch ein bestimmtes Verhältnis zur Philosophie, das mit Eros und mit Leidenschaft zu tun hat. So ging ich an Hegel heran. So dachte ich, eine Klausur zu bestehen; mit einer gewissen Intuition und dem was ich bis zur elften Klasse immer tat. Aber was ich in eitler Überschätzung dachte: „So wie ich in Deutsch gute Noten hinlege, so wird es auch in der Philosophie geschehen, wenn ich nur kräftig drauflosinterpretiere“, das ging fehl. Ich hatte einen hervorragenden Philosophielehrer, der Geschwätz nicht durchgehen ließ und Unwissen von Wissen zu unterscheiden verstand. Und als ich die Klassenarbeit über Hegels Kapitel zu Herr und Knecht aus der „Phänomenologie“ zurückerhielt, prangte da eine vier Minus. Die wollte ich mir nicht bieten lassen. Ich ging zum Philosophielehrer und der verabredete mit mir einen Termin. Satz für Satz erklärte er mir, was da in meiner Arbeit falsch gelaufen war und zeigte zugleich, wie man im Text Argumente und Strukturen aufbaut und wie man sich einem komplexen Text nähert. Für den Einstieg in die Philosophie keine leichte Übung.

„Was den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien betrifft, so ist erstens die abstrakte Form zunächst die Hauptsache. Der Jugend muß zuerst das Sehen und Hören vergehen, sie muß vom konkreten Vorstellen abgezogen, in die innere Nacht der Seele zurückgezogen werden, auf diesem Boden sehen, Bestimmungen festhalten und unterscheiden lernen.

Ferner, abstrakt lernt man denken durch abstraktes Denken.“

So hieß es in Hegels 1812 in Nürnberg verfaßtem Privatgutachtens für den Königlich Bayrischen Oberschulrat Immanuel Niethammer, der zugleich Hegels Freund war: „Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien.“

Sekundäres

Allenfalls, um sich über den Stand der Forschung oder über den komplexen Textkorpus einen Überblick zu verschaffen, mag es sinnvoll sein, Einführungstexte zu lesen. Für Hegel empfehle ich in diesem Falle Sebastian Ostritschs Buch „Hegel. Der Weltphilosoph“ (Ullstein Verlag)  In Ostritschs Darstellung von Hegels Philosophie wie auch seines Lebens bekommen jene, die noch nicht viel mit Hegel in Berührung kamen, sofort bei der Lektüre Lust, Hegel selbst zu lesen. Barthesʼ Wendung von der „Lust am Text“ trifft auf Ostritschs Buch unbedingt zu: selbst für Hegelkenner ist das Buch noch mit Gewinn zu lesen. Ostritsch schreibt voll Emphase, und er schlägt Wegmarken, ohne eine doxographische Lesart zu etablieren, Hegel sei nun dies oder er sei nun das. Ostritschs in diesem Frühjahr erschienenes Buch ist die bisher beste Einführung, die ich in Hegels Denken gelesen habe, und es ist der ideale Einstieg in Hegel, um dann freilich sofort mit Hegel zu beginnen. Oder vielleicht umgekehrt: Einfach mit der Vorrede und der Einleitung der „Phänomenologie des Geistes“ beginnen – ich halte diese beiden Texte immer noch für den besten Einstiegstext – und vielleicht noch den Aufsatz „Wer denkt abstrakt?“ lesen: ein literarischer und teils hoch komischer Text, der auch auf dem Marktplatz von Bamberg spielt, wenn da die Hökers- und Eierfrauen auftauchen. Hegel lebte zu der Zeit, als er diesen Text 1807 schrieb, in Bamberg und arbeitete als Redakteur bei der „Bamberger Zeitung“. Und nach diesen Texten dann zu Sebastian Ostritsch greifen. Na ja, zu seinem Buch.

Ansonsten sei auch noch auf Thomas Sören Hoffmanns Buch „Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Proprädeutik“ (matrix Verlag, 2015) verwiesen, und wer es umfassender mag und dazu auch noch eine flott geschriebene Biographie lesen möchte, der greife zu Klaus Viewegs „Hegel. Der Philosoph der Freiheit“ (Beck Verlag, 2019): stellenweise etwas zu viel aufgetragener Lob: Hegel der Aristoteles der Moderne, aber Vieweg gibt wenigstens zu, daß er Hegelianer ist. Zentraler Punkt, auf den Vieweg immer wieder verweist: Hegel ist ein Denker der Freiheit und des Rechtsstaates, er sah vor allem die Verwerfungen der Moderne, wenn ein ungezügelter Kapitalismus die Gesellschaft beherrscht:

„Er kann als der Großmeister der neuzeitlichen Philosophie gelten, als der berühmteste moderne Philosoph. Vernunft und Freiheit bilden die beiden Grundpfeiler, auf denen Hegels Philosophiedom errichtet wurde. Im Denken der Freiheit liegt der Kernimpuls seines vielfach verschlungenen Lebens- und Denkweges.“ (Vieweg; Hegel)

Ausblick – Ende erster Teil

Philosophie ist nicht einfach nur das staubtrockene Schwarzbrot, wenngleich viele bei der Lektüre der Logik gerade dieses Schwarzbrot zu schätzen und zu kauen gelernt haben. Philosophie hat ebenso etwas mit dem Eros, mit dem Rausch und mit Dionysischem zu tun. Sie ist Lust. Sie ist erotisch. Philosophie heißt eben auch, wie Hegel es für die Schüler formulierte, daß einem schwindelig wird und einem Hören und Sehen vergeht. Oder wie es im Volkslied heißt: „Schnaps, das war sein letztes Wort, dann trugen ihn die Englein fort“. Wobei es ganz so schlimm nicht kommen muß. Philosophieren ist sicherlich keine Party, aber ganz ohne Lust macht sie eben dann auch wieder keine Lust. Und so schreibt Hegel zum Beginn, in der Vorrede seiner „Phänomenologie“:

„Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist; und weil jedes, indem es sich absondert, ebenso unmittelbar [sich] auflöst, ist er ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe.“

Das ist eine schöne Sentenz, um das Verhältnis von Rausch und Nüchternheit zu nennen, das in der Philosophie herrscht, auch in bezug auf das Wahre. Und zum Ende dann, wenn Wissen und Geist zu sich selbst im anderen gekommen sind und wenn die Bildungsreise des Bewußtseins zu ihrem Ende gelangt ist, um in der großen Logik freilich und dann der Enzyklopädie doch fortgesetzt zu werden, so daß eben jenes von Hegel genannte Kreisen von Kreisen entsteht, heißt es:

„Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur –
aus dem Kelche dieses Geisterreiches
schäumt ihm seine Unendlichkeit.“

Champagner! rufen wir also heute und erinnern uns dabei auch an jene herrliche Arie aus Straußens „Die Fledermaus“. Jener bacchantische Taumel, den Hegel am Anfang der Phänomenologie im Prozeß des Denkens und des Erkennens versprach und am Ende sprüht es und sprudelt aus jenem Kelch, der das Reich des Geistes ist und dies als die Unendlichkeit. Unser Reich, unser einheimisches Reich und zugleich doch nicht der Narzißmus eines bloßen Ichs, sondern wie Hegel es in der Phänomenologie schreibt, fast auch wie ein Liebesverhältnis:

„Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist. Das Bewußtsein hat erst in dem Selbstbewußtsein, als dem Begriffe des Geistes, seinen Wendungspunkt, auf dem es aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet.“

Und diese Sätze Hegels sind zugleich auch eminent politisch zu verstehen. Eine Orgie für Hegel, nicht nur heute – mit Champagner. Heute.

