Zeit und Erzählung

Für die schönen Künste, für die Dichtung ist die Sache ausgemacht: Der Künstler soll sich eines guten Stils bedienen – nicht zu manieriert, wo nicht erforderlich, nicht zu nüchtern, selbst im kargen – so wirke der Literat. Stimmig muß es sein. Dem Gegenstand, der Sache gemäß geschrieben. Der Stil muß zur Form passen, genauer gesagt: Der Stil erst erzeugt die Form – also eine Dialektik bzw. ein Spiel von Ausdruck, Inhalt und Form, nachdem der Künstler das ästhetische Material beackerte. In der Prosa eine komplizierte Sache. Noch schwieriger aber ist dies für den Wissenschaftler, den Historiker, der in gewissem Sinne ja ebenfalls eine unerhörte Begebenheit erzählt. Wenn wir ein wenig in den Maschinenraum der Kunsttheorie hinabsteigen, nämlich zu Aristoteles‘ „Poetik“, können wir zum Verhältnis von schöner Dichtung und wissenschaftlicher Prosa folgendes finden:

„Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse -; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“ (Aristoteles, Poetik)

Und noch Hegel beruft sich in seinen Vorlesungen zur Ästhetik auf dieses aristotelische Prinzip, wenn er die literarische Prosa von der Geschichte scheidet und Dichtung sowie Wahrheit gleichsam als zwei Bezirke nennt:

„Der Geschichtsschreiber nun hat nicht das Recht, diese prosaischen Charakterzüge seines Inhalts auszulöschen oder in andere, poetische zu verwandeln; er muß erzählen, was vorliegt und wie es vorliegt, ohne umzudeuten und poetisch auszubilden. Wie sehr er deshalb auch bemüht sein kann, den inneren Sinn und Geist der Epoche, des Volks, der bestimmten Begebenheit, welche er schildert, zum inneren Mittelpunkte und das Einzelne zusammenhaltenden Bande seiner Erzählung zu machen, so hat er doch nicht die Freiheit, die vorgefundenen Umstände, Charaktere und Begebnisse sich zu diesem Behuf, wenn er auch das in sich selbst ganz Zufällige und Bedeutungslose beiseite schiebt, zu unterwerfen, sondern er muß sie nach ihrer äußerlichen Zufälligkeit, Abhängigkeit und ratlosen Willkür gewähren lassen.“ (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik)

Sollen Historiker genauso wie Dichter schreiben? Sollen sie ähnlich verfahren? Bei Louis-Sébastien Mercier (6. Juni 1740 – 25. April 1814) finden wir spannend fabulierte Geschichtsschreibung bereits im Anfang. Geschichte, die in dieser Form beginnt, ist erzählte Geschichte, und es zeigt solcher Auftakt, was für eine Sprachkraft Wissenschaftsprosa birgt, wenn man sie läßt und sofern der Autor es will:

„Philipp der zweite ist Staub. Zwei Jahrhunderte trennen ihn von uns, und sein Name lebt nur durch die Gerechtigkeit der Zeit. Ich will ein Gemälde seines abergläubischen und schrecklichen Despotismus entwerfen – alle Bestandteile dieses grausamen Charakters, die uns in der Geschichte durchschauern, will ich in ein Bildnis zusammen schmelzen, und den Abscheu, der mich durchdrungen hat, allgemein machen.“ (Louis-Sébastien Mercier, Philipp der Zweite)

Von Louis-Sébastien Mercier, im Februar 1786 in Schillers „Thalia“ erschienen. Wie gewaltig da einer das Wort führte. Freilich, freilich, Mercier ist Schriftsteller und Journalist, und der subjektive Blick verstellt meist die Strukturen. Wie also Geschichte erzählen?

Da ich Hegelianer bin (so munkelt mancher, aber ich verberge mich gerne und oft in einer geschickten Lüge) und da Hegel den Friedrich Schiller schätzte, muß und möchte halt auch ich mich – einmal wieder nach 25 Jahren – intensiver mit Schillers Zeit insbesondere in Jena und in Weimar befassen. „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ – Schillers Antrittsvorlesung in Jena. Und nicht ganz unpassend fürs nächste Jahr, eines der traurigen Jubiläen: 1618 bis 1648. Schiller schrieb über den Dreißigjährigen Krieg. Jenes Unheil über Europa und besonders auf deutschem Boden, was geschichtlich diese Region noch bis ins 20. Jahrhundert hin prägen sollte. Einige Studien werden dazu demnächst erscheinen: Von Herfried Münkler, „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma. 1618–1648“, ebenso von Andreas Bähr: „Der grausame Komet. Himmelszeichen und Weltgeschehen im Dreißigjährigen Krieg“.

Wie also erzählen und wie wissenschaftlich schreiben, ohne daß den Lesern der Kopf aufs Kissen fällt und Morpheus‘ bekannter Arm ihn sanft oder wild umschlingt? Zu Geschichte, Zeit und Erzählen überhaupt lesenswert von Paul Ricœur „Zeit und Erzählung“, in drei Bänden beim Fink-Verlag erschienen. Von der fiktiven und von der realen Zeiterfahrung. Wie solches Temporales sich literarisch amalgamiert, kann man gut in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ erlesen. Aber genauso in einer ganz anderen Schreibform – denn die literarische Moderne ist in ihrem Stil plural – in Alfred Döblins „Wallenstein“. Zwei passende Romane, die zwei der großen geschichtlichen Verwerfungen ästhetisch ausformen.

