„Berliner Zeitung“ oder ein langer Brief zu einem kurzen Abschied von meinem lang währenden Abo

Im Jahr 1999 geriet ich nach Berlin, kannte die Stadt zuvor nur flüchtig: sie war erheblich im Umbruch, die letzten Zuckungen jener wilden Jahre nach der Wende waren noch zu beschauen, aber zugleich zeichnete sich ab, daß diese Stadt im Lauf der Zeit ein anderes Gesicht erhalten würde. Als ich nach Berlin zog, dachte ich lange, welche Tageszeitung zu lesen sei, um am Stadtgeschehen teilzunehmen und um zu wissen, was im Kiez und auch andernorts passiert: was geht am Theater, was in den Galerien und Museen? Gutes und kluges Feuilleton, das neben der Information auch Analyse bietet: Kunst samt Kritik. Es gab drei Zeitungen, die zur Auswahl standen: Die Berliner Morgenpost, der Tagesspiegel und die Berliner Zeitung. Ein Kollege, typischer Ostmensch, im guten Sinne, riet mir zur Berliner Zeitung, die sei die beste. Sicherlich auch ein Rat aus Ostpatriotismus heraus – nicht im Sinne von: die DDR war knorke, sondern: es gab dort Dinge, die zu bewahren und die weiterzubetreiben es sich lohnt. Und das stimmt allemal – nicht nur im Blick auf die Berliner Zeitung. So fiel am Ende meine Wahl auf jene alte und zugleich junge Zeitung. Obwohl altes DDR-Gewächs war sie inzwischen frisch und innovativ. Nice and fresh, wie man heute zu sagen pflegt. Gründlich überarbeitet und verbessert, Relauch wie man so schön sagt. Und der funktionierte.

Es gab eine Zeit und die währte lange, da habe ich die Berliner Zeitung gerne gelesen, freute mich morgens auf die Zeitung, die ich dann gegen Mittag bzw. am Abend mit Lust las. Das war schon so eine Art von Tradition und auch das handliche Format tat ein übriges dazu – Rheinisches Format, für jene, die den Begriff suchen. Aber vor allem waren es die Inhalte und die Art, wie Journalistinnen und Journalisten schrieben: eine gute, umfassende Berichterstattung über die Stadt, auch auf der Lokalebene. Und vor allem ein frisches, kluges, intelligentes, offenes und teils auch witziges Feuilleton. Es war eine Freude, die Zeitung zu lesen und es war vom Intellektuellen wie auch von den Informationen her bereichernd. Dagegen war die westliche Konkurrenz genau das, als was man sie spöttisch benannte: „Tante Tagesspiegel“: leicht saturiert, ganz nett, aber ein bißchen staubig auch. Und die „Morgenpost“ war eher eine Familienzeitung für den bürgerlichen Mittelstand – also auch nicht ganz meine Sache. Die Berliner Zeitung hingegen besaß etwas, das man mit dem Begriff „Geist“ zusammenfassen konnte. Sie traf einen Ton der Zeit, ohne sich am Zeitgeist anzubiedern. Mit ihr begleitete ich gerne jene wilden Zeiten, selbst dann noch als die Zeitungsbranche ab Mitte der 00er Jahre in eine heftige Krise geriet, als es krachte und die Zeitung an den Rendite-Raffke David Montgomery verscherbelt wurde. In dieser Zeit geschahen, zum Leidwesen der Redaktion, die ersten Einbrüche in der Qualität des Blattes. Aber es war am Ende auszuhalten – auch wenn die Zeitung leicht ausdünnte. Lediglich aus Protest gegen solche Einsparungen, aber nicht, weil ich mit der Redaktion unzufrieden war, kündigte ich 2008 mein Abonnement, um es aber nach einem Monat dann doch wieder aufzunehmen.

Und wie es so ist, erlebt ein Leser mit seiner Zeitung zusammen Höhen und Tiefen: Es gibt Artikel, da sagt man „genial, was für eine kluge und analytisch genaue Sichtweise“ – etwa wenn Dirk Pilz abwägend und gründlich über die Heidegger-Debatte und dessen Schwarze Hefte schrieb, und das ohne in die üblichen Dichotomien zu verfallen. Andererseits gibt es Texte da ärgere ich mich als Leser. Und genau so muß es auch sein. Da war der einstmals teils witzig-bissige Jens Balzer als Musikkritiker, leider geriet er immer mehr auf dem Weg nach Identitätspolitikshausen und die achtzehnte Beschreibung von Helene Fischers oder eines anderen ihm unliebsamen Popstars Bekleidung ist am Ende nur bedingt witzig und nudelt sich ab. Aber auch Balzer ließ sich verkraften – dafür gab es zur Freude Arno Widmann und Harald Jähner – und irgendwann ging dann auch Balzer – was freilich mit der Verschlechterung der Lage Mitte der 2010er Jahre zu tun hatte und weil die Redaktion in sogenannte Newsrooms umzog. Und leider ging eben auch Jähner; und Pilz, mit dem ich politisch in vielem nicht einer Meinung war, verstarb. Aber immer noch blieb ich der Zeitung treu. Zumal diese Zeitung unterschiedliche Sichtweisen unter einem Dach vereinen konnte. 2019 dann stieg das Unternehmerpaar Silke und Holger Friedrich in die Zeitung ein und übernahm. Sie kamen nicht vom Journalismus, aber dieser Umstand mußte nichts bedeuten, denn ein Verleger braucht nicht schreiben zu können, sondern er soll ein angeschlagenes Schiff steuern und auf guten Kurs bringen. Ich war nach der Misere der letzten Jahre zuversichtlich.

Doch leider fiel dieser Wechsel nicht so aus, wie ich es mir erhoffte: nicht die Stärkung des Lokalteils war Ziel, sondern er wurde geschwächt. Nach nunmehr bald 22 Jahren Abonnement dieses mir lieb gewordenen Blattes habe ich im Januar dieses Jahres mein Abonnement endgültig gekündigt und bin zum Tagesspiegel gewechselt. Und damit bin ich nicht unglücklich. Im Gegenteil: ich finde dort das, was ich inzwischen bei der Berliner Zeitung vermisse, und es ist auch keine Verlegenheitslösung, sondern die bessere Wahl. Warum der Wechsel?

Zum einen ist der Berlin-Teil derart ausgedünnt, daß es im Blick auf Lokales keinen Unterschied mehr macht, ob ich gar keine Zeitung lese oder ob ich die Berliner Zeitung lese. Kleines Beispiel: Mitte Januar gab es in Berlin mehrere Brände, die Feuerwehr war stark in Anspruch genommen. Einer der Brände fand genau in der Straße statt, wo ich wohne: eine schwerverletzte Person wurde aus dem Haus gebracht und auf dem Gehsteig behandelt. Die Sanitäter und der Notarzt machten eine halbe Stunde Herzdruckmassage, um sie dann mit Kanülen zu verkabeln. Leute lesen eine Lokal-Zeitung, weil sie das, was in ihrer Nähe geschieht, noch einmal und mit Hintergründen versehen lesen wollen: deswegen der Lokalteil. Warum brannte es? Was geschah? War die Feuerwehr am Rande ihrer Kapazität oder ging es gut? Die großen W-Fragen im Journalismus eben. Wo, wie, was, warum, wieviel, weshalb. Eigentlich etwas, das bereits der Volontär lernt und weiß. Wenn aber Lokalredaktionen kaputtgespart werden, um dann mit dem Geld eine Wochenendausgabe zu finanzieren, die eher einem Life-Style-Magazin für politisch Rechtschaffene gleicht, statt einer Zeitung für die ganze Stadt, dann brauche ich keine Lokalzeitung mehr. Und wenn die Themenpalette sich auf das beschränkt, was im inneren Berliner S-Bahn-Ring passiert, brauchen Bewohner, die dort nicht wohnen und die der identitätspolitische Zirkus in Kreuzberg-Friedrichshain und eine Buchhandlung wie She said oder irgendwelche Transidentitäten nur am Rande interessieren, sich diese Zeitung nicht mehr zu kaufen. Anders der Tagesspiegel, der ein breites Themenspektrum fährt – auch politisch.  