[Ende  erster Teil]

Bilder:
1: CC-Lizenz: G.W.F. Hegel mit Studenten Lithographie F Kugler
2: Wikipedia, CC-Lizenz

Vom Ereignis mit viel Raum für Marx oder: Hegelwoche in Bamberg

Reist man ins schön-wunderschöne Bamberg, ins wellige, ins hügelig-liebliche Oberfranken, dann passiert der Fußgänger, wenn er am Bahnhof eintrifft, aus dem Zug aussteigt und ebenerdig zu Fuß zum Kloster-Hotel auf den Kaulberg spaziert, zunächst die Luitpoldstraße und schreitet schnellen Schrittes auf ihr voran. Da kommt er, fast vor der Brücke über den Main-Donau-Kanal beim Orion Erotik und Sexshop vorbei und schaut in die Auslagen. Es lassen sich dort Erotikwäsche und Dessous erstehen und manch anderes Accessoire. Doch für dieses Spiel der Imago geschweige zum Betreten der Verkaufsräume bleibt dem Fußgänger keine Zeit, denn es ist die 29. Bamberger Hegelwoche mit dem Thema: Untergänge. Warum Reiche vergehen.

Die Hegelwochen sind für ein allgemein interessiertes Publikum bestimmt, also nicht nur für Akademikder interessant. Zu hören waren die Alt-Historiker Alexander Demandt und David Engels, einem breiteren Publikum relativ bekannt durch sein Buch Auf dem Weg ins Imperium, sowie Barbara Zehnpfennig, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau. Demandts Vortrag Musste Rom untergehen? befaßte sich mit der Völkerwanderung, die zum Zusammenbruch des Imperiums führte, den internen Schwächen Roms sowie dazu einige Einsprengsel von Hegels Lehre von den vier Weltreichen aus seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Der Vortrag war profund und anregend, so empfand ich es laienhaft, als Nicht-Historiker, Demandt wartete mit viel historischem Wissen auf, wenngleich mir Hegels Teleologie-Begriff in bezug auf die Geschichte doch einer verkürzten Interpretation geschuldet scheint. Daß die Geschichte in der Moderne an ein Ende käme, ist keine genuin Hegelsche These, sondern vielmehr beschrieb Hegel in der Geschichte wie auch in der Kunst die Komplexität einer Moderne, in der sich nicht mehr in der gewohnten Weise von einer Heilsgeschichte oder von einer harmonischen Konstellation sprechen läßt wie in der römisch-christlichen oder der hellenischen Antike. Die „Kunst der Entzweiung“ gelangte zur Hochform, doch die Synthese ist bei Hegel keineswegs einfach gesichert – schon gar nicht im preußischen Staat. Aber das sind Detailfragen, die in einem Vortrag kaum zu lösen sind, sondern nur mit Hegels Rechtsphilosophie im Blick debattiert und betrachtet werden können. Ebenso die zu Telos und Vernunft in der Geschichte, wobei man hier in der Analyse guttäte, Deskriptives von Normativem zu trennen und ebenso Hegels Begriff von Vernunft und nicht den eigenen in Anschlag zu bringen.

Demandt setzte in bezug auf die Krise der Gegenwart, insbesondere der EU und mögliche Untergangsparallelen seine Hoffnungen in die Kraft des Politischen, in die Möglichkeiten des Verhandelns und der klugen Politik. Auch, so scheint es Demandts Hoffnung, brauchen Erosionen Zeit, sie dauern und sind insofern aufhaltbar. In diesem (guten) Sinne ist Demandt ein aufrechter Konservativer. Und er übte berechtigte Kritik an einer einseitigen Politik der offenen Grenze. In den Ausführungen zur römischen Geschichte schien die Sache profund, was jedoch die tagesaktuelle Politik betraf, blieb es im vagen. In der FAZ schrieb er im Januar 2016:

„Es ist eine alte Frage, weshalb die reiche, hochentwickelte römische Zivilisation dem Druck armer, barbarischer Nachbarn nicht standgehalten hat. Man liest von Dekadenz, von einer im Wohlstand bequem gewordenen Gesellschaft, die das süße Leben des Einzelnen erstrebte, aber den vitalen und aktiven Germanenhorden nichts entgegenzusetzen hatte, als diese, von der Not getrieben, über die Grenze strömten. Überschaubare Zahlen von Zuwanderern ließen sich integrieren. Sobald diese eine kritische Menge überschritten und als eigenständige handlungsfähige Gruppen organisiert waren, verschob sich das Machtgefüge, die alte Ordnung löste sich auf.“

Wieweit eine Gesellschaft solche massiven Probleme, die ihren Bestand bedrohen können, zu bewältigen vermag, hängt von ihren Funktionsmechanismen ab: inwiefern sie fähig ist, solche Komplexität zu reduzieren und in einen rationalen Diskurs zu integrieren, vor allem aber beim Wähler glaubhaft und überzeugend darzustellen. Aber bei solchen Fragen der Zeit und insbesondere bei historischen Analogien läßt sich viel spekulieren, nicht jedoch wahrsagen. In der Geschichte kann ein kleiner Flügelschlag, kann ein an sich zunächst unbedeutend erscheinendes Ereignis, das aus einer Laune des Zufalls heraus geschieht, einen Schub an Veränderungen, wenn nicht einen Epochenwechsel nach sich ziehen. Wobei für solch epochalen Wandel die Bedingungen bereits vorbereitet sein müssen. Ein Sturm auf die Bastille macht keine Revolution, sondern höchstens eine Revolte. Eine Zeit muß reif sein, damit daraus ein Ereignis erwächst.

Barbara Zehnpfennig mit ihrem Vortrag Warum zerfiel der Ostblock? hielt sich bis zum ersten Drittel weitgehend an die Fakten. Das Sowjetreich ließ sich kaum affirmieren und loben, nicht einmal für wenige Dinge, allenfalls mochte seine Funktion darin bestehen, ein kapitalistisches System einzuhegen und – List der Geschichte – als Korrektiv zu fungieren, so daß der Kapitalismus im reichen Westen seine häßlichen Züge nicht zeigen durfte. Aber diese fatale Dialektik und Kritik am System war keineswegs Zehnpfennigs Absicht. Doch die historischen Bedingungen, weshalb es zu einer solchen Revolution kam, hätten mindestens genannt werden müssen. Sie erwähnte Zehnpfennig mit nicht einem einzigen Wort, was für eine Politologin, die sich mit Ideengeschichte befaßt, kein Glanzstück ist. Der Bezug zu Hegel freilich blieb bei diesem Vortrag zwar eher im vagen und genauso hätte dieser Vortrag bei einer Kant-Woche oder bei einem Schmitt-Kongreß gehalten werden können, wo er womöglich sogar besser aufgehoben wäre.

Immerhin aber diente der arme Hegel unvermeidlich dazu, auf den bösen Marx überzuleiten. Und da hakte der Vortrag aus und geriet nicht nur auf die schiefe Bahn, sondern in Vorurteile, wie man sie einem Erstsemestler im Proseminar in einem mißglückten Referat nicht hätte durchgehen lassen. Sowas darf einer erfahrenen Lehrkraft nicht passieren, selbst dann, wenn Idiosynkrasien im Spiel sind und man nicht zu den Marxologen dieser Welt sich zählt, hat man als Wissenschaftler an die Texte sich zu halten und nicht die eigenen ideologischen Vorurteile fürs Publikum zu reproduzieren und zum Maßstab der Darstellung zu machen. Man kann durchaus Marx kritisieren, aber wenn man das tut, muß das im Modus der reflektierten und immanenten Lektüre geschehen und nicht in der Weise wie Gerhard Löwenthal oder Ludwig von Mises, die Marx nicht verstehen, sondern mit ihrer Kritik ihren eigenen ideologischen Standpunkt kaschieren und damit – lustige Dialektik – zugleich zementieren. Auch auf einem Vortrag für die Allgemeinheit, vielleicht sogar gerade dort, weil da ein Publikum sitzt, dem die Marx-Texte nicht selbstverständlich sind.