Abbildung: wikipedia, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=454161

 

Jena Paradies – Urbane Räume (11)

Zwischen Jenas literarischer Romantik und dem Hauptbahnhof Jena Paradies liegt eine gedehnte Spanne an Zeit, die man in Epochen schneiden kann. Unüberbrückbar eigentlich, und wenn ich Bruno Preisendörfers Buch lese „Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit“, möchte ich als Weltflüchtender und bei aller innerlichen Idealisierung abgelebter Zonen in jener Phase zwischen Sturm und Drang, Frühromantik und Weimarer Klassik nicht gelebt haben – nicht einmal mit allem Fürstenkomfort. Höchstens im ästhetischen Phantasma oder als Phantasmagorie, wie sie Walter Benjamin in seinen Baudelaire- und Paris-Studien beschreibt. Wer sich in eine Vergangenheit weiter als 50 Jahre zurücksehnt, sollte immer die irgendwann anstehende Zahnbehandlung vor Augen haben. Noch in den 60ern wurde beim Dentisten mit Lachgas behandelt. Nicht wirklich lustig. Wie es Hegel, Kleist oder Hölderlin erging, möchte ich weder wissen noch spüren. Gegen die Schmerzen einer Zahnbehandlung waren die Wehen, die Susette Gontard dem Herzen Hölderlins verschaffte, gering anzusetzen und aushaltbar. Ungleich kürzer ist die Reisezeit zwischen Berlin und Jena, sofern sie innerhalb derselben Raum/Zeit-Stelle stattfindet. Mit dem Auto fahre ich knapp über zwei Stunden. Kurz vor dem Fläming beginnt ein heftiges Schneetreiben. Die Sicht reicht keine hundert Meter weit, die Straße ist naß und rutschig. Das Thermometer zeigt den Gefrierpunkt an, so daß ich meine Geschwindigkeit drosseln muß.

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 Jena, im Oktober 1806 – Der Donner der französischen Kanonen hallte aus der Ferne der Hügel, und Hegel klaubte seine letzten Manuskriptblätter der „Phänomenologie des Geistes“ zusammen. Es ist jene legendäre „Vorrede“, in der er, wie bei allen seinen Vorreden und Einleitungen, zwar betonte, daß Vorreden und Einleitungen „bei einer philosophischen Schrift nicht nur überflüssig, sondern um der Natur der philosophischen Sache willen sogar unpassend und zweckwidrig“ seien, weil sie nun einmal nicht die Sache selbst seien, sondern vorbereitendes Denken, aber wie bei allen Hegelschen Vorreden und Einleitungen enthielten diese Präliminarien im Gang des Geistes und des Denkens wesentliche Aspekte seiner Philosophie. So könnte ein Roman anfangen. Vielleicht als irrsinnige Verwechslungskomödie, wie Manuskripte vertauscht werden und aus Literatur plötzlich Philosophie wird, weil eine Vorrede in ein ganz anderes Buch hineinschlittert und ein Bildungsroman der Weimarer Klassik sich in eine Beckettsche Abstraktion verwandelt, eine Reduktion jeglicher Handlung auf die reine Form, die Abbreviatur erzählerischen Schweifens, das aus Jean Pauls „Siebenkäs“-Konstellation ein Endspiel mit fünf Personen bereitet. Siebenkäs, Leibgeber, Stiefel, Lenette und Natalie. Im Stil der Screwball Comedy. „Das Genießen des Anderen, des Andern mit einem großen A, des Körpers des Anderen, der ihn symbolisiert, ist nicht das Zeichen der Liebe.“

 Die Tinte noch nicht trocken, so mutmaße ich, den Plot dramatisierend, während ich mir das mir bisher unbekannte Jena imaginiere, Restromantiker von Statur, Resterampen von Theorie, Restposten in den Passagen, Kaufland, Kaufkraft, Kaufrausch, Schillerpassage, Schnellspurt aufs Risiko, während vor mir das Schneegestöber dichter und dichter kaltes Weiß zeigt, eine flirrende Wand und es nimmt Ausmaße an, daß ich mein Fahrtempo weiter drosseln muß, brachte Hegel die letzten Seiten dieses grandiosen Werkes in Sicherheit. Ich klemme zu dicht am Wagen vor mir. Das langsame Geschiebe, das sich auf der mittleren Spur abspielt, bringt mich gegen den langsamen Autofahrer vor mir auf. Weshalb benutzt er nicht die freie rechte Spur? Nur mit dem Licht hupen, denke ich mir, kein dichtes Auffahren, mehr ist nicht drin, in den Seitenspiegel blicken, Nacken steifen, Schulterblick links setzen, blinken, das Gaspedal durchtreten, Kickdown, ausscheren. Ich überhole, der Mann präsentiert mir einen veritablen Fuck-Finger und glotzt aggressiv. Neben ihm eine Frau, ich versuche einen Blick zu … Nichts möglich, Augen geradeaus wieder auf und den Blick auf die Fahrbahn werfen. Ich sprinte, schere dann scharf nach rechts wieder auf die mittlere Spur und setze mich dicht vor den Fuck-Finger, hoffend, daß die Nässe ihm die Scheiben zuschmiert und fette Schneeschlieren macht. Er versucht, sich an mich dranzuhängen. Als Stunden später die Franzosen plündernd in die kleine, aber doch bedeutende Universitätsstadt einzogen, in der einst Fichte, Schiller Schelling lehrten und nun Hegel seine Vorlesungen abhielt, wo knapp vor dem Jahrhundertwechsel die Gebrüder Schlegel in ihrem frühromantischen Kreis die Einbildungskraft ins Kraut schießen ließen, stand Hegel am Fenster und betrachtete jenen Augenblick, der Geschichte prägte oder zumindest einen Teil von Geschichte ausmachte. Nein, Hegel sagte über Napoleon Bonaparte niemals „Weltgeist zu Pferde“, wie gerne und oft die Anekdote fehlerhaft von Generation zu Generation und von Leser zu Leserin weitergereicht wird und bis heute geschrieben steht, sondern im Jahre 1806, als die französische Armee unter Napoleon die Preußen bei Jena und Auerstadt vernichtend schlug, berichtete Herr Hegel am 13.10.1806 an seinen Freund Niethammer: „Den Kaiser, – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht.“ Wie sehr doch auch für Hegel Geschichte am Ende am einzelnen Faktum, am Individuum hängt. „Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag.“

