Im Reigen der Abschweifungen oder worin Habermas falsch liegt. Ein Plädoyer für Realismus

Einmal wieder, wie bereits nach dem ersten Friedensaufruf im März 2022, hat Jürgen Habermas einen Essay, einen langen zudem, über eine zentrale Frage geschrieben: „Wie einen Krieg beenden?“ Und vor allem: „Wie geschieht dies auf eine effektive Weise, ohne daß Europa in einen Weltkrieg driftet?“ Daß diese Frage in der gegenwärtigen Situation und im Blick auf Putin jedoch von Habermas kurz zu beantworten ist, sei vorweggestellt und wer sich lange Wege sparen will, der lese die letzten vier Sätze dieser Kritik. Ich mache mir aber dennoch die Mühe, auf einige Aspekte von Habermas im Detail einzugehen. Er schreibt im Blick auf die Präliminarien:

„Auch aus Kreisen der SPD hörte man nun, dass es keine „roten Linien“ gebe. Bis auf den Bundeskanzler und dessen Umgebung nehmen sich Regierung, Parteien und Presse beinahe geschlossen die beschwörenden Worte des litauischen Außenministers zu Herzen: „Wir müssen die Angst davor überwinden, Russland besiegen zu wollen.“ Aus der unbestimmten Perspektive eines „Sieges“, der alles Mögliche heißen kann, soll sich jede weitere Diskussion über das Ziel unseres militärischen Beistandes – und über den Weg dahin – erledigen. So scheint der Prozess der Aufrüstung eine eigene Dynamik anzunehmen, zwar angestoßen durch das nur zu verständliche Drängen der ukrainischen Regierung, aber bei uns angetrieben durch den bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung, in der das Zögern und die Reflexion der Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht zu Worte kommen.“

Zunächst einmal heißt „Sieg“ nicht alles mögliche, sondern ganz primär geht es dabei um den Abzug der Russen aus den am 24.2.2022 überfallenen Gebieten. Dies ist die primäre Forderung der Ukraine, dies ist die primäre Forderung des Westens und vieler anderer Länder. Habermas spitzt hier eine Auslegung zu bzw. biegt sie um. Rote Linien heißt im Kontext von Hilfeleistungen des Westens: rote Linien im Blick auf Waffenlieferungen; diese rote Linie aber hinsichtlich der Waffen kann es nicht geben, weil prinzipiell alle konventionellen Waffen tauglich sind, die Ukraine in ihrer Verteidigung zu unterstützen. Und alle politischen Akteure betonen immer wieder, daß die NATO in keinem Fall Teilnehmer in einem Krieg sein dürfe. Diesen Wunsch hat auch die Ukraine respektiert: es kommen von ihr keine Forderungen, daß auch NATO-Truppen zum Einsatz kommen sollten. Insofern besteht keinerlei Gefahr, daß die NATO oder Staaten der NATO aktiv in diesen Krieg eingreifen.

„Rußland besiegen zu wollen“ heißt, wie gesagt, zunächst einmal, daß Rußland aus der Ukraine sich zurückzieht. Kein Mensch jedoch spricht von einem Einmarsch in Moskau. Sehr wohl aber muß es legitim sein, darüber nachzudenken, wie es mit Putin weitergeht und was möglicherweise nach Putin kommt – solches Durchspielen  von  möglichen Szenarien ist Bestandteil einer jeden vorausdenkenden (Geo)Politik.

Was diese Passage ebenfalls problematisch macht, ist der Umstand, daß sich Habermas hier gleichzeitig ins Fahrwasser einer unkritischen Äquidistanz manövriert: der „Prozess der Aufrüstung“ ist einzig und allein durch den russischen Angriff auf die Ukraine motiviert und durch nichts anderes. Die „Dynamik“ liegt in den immer neuen Angriffswellen Rußlands und im grausamen Beschuß von Zivilisten – von dem, was Rußland in den besetzten Gebieten anstellt, ganz zu schweigen. Und das Recht auf die Selbstverteidigung der Ukraine zu stärken, mit Worten und mit Waffen, hat nichts zu tun mit einem „bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“: bellizistisch sind jene, die einen brutalen Angriffskrieg gegen ein souveränes Land führen und nicht jene, die für eine Verteidigung plädieren, die im Falle eines Krieges nun einmal nur mit Waffen und nicht mit Worten geleistet werden kann.