Zweitens halte ich jene sich leider vermehrt in der BLZ breitmachende Tendenz des Belehrjournalismus für verhängnisvoll – sozusagen die Nils-Minkmarisierung des Journalismus. Wenn Journalisten meinen, Haltungen verkaufen zu müssen und Erzieher ihres Volkes zu spielen, indem eine Redaktion bestimmte Themen (Gender-Transgender, Identitätspolitik, Rassismus als Dauerbrennerthema in schöner Lifestyle-Form aufgepimpt) nicht nur in einer Unwucht in die Zeitung bringt, sondern auch mit jenem Haltungsnotenton und dem wedelnden, erhobenen Zeigefinger versieht – Anfang Januar von Susanne Lenz der Hauptaufmacher des Feuilletons „Rassistisch oder zeitgemäß?“ und so zieht sich das von Lenz bis Hanno Hauenstein –, dann ist das zwar die Entscheidung der Zeitung. Und meine Entscheidung ist es dagegen, als Leser diese Art von Berichterstattung nicht zu goutieren. Nicht per se wegen dieser Themen, sondern wegen einer Debattenunwucht und einer Einseitigkeit in der Ausrichtung. Kaum vorstellbar, auch einmal einen Bericht zu lesen, weshalb es sinnvoll sein kann die englische Queen mit einer Weißen zu besetzen, weshalb es ein biologisches Geschlecht gibt und wir daran festhalten müssen, weshalb es sinnvoll ist, den Namen Mohrenstraße zu belassen. Vermutlich würden diese Texte eher noch von Götz Aly kommen. Im Falle der Mohrenstraße setzte dieser sich in der BLZ vehement für die Beibehaltung dieses Namens ein. Nur eben: Aly ist kein Journalist und nicht Mitglied der Redaktion, sondern externer Kolumnist – wie überhaupt, auch bei der ZEIT, interessante und kluge Perspektiven oftmals eher von Externen kommen und nicht von jenen in ihrem Sud brutzelnden Journalisten des täglichen Klein-klein. Aber vermutlich würde, wenn jemand, der fester Journalist ist und der solche Artikel schriebe, es bald mit einem Aufschrei auf Twitter zu tun bekommen, wie dies unlängst der Tagesspiegel-Autorin Fatina Keilani widerfuhr, die inzwischen dann auch nicht mehr beim Tagesspiegel arbeitet: „Sagste einen falschen Satz, kriegste einen vor den Latz“ hieß es mal in der antiautoritären Kindersendung Rappelkiste kritisch: ja, die Revolte frißt ihre Kinder. Und diesem neuen digitalen, identitären Mob – orchestriert teils von Leuten aus dem Medienmilieu – mögen sich immer weniger Journalisten aussetzen, schon gar nicht, wenn man keinen großen Namen hat, der einen schützt. Nur noch wenige, wie Jan Feddersen, Deniz Yücel oder der Kolumnist Aly, der gegenüber jeder Parteinahme für Kolonialismus unverdächtig ist, können es wagen, jemanden wie Kathleen Stock gegen einen transaggressiven Mob, der bis ins deutschuniversitäre Milieu vermeintlicher „kritischer“ Theorie reicht, zu verteidigen.

Nein, eine Zeitung soll nicht nur die Weltsicht des Lesers widerspiegeln, in diesem Falle eben meine, sondern ich möchte eine Zeitung lesen, die auf einem breiten Spektrum informiert und verschiedene Stimmen zu Wort kommen läßt. Und bei einer Tageszeitung, die für viele Leser dasein will, sollten viele Stimmen abgebildet werden. Und das kann auch bedeuten, daß jene Zeitung in einer Reportage oder einem Interview einen Querdenker, einen Neonazi, einen Linksextremisten, einen Veganer, einen Fleischliebhaber oder einen Transmenschen zu Wort kommen läßt.

In den Artikeln gehäuft eine bestimmte politische Tendenz zu bedienen und nicht zu berichten, sondern zu belehren, gehört zu den Gründen meiner Abo-Kündigung. Vom geschrumpften Lokalteil ganz zu schweigen. Daß eine Volontärin wie Maxi Beigang in ihren Texten in Dauerschleife eine Politagenda der trivialen Art fährt, stößt ebenfalls unangenehm auf. Man kann solche Art von Agendaschreibe vielleicht als Kinderjournalismus abtun: von jungen Menschen, die sich bei ihrer Peer-Group profilieren wollen. Doch das ist eben kein Journalismus mehr, sondern PR – und wer will als Journalist schon zu einer Margarete Stokowski herabsinken? Und das gilt auch – oder gerade – fürs Feuilleton. Solchen Haltungsjournalismus kann ich als Leser noch goutieren, wenn er Einzelfall ist. Das eben ist jene Vielfalt. Wenn aber diese Vielfalt zum Einheitsbrei und dann zur Einfalt wird, läuft bei einer Zeitung etwas falsch. Und wenn ich von der Schreibe und der politischen Haltung Autorinnen wie Antonia Groß und Maxi Beigang nicht mehr auseinanderhalten kann, dann sollte sich eine der beiden Damen überlegen, ob sie sich vielleicht einen anderen Markenkern zulege möchte. Man vermeidet solchen Brei, wenn man sich selbst einfach mal beim Schreiben zurücknimmt. Ich möchte nicht lesen, was 25jährige junge Frauen oder Männer so denken und was sie den Tag über bewegt. Ich kaufe keine Schülerzeitung, sondern eine Tageszeitung. Auch sehe ich nicht ganz ein, warum ich mich für das Tagebuch einer Jungjournalistin wie Beigang interessieren sollte – nicht einmal sofern dieser Text satirisch gemeint war. Dafür gibt es Blogs. Auch dies ist leider eine Tendenz, die ich verstärkt im Journalismus beobachte. Journalisten, die zunehmend um sich selbst kreisen und über sich, über ihre Kinder, über ihre Mütter, über ihren Tagesablauf berichten. Warum sollte das normale Leser interessieren?

Aber nicht einfach wegen solcher immer wieder ins Blatt gebrachter Themen ist diese Art von Journalismus verhängnisvoll – gerne kann man in guter Weise über Feminismus berichten oder über Rassismus, den es ja objektiv gibt –, sondern wenn ich als Leser bemerke, daß ich belehrt werden soll und mich eher in die Zeiten des Neuen Deutschlands der alten Art zurückgesetzt fühle, dann stellt sich Widerwille ein: ich will als Leser ernstgenommen werden und nicht das Objekt kinderpädagogischer Versuche sein. Wenn ich solche Tendenz verstärkt feststelle – das ist zumindest mein subjektiver Eindruck – dann ist es Zeit abzubrechen. Insbesondere wenn ich den Eindruck habe, daß sich eine Zeitung an eine bestimmte Zielgruppe und an einen bestimmten Zeitgeist andient.

Ich habe die Berliner Zeitung jahrelang geschätzt. Sie war Anfang der 2000er Jahre in meinen Augen die beste Tageszeitung, teils sogar der Bundesrepublik – zumindest in meinem kursorischen Sichtungsvergleich. Diese Zeit ist lange vorbei. Wenn ich bei einer Zeitung einen Großteil der Texte nur noch ärgerlich abbreche; wenn ich in einer Lokalzeitung keinen angemessenen Lokalteil mehr finde; wenn die Wochenendausgabe zu einem Hochglanzmagazin für Bobos wird, dann ist es Zeit, mit dem Lesen insgesamt und also auch mit dem Abonnement abzubrechen. Eine Tageszeitung lebt davon, daß der Leser sie morgens gerne liest. Sie lebt nicht davon, daß ich morgens beim Briefkasten jedesmal denke: „Gott, was erwartet mich jetzt wieder für ein Schmarrn?“ Daß ich eine Ausgabe gerne las, war leider bei der BLZ nur noch sehr bedingt der Fall. Mit dem Wechsel der Eigentümer hatte ich mir eine Qualitätssteigerung der gedruckten Zeitung versprochen. Die blieb jedoch weitgehend aus. Das ist schade, weil ich die BLZ lange Zeit gerne gelesen habe. Nun ist es vorbei und da führt kein Weg zurück.