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Wir durchqueren die Zonen. Hogarths Schönheitslinie ist am Ende bloß eine S-förmig gefädelte Autostraße, die sich über die Thüringischen Hügel hin nach Jena zieht. Am 25. Januar 1793 schrieb Schiller aus Jena an seinen Freund Körner:

„Denn eben darin zeigt sich die Schönheit in ihrem höchsten Glanze, wenn sie die logische Natur ihres Objekts überwindet; und wie kann sie überwinden, wo kein Widerstand ist? Wie kann sie dem völlig farblosen Stoff ihre Form erteilen? Ich bin wenigstens überzeugt, daß die Schönheit nur die Form einer Form ist und daß das, was man ihren Stoff nennt, schlechterdings ein geformter Stoff sein muß. Die Vollkommenheit ist die Form eines Stoffes, die Schönheit hingegen ist die Form dieser Vollkommenheit: die sich also gegen die Schönheit wie der Stoff zu der Form verhält.“

 80 Jahre später wird Nietzsche vom Schein des Scheins sprechen – einer Potenzierung und Verabgründung, in der die Form in den Strudel einer radikalen Ästhetik gerissen wird, die die Welt unter der Optik der Kunst betrachtet und Dasein einzig als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sieht.

 

Der 1001. Blogeintrag – Zählerstandsanzeige

„Alles was verhüllt ist, alles Geheimnißvolle, trägt zum Schrecklichen bey, und ist deßwegen der Erhabenheit fähig. Von dieser Art ist die Aufschrift, welche man zu Sais in Egypten über dem Tempel der Isis las. ‚Ich bin alles was ist, was gewesen ist, und was seyn wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleyer aufgehoben.‘“ (F. Schiller, Vom Erhabenen)

 Geschichten zu erzählen, immer neue Geschichten, in Variation und eine nach der anderen, den eigenen Rahmen und Raum zu poetisieren, um das Leben zu wahren. Das Leben in den Text zu bringen, ohne in der trockenen Abstraktion zu erstarren oder dem Kitsch des Immergleichen objektloser Innerlichkeit zu frönen. Decamerone. Pesthauch und das gewetzte Messer des Scharfrichters. Ach was, ich brauche keinen Scharfrichter – dieser bin ich selber: Wörter müssen Waffen sein: eine Klinge, die wehtut, die ritzt. Rasiermesser, die in Kehlen schneiden. Niedermachen, was müllt. Der Gefühlsmüll der Internet- und Blogwelten, weinerlich und zur Akklamation vorgetragen, die Schriftkotze aus dem Hohlraum des Innen oder die Politclownieren mittelmäßiger Politblogger, die wie verdrecktes Abwaschwasser jedes gescheite und anregende Denken nicht nur aushöhlen, sondern massiv unterspülen, müßten durchs Magnetisieren der Server ins Nirvana befördert werden. Smells like Teen Spirit. Das Abhören von Telefonen und Datenleitungen durch den NSA oder anderer Geheimdienste, dort wo die Kabel kalt in den Atlantik tauchen und Abzweigungen sich lauschig verwinkeln, ist die mehr als gerechte Strafe. Sowohl für die Analysierenden, die, nachdem Computer vorsortierten, all den Stuß lesen oder auswerten müssen, als auch für die, die belauscht wurden. [„Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.“ (K. Kraus)]