Das Desaster des Vortrags begann mit falschen ideengeschichtlichen Zuordnungen und damit, daß orthodoxer Sowjetmarxismus in kruder Unmittelbarkeit mit dem Text von Marx parallelisiert wurde. Zwar sah Zehnpfennig immerhin, daß Marx die Bedingungen für eine mögliche proletarische Revolution in einem Agrarland wie Rußland für schwer möglich hielt und sie bemerkte immerhin, daß man den Leninismus hier mitlesen müsse, um aber sogleich auf Theoreme bei Marx zu sprechen zu kommen, wo man durchaus diesen Aspekt der Diktatur herauslesen konnte, wenn etwa in einer Gesellschaft Freiheitsrechte abgeschnitten wurden. Angefangen bei Marxens Kritik am Privateigentum, als ob Marx der Oma ihr klein Häuschen enteignen würde – dabei den Analyse- und Kritikcharakter des „Kapitals“ konsequent übersehend –, bis hin zur Fehllektüre beim Klassenbegriff und der Diktatur des Proletariats, dabei überlesend daß dort im „Kapital“ 3. Buch, 2. Teil, 7. Abschnitt, 52. Kapitel von der klassenlosen Gesellschaft auf nicht einmal zwei Seiten die Rede ist: Danach bricht das Manuskript ab. Das Kapital ist nun gerade kein Buch, daß sozialistische Utopien auspinselt, sondern eine Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und in gleichem Zuge liefert es eine Kritik derselben. Und daß die klassenlose Gesellschaft bei Marx weit komplexer sich gestaltet als ein sowjetisches Terror-Regime, zeigen nicht nur die Frühschriften von Marx.

Beim Begriff der „Diktatur des Proletariats“ hätte bereits ein einfacher Blick in Wikipedia gereicht, um hier über die Facetten dieses Begriffs aufzuklären: daß dieser Begriff im historischen Kontext dieser Zeit eine bestimmte Form von Herrschaft bedeutete, wie es im 19. Jahrhundert durchaus Sprachgebrauch war, wenn man von Diktatur schrieb und daß damit eben nicht Hitler, Lenin oder ein Stalin gemeint sind. Dies sind ex post facto-Deutungen des Diktaturbegriffes, hier wird semantisch und von seinem Bedeutungsgehalt ein Begriff ideologisch unzulässig aufgeladen, was sowohl philosophisch wie von der Begriffsgeschichte her verhängnisvoll ist, weil bewußt ein falsches Bild in Szene gesetzt wird. Mit Unwissenheit läßt sich das kaum entschuldigen. Und schwer vorstellbar, daß eine erfahrene Politologin um diese Fakten nichts weiß, zumal sie eigentlich dafür vorgesehen war, Marxens „Kapital“ im Meiner Verlag in einer kritischen Studienausgabe darzustellen. (Zum Glück übernahm diese Aufgabe dann Michael Quante.)

Und wer es detaillierter möchte und Marxens Ausführungen zur proletarischen Diktatur lesen will, die eben doch etwas ganz anderes meinen als einen simplifizierten Begriff, der greife zum Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“ – unter anderem von Koselleck herausgegeben:

„denn die sogenannte bürgerliche Demokratie ist für Marx nichts anderes als die Diktatur des Bürgertums, und die proletarische Diktatur ist nicht etwa erst nach ihrem Ende, sondern schon während ihres Verlaufs auf viel genuinere Weise eine Demokratie, als es die bürgerliche Demokratie je war. Marx erläuterte diese Konzeption 1871 am Beispiel der Pariser Kommune, die das allgemeine Stimmrecht erstmals zu einer Wahrheit und zum Diener des Volkes gemacht hatte.“

Gleiches Wahlrecht für alle nämlich war in den halb bürgerlichen, halb monarchistischen Ländern Europas keineswegs eine unverbrüchliche Sache. Insofern sollte man Marx‘ Texte im Sinne eines Principle of charity aus seiner Zeit heraus lesen und Texte nicht mit der eigenen Ideologie überformen. Marx‘ Begriff der Diktatur ist aus den Kämpfen der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts zu verstehen:

„In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird und dessen schlimmste Seiten es ebensowenig wie die Kommune umhin können wird, sofort möglichst zu beschneiden, bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun.

Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“ (K. Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW Bd. 17)

„Andrerseits aber forderte es eine revolutionäre Umgestaltung Deutschlands, die nur durch die Gewalt, also nur durch eine tatsächliche Diktatur, durchführbar war. Und dabei hatte das Bürgertum von 1848 an Schlag auf Schlag, in jedem entscheidenden Moment, den Beweis geliefert, daß es auch nicht die Spur der nötigen Energie besaß, um, sei es das eine, sei es das andre, durchzusetzen – geschweige beides. Es gibt in der Politik nur zwei entscheidende Mächte: die organisierte Staatsgewalt, die Armee, und die unorganisierte, elementare Gewalt der Volksmassen. An die Massen zu appellieren, hatte das Bürgertum 1848 verlernt; es fürchtete sie noch mehr als den Absolutismus. Die Armee aber stand keineswegs zu seiner Verfügung. Wohl aber zur Verfügung Bismarcks.“ (Fr. Engels: Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: MEW Bd. 21)

Eine insgesamt leider ärgerliche Marx-Auslassung von Zehnpfennig. Umso unerfreulicher auch, weil sie es hätte besser wissen müssen. Gleiches gilt für ihre Kritik an Marxens Arbeitswertlehre. Sie läßt sich nicht damit kritisieren, indem man dem Wert eines Diamanten kommt, der nicht durch Arbeit entsteht, um damit den Falschheit des Marxschen Wertbegriffs herauszustreichen – zumal wenn man dabei die basale Differenz von Gebrauchs- und Tauschwert unterschlägt. Als es noch, in den seligen Zeiten, als das Wünschen zwar auch nichts half, aber manchmal kluge Zwischenfragen im Plenum kamen, die Marxistische Gruppe an den Universitäten gab – eine zwar unangenehme und dogmatische, aber theoretisch doch hochfundierte Organisation –, hätte deren Frager aus der Referentin Kleinholz gemacht. Immerhin gab bei den Publikumsfragen einer der Frager zu bedenken, daß von Zehnpfennigs Ausführungen zu Marx etwa 80 Prozent falsch sei und führte dies in einigen Punkten auch aus. Man hätte gut und gerne auf 90 erhöhen können.

Etwas besser ging es dann am dritten Tag zu. Nicht nur, daß der Vortrag von Engels anregend war, weil darin Verfallstendenzen des römischen Imperiums mit denen der EU in eine spannend-destruktive Analogie gesetzt wurden: bei manchem Cicero- oder Polybios-Zitat oder beim Hinweis auf Sallusts Die Verschwörung des Catilina  dachte man, wie vom Vortragenden beabsichtigt, doch unwillkürlich an die Gegenwart, etwa wenn von Grenzüberdehnungen die Rede ist oder von der Vermittlung unterschiedlicher Kulturen ebenso wie bei der Frage der Machtanhäufung oder dem Programm von Brot und Spielen, mit dem die Bevölkerung ruhig gestellt werden sollte. Wenn es einmal ganz schlimm käme, so müssen wir eben die Menschen belügen, so zitierte Engels Jean Claude Juncker. Vertrauen in Demokratie schafft so etwas nicht.