Heidegger-Debatte

Freundlicherweise hat die „Berliner Zeitung“ in einem Artikel von Dirk Pilz auf meinen Blog verlinkt. Und zwar geht es in diesem Beitrag in einer umsichtigen und die Themenfelder differenzierenden Betrachtung um Heideggers Antisemitismus sowie um das Verhältnis von Vita und Text. Diese Debatte wird hier im Blog auf alle Fälle weiter verfolgt werden, und sobald die „Schwarzen Hefte“ in den entsprechenden Bänden der Gesamtausgabe im Klostermann Verlag erschienen und damit der Öffentlichkeit zugänglich sind, werde ich darüber weiter schreiben. 

Nebenbei bemerkt: Sehr gut gefiel mir diese Formulierung von Dirk Pilz: „auf eher boulevardesken Plattformen wie Spiegel online“: So ist es!

Da der Betreiber dieses Blogs nicht nur um Theorie, sondern auch um den Service bemüht ist, sei auf die beiden Artikel zu Heidegger noch einmal verlinkt, damit Leserin und Leser die entsprechenden Texte schneller finden. Und zwar auf diesen Beitrag, wo ich einen Überblick über diese Debatte gebe und wo sich im Kommentarteil eine sehr interessante Diskussion findet, und dann hier, wo ich auf den polemischen Beitrag von Georg Diez auf der eher boulevardesken Plattformen wie Spiegel online Bezug nehme. Leider geht in diesen Kommentaren  einiges aus den Fugen, denn wenn die Produktionsweise der Agrarindustrie mit der industriellen, verwaltungsmäßig organisierten Tötung von Millionen Menschen in eins gesetzt wird, fällt es dem Blogbetreiber am Ende  schwer, nicht polemisch zu werden. Da müssen dann doch Roß und Reiter mal genannt werden.

Insbesondere möchte ich mich aber bei dem klugen und kenntnisreichen Kommentator Victor bedanken, der in dieser Diskussion ganz entscheidende Hinweise und vor allem auch Literaturangaben lieferte. Solche Kompetenz ist auf diesem Blog immer willkommen.

Demnächst folgt hier ein kurzer Text zum Geschichtsbegriff bei Heidegger.

Leasing-Tage und Ledermänner

Die Kulturpolitik Hamburgs ist mittlerweile eine durch und durch heruntergekommene und verdorbene, so sagte ich mir beim Lesen des Feuilletons der „Berliner Zeitung“: „Leasingtage in Hamburg“ mußte ich in der Überschrift des kleinen Spaltenartikels gleich auf der ersten Seite des Feuilletons lesen, was meine Vorurteile und meine Sicht auf diese sowieso von Handel und Kommerz vollständig durchsetzte und dadurch naturgemäß  auch aufs äußerste bestimmte Stadt zutiefst bestätigte, die sich nicht einmal mehr anständige Theater, geschweige denn Museen leisten möchte, was sodann, wenn ich darüber nachdachte, einen weiteren Anfall des Zorns aufkommen ließ angesichts einer doch im großen und ganzen passablen Haushaltslage dieser Freien und Hansestadt, zumindest im Vergleich zu Berlin, das mit seinen vier Theatern und der Vielzahl an Museen, die Hamburg, auch was die Kosten und die Größe anbelangt, bei weitem übertreffen, sowieso auf einem ganz anderen Niveau wirtschaften muß, so sagte ich mir, daß diese an Verkommenheit und hanseatischer Kaufmannsverlogenheit nicht zu übertreffende Kulturpolitik Hamburgs im Grunde die Quintessenz jahre- und sogar jahrezehntelangen Sparens sowohl des SPD- als auch des CDU-Senats an den falschen Stellen ist, so dachte ich in der Abgeschiedenheit meines Ohrensessels, wodurch sich der sowieso schon geist- und kulturlose Zustand dieser Handelsstadt noch einmal um ein Erhebliches und in einer kaum zu übertreffenden Weise steigerte.

Glaubte man anfangs noch aus der Ferne Berlins und als es die schützende Mauer  gab, daß es bei dem infamen und komplett kulturlosen Ersten Bürgermeister Dohnanyi, der im Theater am liebsten seine Klassiker wiedererkennen möchte, dann bei dem Rechtsanwalt Voscherau und dem Beamten Runde ungeahnt schlimm war und beim Rechtsanwalt von Beust eigentlich gar nicht mehr auf die Spitze getrieben werden könne, so steigerte sich diese Sparversessenheit auch dort und dann erst recht unter dem Konkneipanten Ahlhaus, der nun eine sehr viel stärkere Sparwut, die an Zwanghaftigkeit grenzt, an den Tag legte, noch um ein erhebliches. Es ist gut, dachte ich beim Überfliegen dieser Headline in der „Berliner Zeitung“, in Berlin und nirgendwo anders zu leben, wo es in praktisch jedem Geschäft, im Grunde an jeder Straße möglich ist, die „Neue Zürcher Zeitung“ zu erstehen. Ja, in einer solchen Stadt, an solchen Geistesorten sagt es sich gerne: „Ich bin ein Berliner.“ Es werden allerdings  in dieser Stadt leichthin und vollkommen natürlich solche Bekenntnisse abgegeben, auch wenn diese Offenbarung hinterher für den einen oder anderen Gast eine fatale oder sogar letale Konsequenz nach sich zieht. Und es ist eben doch typisch, daß jene eigentlich ganz wunderbare Stadt an der Elbe, die durchaus ein eigenes Flair hat, in ihrem Herzen vom Geist des Kaufmanns regiert wird, so sagte ich mir. Warum solche Tage des Kommerzes aber den Weg ins Feuilleton fanden, erschloß sich mir beim Lesen der Überschrift nicht. Was gäbe es in Hamburg zu leasen? Vielleicht eines der großen deutschen Sprechtheater, um darin ein Musical aufzuführen. Oder einen Hafen für die Parade sämtlicher Kreuzfahrtschiffe dieser Welt.

Doch als ich die Überschrift genauer und den Artikel vollständig las, bemerkte ich, daß ich mich um einen Buchstaben verlesen hatte und es sich lediglich um die Lessingtage am Thalia-Theater zu Hamburg handelt. Natürlich, so fiel es mir ein, Lessing weilte eine Zeit lang in Hamburg, es heißt ja eine seiner Schriften zum Theater „Hamburger Dramaturgie“, es gibt in Hamburg sogar eine Lessingstraße und selbiger bedeutende Aufklärer, Dichter und wichtige Theoretiker des Theaters lieferte sich mit dem Hauptpastor Goeze einen veritablen Streit.

So kann das gehen, wenn man beim Lesen der morgendlichen Zeitung seinen Fehlleistungen aufsitzt und um diese herum einen Kokon spinnt.

Nun liegt in solchem Verlesen und Versprechen natürlich eine schöne Nähe zu Freud (sowieso) und zur Etym-Theorie von Arno Schmidt, die er in „Zettels Traum“ literarisch entfaltete. Ich mag im Grunde solche Fehlleistungen und diese um ein Winziges sich zutragenden Verschiebungen gerne. Als ich kürzlich vor einem Käsefachgeschäft stand, las ich an einer aufgestellten Tafel in Kreideschrift auf schwarzem Grund: „Ledermänner nur 1,99 €“. Das verwunderte mich zunächst, und ich liebe es, wenn ich mich selbst auf unwillkürliche Weise in Erstaunen und Entzücken versetzen kann. Auch Frauen vermögen es zuweilen, dieses Erstaunen und Entzücken in mir hervorzurufen; aus anderen Gründen jedoch. Das ist aber wieder ein ganz eigenes Thema, bei welchem sich weit ausholen und immens abschweifen ließe.