In Wahrheit genommen, ist der NSA-Skandal eine positive Angelegenheit, weil er uns mit der Frage konfrontiert, wie und auf welche Weise wir in Zukunft kommunizieren wollen. Das aber tangiert die Welt der Blogs nicht, denn das ist ja alles öffentlich und nicht geheim geschrieben. Wenngleich ich die geheime Gesellschaft durchaus schätze. Die Frage aber, was ein Blog sein soll, muß jeder für sich selber beantworten. Meist sind’s private Tagebücher, die im larmoyanten Ton sich im Schreiben versuchen und bloßes Dasein frönen, gute Literaturblogs existieren wenige. (Was Max Frisch mit seiner Erzählung „Montauk“ anrichtete, ist noch gar nicht zu ermessen.) Literaturkritiken gehen  im Modus „Ich finde …“ „Ich meine …“. Seichtes Gekrauche. Was soll das? Weshalb kein Mut mehr zum ästhetischen Urteil, weshalb keine Kraft mehr zu Analyse, um auszusprechen, was gelang und was schief lief? So saftlos, so mürbe. Ich lese mittlerweile, so muß ich gestehen, in wenigen Blogs. Andererseits ist es billig und auf die Dauer langweilig, sich über die Entäußerungen anderer zu belustigen. Andererseits müßte man, wie weiland Karl Kraus die Journaille beim Wort nahm und deren Sprachgeschwülste, um der Sprache willen, mit gewetzter Feder der Lächerlichkeit überführte, in dieser Weise des Pointierens ebenso mit dem Salms der Internetentäußerungen verfahren. Aber wer bringt diese Zeit auf und kann das Gekröse, alles das, sichten? Keiner. Die Handvoll Journalisten und Essayisten im Fin de Siècle und après waren von Belang und überschaubar; all die, die heute Schreibversuche starten, sind vielfach nichtssagend. Am Ende der Tragödie in Schrift und Erzählung sind wir im Angesicht des Weltkomplexen und unserer geschwundenen Sinne lediglich Karl Krause im Westentaschenformat. Besser aber dies noch, als im Tran der eigenen Befindlichkeit befangen zu sein, denke ich mir. Wenigstens bringt der tumbe Deutsche im nationalen Überschwange oder aus konsumistischer Laune heraus heute nicht mehr Kyffhäuser und Kaufhäuser durcheinander, weil er mit ersterem nichts mehr verbindet und Kaufhäuser sind ihm lediglich als Shopping Malls noch bekannt. Obwohl: Im Zeichen der digitalen Medienbohème Kreuzbergs in der Nähe des Görlitzer Parks könnten andere Verwechslungen auftauchen und naheliegen, wenn aus dem Coffee-Shop das Pfeifchen gereicht wird („Im Sagenkreis des Deutschtums wird dereinst ein großes Durcheinander entstehen zwischen Kyffhäuser und Kaufhäuser.“ K. Kraus. Im delirierenden Digitalen steht dies nicht mehr zu befürchten.)

Privatheit ist, auch etymologisch genommen, im Hinblick aufs Bloggen ein interessanter Aspekt: Leicht jedoch geraten in der Welt des Bloggens die Ebenen durcheinander: wenn Privates in einem Akt der Indiskretion ins Öffentliche gebracht wurde. Kollateralschäden. Zwischen sinnlosen Titten-Selfies und halberigierten Schwanzbildern im März und der Sehnsucht nach der verloren Geglaubten, Einzigen und Einen, die im ausklingenden Winter und als im Märzen der Bauer die Röslein anspannte, nicht da war: Sexy Lutherfrau auf dem Marktplatz zu Wittenberg, in Leipzig im Kleid, im Winterhotel, verregnet im Guß geschlendert, im Bett des Hotelzimmers, unter der Brücke, der Fluß. Die Zeit.

Iden des März: Der beste Modus ist der der Distanz. Zugleich bin ich bei manchen Blogs neugierig, wer dahinter stehen mag und wer das so und in dieser Weise macht. Ich bin zu neugierig. Manchmal freilich, wenn man’s weiß, wäre es besser gewesen, man hätte nicht gewußt. Andererseits muß der Vorhang beiseite gezogen werden, damit gesehen werde: um wieder einmal eine der zentralen Stellen aus Hegels „Phänomenologie“ aufzuschreiben:

 „Die beiden Extreme, das eine, des reinen Innern, das andere, des in dies reine Innere schauenden Innern, sind nun zusammengefallen, und wie sie als Extreme, so ist auch die Mitte, als etwas anders als sie, verschwunden. Dieser Vorhang ist also vor dem Innern weggezogen, und das Schauen des Innern in das Innere vorhanden; das Schauen des ununterschiedenen Gleichnamigen, welches sich selbst abstößt, als unterschiedenes Innres setzt, aber für welches ebenso unmittelbar die Ununterschiedenheit beider ist, das Selbstbewußtsein. Es zeigt sich, daß hinter dem sogenannten Vorhange, welcher das Innre verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen, ebensosehr damit gesehen werde, als daß etwas dahinter sei, das gesehen werden kann. Aber es ergibt sich zugleich, daß nicht ohne alle Umstände geradezu dahintergegangen werden könne; denn dies Wissen, was die Wahrheit der Vorstellung der Erscheinung und ihres Innern ist, ist selbst nur Resultat einer umständlichen Bewegung, wodurch die Weisen des Bewußtseins, Meinen, Wahrnehmen und der Verstand verschwinden; und es wird sich ebenso ergeben, daß das Erkennen dessen, was das Bewußtsein weiß, indem es sich selbst weiß, noch weiterer Umstände bedarf, deren Auseinanderlegung das Folgende ist.“