Das Problem bei Analogien ist freilich, daß sie Analogien bleiben. Nicht mehr, nicht weniger. Der „Zauberstab der Analogien“, den Novalis in seinem Essay Die Christenheit oder Europa favorisierte, um mit ihm die Geschichte zum Klingen zu bringen, ist primär ein ästhetisches Phänomen, und sowieso ist dieser Novalis-Text nicht einfach als politisches Pamphlet zu lesen ist: „An die Geschichte verweise ich euch, forscht in ihrem belehrenden Zusammenhang, nach ähnlichen Zeitpunkten, und lernt den Zauberstab der Analogie gebrauchen.“

Aus solchen Geschichts-Analogien lassen sich interpretierend durchaus unterschiedliche Lesarten ableiten. Sie geben einen heuristischen Rahmen zum Betrachten und Analysieren – mehr nicht. Sie sind kein Orakel. Geschichte mag sich in Strukturen ähneln, doch sie wiederholt sich nicht und es läßt sich aus den Gegenwartszeichen nicht wie die römischen Auguren aus den Innereien der Tiere lesen, indem man rückbezüglich Parallelen sucht und dann drauflos interpretiert oder alarmisiert. Unterhaltsam und auf alle Fälle anregend, aber nur für die ästhetische Phantasie, die sich ihre Untergänge gerne als Ereignis der Kunst ausmalt. Thema für einen Roman, der die Geschichtszeichen in einer Geschichte ordnet – irgendwas zwischen Don DeLilo und Roberto Bolaño.

In solcher Analogiebildung lag dann auch die entscheidende Schwäche von Engels Vortrag. Realiter zudem von einer Spenglerschen Untergangsvision gespeist, die ich für geschichtsphilosophisch problematisch bis fragwürdig halte. Sie ist dialektisch unausgegoren. Ein Hegel zum herabgesetzten Preis. Und so zeigt sich wieder einmal, daß ideologische Voreinstellungen und Referenzrahmen, die ja durchaus – ähnlich der Analogie – ein Feld heuristisch und produktiv strukturieren können, in die Hose gehen, wenn sie dogmatisch als Strukturgerüst und damit als ideologisches Fundament gebraucht werden. Darin lag leider der Fehler von Engelsʼ Vortrag.

Ebenfalls schade, daß alle drei geladenen Gäste eher dem konservativen oder bürgerlich-liberalen Lager zuzuschlagen waren. Das brachte ein etwas zu einhelliges und damit leider auch eintöniges Gespräch bei der abschließenden Podiumsdiskussion. Es fehlte der linke Gegenpart – auch bei den drei Vortragenden. Abweichungen allenfalls in den Details, ob man die Entwicklungen und Probleme Europas eher pessimistisch sah, wie Engels, oder in der Gefahr eben doch auch ein Rettendes erwachsen kann, wie das teils zumindest Demandt und massiv Zehnpfennig vertrat. Immerhin wirkte Zehnpfennig hier nicht mehr, als hielte sie einen Vortrag für die Hayek-Stiftung. Als es auf die Begriffe von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit kam und die Unwucht zugunsten von Gleichheit moniert wurde, die unter Absehung vom Freiheitsbegriff immer mehr zur Forderung erhoben würde – man fragt sich als Zuhörer allerdings von wem eigentlich in der Politik und wo in relevanter Weise – gab Zehnpfennig zu bedenken, daß eine Freiheit, wo die Gerechtigkeit fehle, keine Freiheit sei. Da hatte sie an diesem Abend durchaus recht. Auch wenn sie das politische Dilemma der Zeit, daß es Freiheit nur in einer gerechten Gesellschaft geben kann, in der gleiche Chancen für alle herrschen, kaum zum Thema machte. Freiheit ist von der Kritik der politischen Ökonomie nicht zu trennen.

 

„Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“

„Von Christus selbst konnte man keine Reliquien haben, denn er war auferstanden: das Schweißtuch Christi, das Kreuz Christi, endlich das Grab Christi wurden die höchsten Reliquien. Aber im Grabe liegt wahrhaft der eigentliche Punkt der Umkehrung, im Grabe ist es, wo alle Eitelkeit des Sinnlichen untergeht. Am Heiligen Grabe vergeht alle Eitelkeit der Meinung, da wird es Ernst überhaupt. Im Negativen des Dieses, des Sinnlichen ist es, daß die Umkehrung geschieht und sich die Worte bewähren: ‚Du lässest nicht zu, daß Dein Heiliger verwese‘. Im Grabe sollte die Christenheit das Letzte ihrer Wahrheit nicht finden. An diesem Grabe ist der Christenheit [der Kreuzfahrer, Hinweis N.B.] noch einmal geantwortet worden, was den Jüngern, als sie dort den Leib des Herrn suchten: ‚Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden‘. Das Prinzip eurer Religion habt ihr nicht im Sinnlichen, im Grabe bei den Toten zu suchen, sondern im lebendigen Geist bei euch selbst. Die ungeheure Idee der Verknüpfung des Endlichen und Unendlichen haben wir zum Geistlosen werden sehen, daß das Unendliche als Dieses in einem ganz vereinzelten äußerlichen Dinge gesucht worden ist.“ (Hegel, Philosophie der Geschichte)

Cranachaltar der Herderkirche in Weimar, Rückseite, Quelle: Wikipedia

Rückzug ins bildsamste Material oder Hegels Worte

Schöner und poetischer kann man in der philosophischen Ästhetik des noch jungen 19. Jahrhunderts das Wesen der Poesie nicht zum Ausdruck bringen, als dies Hegel in seiner Vorlesung über Ästhetik tat. Vor allem aber erkannte Hegel die besondere Rolle der Poesie im Kanon der Künste. Aufstrebend, der Philosophie nahe, wenn nicht verwandt. Schön geschrieben – ob nun von Hegel selbst oder doch eher von seinem Schüler Hotho in jener 1835 veröffentlichten „Vorlesung über Ästhetik“:

„Denn das Wort, dies bildsamste Material, das dem Geiste unmittelbar angehört und das allerfähigste ist, die Interessen und Bewegungen desselben in ihrer inneren Lebendigkeit zu fassen, muß, wie es in den übrigen Künsten mit Stein, Farbe, Ton geschieht, auch vorzüglich zu dem Ausdrucke angewendet werden, welchem es sich am meisten gemäß erweist. Nach dieser Seite wird es die Hauptaufgabe der Poesie, die Mächte des geistigen Lebens, und was überhaupt in der menschlichen Leidenschaft und Empfindung auf und nieder wogt oder vor der Betrachtung ruhig vorüberzieht, das alles umfassende Reich menschlicher Vorstellung, Taten, Handlungen, Schicksale, das Getriebe dieser Welt und die göttliche Weltregierung zum Bewußtsein zu bringen. So ist sie die allgemeinste und ausgebreiteteste Lehrerin des Menschengeschlechts gewesen und ist es noch. Denn Lehren und Lernen ist Wissen und Erfahren dessen, was ist. Sterne, Tiere, Pflanzen wissen und erfahren ihr Gesetz nicht; der Mensch aber existiert erst dem Gesetze seines Daseins gemäß, wenn er weiß, was er selbst und was um ihn her ist; er muß die Mächte kennen, die ihn treiben und lenken, und solch ein Wissen ist es, welches die Poesie in ihrer ersten substantiellen Form gibt.“