Beim zweiten Lesen der handbeschriebenen Tafel mußte ich meinen Blick jedoch korrigieren, und es handelte sich dann bloß noch um Leerdamer. Ja: die Sinnkohärenzen stellen sich schnell genug und von ganz alleine wieder her. Das ist manchmal schade. Denn gerade in den seltenen Momenten, wo diese Kohärenzen, diese Zusammenhänge des Alltäglichen augenblickshaft aufbrechen, beweist sich auf das schönste der Satz, daß die Welt einzig als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sei. Diese wenigen Sekunden des Befremdens sind ganz wunderbare Sekunden, in denen das Subjekt schwebt, eine Art kontemplativer Schockzustand, der aus der Welt der gewöhnlichen Dinge herausragt.

(„Och, das hast du Dir doch ausgedacht, das mit den Ledermännern!?“ „Nein, wirklich nicht, das war so, ich habe manchmal einen schusseligen, verpeilten Blick. Einmal habe ich sogar meinen eigenen Vater in der U-Bahn nicht wiedererkannt, bis er sich mir zu erkennen gab und sagte, wer er sei.“)

Wenn man mit einer attraktiven und intelligenten Frau einen besonderen Abend verbringt, kann sich zuweilen eine solche wunderbare Transgression ergeben: und zwar in jenen Momenten der kurz nur sich ereignenden Daseinsverzückung bricht es hervor; emaniert, müßte man – fast – schreiben. Es sind diese Minuten der unendliche Augenblick, welcher bis zum äußersten gespannt ist, es knistert und zerreißt darin etwas. Ein solcher Kairos läßt sich niemals willkürlich herbeiführen. Er geschieht. Momente, die sich in einer Bar nach einem Seminar in Berlin-Dahlem an einem Sommerabend mit jener dunkelhaarigen Frau ereignen, die sich in Hamburg-Ottensen, in Berlin-Kreuzberg abspielen. Jene blonde Frau, deren Körper ich photographierte. Überall eigentlich trägt sich das zu. Solche Momente müssen verdichtet werden, was wohl die Arbeit des Lyrikers ausmacht, und dann – hinterher – mit den Augen Becketts gesehen und dargestellt werden.

Nächste Woche geht es weiter mit dem zweiten Teil der Derrida-Lektüren.

Und wenn Sie mir, geliebte Leserinnen und Leser, auch noch verraten, welchen großen, großartigen Schriftsteller ich im ersten Absatz, zugegeben nicht gekonnt, aber einen Versuch war es trotzdem wert, nachahmte, dann seien Sie sich meines Wohlwollens sicher.

Clemens Meyer

Endlich einmal wieder darf ich in den Gefilden der schönen Literatur singen, lobpreisen, jubilieren, obwohl sich solches für einen Ästhetiker nicht geziemt, der in der Contenance geschult ist. Ja, der Grund für solche Exaltiertheiten liegt darin, daß es ein neues Buch von Clemens Meyer gibt. Jubeln und im Grunde noch gar nicht so recht wissen, was einen erwartet, paßt schlecht zusammen, aber es ist die Erwartung groß. Das dritte Buch, welches in der Regel als das schwierigste bezeichnet wird, muß sitzen: Man ist einerseits im Betrieb etabliert, aber noch nicht so, daß man auch einmal etwas Mißratenes abliefern darf. Viele Augen sind nicht mehr nur wohlwollend-gewogen, sondern der Blick gerät manchem skeptischer als sonst. Gerade am dritten Werk zeigt es sich, ob der Atem ausreicht oder ob es bloß schreibende Eintagsfliegen sind. Gerade dieses Buch muß gelingen.

Vor etwa eineinhalb Jahren erschienen Clemens Meyers Erzählungen „Die Nacht, die Lichter“ (ich berichtete hier darüber), nun kommt dieses neue Buch von ihm, auf das ich mich freue. Es scheint ein sehr spezielles Buch zu sein und nichts für empfindsame Gemüter. Abwarten also, was dieses dritte Buch bietet. Ich kann jedoch nicht verhehlen, daß ich die Prosa von Clemens Meyer ausgesprochen schätze, weshalb einige Vorschußlorbeeren verteilt werden. Es schreibt ein Literat, von dem noch Großes zu erwarten sein wird.

In der „Berliner Zeitung“ vom 17. März erschien zum neuen Buch ein Interview mit Clemens Meyer. Falsch im Ankündigungsteil schreibt der Redakteur allerdings, daß sein Debütroman 2007 erschienen sei. Es war 2006. Doch wie auch immer: Das Gespräch dort drehte sich im wesentlichen um sein neues Buch „Gewalten. Ein Tagebuch“, wo das Verhältnis von Persönlichem und Welt, früher schrieb man Gesellschaft, in die literarische Darstellung gebracht wird. Wieder einmal sind es Geschichten von unten, teils brutal aus dem devianten Milieu der extremen Sorte.

Erwies sich Clemens Meyer in seinem großartigen Debüt „Als wir träumten“ als Meister der großen Form, immerhin gelangen ihm, als Erstwurf beachtlich, 517 Seiten sehr gute Prosa aus der Sicht eines Wendeverlierers, so beherrschte er mit seinem Buch „Die Nacht, die Lichter“ auch die kleine Form der Erzählung gut. Von seinem dritten Buch schreibt die FAZ:

„Wer nichts übrig hat für den virilen Mythos vom Boxerherz, das sich nicht unterkriegen lässt, für Stories vom Einstecken, ohne aufzustecken, für Kämpfer, die, in die Ecke getrieben, mit dem Kopf durch die Wand wollen, der wird auch Meyers neuem, elf Runden währendem Ringen mit heiklem Stoff wenig abgewinnen können. Doch schon der Versuch sollte Respekt abnötigen. Denn welcher andere deutschsprachige Autor würde sich nacheinander folgende Themen vornehmen, um nur die Texte Nummer zwei bis fünf zu betrachten: Abu Ghraib und Guantánamo, den Amoklauf von Winnenden, den Tod eines Jugendfreundes im Hospiz und die Ermordung der achtjährigen Michelle in Anger-Crottendorf (jenem Leipziger Stadtteil, in dem Meyer lebt)? Clemens Meyer schlägt sich nicht mit Schwächeren, er will es wirklich wissen.“

Clemens Meyer ist, was die deutschsprachige Literatur angeht, die Entdeckung des Jahres 2006 und für mich die Sensation schlechthin gewesen, und ich warte gespannt auf jedes seiner Bücher. Selten habe ich ein Debüt so sehr gemocht, begierig mir einverleibt. Da ist jemand, der erzählen kann wie der Teufel. So muß man sehen, ob dies auch in seinem dritten Werk funktioniert, das aufgrund des Tagebuchcharakters, den es einschiebt, einen artifizielleren Charakter besitzt als seine ersten beiden Bücher.

Zum Schluß möchte ich zwei kurze Passagen aus dem Interview in der „Berliner Zeitung“ zitieren. Einmal zum Plagiat, da Meyer den Satz „Wir fahren wohin wir fahren“ zitathaft verwendet:

„Ja, allerdings ist der Satz geklaut. Er stammt aus Jurek Beckers ‚Jakob der Lügner‘, glaube ich. Das steht auch im Text. Einzelne Sätze darf man stehlen, ganze Passagen nicht. Das soll man nicht tun.“

So ist es, und auch in einem Kurzinterview in „Kulturzeit“ hat Meyer in seinem angenehmen, sächselnden Dialekt zum Plagiieren gute Dinge formuliert.