 Der Gang des Wissens bleibt komplex, nichts ist, was es scheint oder wie es erscheint, und dieser Weg ist gleichfalls mit einer Gewalt konnotiert, wie Hegel das anhand des Begriffes der Kraft im selben Kapitel darstellt – Kraft nicht nur als physikalischer Begriff genommen, sondern ebenso im Kontext des Ästhetischen: als Bewußtsein, als sinnliche und als übersinnliche Welt. Der Gang dieses Wissens geschieht in einer Bewegung von Nähe und Ferne, Abstraktion und Konkretion. Durch die Welt hindurch, und diese eben ist zugleich ein Projekt des Poetischen. Das trockene Schwarzbrot gehört ebenso dazu wie leckere Törtchen und Kuchen. Das Flirren der Schleier, während wir sie beiseite ziehen, um zu betrachten (wie auch betrachtet zu werden), spielt nicht nur im Gebiet der Erkenntnistheorie oder der spekulativen Philosophie eine Rolle, sondern ihm kommt genauso im Aisthetischen und noch mehr im Ästhetischen Raum zu. Der mutige, der naive Jüngling zu Sais, der nach eingehender Betrachtung dessen, was er sehen wollte, des Morgens tot am Boden lag und die Wahrheit des Gesehenen nicht mehr preisgeben und über die Lippen hinaus bringen konnte, zeugt davon, daß der Fetisch gewahrt werden will. Die Wahrheit hat Gründe, ihre Gründe nicht sehen zu lassen, so Nietzsche. Ein Stück Wäsche, ein Tuch, eine vermeintliche Wahrheit. (Man kann auch in der Wahrheit lügen, wie Lacan in einem seiner Seminare schrieb.) Um seiner Macht willen. Im Duktus des Romantischen bedeuteten die radikale Enthüllung und das Sehen dessen, was nicht zu zeigen sich gewillt ist, den Tod. Wer das Geheimnis nicht wahrt, verliert. Sich sowie den Reichtum der Natur. In Bildern zu schwelgen und die Kontexte und Strukturen zu unterschlagen. Der Weg geht nach innen, in Bergmannsart, aber mystisch. Falscher Weg, falsche Abzweigung. North by northwest – nicht Flugzeuge im Bauch, sondern: We’re under attack, prangt’s im Newsletter.  Im Kontext Hegels freilich und diesseits der schlechten Unendlichkeit des Romantischen geht es sehr viel diffiziler zu, aufs Meer hinaus zieht’s den Mann und das Schiff, um zu fahren, bei Mond und bei Sonne, denn „Volies“, das sind Schleier und Segel in einem.

Das eine ist die Erkenntnistheorie, das andere das Aisthetische des Banalen. Zwischen Sennetts „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: Die Tyrannei der Intimität“ und Byung-Chul Hans „Transparenzgesellschaft“ liegen zeitlich Welten und dennoch verkörpern sie eine gemeinsame Tendenz. So aber geht die digitale Öffentlichkeit von Facebook und Twitter: es kann das Private schneller publikumsreif getrimmt werden als einem lieb ist. Das Epikureeische: „Lebe verborgen!“ gilt in den Zeiten des Digitalen, oder wie es im Dumpfenglisch heißt: unter dem Lichte von Post-Privacy wenig, sofern man den Computer und das Smartphone nicht ausgeschaltet läßt. Vor allem nicht in der Welt von Twitter, Facebook und der Blogs: unendlicher Mitteilungsdrang herrscht und flutet die Kanäle. Ständig sind die Entblödungen des Privaten oder Aufgeregtheiten des Politischen zu lesen. Entweder als Drama gewürzt oder schlicht langweilig, meist im Modus eins-zu-eins spurend, um dabei die Vermittlungen von Literatur und Leben sowie beider Komplexitäten auf gar keinen Fall in den Blick bekommen zu müssen. Allen Tönen fehlt die Farbe. In nur wenigen Blogs gelingt diese Balance: radikal privat, fast im etymologischen Wortsinne, und dennoch so fein, subtil und sprachlich genau. Andererseits ist jeder an seinem Glück oder Unglück selber schuld. Wer eine Nordpolfahrt unternimmt, sollte nicht nur T-Shirts einpacken, und wer auf dem Sonnendeck liegt, kann den Thermoanzug ruhig ausziehen. Ich jedoch möchte ausloten, wie die absolute Distanz funktioniert und wie es darin beschaffen ist. Je veux.

„In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat …“ – 200 Jahre Grimms Märchen

„Da sprach das Mädchen endlich ‚sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.‘ Dann band es sein goldenes Strumpfband ab und that es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Thierchen und führte es weiter, und gieng immer tiefer in den Wald hinein.“ (Brüderchen und Schwesterchen)

„Durch das planlose Umherstreifen, durch die planlosen Streifzüge der Phantasie wird nicht selten das Wild aufgejagt, das die planvolle Philosophie in ihrer wohlgeordneten Haushaltung gebrauchen kann.“ (G. Ch. Lichtenberg)

Vor zweihundert Jahren kam am 20.12.1812 im Verlag Georg Andreas Reimer eine Sammlung von Kinder- und Hausmärchen auf den Markt, die ins kollektive Erzählen einbrach und sich im kulturellen Unterbewußten tief verwurzelte. Als Stichwort zu solcher Mythologisierung sei nur dieses Gebilde genannt, um das sich Legenden ranken: Wald – ein aufgeladenes Arcanum, romantischer Sehnsuchtsort – sowie Begriffe wie Waldeinsamkeit, Waldeslust. Diese Sammlung entstand inmitten der Deutschen Romantik, als das Kunstmärchen zur Literaturform sich aufschwang – von Goethes Mährchen in den „Unterhaltungen Deutscher Ausgewanderten“ (1795) als Reaktion auf die Französische Revolution samt dem Zerfall einer bestimmten Weise vonKultur sowie als Darstellungsweise des Poetisierens, orientiert an Boccaccios „Decamerone“, über Novalis Märchen im „Heinrich von Ofterdingen“ (um 1800) bis hin zu von Arnims „Des Knaben Wunderhorn“ (1808), woran die Grimmbrüder mitwirkten.