Weiter schreibt Habermas im Blick auf nachdenklichen Stimmen:

„Wenn ich mich diesen Stimmen anschließe, dann gerade weil der Satz richtig ist: Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren!“

Die Ukraine gewinnt jedoch diesen Krieg nicht mit Worten. Insofern ist dieser Satz ein leeres Mantra und muß abstrakt bleiben. Vielleicht aber sollten wir in unseren Medien und in unseren öffentlichen Diskursen die Ukrainer und die Mitteleuropäer selbst vielmehr zu Wort kommen lassen, um zu hören, was sie brauchen, damit sie sich gegen Rußland behaupten können. Das wäre zielführender. Wie im übrigen die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren kann, beantwortet Habermas in seinem ganzen Essay mit nicht einem einzigen Wort. Darauf gehe ich noch weiter ein. Habermas führt in einer Kaskade von Ableitungen eine Menge an Unterscheidungen und Fragen ein, die jedoch im Reigen der Abschweifungen den zentralen Aspekt nicht nur aus den Augen verliert, sondern er unterschlägt vor allem den für die Ukrainer wesentlichen Aspekt, wie man die Russen aus der Ukraine verdrängen kann, und schiebt diese Fragen auf die Seite – läßt sie, um es zuzuspitzen, hinter einem Diskursnebel verschwinden. Habermas thematisiert teils berechtigte und auch politisch interessante Aspekte wie jene Fragen zum Völkerrecht und den Lehren, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen haben – die nur alle nichts dazu uns sagen können, wie wir Putin an den Verhandlungstisch bekommen können. Es sind Abschweifungen, die in der Sache nur bedingt dienlich sind. Und  es sind in diesem Sinne leider nur Nebeltöpfe.

Habermas bringt in seinem Essay unterschiedliche Aspekte zusammen. Das eine ist die Frage nach einer neuen Friedensordnung, die zunächst in einer mehr oder weniger fernen Zukunft liegt. Nur haben diese Überlegungen etwas von einem Glasperlenspiel, das schön anzusehen ist und fein klingt, aber das Flirren und Klingen macht eben noch keinen Frieden und vor allem sagt uns Habermas nicht, wie er sich diesen Weg dorthin vorstellt bzw. wie er politisch zu bewerkstelligen ist: der Kommunikationstheoretiker ist in dieser zentralen Frage erstaunlich unkommunikativ und verschwiegen. Mit diesem Schweigen  hängt ein weiterer Aspekt zusammen, der von Habermas ebenfalls nicht ausreichend zum Thema gemacht wird, nämlich auf welche Weise der Westen die Ukraine auf eine effektive Weise unterstützen kann, ohne daß es dabei zu einem Weltkrieg kommt und zugleich ohne dabei Putins Spiel der Erpressung mit einem solchen Weltkrieg mitzuspielen. Das Plädoyer fürs Verhandeln bleibt bei Habermas im luftleeren Raum.

Die Lage des Westens wird bei Habermas allerdings hinsichtlich innen- wie außenpolitischer Fragen der Regulierung thematisch:

„Der Westen hat eigene legitime Interessen und eigene Verpflichtungen. So operieren die westlichen Regierungen in einem weiteren geopolitischen Umkreis und müssen andere Interessen berücksichtigen als die Ukraine in diesem Krieg; sie haben rechtliche Verpflichtungen gegenüber den Sicherheitsbedürfnissen der eigenen Bürger und tragen auch, ganz unabhängig von den Einstellungen der ukrainischen Bevölkerung, eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; daher können sie auch die Verantwortung für die brutalen Folgen einer nur dank ihrer militärischen Unterstützung möglichen Verlängerung des Kampfgeschehens nicht auf die ukrainische Regierung abwälzen. Dass der Westen wichtige Entscheidungen selber treffen und verantworten muss, zeigt sich auch an jener Situation, die er am meisten fürchten muss – nämlich die erwähnte Situation, in der ihn eine Überlegenheit der russischen Streitkräfte vor die Alternative stellen würde, entweder einzuknicken oder zur Kriegspartei zu werden.“