Weiterhin sagt er zu dem unsäglichen Berlin-Hype der Künstler bzw. der Künstlerdarsteller Treffendes.

A. Montag: „Junge, erfolgreiche Künstler ziehen nach Berlin. Wann packen Sie den Koffer?

Meyer: Ich bin oft in Berlin und mag die Stadt auch. Meine Freundin lebt dort. Aber ich werde in Leipzig bleiben. Hier ist meine Wohnung, mein Archiv. Meine Heimat. Hier habe ich meine Bücher geschrieben. Hier lebt meine Mutter, leben meine Freunde. Und Halle, wo ich geboren bin, ist ganz nah. Dort bin ich auch sehr oft. Und überhaupt: Man muss ja auch die Region stärken. Alle wollen nach Berlin? Allein deshalb muss ich hier bleiben.“

Auch dem ist nichts, rein gar nichts hinzuzufügen.

Kleiner philosophisch-ästhetischer Auftakt zum Jahr 2010

I.

Lange und häufig habe ich mich während meiner Studienzeit darüber geärgert und gezürnt, daß so viele der Professoren, die Philosophie lehrten oder dies zumindest versuchten, wenn sie sich überhaupt mit Adorno beschäftigten und nicht der sogenannten Analytischen Philosophie oder der Ethik in unschuldiger Weise huldigten, keinerlei Sinn oder Hintersinn für die Thesen aus der „Dialektik der Aufklärung“ aufbringen konnten. Immer und sofort kam, wie aus der Pistole des Nichtverstehers geschossen, der standardisiert vorgebrachte Einwand des performativen Selbstwiderspruchs, in den sich die Vernunft verstricke, sobald sie es unternehme, sich in ihrer Gänze durchzustreichen und als Instrumentelle zu setzten. Schön, daß alle Professoren zur selben Zeit Habermas gelesen hatten. Ein damaliger Freund pflegte sehr treffend über Habermas zu formulieren und brachte es in einem Begriff auf den Punkt: Sabbelkommunismus. Wahr ist‘s, in polemischer Überspitzung formuliert (1).

Dabei liegen diese Dinge, die in der „Dialektik der Aufklärung“ zur Darstellung kommen, deutlich und unverschleiert geradezu auf der Straße. Ein einziges Lesen im Kapitel über Kulturindustrie müßte ausreichen, um zu sehen. Aber es erging den Verbeamteten vermutlich ganz ähnlich wie jenem Philosophen, der erst als es zu spät war und er in den Brunnen fiel, vom Lachen der Thrakerin blickwärts wieder zur Erde gelenkt wurde.

Und es ist ja nicht einmal im Gleichtakt geblieben – um von Verbesserungen gar nicht zu sprechen: Was bei Adorno zart angedeutet wurde in jenen schwarzen Schriften aus dem Umkreis der „Dialektik der Aufklärung“, das ist heute eine gesteigerte Realität, die als solche kaum noch wahrgenommen wird. Nicht einmal mehr im Kreis der Kritischen, die es eigentlich besser wissen müßten. Das fängt bei Spex-Redakteure an, die ihr Eingeweihtsein als subversive Kritik verkaufen, und geht weiter hin zu Bands, ihr Name sei austauschbar, wo der Protest zum Tauschwert dazu gehört. Pop als Politikpose und leerlaufende Ersatzhandlung.

Daß sich die Wirklichkeit am Begriff zu messen habe und in eine noch irgendwie geartete Übereinstimmung mit demselben zu bringen sei: dieses einst gegen die Gesellschaft kritisch gedachte Diktum Hegels ist heute zur puren Affirmation geraten, weil der Begriff in seinem Abgebröckelten genau der Wirklichkeit entspricht, die er verdient zu haben scheint: Eine Negativität Hegelscher Dialektik, die nicht einmal Adorno in seinen schlimmsten Traumprotokollen in Schrift zu setzten vermocht hätte.

 „Aldous Huxley hat in einem Essay die Frage aufgeworfen, wer in einem Amüsierlokal sich eigentlich noch amüsiere.“ (Adorno, GS 14, S. 15)

 Alle, so muß man unsentimental nachschicken. Andererseits wollen wir nicht der Lustfeindlichkeit das Wort reden. Die Angelegenheit pendelt sich schwierig aus und gerät heikel. Nicht nicht-amüsieren ist nicht möglich, aber auch das Gegenteil will nicht gelingen. Wenn es kein richtiges Leben im falschen gibt, so kann sehr schnell der Schluß und der Ausweg aus der Aporie naheliegen, daß es dann sowieso relativ und mithin gleichgültig ist, was einer tut: Wenn es so oder so falsch sein mag, dann gehe ich mich lieber amüsieren. Warum verzweifeln, wenn sich Zweifel und Staunen im Platz in der Beobachterloge ganz gut machen und teils zur Erheiterung beitragen?

Da leuchtet ein Funken Wahrheit heraus. Es ist beim Amüsieren jedoch wie bei einem Spezialfall desselben, nämlich wie beim Trinken: man muß es mit Niveau betreiben. Kein Alkohol ist keine Lösung; blindes Saufen von irgendwelchem Zeug jedoch ist dämlich. Was aber bleibt?: Das stiften nicht die Dichter, sondern die gute Weinhandlung um die Ecke oder zwei U-Bahnstationen weiter: Saufen mit Niveau. Insofern bildet, darin möchte ich Bohrer recht geben, der Stil eine zentrale, nicht nur ästhetische (sondern auch eine moralische) Kategorie , die zudem Differenzierung erzeugt; ergänzt freilich um den (Adornoschen) Takt sowie den moralischen Impuls als nicht-diskursives Element von Moralphilosophie. Moral und Ethik sind im Zeichen dessen, was der Fall ist, nur als Individualmoral möglich. Dies zumindest kann man mit Adorno lernen. Und vielleicht schlagen sich hier auch ein paar Brücken zu Sartre und Foucault.

 II. 

Was bleibt in der Rückschau auf‘s Jahr 2009? Harald Jähner schreibt in der „Berliner Zeitung“ vom 31.12.2009 im Hinblick auf die Kunst, die Medien und die Philosophie unter der schönen Überschrift „Der Zauber des Realen“ (Lacan versetzte diese Überschrift womöglich in einen Taumel):

 „Theoretiker sind die Verlierer des Jahrzehnts. Hielt man einst die Wirklichkeit für eine niedere Kategorie, aus der höhere Wahrheiten erst abstrahiert werden mussten, ist uns heute eine Unterscheidung von Wesen und Erscheinung fremd geworden. Wir glauben nicht mehr an tiefere Schichten des Seins, aber an immer neue Fassetten der Oberfläche. Deshalb empfinden sich immer mehr Menschen von der Deutung der Welt durch Kundigere emanzipert. Sie wollen Fakten hautnah präsentiert bekommen und die Schlüsse daraus selber ziehen. 

Ein unstillbarer Erfahrungshunger verschleißt die Präsentationsformen von Wirklichkeit und will immer neue Intensitäten: im Privatfernsehen kann man die permanente Neuerfindung und Wiederauszehrung von Reality-Formaten in irrwitziger Geschwindigkeit erleben. Hier wird das neue Interesse am Realen ausgebeutet und mit billigen Surrogaten abgefüttert. Ursprünglich interessante Experimente wie „Frauentausch“ werden zu hämischen Spektakeln, in denen auf Kosten der Teilnehmer nur das Immergleiche hervorgekitzelt wird.“

 Nun zaubert Jähner hier allerdings aus einem alter Hut. Die Differenz von Wesen und Erscheinung geriet nicht erst in diesem letzten Jahrzehnt zunichte: Liegt in der Einebnung doch einer der zentralen Topoi der sogenannten Postmoderne seit den 70er, 80er Jahren: Die Oberfläche und ihre Faltungen sind das Wesen in der Erscheinung; die dialektische Differenzierung wird ohne Umstände eingezogen. (Prominentester Vertreter mag hier Deleuze sein, den dann allerdings die Dialektik schneller einholte, als es ihm lieb war. Da ist es dann wie mit dem Hasen und dem Swinegel. Derrida ist in dieser Angelegenheit der Verabschiedung von Dialektik allemal sehr viel reflektierter vorgegangen. Diese Auseinandersetzungen mit der Hegelschen Dialektik, hinter die kein Weg zurückführt, finden sich etwa prominent und instruktiv in seinem Text zu Bataille und der Ökonomie. Doch immerhin ist Deleuze dafür an vielen Stellen spaßiger und inspirierender. Kann auch ein Mehrwert sein.) 