Die Kraft des Selbstbewußtseins, die in der Kunst wirkt und zugleich das Subjekt übersteigt, und zwar hin auf das Gattungswesen Mensch. Nichts Menschliches, was der Kunst fremd ist. Goethe dichtete es, und Hegel nahm diesen Aspekt mit Leidenschaft auf, formulierte Goethes Zeile aus „Die Geheimnisse“ als Philosophie der Kunst aus: „Humanus heißt der Heilige, der Weise, …“ Hegel war wohl einer der letzten, die diesen ekstatischen Bezug zu Subjekt und Menschheit so freimütig evozieren konnten. Und doch hat sich – selbst unter dem Akut des Negativen, unter dem Neigungswinkel falschen Lebens – die Arbeit und Aufgabe der Kunst um keinen Deut geändert. Kunst konstruiert eine Welt für sich, die zugleich eine Welt für uns ist, weil es unsere Welt ist, die in der Arbeit der Konstruktion oder wie Hegel es nennt, in der Phantasie des Dichters gebaut wird. Sei es auch eine Welt aus Asche. Und immer wieder komme ich auf dieses Zitat des Filmkritikers André Bazin zurück, der den Hegelianismus pur ins Bild bzw. in den Text-Vorspann des Films montierte:

Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnitten ist. ‚Die Verachtung‘ ist die Geschichte dieser Welt.“

Zugleich aber wird ein Anti-Hegelianismus daraus, wenn wir anders übersetzen und die Lesart des Satzes ändern. Denn dieses Spiegelstadium reiner Immanenz versucht Hegels Ästhetik gerade zu konterkarieren:

„Der Film unterschiebt unserer Vorstellung eine Welt, die mit unseren Wünschen übereinstimmt. ‚Die Verachtung‘ ist die Geschichte dieser Welt.“

Hegels Philosophie unterbricht den bloßen Selbstbezug. Er hatte jedoch etwas fürs Erzählen, Konstruieren und Ausschmücken über. Kunst entwirft eine Welt, die die unsere ist. Und nichts anderes macht in seiner Erzählweise auch der Film. Was sich in jenem oben genannten Zitat zeigt oder zumindest andeutet, wenn Hegel die Arbeit der Poesie beschreibt. Insofern wäre es interessant, was Hegel heute über den Film gedacht und geschrieben hätte. Anderes vermutlich als Adorno, der der Filmkunst skeptisch gegenüberstand. Hegel hätte seine Freude an dieser Kunst, weil sie eine Weise ist, uns Welt zu vergegenwärtigen und sie unserem Begehren gemäß zu gestalten und gleichzeitig die Immanenz zu brechen, indem uns das Kunstmedium Exemplarisches veranschaulicht. Eben der Aspekt, den Adorno vehement kritisierte. Vermutlich sogar zu recht.

Die schöne Seele

Irgendwie und ganz im tiefinnern Ungewußten, Unbewußten fallen mir bei diesen Sätzen Hegels aus seinen Ästhetikvorlesungen bestimmte Szenerien und Menschen ein:

„Denn auch für die wahrhaft sittlichen Interessen und gediegenen Zwecke des Lebens ist solch eine schöne Seele nicht offen, sondern spinnt sich in sich selber ein und lebt und webt nur in ihren subjektivsten religiösen und moralischen Ausheckungen. Zu diesem inneren Enthusiasmus für die eigene überschwengliche Trefflichkeit, mit welcher sie vor sich selber ein großes Gepränge macht, gesellt sich dann sogleich eine unendliche Empfindlichkeit in betreff auf alle übrigen, welche diese einsame Schönheit in jedem Momente erraten, verstehen, verehren sollen. Können das nun die anderen nicht, so wird gleich das ganze Gemüt im tiefsten bewegt und unendlich verletzt. Da ist mit einem Male die ganze Menschheit, alle Freundschaft, alle Liebe hin. Die Pedanterie und Ungezogenheit, kleine Umstände und Ungeschicklichkeiten, über welche ein großer starker Charakter unverletzt fortsieht, nicht ertragen zu können, übersteigt jede Vorstellung, und gerade das sachlich Geringfügigste bringt solches Gemüt in die höchste Verzweiflung. Da nimmt denn die Trübseligkeit, der Kummer, Gram, die üble Laune, Kränkung, Schwermut und Elendigkeit kein Ende, und daheraus entspringt eine Quälerei der Reflexionen mit sich und anderen, eine Krampfhaftigkeit und selbst eine Härte und Grausamkeit der Seele, in welcher sich vollends die ganze Miserabilität und Schwäche dieser schönseelischen Innerlichkeit kundgibt.“
(G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik)

Wie komme ich nur darauf? Ja wie? Ich hab’s – es erinnert mich an ein bestimmtes linkes Diskussionsmilieu, das ich seit den frühen 80er Jahren kenne. Dogmatisch, unreflektiert und – wie der Gegner – nur zu Denkoperationen im binären Schema fähig. Jeder Happen Currywurst wird zu einem Grundsatzkrieg, jedes Luxusessen mit Wein,  die Flasche über 15 DM  zu einem moralischen Offenbarungseid gestuft. Aber ohne guten Mampf kein Kampf, Freunde. Vor allem aber zeichnet sich dieses Trachten durch Selbstviktimisierung samt unendlichem Klagelamento aus, die als Begründung für die eigene Vorzüglichkeit herhalten müssen; daß die eigene Position qua Status und Handeln die richtige und bessere sei. Weinerlichkeit statt Theorie, Moral statt Gesellschaftskritik. Diese spielt im Vergleich zu jener inzwischen eine untergeordnete Rolle, bleibt dem Moralisieren, das an den Ton der Evangelikalen erinnert meist äußerlich: Gesinnung tritt an die Stelle der Analyse. Man nehme nur den Blog Münklerwatch. [Von der Präponderanz der Moral zeugt im übrigen noch die habermassche Diskursethik, die dem stahlharten Korsett der 80er Jahre entsprang, als Ersatz-Theorie für linkshochfahrende Fourier-Träume trat sie sozialdemokratisch abgemildert auf den Plan und versuchte, gesellschaftliche Widersprüche über ein argumentatives Prozedere abzubügeln.]

Freilich ist der von Hegel gewählte Begriff der schönen Seele denn doch ein zu gütiger für jene Zeitgeistströmungen, die wir bei einem Teil der derangierten Linken finden. Zumindest zu freundlich für das, auf was wir von damals bis heute hin stoßen: die Bigotterie der Zerknirschungsdiskurse, lustfeindlich, sprachfeindlich, sexfeindlich, theoriefeindlich und denkfeindlich vor allem. Und auch von der Grandezza und genußvollem Umgang mit Welt weit weit entfernt.

Weit nach Hegels Zeit brachten die Muppets es in ihrem unwiderstehlichen dialektischen Posthegelianismus mit einem ihrer Songs und in einem einzigen Wort auf den Punkt. Meine aktuelle Trendscout-Vorhersage für die restlichen elf Monate des Jahres 2016: Ob Männer oder Frauen, Journalisten, Publizisten, eine bestimmte Sorte von Netz-Feministinnen, unverstandene Mittelschicht, schweigende Minderheit, schweigende Mehrheiten, biedere Mitte, radikale Lampenputzer-Revoluzzer, der Kleinbürger als Künstler: Allüberall auf den Tannenspitzen sah ich den Mimimi-Ton sitzen. Wobei ich hier auch nicht horxen will, denn dessen Geseiere in der „Berliner Zeitung“ ist mir ebenso zuwider wie das Mimimi der monophonen Klagestimmen.

[Als Ergänzung zu diesen hegelschen Zeilen ist unbedingt, um der Lust und dem Eros zu huldigen, Nietzsche und sein großes gedehntes Ja hinzuzunehmen. Auch das von Molly Bloom am Ende ihres mäandernden und großartigen Monologs. Überbordend, treibend, triebhaft, schwimmend, sich aussetzend.]