Aber die von den Brüdern Grimm zusammengetragenen Märchen sind mehr als Kunstmärchen, und in gewissem Sinne eine Gegenbewegung, die von der Kunstpoesie hin zur Naturpoesie führte – teils im Geiste der Schlegelschen Früh-Romantik. Indem Jacob und Wilhelm Grimm den Charakter von Dichtung umpolten und auf die Volksdichtung rekurrierten, greifen sie in die sogenannte Volksliteratur hinein und verquicken sie mit der Kunstform. Damit knüpften sie zum einen an den Johann Gottfried Herders Volkslieder, der 1778/79 jene bahnbrechende Sammlung von Texten verschiedener Art zusammenstellte: Märchen, Lieder, Gedichte aus unterschiedlichen Kulturkreisen – im Grunde eine Art ethnologische Sammlung. So scheint es zunächst.

Bei den Grimms lag aber das Gewicht auf der Volksliteratur sowie der Märchenerzählung. Derer Vorläufer gab es zwar auf dem Gebiet der Deutschen Fürstentümer viele. Doch die Zusammenstellung der Gebrüder Grimm gelangte zum Ruhm, wobei der Volkscharakter zunehmend zugunsten des Regionalen verortet wurde, und es ranken sich um diese Märchen zugleich Märchen. So schreiben Jacob und Wilhelm Grimm in ihrer Vorrede der Ausgabe von 1837:

„Gesammelt haben wir an diesen Märchen seit etwa dreizehn Jahren, der erste Band, welcher im Jahre 1812 erschien, enthielt meist was wir nach und nach in Hessen, in den Main- und Kinziggegenden der Grafschaft Hanau, wo wir her sind, von mündlichen Überlieferungen aufgefaßt hatten.“

Ganz so verhielt es sich indessen nicht. Meist kamen Menschen zu den Grimms, die keineswegs aus dem sogenannten einfachen Volke stammten, und erzählten ihnen diese Geschichten – unter anderem die Schwestern Annette und Jenny von Droste-Hülshoff. So kann man – fast im Sinne Theweleits – sagen: Dahinter steckt immer eine kluge Frau! Und die Erzählungen aus dem einfachen Volke fielen womöglich, wenn man die Frage anders stellte, zudem anders aus, und sie handelten von Mühsal, Unterdrückung, Armut und Willkür.

Viele Märchen dieser Sammlung sind zudem keineswegs rein deutsche Märchen: „Rotkäppchen“ etwa tauchte bereits in der Französischen Märchensammlung von Charles Perrault auf (1691 ff.), es heißt dort „Le Petit Chaperon rouge“. Solche Überschneidungen verwundern nicht, und sie werden sich über die Märchen der verschiedenen Kulturkreise – auch der außereuropäischen – hinweg zeigen lassen, weil es sich um universale Parabeln, Lehrgeschichten und archetypische Muster von Verhalten handelt: Gut und Böse, Rollenbilder von Männern und Frauen, Initiationsriten von Jungen und Mädchen. Einer, der auszog, um als anderer oder eben: mit gar nichts und im Grunde doch mit vielem heimzukommen wie Hans im Glück, der häufig als Held einer antikapitalistischen Parabel gedeutet wurde.

Die Märchen der Gebrüder Grimm fallen zwar einerseits in das Projekt der deutschen Romantik, doch Jacob und Wilhelm Grimm begriffen sich nicht als reine Romantiker, wenngleich sie mit Clemens Brentano sowie Achim und Bettina von Arnim befreundet waren und literarisch in ähnlichen Feldern wirkten. In ihrem Sinne ging es ihnen darum, Kulturgeschichte zu erforschen, und zwar auf eine wissenschaftliche Weise, die der Dichtung widerstand. Das Grimmsche Wörterbuch zeugt von diesem methodologischen Ansatz. Eine universale Poetisierung der Welt war ihr Projekt nicht, sondern vielmehr legten sie als Sammlung jene Geschichten und Erzählungen frei, die im Verborgenen lagen und die teils in mündlicher Überlieferung kursierten.

„So ist es uns vorgekommen, wenn wir gesehen haben wie von so vielem, was in früherer Zeit geblüht, nichts mehr übrig geblieben, selbst die Erinnerung daran fast ganz verloren war, als unter dem Volke Lieder, ein paar Bücher, Sagen, und diese unschuldigen Hausmärchen. Die Plätze am Ofen, der Küchenherd, Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem die ungetrübte Phantasie sind die Hecken gewesen, die sie gesichert und einer Zeit aus der andern überliefert haben.“ (Kinder- und Hausmärchen, Vorrede zur 3. Auflage von 1837)

Was aber als Narratives sich gerierte und eine Tradition von mündlicher Erzählung simulierte, die im Verborgenen siedelte, erwies sich am Ende doch zutiefst an die Schrift und damit an ein Projekt von Poetisierung sowie Textualisierung (und eben auch: Entschärfung von überliefertem Text) gebunden,was sich bereits darin zeigt, daß die Gebrüder der mündlichen Überlieferung die feste und strukturierte Form der Erzählung entgegensetzten. Es gibt, und diese wissen die Gebrüder Grimm, keine ursprüngliche Erzählungen, die man am Wegesrand aufliest, dem Volke vom Mund abschreibt, sondern diese mündliche Tradition ist immer schon von einem anderen Text überformt. Der Unmittelbarkeitsgestus der Romantiker ist ein Trugbild und damit auch: ein Stück Ideologie, das einer Epoche radikaler Umbrüche geschuldet ist, eben jener Sattelzeit (R. Kosseleck) zwischen 1750 und 1850. Aber die industrielle Revolution und die Ausbildung von Kapital läßt sich poetisch nicht revozieren – wenngleich die deutsche Romantik im selben Atemzug im Gebiet des Ästhetischen ebenso ein eminent modernes Projekt war. Den Riß, der durch das Subjekt lief, stellten deren Texte mit Schärfe und Genauigkeit fest.