Interessant ist in dem Zusammenhang, den Jähner in seinem Artikel aufzeigt, der Aspekt des Dokumentarischen, welcher sich nicht nur im Medium Fernsehen in seiner herabgesunkenen Form zeigt – siehe etwa (unfreiwillig geniale) Projekte wie „Big Brother“ –, sondern das Dokumentarische erhält auch in der Kunst einen zunehmend hohen Stellenwert und bestimmte – wenn man dem Untertitel des Textes folgt – dieses Jahrzehnt. Als Indikatoren hierfür nimmt Jähner etwa Schlingensiefs jüngste Körper-Selbstbeobachtungen, Kempowskis Echolot-Buch oder die (Theater-)Projekte von Rimini Protokoll. Diese Tendenz ist gut beobachtet. Allerdings: Das Dokumentarische in der Kunst kann schnell trivial werden und sich ausreizen: man denke etwa an Tracey Emins bekannteste Installation „My bed“ (als Dokument des Privaten sozusagen); Environments, die in diese Richtung laufen, sind einmal, zweimal ganz originell, ja stellenweise sogar witzig, nutzt sich jedoch beim dritten Mal ab. Interessanter sind da in der Tat die Arbeiten von Rimini Protokoll oder die Inszenierungen Schlingensiefs. Insbesondere seine Aktion „Ausländer raus“ in Wien, die Jähner erwähnt, wo im Big-Brother-Stil Flüchtlinge herausgewählt werden durften. Hier handelt es sich um den guten Agitprop: Man muß lachen und doch ist die Angelegenheit bitterernst. Insofern hat hier Big Brother in der Tat die Maßstäbe gesetzt. (Andererseits witzelte ich bereits in den 80er Jahren mit dem Aufkommen des Privatfernsehens über selbiges: Mein Projekt war, eine Inkontinenzshow mit dem Titel: „Die Alten, wie lange können sie‘s halten?“ zu bringen. Doch kein Sender hätte es zu dieser Zeit wohl haben gewollt.) Wieweit bei Schlingensief der herkömmliche Kunstbegriff aber überhaupt noch trifft, dies ist eine andere Frage. Nimmt man diesen Begriff weit, so kann man sicherlich sagen: Paßt schon! Und ich muß gestehen: Obwohl ich von einer solchen Art der Kunst im Grunde nicht viel halte, weil die laute (politische) Provokation sich schnell totläuft und diese am Ende objektiv schlecht ist, weil sie ihrem Part, gegen den sie rebelliert, so fatal ähnlich sieht, so muß ich sagen, daß Schlingensief hier trotz alledem etwas geglückt ist, das funktioniert. 

Zugleich aber muß man mit dem Dokumentarischen in der Kunst behutsam umgehen, wenn man es gekonnt einsetzten möchte, und vorsichtig sein, kann es doch leicht dazu führen, daß das Kunstwerk eine Verdoppelung dessen erzeugt, was sowieso schon der Fall ist. Es will insofern mit Bedacht verwendet werden. Interessanter wären hier sicherlich die Fiktionen von Dokumentarischem. Auch scheint es mir angesichts der plural verfaßten Kunstwelten unzureichend, die Kunst auf einen Begriff zu bringen. Sicherlich zeigen sich in der Zeit, in den Jahrzehnten, bestimmte Tendenzen, doch gehen damit (zum Glück) immer die Gegenbewegungen und die Korrektive einher. Bildende Künstler wie der großartige, im letzten Jahr verstorbene Hrdlicka zeigen dies gut. 

Einige interessante ästhetisch-gesellschaftliche Aspekte aus dem Text von Jähner seien zum Schluß noch zitiert: 

„Das letzte Argument ist immer die Karteikarte. Sie brachte komplexe Biografien ins Wanken wie die von Walter Jens und Günter Grass, die sich ein bundesrepublikanisches Leben lang nicht mehr an ihre Mitgliedschaft als junge Männer in der NSDAP erinnerten.

 Eine nach vielen ideologischen Jahrzehnten plötzlich dem Dokument verfallene Öffentlichkeit wischte Grass‘ freimütige literarische Beschäftigung mit seiner jugendlichen NS-Treue vom Tisch und fixierte sich rechthaberisch auf die Aktenlage. Die Karteikarte triumphierte über die politische Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte, indem die Aufarbeitung sich auf die Abklärung der Stasi-Akten fixierte. Und keine ideologische Debatte hätte die alte Linke so beschämen können, wie die Fakten aus dem 1998 erschienenen ‚Schwarzbuch Kommunismus‘.“

 Hinzufügen muß man freilich, daß damit zugleich die Lektüre eines „Schwarzbuch Kapitalismus“ einherzugehen habe. (Am besten vom „Grand Hotel Abgrund“ aus; ich liebe die plüschigen Logen und die gemütlichen Sessel, ausgestattet mit dem roten Samt.) Leider aber sind komplexe Auseinandersetzungen nicht immer möglich und gehen sehr oft entweder in die eine oder in die andere Richtung. Das ist im Sozialen so, das ist in der Ästhetik nicht anders.

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(1) Wenn wir es einmal beiseite lassen und die Fehllektüre ausräumen, daß Habermas zur Kritischen Theorie noch gehört – denn dies ist eine Lesart, die ihm nicht gerecht wird – so ließe sich womöglich manches Mißverständnis aus der Welt schaffen, welches sich in den Diskussionen um Habermas ergab. Stellen wir ihn also nur bedingt in die Linie der Frankfurter Schule. Man wird dann womöglich sehr viel leichter seine „Theorie des Kommunikativen Handelns“ als ein sozialphilosophisches Grundlagenwerk lesen können. Eine der wesentlichen Leistungen des Buches besteht darin, die verschiedensten philosophischen und soziologischen Stränge, von der Sprachphilosophie zur Hermeneutik, über den Pragmatismus und die amerikanische Soziologie sowie Max Webers Theorie der Rationalität, zu vermitteln und sich durchdringen zu lassen.

Die Reproduzierbarkeit der Kunstwerke im Zeitalter vollständiger Kommerzialisierung

Da hab ich glatt voreilig angekündigt, daß für letztes Wochenende der Text zu Habermas/Adorno hätte erscheinen sollen und der Text erschien nicht. Tja, da kam Italien und einiges andere dazwischen. Aber dann gibt es den Text eben zum nächsten Wochenende, so hoffe ich doch.

Verweisen möchte ich aber auf eine Buchkritik von Sebastian Preuss in der Berliner Zeitung vom 2. Juli 2009 (Link nicht auffindbar), und zwar über ein Buch von Wolfgang Ulrich, „Raffinierte Kunst“ (aus dem guten alten Wagenbach Verlag), in dem es, grob vereinfacht gesagt, darum geht, daß die Reproduktion eines Kunstwerkes (insbesondere der bildenden Kunst) im Grunde oftmals interessanter und raffinierter ist als das Original. Die Nachbildungen seien eigentlich kein Abguß und Abklatsch des Originals, sondern ihnen komme eine eigenständige Dignität zu. Insbesondere für die Kunst des Kupferstichs galt dies, der bis zum 19. Jhd. ein Kommunikationsmedium war, über das sich Kunst reproduktiv verbreiten konnte, war es doch nicht jedem vergönnt, nach Paris, Rom oder Venedig zu reisen.