Komplexitätsdigression in Sachen Mensch

„Der Verstand nämlich will sich abstrakt nur eine Seite des Charakters herausheben und zur alleinigen Regel des ganzen Menschen stempeln. Was gegen solche Herrschaft einer Einseitigkeit streitet, kommt dem Verstande als bloße Inkonsequenz vor. Für die Vernünftigkeit des in sich Totalen und dadurch Lebendigen aber ist diese Inkonsequenz gerade das Konsequente und Rechte. Denn der Mensch ist dies: den Widerspruch des Vielen nicht nur in sich zu tragen, sondern zu ertragen und darin sich selbst gleich und getreu zu bleiben.“

Das schrieb Hegel bzw. Hotho in den „Vorlesungen über die Ästhetik“. Um diese verschlungenen Wege des Menschen wußte man seinerzeit noch, als die Zurüstungen zum eindimensionalen Menschen nur mäßig fortgeschritten waren. (Allerdings erwies sich diese Art des Denkens seinerzeit für die meisten als ein ungeheures Privileg. Solche Erkenntnisweisen dürften an ein sich ausdifferenzierendes Bürgertum gebunden sein. Heute könnten in Europa sehr viele mehr ihrer Vernunft sich bedienen. Doch sie unterlassen es. Nicht nur, daß das Bürgertum seiner eigenen Philosophie nicht mehr mächtig ist, sondern es hat sich mittlerweile ausradiert und feiert einen Residualkult lediglich, indem es plötzlich auf Tischsitten wert legt und in Anzüge sich steckt, die seltsam stillos anmuten. Konventionen ohne Konvention.) Kant formulierte das Widersprüchliche bildhaft: „… aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von Natur auferlegt.“

Mir scheint – nicht nur in den Zusammenhängen der Kunst und in ihren Werken, wo sie den Menschen zum Thema hat – diese Hegelsche Sicht des Widerspruchs und der Differenz ein annehmbares Denken. Doch steigerte Hegel im Verlauf seiner Theorie der Kunst diese Erfahrung von Differenz wieder ins Konzept der Einheit – wenn auch einer vermittelten, in der der Widerspruch in jenem mehrfachen Wortsinne aufgehoben erscheint. Da aber, wo ästhetisch und gesellschaftlich die Vermittlung abbricht, muß es sichtbar werden, wenn sie aussetzt. Und in welcher Weise sie aussetzt. Das Negative bleibt negativ – da helfen ästhetisch wie auch in Sachen Gesellschaft keine Beruhigungsstrategien. Hegels Ästhetik war für die Brüche, Risse und die unaufhebbaren Widersprüche eines sich herausschälenden, modernen Subjekts wenig empfänglich. Ebensowenig für das Unheimliche. Das Fragment, der Bruch, der als Bruch bestehen bleibt, wie wir es bei Hegels Zeitgenossen Kleist wohl am drastischsten und im Sinne vorgezeichneter Moderne finden, war Hegels Sache nicht. Die Kunst hatte als ideales Ziel die Einheit des Humanen. Ein sich zum Ganzen Entwickelndes, das als das Wahre sich erweisen würde. Diese Totalität war womöglich niemals zu haben. (Nicht einmal das Wagnersche Gesamtkunstwerk vermochte sie einzulösen.)

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ Und ebenso die Komplexität. Andererseits bleiben solche Sätze Predigten von der Kanzel, wenn sie nicht mit Inhalten gefüllt sind. Vom Leben weg, zur Ästhetik hin – da finden sich zwar keine Lösungen, aber doch komponierte Einlösungen und Bilder, meinetwegen auch die Phantasmen. Um dann wieder ins Leben zu gelangen.

Hegel – Kritiker der Postmoderne avant la lettre

 „Was hat uns bloß so ruiniert?“ (Frei nach Die Sterne)

„Und nun erfaßt sich diese Virtuosität eines ironisch-künstlerischen Lebens als eine göttliche Genialität, für welche alles und jedes nur ein wesenloses Geschöpf ist, an das der freie Schöpfer, der von allem sich los und ledig weiß, sich nicht bindet, indem er dasselbe vernichten wie schaffen kann. Wer auf solchem Standpunkte göttlicher Genialität steht, blickt dann vornehm auf alle übrigen Menschen nieder, die für beschränkt und platt erklärt sind, insofern ihnen Recht, Sittlichkeit usf. noch als fest, verpflichtend und wesentlich gelten. So gibt sich denn das Individuum, das so als Künstler lebt, wohl Verhältnisse zu anderen, es lebt mit Freunden, Geliebten usf., aber als Genie ist ihm dies Verhältnis zu seiner bestimmten Wirklichkeit, seinen besonderen Handlungen wie zum an und für sich Allgemeinen zugleich ein Nichtiges, und es verhält sich ironisch dagegen.

Dies ist die allgemeine Bedeutung der genialen göttlichen Ironie, als dieser Konzentration des Ich in sich, für welches alle Bande gebrochen sind und das nur in der Seligkeit des Selbstgenusses leben mag. Diese Ironie hat Herr Friedrich von Schlegel erfunden, und viele andere haben sie nachgeschwatzt oder schwatzen sie von neuem wieder nach.“

Diese Kritik Hegels in seinen „Vorlesungen über Ästhetik“ ist, wenn wir einen substantiellen wie auch wesentlichem Begriff von Subjekt sich entwickeln lassen, nicht von der Hand zu weisen. Andererseits aber teile ich diesen Standpunkt der Ironie unter den Bedingungen der Moderne. Daß in dieser Moderne des endenden 18., des aufkeimenden 19. Jahrhunderts das Subjekt zugleich auch ein unglückliches, zerrissenes, gespaltenes sein kann, sehen wir bereits in der Philosophie Kants und in dessen unaufhebbaren Dualismen: Notwendigkeit und Freiheit, Sinnlichkeit und Vernunft, Anschauung und Begriff. Was Schiller noch auf verschlungenen Wegen und im Banne von erpreßter Versöhnung in der ästhetischen Erziehung und in Kunst zu schlichten versuchte (vermitteln würde ich es nicht nennen wollen), geriet bei Heinrich von Kleist zum Desaster, zum Bruch, zur Katastrophe. Freilich beschenkte uns dieser Riß mit herrlichen Texten. Der Standpunkt der Ironie verweist auf das Versatzstück Subjekt, auf das zerteilte, gestückelte, in seinen Bezügen fragmentierte Individuum, das freilich schon lange keines mehr ist – weder als künstlerisches noch als bürgerliches. Jedoch:

„Bleibt das Ich auf diesem Standpunkte stehen, so erscheint ihm alles als nichtig und eitel, die eigene Subjektivität ausgenommen, die dadurch hohl und leer und die selber eitle wird. Umgekehrt aber kann sich auf der anderen Seite das Ich in diesem Selbstgenuß auch nicht befriedigt finden, sondern [muß] sich selber mangelhaft werden, so daß es nun den Durst nach Festem und Substantiellem, nach bestimmten und wesentlichen Interessen empfindet. Dadurch kommt dann das Unglück und der Widerspruch hervor, daß das Subjekt einerseits wohl in die Wahrheit hinein will und nach Objektivität Verlangen trägt, aber sich andererseits dieser Einsamkeit und Zurückgezogenheit in sich nicht zu entschlagen, dieser unbefriedigten abstrakten Innigkeit nicht zu entwinden vermag und nun von der Sehnsüchtigkeit befallen wird, die wir ebenfalls aus der Fichteschen Philosophie haben hervorgehen sehen. Die Befriedigungslosigkeit dieser Stille und Unkräftigkeit – die nicht handeln und nichts berühren mag, um nicht die innere Harmonie aufzugeben, und mit dem Verlangen nach Realität und Absolutem dennoch unwirklich und leer, wenn auch in sich rein bleibt – läßt die krankhafte Schönseelischkeit und Sehnsüchtigkeit entstehen. Denn eine wahrhaft schöne Seele handelt und ist wirklich. Jenes Sehnen aber ist nur das Gefühl der Nichtigkeit des leeren eitlen Subjekts, dem es an Kraft gebricht, dieser Eitelkeit entrinnen und mit substantiellem Inhalt sich erfüllen zu können.“

Im Grunde ist dieser Riß, der durch Welt und Subjekt gleichermaßen sich zieht, der Motor der Kunst der Moderne. Als Lebenspraxis freilich bleibt – zumindest in der Diktion Hegels – solch hohltönendes, eitles, selbstbezügliches oder fragmentiertes Subjekt, dem es an Kraft gebricht, leer. Residual. Mit der deutschen literarischen Romantik einerseits, mit Hölderlin, Kleist und später dann Büchner andererseits setzt diese ästhetische Moderne ihren Auftakt. Eine Moderne, die im Subjekt und zugleich gegen dieses ihre Triumpfe feierte. Die wesentlichen literarischen Werke des frühen 20. Jahrhunderts erzählen davon. Ganzheit ist Phantasma.