Damit liefert Habermas allerdings gute Argumente, warum der Westen seine Waffenlieferungen unbedingt forcieren muß, und zwar bevor verhandelt wird. Denn insbesondere, weil in demokratischen Staaten die Stimmung sich ändern kann, ist es wichtig, daß in diesem russischen Angriffskrieg möglichst schnell militärische Resultate erzielt werden, um Rußland derart zu schwächen, daß es sich zu Verhandlungen gezwungen sieht. Leider aber gerät Habermas auch in dieser Passage wieder in jene Haltung der unkritischen Äquidistanz: „eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; …“ ist ein seltsamer Satz: Wenn Waffen aus dem Westen, wie im Juli 2022 durch die Lieferung von HIMARS geschehen, dazu dienen, daß der Beschuß von ukrainischen Zivilisten massiv zurückging, weil durch diese Waffen die Artillierie- und Raketenstellungen der russischen Aggressoren ausgeschaltet wurden, dann ist die Lieferung solcher Waffen naürlich sinnvoll. Das sollte auch Habermas wissen. Und da, wo Habermas zuvor noch zwischen Angreifern und Opfern differenziert hat, sind plötzlich auch jene, die dem Opfer des russischen Überfalls, nämlich der Ukraine, beistehen, auf der Seite von Tätern? Eine seltsame Logik. Doch selbst wenn die Ukraine auch russisches Territorium beschießt und Artillerie- und Raketenstellungen dort mit Waffen langer Reichweite vernichtet, so liegt der Grund nicht darin, daß die Ukraine Rußland angreift, sondern in dem banalen Faktum, daß Rußland am 24.2.2023 die Ukraine überfallen hat. Gegenwehr bei einem Angriffskrieg ist vom Völkerrecht gedeckt.

Wenn Habermas davon spricht „Fatal ist, dass der Unterschied zwischen ‚nicht verlieren‘ und ‚siegen‘ nicht begrifflich geklärt ist“, so trifft das noch viel mehr auf die begriffliche Klärung von „verhandeln“ zu. Verhandeln setzt nämlich zunächst einmal voraus, daß mindestens zwei Akteure bereit sind das zu tun – und bei einem Angriffskrieg ist es unabdingbar, daß vor allem der Aggressor überhaupt bereit ist zu verhandeln. Ist dies nicht der Fall, dann ist jedes Differenzieren und jegliches Ausbuchstabieren von Begriffen am Ende sinnlos. Der Beweis vermeintlich überragender Analysequalitäten gerät nämlich schnell am kruden Faktum zunichte und wird zu jenem oben genannten selbstzweckhaften Gespinst. Vor allem wenn sich zeigt, daß da mit falschen Mitteln die falsche Sache analyisiert wird.

Wenn wir schon analysieren, dann sollten wir dabei auch auf die einzelnen Schritte achten, und zwar im Sinne einer zeitlichen Reihenfolge – nicht nur im Blick auf „verhandeln“. Zunächst einmal heißt „nicht verlieren“, daß die Ukraine nicht kapitulieren muß. Und was ist dazu unabdingbar erforderlich? Worte? Nein. Waffen. Waffen. Und nochmals Waffen. Und gut ausgebildete Soldaten, die in der Lage sind, Verteidigungsoperationen und komplexe Verbundangriffe auszuführen. Und bei genügend Waffen werden vielleicht auch die Worte Wirkung entfalten. Primär heißt „nicht verlieren“ also, daß die Ukraine nicht noch weitere Gebiete verliert, indem sie damit gezwungen sein wird, einen Diktatfrieden anzunehmen, einen „Frieden“, der von Rußland aufgezwungen ist, und der, auch diesem Aspekt widmet Habermas leider zu wenig Aufmerksamkeit, nur weitere und neue Kriege erzeugen wird, aber keine bleibende Friedensordnung. Denn weder die Ukraine noch der Westen werden akzeptieren, daß Cherson und Charkiw unter russischer Besatzung stehen und es wird also in diesen Regionen ein auf Dauer gestellter Bürgerkrieg stattfinden. Diesen Überlegungen widmet Habermas keinerlei Beachtung. Und auch nicht den Überlegungen, was es für die Sicherheitsordnung Europas konkret bedeutet,  wenn die Ukraine verliert. Er schreibt zwar, die Ukraine dürfe nicht verlieren. Wie sie das aber bewerkstelligt, läßt Habermas seltsam in der Schwebe. Denn er hat ja sein  Mantra „Verhandeln“, das er als ungedeckte Voraussetzung und damit als leere Spielmarke immer wieder einwirft.