„Reproduktionsgrafiken interpretieren und bringen manche Elemente deutlicher zur Geltung als das Original, sie übersetzen Malerei in eine andere Sprache. ‚Der Kupferstecher ist ein Apostel oder Missionar‘, schrieb Diderot bewundernd über diesen hochgeschätzten Künstlertypus. Die Reproduktion war eine allseits anerkannte, zuweilen heilsame Instanz, der sich die Kunst stellen musste.“ so Preuss in seiner Rezension.

Ullrich gehe es um eine Rehabilitierung der Reproduktion; der Mythos des Originals solle gebrochen werden. Dies eben ist der Rest kunstreligiöser Befangenheit des 20 Jahrhunderts.

Diese These ist nicht uninteressant; insbesondere in den Zeiten völlig überfüllter Museen, wo sich eigentlich kein Werk mehr gescheit betrachten läßt, weil Ausstellungen zu Events geraten, da lasse ich mir eher die Kataloge zukommen und schaue mich lieber dort um, anstatt im Gedrängel laut quackend und quengelnden Kinder zuhören zu müssen (ich begreife bis heute nicht, warum Kinder im Alter von 2 bis 4 Jahren in eine Kunstausstellung verfrachtet werden) und anstatt Belangloses daherredende Menschen zu treffen, die vor einem Werk nicht einmal eine Minute die Klappe halten können, und nicht nur das: sie schaffen es auch nicht, mehr als dreißig Sekunden vor einem Bild stehenzubleiben, um zu schauen, was sich da ereignet. Doch egal. Es ist eben Event-Kultur. Man muß das „Museum of Modern Art“, seinerzeit (2006?) in Berlin, oder 60 Jahre Kunst der BRD gesehen haben.

Nun ist diese These von Ullrich aber nicht nur nicht uninteressant, sondern sie ist auch nicht ganz neu. Der Rezensent Preuss verweist hier auf Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, der den Verlust der Aura innerhalb der Entwicklung der Kunst und die neuen Möglichkeiten einer erweiterten Kunst, aber auch ihre damit einhergehende Politisierung thematisiert. Spannend dürfte das Buch von Ullrich trotzdem sein, insbesondere im Hinblick auf die sich seit Benjamin massiv veränderte Medienlandschaft und die Medialisierung von Kunst.

Wie schwierig bzw. hinfällig sogar die Unterscheidung von Original und Reproduktion bereits bei den Farbwerten sein mag, kann man sich anhand von Michelangelos Fresken (Deckengemälden) in der Sixtinischen Kapelle vergegenwärtigen, die im früheren „Original“ als auch in den Reproduktionen einen farblich eher gedämpften Charakter hatten. Nach ihrer Restaurierung in den 90er Jahren stellte sich heraus, daß die Bilder damals wohl bonbonfarbenartig gewesen sein müssen.

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Quelle:  Wikipedia, Artikel Sixtinische Kapelle

 Hierin zeigt sich, daß an vielen Stellen der Kunstgeschichte das Original gar nicht so sehr Original ist, wie es zunächst den Anschein hat. Vielmehr benutzen wir diese Kategorie oftmals nur als Surrogat, um einem Bild, einem Sujet den Charakter von Einmaligkeit zu verleihen, ihm etwas in einem bestimmten Funktionszusammenhang zuzuschreiben. Den Prozeß solcher Auratisierungen und das, was dahinter steckt, hat Walter Benjamin in seinem oben genannten Text bestens beschrieben.

Und insofern sind es auch nicht die Farben und ihre (scheinbare) Einmaligkeit innerhalb des Bildes, die gegen eine Reproduktion sprechen. Denn diese Farben können wechseln, weil sie im Prozeß von Verfall und Veränderung in ihrem „Originalzustand“ kaum noch zu ermitteln sind. Allenfalls der Aspekt der Materialität des Kunstwerkes, welcher in der Kunstgeschichte eher stiefmütterlich behandelt wurde, mag für den Vorrang des Originals zeugen; insbesondere dort, wo Gemälde durch den Farbauftrag und die Erzeugung von Strukturen, die sich in der Reproduktion schwierig abbilden lassen, beginnen, dreidimensional zu werden, man denke etwa an die Bilder Anselm Kiefers oder manche der kubistischen Collagen.

Dennoch sollte man diesen Aspekt von Reproduzierbarkeit und Wiederholung nicht hypostasieren und als letzte Weisheit gegen einen (vermeintlich bürgerliche konnotierten) Begriff von Kunst setzen, der noch konservativ am Auratischen hängt. Der Einmaligkeit des Werkes wohnt im Sinne einer Autonomieästhetik zugleich etwas Rettendes inne, unabhängig von der Vernutzung der bildenden Kunst zum bloßen monetären Event.

Man schüttet das Kind mit dem Bade aus, wenn man die Kategorie des Individuellen und der Singularität des Kunstwerkes unter zu einfachen Bedingungen preisgibt.

Sonic Youth

Nein, ich hatte es fest versprochen. Ja, ich wollte eigentlich nichts, rein gar nichts in diesem Blog über Musik schreiben. Aber nun zieht es mich trotzdem hin. Nein, nicht zum Schreiben einer Musikkritik, dazu reicht meine Kompetenz nicht aus, da ich kein (im Adornoschen Sinne) strukturaler Hörer bin, sondern in der Hörertypologie seiner Musiksoziologie eher am unteren Rand taumele.

Aber schließlich ist seit gestern die neue Platte der sehr bedeutenden und sehr sehr guten Band Sonic Youth erschienen, und da muß man ja irgend einen Ausdruck finden, und da verweise ich doch gleich einmal auf die lustige Rezension von Diedrich Diederichsen in der Berliner Zeitung vom 4.6.09. Es geht dort zwar, von einer Besprechung des Booklets/Covers angefangen, um alles mögliche, nur nicht um die Musik der neuen Platte. Aber was soll man schon schreiben bei der ich-weiß-nicht-wievielten Platte. Da ist es dann auch ganz unterhaltsam, sein subkulturelles Pop-Wissen und Kunst-Wissen raushängen zu lassen und das ganze in eine dekonstruktive Konstellation zu bringen. Ist aber trotzdem lustig zu lesen und nicht uninteressant.

Demokratie und Medien – ein Interview mit Klaus Staeck

Ein sehr lesenswertes Interview mit Klaus Staeck gab es in der Samstagausgabe der „Berliner Zeitung“ vom 28/29 März: den Zusammenhang von Demokratie und Medien betreffend. (Jene, die vehement den Verfall von Werten beklagen, haben – in einer perversen Dialektik – genau dieses Privatfernsehen eingeführt und favorisiert und damit nicht nur den Verfall befördert, sondern  zugleich (wissend) dem aboluten Verdruß an Demokratie die Tür geöffnet, der dann regelmäßig den Sonntagsreden beklagt wird. (Ja, Sie wissen dies alles bereits; ich weiß; aber man kann es nicht oft genug wiederholen.) Es wird sich für Scheinthemen mehr interessiert, als für die Dinge welche momentan in dieser Welt geschehen:

„Wir haben politisch derzeit eine hochgefährliche Lage. Ich kann die Dinge nicht losgelöst von der allgemeinen Situation sehen: Wie muss es bei den Leuten ankommen, dass jetzt genau die Banken mit Milliarden subventioniert werden, die das Desaster angerichtet haben. Diese Vertrauenskrise trifft unvorbereitet auf eine völlig entpolitisierte Bevölkerung. Alles Politische wurde uns doch systematisch abtrainiert. Ich frage mich, wer stößt in diese Lücke? Denken Sie an die Kassiererin, die wegen Pfandbons von 1,30 Euro ihren Job verlor, während Leute, die Schäden in Milliardenhöhe angerichtet haben, die Frechheit besitzen, ihre Boni einzuklagen. Eine Gesellschaft, die das für ,normal‘ hält, ist völlig aus den Fugen geraten. Die Privatsender tun nichts dafür, um wieder Maßstäbe zu setzen. Das läge aber in ihrer Verantwortung. Für mich ist das Mediengeschäft immer noch etwas anderes, als Klamotten zu verkaufen.“ (Klaus Staeck, Berliner Zeitung 28/29.3.09)

Vielleicht ist von dem Adornoschen Diktum, daß engagierte (politische) Kunst in die Irre geht und , doch ein wenig zurückzunehmen, weil wir es mittlerweile mit einer fast vollständig unpolitischen bzw. depolitisierten Bevölkerung/Öffentlichkeit zu tun haben.