Die sich im dialektischen Prozeß des Denkens entfaltende Einheit, die Vermittlungsleistung von Begriff und Wirklichkeit, von Wahrheit und Wissen wäre nach Hegel herzustellen, und in einem wohl eingerichteten Staat realisierte sich der Gang des Geistes, wie ihn Hegel in seiner „Phänomenologie“ diskursiv wie auch poetisch beschwor: Substantialität und Subjektivität, Vernünftigkeit sowie die Wirklichkeit des Sittlichen verknüpfen sich darin. Das weist auf eine befreite Gesellschaft, die gegenwärtig freilich nicht einmal mehr denkbar ist. Kunst antizipierte etwas davon. Inzwischen sind jedoch auch der Schein und die Illusion, die der Kunst immanent waren, zerronnen.

Mein ästhetisches und gesellschaftlich inspiriertes Projekt ist es, Liebe und Subjekt aus der Welt zu brennen, als Glutofen, der alles, was besteht, in die Asche auflöst, oder eben: zu gefrieren. Die Spätmoderne als Kältekammer. Das Märchen von der Schneekönigin und ihr kalter Spiegel der Vernunft nicht als Metapher in die Welt geworfen, sondern als paradigmatische Zuspitzung. Frostherz – mein liebstes.

Hegellektüren (2) – Das gefesselte Subjekt

Eine Ergänzung der Lektüren durch Slavoj Žižek, ein wenig angeregt, kürzlich, durch einen Hinweis der Kommentatoren „detroit music“ sowie „Alter Bolschewik“. Odysseen und Fesselungen – Bounded: Tokio Dekadenz als Seinsweise des (spät-)modernen Subjekts: die Warenwelt.

Was will die Philosophie? Sie handelt vom Denken des Denkens. Sie ist Reflexion. Reflexion auf sich selbst, auf die eigenen Bedingungen und Reflexion auf das ihr Auswendige. Sie ist die Arbeit des Begriffes. Sie ist Metaphorologie, sie findet jene Neologismen, die die Welt und alles das, was der Fall oder auch nicht der Fall ist, beschreiben und begrifflich bannen. Philosophie erzeugt die Begriffsfelder, die Konstellation der Begriffe, die eine neue Sicht öffnen, und sie übersetzt – ähnlich der Literatur und der Lyrik – das, was dumpf als Gefühltes brodelt, in die Sprache. Es gibt – zumindest für Menschen – keine Gefühle als solche, es gibt nur Sprache und Formen des Ausdrucks. Philosophie ist Analyse dessen, was die Welt ist, und sie ist zugleich ein Ausdrucksmedium. Die sprachliche Form bleibt ihr nicht äußerlich. Was eine oder einer nicht zur Sprache bringen kann, das fühlen sie auch nicht bzw. es bleibt das, was da als Nerven- oder Neuronenreiz wirkt, wage, dunkel Geahntes. Doch auch die Reflexion allein reicht nicht hin.

Hegel wurde nicht müde, den zwar einerseits notwendigen, aber zugleich defizitären Status der Reflexion darzulegen, sofern diese im endliche Verstand verharrt, dem das Absolute, das Wesen, die Substanz als bloß Äußeres entgegengesetzt bleibt. Die Reflexion ist zwar, nach Hegels Differenzschrift (1801), das Instrument der Philosophie. Aber als Gegensatz zum Absoluten muß sich die Reflexion selber durchstreichen, sich aufheben, weil dieser Gegensatz dem Begriff des Absoluten widerspricht. Der Widerspruch in der Sache wird zum Motor des Denkens und setzt Bewegungen in den Gang. Pointiert und in kalter Präzision werden diese Bestimmungen der Reflexion und deren Aufhebungen (im mehrfachen Wortsinne) in Hegels „Wissenschaft der Logik“ dargelegt. Die Gedanken Gottes vor der Erschaffung der Welt, so bezeichnete Hegel in der Einleitung diesen Text.

„Die Form, die das Bedürfnis der Philosophie erhalten würde, wenn es als Voraussetzung ausgesprochen werden sollte, gibt den Obergang vom Bedürfnisse der Philosophie zum Instrument des Philosophierens, der Reflexion als Vernunft. Das Absolute soll fürs Bewußtsein konstruiert werden, [das] ist die Aufgabe der Philosophie; da aber das Produzieren sowie die Produkte der Reflexion nur Beschränkungen sind, so ist dies ein Widerspruch. Das Absolute soll reflektiert, gesetzt werden; damit ist es aber nicht gesetzt, sondern aufgehoben worden, denn indem es gesetzt wurde, wurde es beschränkt.“ (Hegel, Differenzschrift, S. 25, in: Werke 2, Fft/M 1986)

Die Reflexion unterliegt Beschränkungen. Diese Schranken können jedoch von der Reflexion ins Denken genommen und damit zugleich: auf den Begriff gebracht werden. Dabei richtet sich diese Reflexion nicht nur auf das Andere, also auf das Objekt, sondern es steckt in diesem Akt ebenso der Bezug auf sich selbst, ausgehend von Kants Bestimmung des „Ich denke“ in seiner transzendentalen Deduktion.

„Insofern die Reflexion sich selbst zu ihrem Gegenstand macht, ist ihr höchstes Gesetz, das ihr von der Vernunft gegeben und wodurch sie zur Vernunft wird, ihre Vernichtung; sie besteht, wie alles, nur im Absoluten, aber als Reflexion ist sie ihm entgegengesetzt; um also zu bestehen, muß sie sich das Gesetz der Selbstzerstörung geben. Das immanente Gesetz, wodurch sie sich aus eigener Kraft als absolut konstituierte, wäre das Gesetz des Widerspruchs, nämlich daß ihr Gesetztsein sei und bleibe; sie fixierte hierdurch ihre Produkte als dem Absoluten absolut entgegengesetzte, machte es sich zum ewigen Gesetz, Verstand zu bleiben und nicht Vernunft zu werden und an ihrem Werk, das in Entgegensetzung zum Absoluten nichts ist (und als Beschränktes ist es dem Absoluten entgegengesetzt), festzuhalten.“ (S. 28)

Insbesondere zum Einstieg in die Philosophie Hegels scheint es mir nicht verkehrt, die Differenzschrift zu lesen, weil dort grundsätzliche Positionen und Auseinandersetzungen mit der kantischen sowie der nachkantischen Philosophie entfaltet werden.