Wollte man diesen Bruch der Zeit visualisieren, so könnte man sich jene (romantischen) Landschaftsgemälde und -bilder von Carl Blechen ansehen, wo inmitten der Natur plötzlich ein Säge-, Hütten oder ein Walzwerk ragt. Die Naturlandschaft erweist sich als trügerisch. Die Märchensammlung der Gebrüder Grimm ist ein Reflex darauf.

Die Phantasmen von Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit, Natürlichkeit und jene seit gefühlten Ewigkeiten postulierte Subjektivität als Ausdrucksform wurde bereits Schiller in „Über naive und sentimentalische Dichtung“ nicht müde zu kritisieren. Mochte der Mensch früherer Epochen – obgleich ich auch dies für eine Projektion jener Wunschmaschine halte, die sich Subjekt nennt – eine „ungeteilte sinnliche Einheit“ darstellen, so ist diese Position innerhalb der Gegenwart Schillers nicht mehr möglich. Jenes mit Brüchen versehene, reflektierte Bewußtsein, kann die verlorene Unschuld nicht durch Einfühlung und bloße Nachahmung von Volkes Stimme wiedergewinnen:

„Ist der Mensch in den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunst ihre Hand an ihn gelegt, so ist jene sinnliche Harmonie in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moralische Einheit, d. h. als nach Einheit strebend, sich äußern. Die Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken, die in dem ersten Zustande wirklich statt fand, existiert jetzt bloß idealisch; sie ist nicht mehr in ihm, sondern außer ihm; als ein Gedanke, der erst realisiert werden soll, nicht mehr als Thatsache seines Lebens.“ (F. Schiller)

Die Volkslieder der Romantik und die Nationalpoesie stellen insofern ein Simulacrum dar und fallen in jenen Bereich, für den in einem anderen Zusammenhang Philippe Lacoue-Labarthe jenem Begriff von der „Fiktion des Politischen“ prägte.

Es ist jener Riß zwischen Sinnlichkeit und Verstand, der die Welt durchzieht, und er wird bleiben, weil er konstitutiv ist und immer schon strukturierend wirkte.

Vielleicht haben Leserinnen und Leser erwartet, daß ich ein wenig über die Märchen selber schreibe: der Froschkönig als Parabel der Entjungferung, die Aufstiegsmöglichkeiten eines kleinen Schneiderleins zum König, was ja nicht alle Tage vorkommt. Aber die Texte durchstreichen und verhageln die Subjektivität der Wahl. Auch vermissen Leserinnen und Leser womöglich den im letzten Beitrag versprochenen Sex. Doch Sie wissen ja: ein Text ist bereits Sex. Und mehr.

Weimar – zum Vatertag, zur Himmelfahrt

Es gilt heute, einige Photographien aus der schönen Stadt Weimar zu zeigen. Das bekannteste Bild, welches im kollektiven deutschen Gedächtnis seine Wurzel geschlagen hat: es ist jenes Denkmal, welches, vor dem Nationaltheater in Weimar stehend, die unverbrüchliche Freundschaft zwischen Schiller und Goethe in Stein verwandelte:

Goethe, Schiller, Herrentag: eine gute Kette. Aber vergessen wir den Salon der Johanna Schopenhauer in Weimar nicht.

Ich hatte vorgehabt, hier im Blog einmal wieder ein kleines Quiz zu machen: „Wer weiß, wo Goethes Haus wohnt?“ Einige angenehme Bilder von Häusern, Eingängen und Fenstern hätte ich dazu parat gehabt und präsentiert. Die Betrachter hätten raten müssen. Unter anderem zeigte ich auch ein Gebäude bzw. eine Fensterchen aus Buchenwald. Allein: am Ende meiner Reflexionen darüber schien mir das doch zu bitter und zu zynisch. Andererseits: wenn die „Titanic“ diese Bilder zeigt:

Warum darf ich dann nicht dürfen?

„Wann gibt es eigentlich wieder Theorie und Kunst, statt dieser Nebenschauplätze des Alltags?“, so wird manche(r) sich schon ungeduldig fragen und harren. Bald, bald.

Hier aber einige Bilder aus Weimar. Die Photographien folgen einer inneren Unruhe, die für Weimar nicht gemäß erscheint, jedoch keiner Ordnung, keiner Geschichte, keiner Chronologie, keiner Erzählung. Es bricht hier zwar nicht das Kleistsche in Weimar ein, aber das goethesche Maß ist es sicherlich auch nicht, das hier seinen Ort fand.

Friedrich Schiller – zum 250. Geburtstag

Tja, was soll man zu Schillers Geburtstag schreiben? Vielleicht mit Wolfgang Neuss beginnen?: „In der Schule ham wir immer Schiller aufsagen gemußt: Schiller, Schiller, Schiller, Schiller, Schiller, Schiller …“

Aber für all die hohlen Phrasen, die als ästhetischen Mehrwert den Distinktionsgewinn zum Ergebnis haben, und für die hohen Töne, für den nationalen Pathos, da kann er nichts, der Lieblingsdichter der Deutschen, genauso wenig wie Hölderlin. Womit also bei Schiller beginnen? Gut, ein paar kurze Worte zur Ästhetik also, was ja durchaus naheliegt.