 Andererseits krankt engagierte Kunst an sich selber und ist bereits angefressen vom Bestehenden: „ Sein (Sartres) Ideentheater sabotiert, wofür er die Kategorien erdachte. Das aber ist keine individuelle Unzulänglichkeit seiner Stücke. (Und hier muß man hinzufügen. Dies gilt teils auch für die von Brecht, Anm.  v. Bersarin) Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.“

Zudem noch ein Hinweis in eigener Sache: Es folgt in diesem Blog heute oder morgen eine mehrteilige Buchsprechung von Harald Welzers „Klimakriege“

Eine Glosse, Aric Sigman und der medizinische Blick

 In der Berliner Zeitung vom 27.2.: eine einerseits sehr gute, spaßige Glosse von Harald Jähner, den Zusammenhang von Geselligkeit und Einsamkeit sowie die neuen Medien betreffend. Andererseits geht sie an Aric Sigmans Einwand vorbei, und sie ist  polemisch abgefaßt, was aber das Wesen einer Glosse sein darf und manchmal auch sein muß. Die Einschätzung Aric Sigmans, daß virtuelles Leben im „social networking“ nicht nur einsam, sondern auch krank macht, muß insofern separat dazu gelesen werden, um sich ein angemessenes Bild machen zu können.

Dieses Plädoyer Jähners für die (zeitweise) Einsamkeit gilt jedoch – etwas Nietzscheanisch (1) beiseite gesprochen – nur für die Wenigen, sollte der Befund von Sigman zutreffen. Da sich aber zu jeder Stimme eine Gegenstimme erheben wird und dort mit anderen medizinischen Fakten, Details und Untersuchungsergebnissen das Gegenteil des gerade Ausgesagten beweisen wird, so kann es hier durchaus bedeutsam sein, den Blick vom Streit der Meinungen und von den sich widersprechenden, widerstreitenden Fakten einmal abzuheben und auf etwas ganz anderes zu richten.

Es sollte der Blick auf die Bedingungen gerichtet werden, die es überhaupt erst ermöglichen, gesellschaftliche Praktiken mit dem medizinischen Feld zu koppeln. Es müßte also untersucht werden, auf welche Weise ein Diskurs strukturiert ist, der es ermöglicht, gesellschaftliche Phänomene in den medizinischen Blick zu überführen. Was sind die Bedingungen, unter denen er entstehen kann? (Ja, Foucault, ganz genau und richtig entschlüsselt.) Warum schließen wir soziale Phänomene wie den Umgang mit dem Internet mit medizinischen Kategorien zusammen?

Verhält es sich doch, mit dem 19. Jahrhundert beginnend, zunächst einmal so, daß mit dem Aufkommen von neuen Medien und neuen Techniken sowie ihrer größer werdenden Verbreitung und sozialen Relevanz vermehrt kritische Stimmen auftauchen; immer wieder werden soziale Praktiken an die Medizin angeschlossen: von der individuellen Regung, im Feld des Körpers, hinsichtlich der Onanie, die zu Schwachsinn und dergleichen führe, oder um nur ein Beispiel von vielen in bezug auf Entwicklungen der (industriellen) Technik zu nennen: So bei der Eisenbahn, mit der es die in der menschlichen Geschichte noch niemals dagewesene Möglichkeit gab, die räumliche Distanz in sehr kurzer Zeit vermittels einer Maschine zu überwindenden. Es ist dieser Moment die Stunde der (gesteigerten) Geschwindigkeit in der menschlichen Fortbewegung (2). Mit dem Aufkommen dieser neuer Transportmöglichkeiten gab es zugleich Untersuchungen, die diese Beschleunigung des Körpers als etwas Unverhältnismäßiges und damit Krankmachendes auswiesen. Und auch heute wird die Sucht nach Entfernung und Reisen in fernste Regionen, die wir unter normalen Umständen eigentlich nie zu Gesicht bekommen würden, unter Gesichtspunkten der Psychologie, aber auch der Medizin betrachtet.

(Wie fasziniert und befremdet zugleich man seinerzeit von dieser Beschleunigung war, läßt sich vielleicht exemplarisch an dem Bild „Regen, Dampf, Geschwindigkeit“ von William Turner zeigen. Dazu auch der Aufsatz von Monika Wagner, „ Wirklichkeitserfahrung und Bilderfahrung“, in: „Moderne Kunst 1“, Reinbek b. Hamburg, 1991, die Eisenbahn als Medium eines neuen, anderen Sehens der Landschaft. Aber auch die Bilder der Romantik verarbeiten diese Erfahrung, so etwa bei Carl Blechen, wo Objekte der frühen Industrialisierung mit einer lieblichen Landschaft korrespondieren. Vom vielfältigen Ausdruck der Industrialisierung in der Literatur ganz zu schweigen, angefangen bei Goethes Faust II.)

Es wurde hier etwas abgewichen, ein Umweg gegangen, von einer Glosse, die von der Einsamkeit als Refugium und als Bedingung von Kultur handelte, hin zur Koppelung von sozialer Praxis und medizinischem Blick. Schließen wir also mit einem Zitat Jähners und begeben uns heute am Samstag ein wenig noch hinaus unter Menschen:

„Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft geht einher mit dem Anwachsen von Einsamkeit. Sie fördert die Sehnsucht und Fantasie, die Brief- und Schreibkultur, die Malerei, die Begabung, sich auszudrücken. So gerüstet, kann man unter die Menschen gehen.“

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(1) Man muß hier und in solchen Zusammenhängen mit Nietzsche allerdings sehr vorsichtig sein, denn schnell werden aus den Wenigen auch die Auserlesenen, die Elite und was dergleichen Geschwafel mehr zu hören ist im Umfeld  des Neonietzscheanismus. Diese Konnotation möchte ich hier jedoch vermeiden.

 (2) Die Steigerung von Geschwindigkeit und das Begehren nach Geschwindigkeit sind natürlich nicht neu. So war diese Erhöhung von Geschwindigkeit bereits hinsichtlich der Kriegstechnologien in der Signalübertragung (man denke an die optischen Telegrafen aus der Napoleonischen Zeit) oder bei der Übermittlung von Nachrichten in der Antike bedeutsam. Daß es diese Steigerung der Geschwindigkeit in Ansätzen also bereits lange vorher gab, widerspricht dem oben ausgeführten aber nicht, da durch das Aufkommen der Dampfmaschinen (und die Eisenbahn ist eine Form derselben) eine völlig neue Qualität der Geschwindigkeit erreicht wurde. Die Steigerung von Quantität führt insofern zu einer vollkommen neuen Qualität, die, so könnte man fast mit Heidegger sprechen, eine planetarische Umwälzung verursachte. Im Zusammenhang mit einer Geschichte der Geschwindigkeit sei noch auf den amerikanischen Pony Express verwiesen, der innerhalb kürzester Zeit Postsendungen durch die USA beförderte und trotz seiner Kurzlebigkeit von 1860 bis 1861 zu einer Legende wurde.