Hegels Philosophie ist eine der Aufklärung, sie klammert und heftet sich aber nicht nur an das Subjekt – weder an das empirische, noch an das transzendentale –, sondern nimmt das Überschreitende, die Transgression in den Blick. Das Absolute als mit sich und mit Anderem vermittelte Form, davon das Subjekt lediglich ein Bestandteil ist – zumindest in der Diktion Hegels –, bleibt die Aufgabe er Philosophie. Um es ein wenig auf die Empirie herunterzurechnen: Hegel – das ist Zen-Buddhismus für Preußen – allerdings in die Sprache gebracht und Intuition transformierend.

Der Philosoph Slavoj Žižek wendet die Philosophie Hegels in einen psychoanalytischen Rahmen, der sich vor allem am Text von Jacques Lacan ausrichtet. Aber entgegen der poststrukturalistischen Dezentrierungstheorie vertritt der Text Žižeks – zumindest in bezug auf seine Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus – eine Position, die das Subjekt als philosophische Kategorie nicht zugunsten von Strukturen preisgibt. Vielmehr thematisiert Žižek ein Subjekt, in dessen Faltungen und Strukturierungen zugleich die Brüchigkeit und die Widersprüchlichkeit dieser Subjektivität ins Denken genommen werden.Es geht Žižek um die Bereitschaft, „mit dem wahrhaft traumatischen Kern des modernen Subjekts begrifflich fertig zu werden.“ (Žižek, Die Nacht der Welt, S. 8, Fft/M 1998) Reflexion ist dabei zum einen die auf einen Gegenstand, mithin auf das Andere des Bewußtseins, eben das, was man (phänomenologisch im nachhegelschen Sinne) als Intentionalität des Bewußtseins bezeichnen kann, und zugleich – alte Einsicht – bezieht sich das Subjekt in diesem Verhältnis – ungewußt und unreflektiert im Akt des Erkennens und Wahrnehmens als solchem – auf sich selbst, und zwar im Sinne jenes in Kants Text postuliertem „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; …“ Dieses Bewußtsein samt seiner Tücken (sowie dem Moment der Sprache als Weise von Subjektivierung) bildet die Basis für Žižeks Philosophie, und eines seiner Bücher führt eben diesen Titel: „Die Tücke des Subjekts“. Darin heißt ein schönes Kapitel: „Kant mit David Lynch“. Was Žižek hier kombiniert, mag im Zusammenspiel zunächst verstörend scheinen – popular culture stößt auf abstrakte Philosophie – trifft aber in seiner Unterschiedlichkeit, der gleichwohl ein Gemeinsames inhäriert, doch gut den Ton, der den Riß, welcher nicht nur durch die Welt, sondern auch durch das Subjekt selbst sich zieht, anspielt. Žižek versucht das Subjekt im Weld von Begehren, Wunsch, Gesellschaft und Sprache zu denken.

„Diese reflexive Wende läßt sich bereits in einer Geschichte deutlich ausmachen, die vielleicht als paradigmatisch für die Abwehr des exzessiven Genießens gelten darf: Odysseus‘ Begegnung mit den Sirenen. Der Befehl, den Odysseus der Mannschaft vor seiner Begegnung gibt lauter: ‚(…) doch ihr sollt dann mit schmerzender Fessel, damit unverrückt ich bleibe, aufrecht mich an den Mastschuh binden, mir Tauen umwunden. Wenn ich dann flehe und euch befehle, ihr möchtet mich lösen, alsdann sollt ihr mich fester mit noch mehr Banden umschnüren.‘ Dieses ‚ihr sollt mit schmerzenden Fesseln mich binden‘ ist zweifellos exzessiv in Hinblick auf Circes Anweisung, die Odysseus hier befolgt: Wir sehen hier den Übergang vom Fesseln als einer Abwehr des exzessiven Genießens , den der Gesang der Sirenen bietet, zum Fesseln selbst als einer Quelle sexueller Befriedigung.“

Dieser Odysseus übt einerseits, wie dies bereits Adorno/Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ darstellten, Kontrolle aus: es ist jene (bürgerlich, wissenschaftliche, männliche) Rationalität, die sich die Regungen, den Trieben versagt. Darin steckt einerseits Aufklärung und andererseits Unterdrückung vom Begehren, von wilder Lust;  das Subjekt, das sich  an das Düstere hingeben möchte, verdrängt diese Zonen des Reizes, diese schwarzen und doch (erotisch) aufgeladenen Felder. Bei Adorno verkörpert jener Gesang die Kunst mitsamt ihren Verlockungen eines Ungedeckten, und Odysseus ist bereits der bürgerliche, gefesselte Konzertbesucher – eingefügt in den Zwang des Konzertsaals und in den Zuhörersessel gepreßt. Aber diese Bedingungen lassen sich nicht in einem Akt unmittelbarer Revolte, im Aufbegehren beseitigen und aufheben: das Gegenteil, die radikale Entfesselung als irgendwie geartete wilde Performanz der Kunst, der es nicht mehr auf das Werk als solches, sondern auf den Vollzug als Exzeß oder Prozeß ankommt bleibt (zumindest in der Diktion Adornos und ebenso in meiner Lesart) ebenso falsch und Ideologie, weil solches Verhalten das bloße Zerr- und Gegenbild inmitten einer ansonsten durch und durch verwalteten (Kunst-)Welt ist.

Es erweist sich – treibt man die Position Žižeks in diesem Satz ein wenig weiter – die Verlockung des (männlichen) Subjekts samt dessen Fesselung und dem Moment des Genußes (sowohl am Objekt als auch an der Fesselung selber) am Ende als eine Struktur von Begehren, die den Charakter des Universalen trägt. Wesentlicher als die Frage nach dem Masculin/Feminin (Odysseus gefesselt, eben als Mann, die Sirenen als Verlockungen der Frau: klassisches Rollenmodell), wichtiger als die Frage nach dem Geschlecht innerhalb dieser Strukturierungen ist die nach dem Objekt, auf das sich – medial vermittelt – ein Subjekt kapriziert. „Es ist alles eine Frage der Objektwahl!“, sagte die Katze zu der Maus, als diese die Laufrichtung änderte.

Dieses Objekt, welches begehrt und am Ende restlos verzehrt und in den Gebrauch genommen wird, gleicht – zumindest in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft – der Ware. Das Begehren koppelt sich an die Warenform. Kunstwerk und Ware eint der Scheincharakter. Die Verheißungen von Kunst und die, welche die Waren bieten, nähern sich aneinander an. Bereits Baudelaire wußte etwas davon (folgt man den Studien von W. Benjamin und G. Agamben), Marcel Duchamp pointierte dies in seinen Ready Mades, jenen objéct trouvée, und Warhol griff diesen Aspekt von Duchamp auf und brachte ihn in den Kontext von Pop- und Unterhaltung. Der Genuß von Campbell-Suppendosen als Bild und Campbell-Suppendosen, deren Inhalt im Topf köchelt und schmackhaft mit ein paar Gewürzen aufbereitet wird, ist (häufig) bloß noch ein gradueller – zumindest dann wenn die Rezeption von Kunstwerken in jener Haltung der Zerstreuung und des bloßen Genießens und Schlürfens erfolgt. (Wobei die Zerstreuung in anderer Weise auch wieder nicht zu gering angesetzt werden sollte.) Hegels These vom Ende der Kunst sind wir an dieser Stelle sehr nahe, wenngleich aus anderen Gründen als Hegel sie annahm. Das sinnliche Scheinen der Idee, die Weise von Reflexion hat sich – entgegen Hegels Annahme – nicht in die Philosophie als höchste Weise von Denken und Anschauung verwandelt.

Strukturunterschiede der Diskurse stellen sich erst auf einer Ebene der dritten Beobachtung ein, indem der Beobachter des Beobachters in den Blick, in die Reflexion genommen wird.