Der Zeitfaktor, wie Habermas schreibt, spielt in der Tat eine große Rolle: dieser Faktor aber ist gerade ein Argument dafür, daß in Europa schon viel früher die Maschinen hätten angeworfen werden müssen, um Ausrüstung, Munition und Waffen zu produzieren, daß schon viel früher Patriot, HIMARS, Iris2, Leoparden und Marder geliefert werden und die Soldaten an diesen Geräten hätten ausgebildet werden müsse – wobei ich bei letzterem davon ausgehen, daß die Briten und die Amerikaner dafür schon gesorgt haben.

Thema wird bei Habermas aber auch die entsetzliche Gewalt des Krieges selbst.

„In dem Maße, wie sich die Opfer und Zerstörungen des Krieges als solche aufdrängen, tritt die andere Seite des Krieges in den Vordergrund – er ist dann nicht nur Mittel der Verteidigung gegen einen skrupellosen Angreifer; im Verlaufe selbst wird das Kriegsgeschehen als die zermalmende Gewalt erfahren, die so schnell wie möglich aufhören sollte. Und je mehr sich die Gewichte vom einen zum anderen Aspekt verschieben, umso deutlicher drängt sich dieses Nichtseinsollen des Krieges auf.“

Sollen und wollen: Habermasʼ Beobachtungen zum Krieg als entsetzliche Gewalt mögen richtig sein, aber sie sind nicht besonders originell und neu, und man kann in einem konkreten Krieg diese Überlegungen nicht unabhängig von Opfern und Tätern anstellen – dazu muß man nicht einmal Hitler und den Zweiten Weltkrieg bemühen, obwohl her Analogien naheliegend sind, was den destruktiven Charakter Putins wie auch Hitlers betrifft. Hinzu kommt, daß ein abstraktes Sollen oder in diesem Falle ein Nichtseinsollen leer und unbezüglich bleiben müssen, wenn, wie hier auf einen konkreten Fall bezogen, nicht wenigstens im Ansatz Vorschläge zur Lösung ausgebreitet und angeboten werden. Das freilich macht Habermas nicht mit einem Wort. Es bleiben bloße Proklamationen. Nun ist es zwar so, daß ein Intellektueller nicht bis ins letzte ausgefeilte praktische Pläne liefern muß. Aber er sollte, gerade wenn er, wie Habermas, viele Gebiete durchdringt und analysiert, auch in diesen Gefilden seine Analyse tätigen. Gerade auch wenn es ums Bestimmen von Prinzipien geht.

Ein Prinzip einzuführen, daß kein Krieg sein soll, ist eine gute Sache und man kann dieses Prinzip auch gut begründen. Aber ein Prinzip, das in der Wirklichkeit nicht zur Geltung gelangt, muß zugleich problematisch bleiben, wenn wir an Menschen wie Putin geraten, die keinesfalls gewillt sind, sich an dieses Prinzip zu halten. Ich will an dieser Stelle keine Debatte über Prinzipien und ihre Umsetzung sowie den Streit zwischen Kant, Fichte, Hegel und ihrer Anhänger in die Waagschale werfen und auch nicht debattieren, ob es ausreicht, ein Prinzip angemessen zu begründen. Wenn es jedoch, das ist meine Sichtweise, in der sozialen und gelebten Wirklichkeit keine Anwendung finden kann, dann müssen aus dieser sozialen Wirklichkeit heraus Mittel geschöpft und Möglichkeiten geschaffen werden, diesem Prinzip in irgend einer Weise Geltung zu verschaffen, sofern es ein logisch richtiges Prinzip ist. Im Falle des russischen Angriffs etwa hat eine supranationale Organisation wie die UNO kläglich versagt. Sie kann Beschlüsse fassen. Sie kann es aber genauso auch sein lassen. Die Auswirkungen für die Menschen in der Ukraine sind die gleichen. Wie also vorgehen?

„Demgegenüber hätte das erklärte Ziel der Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022 den späteren Weg zu Verhandlungen erleichtert. Aber beide Seiten wollten sich gegenseitig dadurch entmutigen, dass sie weitgesteckte und anscheinend unverrückbare Pflöcke einschlagen. Das sind keine vielversprechenden Voraussetzungen, aber auch keine aussichtslosen. Denn abgesehen von den Menschenleben, die der Krieg mit jedem weiteren Tag fordert, steigen die Kosten an materiellen Ressourcen, die nicht in beliebigem Umfang ersetzt werden können. Und für die Regierung Biden tickt die Uhr.“