Vielfältig hat sich Schiller an der Ästhetik abgearbeitet, nicht nur auf die poetische Weise, sondern genauso im Rahmen der Theorie, setzte sich, wie so mancher seiner Zeitgenossen, mit der wie ein Meteor einschlagenden dritten Kantischen Kritik auseinander. Allerdings: im Gegensatz zu Kleist verzweifelte er an jenem Kantischen Dualismus, der mit den beiden ersten Kritiken gegeben war, nicht. Vielmehr formulierte er in verschiedenen philosophischen Texten, so in den Kalliasbriefen, in der Schrift „Anmut und Würde“ bis hin zur „Ästhetischen Erziehung“ eine Theorie des Schönen aus, das sich nicht rein am Subjekt orientierte, sondern ein objektives Moment in Stellung brachte. Insbesondere war jene „Ästhetische Erziehung“ in aufklärerischer Absicht geschrieben und durchaus als Reaktion auf die (blutige) Französische Revolution zu verstehen, die es am Ende, zumindest aus Schillers Sicht, nicht vermochte, die Gewalt zu mildern und das Humane zu befördern.

Zeitlich und auch thematisch angesiedelt zwischen Kant und Hegel, nicht mehr einer eher aufs Subjekt bezogenen Ästhetik zuneigend, aber zum Objektiven einer Hegelschen Bewegung im Rahmen der bestimmten Negation noch nicht hinreichend, inmitten der Romantik, die allerdings in den ästhetischen Positionen ihrer Zeit die wohl avancierteste Ausformulierung ästhetischer Fragen darstellte und sich am ehesten mit der Moderne kompatibel erweisen sollte. (Man vergleiche hierzu etwa die instruktiven Ausführungen Karl Heinz Bohrers in „Die Kritik der Romantik“ oder „Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität“.)

Jedoch: in einem bestimmten Sinne kann man sagen, daß auch Schiller im Ansatz (zumindest mit einem verkürzten Bein) in die Moderne fällt, zeigt sich doch schon bei ihm jene grundlegende Erfahrung der Zerissenheit, die das Signum der Moderne abgeben sollte, wenngleich Schillers Ideal an einem Phantasma des Antiken orientiert war, für das man den Namen Weimarer Klassik erfand. Doch genauso sollte sich Schiller als modernitätskompatibel erweisen, was den Aspekt einer gesunden Skepsis gegen jede Form von Überbietungs- und Souveränitätsästhetik anbelangt; insbesondere was die Überästhetisierung und die Ästhetisierung der politischen Sphäre betrifft: das Reich des schönen Scheins, der ästhetische Staat fügt sich in Grenzen:

„In dem ästhetischen Staate ist alles – auch das dienende Werkzeug ein freier Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat, und der Verstand, der die duldende Masse unter seine Zwecke gewalttätig beugt, muß sie hier um ihre Beistimmung fragen. Hier also, in dem Reiche des ästhetischen Scheins, wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte; und wenn es wahr ist, daß der schöne Ton in der Nähe des Thrones am frühesten und am vollkommensten reift, so müßte man auch hier die gütige Schickung erkennen, die den Menschen oft nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine idealische Welt zu treiben.

Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.“

Den letzten Satz kann man, trotz seines Pathos, das bei Schiller zuweilen ein wenig aufdringlich mitschwingt, nur doppelt hervorheben.

Bereits in diesem Zitat tritt deutlich hervor, daß die Ausbildung ästhetischer Subjektivität, daß die Ausdifferenzierung der Ästhetik als eines eigenständigen Bereichs mit der Herstellung des bürgerlichen Selbstbewußtseins korrespondiert, wie ich dies schon in meinem Text zu Adornos Musikaufsatz vom letzten Samstag andeutete. Es ist genau jener kleine Kreis, wie ihn etwa Goethe in seiner Novelle „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, schilderte, in dem solche Ausbildungen möglich sind und in dem sich ein Verhalten gegenseitiger Anerkennung einstellt, das gepaart ist mit verschiedenen Formen der Poetisierung von Welt, gipfelnd eben in jenem Märchen. Diese „Unterhaltungen …“ sind selber wiederum eine ästhetische Reaktion auf die Französische Revolution, und sie beginnen ja auch ganz konkret mit dieser. Und obwohl der Begriff der ästhetischen Erziehung hier nicht fällt, so mag diese Novelle sicherlich ein Muster für jene Erziehung abgeben. Hinzuweisen sei natürlich darauf, daß beide Werke etwa zeitgleich 1794 bzw. 1795 erschienen.

Gleichzeitig ist das ästhetische Reich aber nicht von dieser Welt. Ein wenig schwingt hier sicherlich jenes Motiv der Zwei-Welten-Lehre mit, eben das Gebot des Satzes „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“. Es siedelt in diesem Text insofern schon ein gutes Stück (notwendiger) Idealismus. Und erst ein Heine konnte den Himmel dann den Tauben und den Spatzen überlassen, weil nun neue und bessere Lieder gesungen werden mußten.

Dennoch: das Konzept, welches Schiller in diesen Briefen entfaltet, ist sicherlich nicht zu den philosophischen Akten zu legen, sondern lohnt sich weitergedacht zu werden; vielleicht weniger in ästhetischer, aber doch in anthropologischer bzw. ethischer Hinsicht läßt sich aus diesem Text heraus manches Motiv und mancher Gedanke, wie etwa der des Spieltriebs und der Freiheit, fruchtbar machen.