Auch hier wieder finden wir bei Habermas jene Äquidistanz. Es sind in diesem Krieg nicht beide Seiten irgendwie gleich und beide Seiten führen gleichberechtigte Interessen an. Das Interesse der Ukraine nach territorialer Unversehrtheit und nach sofortigem Abzug der russischen Truppen von den am 24.2.2022 überfallenen Gebieten ist primordial und vor allem ist es vom Völkerrecht  gedeckt, wenn wir uns in rechtsphilosophischen Gefildenbewegen. Bei dieser Forderung geht es nicht um „unverrückbare Pflöcke einschlagen“, sondern um die Existenz eines souveränen Staates. Insofern sei hier noch einmal darauf verwiesen, daß die Ukraine am 29. März 2022 weitreichende Zugeständnisse und Verhandlungen mit Rußland angeboten hat, um überhaupt einen Waffenstillstand zu erreichen und die Ukraine war sogar bereit „auf weite Teile ihrer Souveränität zu verzichten“, wie es auf der Seite „Ungesunder Menschenverstand“ heißt. Dieser Vorschlag firmiert unter dem Titel „Istanbuler Kommuniqué“ und ist recherchierbar und nachzulesen. Rußland hat diesen Vorschlag einen Tag später zurückgewiesen. Und weiter heißt es bei „Ungesunder Menschenversand“:

„Wer Verhandlungen fordert, soll deutlich sagen, was er bereit wäre Russland anzubieten. Und er täte gut daran, sich die abgelehnten Vorschläge vorher durchzulesen.“

Am Ende läuft es bei Habermas auf Konjunktive hinaus. Hätte, müßte, wäre, sollte:

„Schon dieser Gedanke müsste uns nahelegen, auf energische Versuche zu drängen, Verhandlungen zu beginnen und nach einer Kompromisslösung zu suchen, die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert und doch ihr Gesicht zu wahren erlaubt.“

 Ja, das wird auch Olaf Scholz immer wieder und wieder mit seinen Telefonaten versucht haben. Der Effekt war gleich null. Putin hat Scholz deutlich zu verstehen gegeben, worum es ihm geht. Diese Aussagen von Habermas sind sehr freundlich gedacht – ich fürchte aber, daß all das Putin nicht interessieren wird. Und ich denke, daß dies auch all jene Experten sagen, die sich hinreichend mit Putin beschäftigt haben und die Putins politische Reaktionen einschätzen können. Putin geht es um die Niederwerfung der Ukraine. All das, all seine Ziele hat Putin deutlich und klar und vernehmbar immer wieder formuliert. Der zwanglose Zwang des besseren Arguments funktioniert jedoch leider nicht bei Leuten, die es nicht darauf anlegen, zu argumentieren, sondern wie Putin, eine Agenda durchzuziehen, die wesentlich durch Erpressung und Gewalt getragen ist.

Sicherlich wäre es wünschenswert, wenn Putin sich an den Verhandlungstisch setzte. Aber er tut es nicht. Er weiß, daß die Zeit für ihn spielt, wenn der Westen nicht weiterhin die Ukraine massiv unterstützt. Und je mehr die Zeit für ihn spielt, weil der Westen ermüdet, desto fetter seine Beute. Um also, und damit drehen wir uns wieder im Kreis, Putin zu Verhandlungen zu bringen, muß man Druck auf Putin ausüben. Ich kann nur jedem raten sich diese heute von mir verlinkte Dokumentation „Gazprom – Die perfekte Waffe“ https://www.arte.tv/de/videos/108467-000-A/gazprom-die-perfekte-waffe/?  anzusehen. Wir finden dort Einblicke in Putins Welt, in Putins Denken, die jede Hoffnung auf Verhandlungen zunichte machen. Putin ist ein KGB-Gewächs, was seine  Methoden betrifft. Putin verfolgt eine Agenda und diese Agenda ist die Zerschlagung der Ukraine als souveräner und aus sich selbst heraus existierender demokratischer Staat. Putin sammelt an den Grenzen Rußlands eine Anzahl an Satelitenstaaten, wie bereits bei Weißrußland und Tschetschenien. Und Putin hat andere Staaten wie Georgien und Moldau bereits lange schon im Blick. Mit diesem Wissen im Kopf und mit diesen Fakten gerüstet, die sich in zahlreichen Büchern über Putin nachlesen lassen, wird man keine großen Hoffnungen hegen, daß Putin morgen an den Verhandlungstisch sich setzen wird.

Ich kann den Wunsch nach Frieden gut verstehen, den haben viele Leute, aber man muß  bei Politikern wie Putin ein hohes Maß an Realismus sich bewahren.

Es gibt für Habermasʼ Ausführungen im Blick auf Friedensverhandlungen eine Redewendung, die, wenn Habermas sie in Anschlag gebracht hätte, seinen Text erheblich kürzer hätte ausfallen lassen – und meinen dann auch. Sie lautet: Er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und der Wirt ist in diesem Falle Putin. Witze zu Putins Koch seien den Lesern erspart.

 

Von Petitionen, offenen Briefen und was das mit Gazprom zu tun hat

Nehmen wir einmal an, Europa stellte die Waffenlieferungen an die Ukraine ein und die Ukraine müßte mit dem auskommen, was sie hat. Glaubt irgendjemand dann ersthaft, daß gerade und genau dann ein Typ wie Putin plötzlich sagen würde: „Jetzt verhandeln wir auf Augenhöhe. Ich ziehe mich aus den besetzen Gebieten zurück und wir klären unsere offenen Fragen!“?

Denn genau diese Annahme steckt hinter dem Aufruf von Wagenknecht und Schwarzer. Wer jedoch solches annimmt, der hat sich niemals mit Putin und mit Rußland beschäftigt. Und das bedeutet: man ist im besten Falle naiv und im schlimmeren Falle dumm: „Im engeren Sinne bezeichnet Dummheit die mangelhafte Fähigkeit, aus Wahrnehmungen angemessene Schlüsse zu ziehen beziehungsweise zu lernen. Dieser Mangel beruhe teils auf Unkenntnis von Tatsachen, die zur Bildung eines Urteils erforderlich sind, teils auf mangelhafter Intelligenz oder Schulung des Geistes oder auf einer gewissen Trägheit und Schwerfälligkeit im Auffassungsvermögen beziehungsweise der Langsamkeit bei der Kombination der zur Verfügung stehenden Fakten (siehe Urteilsvermögen).“ (wikipedia)

Und wenn es nicht Dummheit oder Naivität sind, die Menschen bewegt, diese widerwärtige Petition zu verfassen und sie zu unterschreiben, dann ist es Bösartigkeit und kalter Zynismus: „Soll die Ukraine zusehen, wie sie klarkommt. Die waren doch schon immer korrupt!“ Ein Narrativ übrigens, das Putin seit Jahrzehnten hier in Europa zu verstärken half. Und das macht eben das Gefährliche an Leuten wie Putin aus: andocken an einen Aspekt, der teils nicht ganz von der Hand zu weisen ist, ohne dabei aber über die eigene Korruption je zu sprechen. Anders als Rußland ist die Ukraine nämlich immer noch eine Demokratie und die Menschen dort haben sich zunehmend gegen Putins Einflußnahme gewehrt: angefangen mit der Orangenen Revolution 2004 und dann mit den Freiheitsprotesten auf dem Maidan 2013 gegen Putins Einflußnahme auf die Politik der Ukraine. Wenige werden sich noch an die Gaskrisen in den Jahren um 2008 erinnern, als Rußland der Ukraine das Gas abdrehte und dreist log, daß die Ukrainer Gas rauben würden. Im Gegenzug zu dieser Gas-Erpressung – die Putin übrigens nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegenüber Weißrußland und Georgien anwandte – mußte die Ukraine Rußland Teile seiner Schwarzmeerflotte überlassen und später auch einen Pachtvertrag „unterschreiben“, so wie man eben bei der Mafia Verträge freiwillig unterschreibt, und zwar für den Hafen von Sewastopol, damit ihn die russische Kriegsmarine nutzen dürfe.

Eine sehenswerte Dokumentation, die implizit auch eine über Putins Gebaren ist, lief am 15.2.2023 auf Arte (Wiederholung am 24.2.): „Gazprom – Die perfekte Waffe„. Gas nämlich diente Putin als Waffe in einem seit Jahrzehnten vorbereiteten Hybridkrieg Rußlands gegen Europa. Im Jahr 1997 veröffentlichte Putin eine Disseration, darin es darum ging, daß Rohstoffe eine zentrale Grundlage für militärische Macht in Europa seien. Mit anderen Worten: Gas als Druckmittel, bereits 2008 gegen Georgien, davor gegen Weißrußland und später dann gegen die Ukraine. An jene Nachrichten von den abgedrehten Gasleitungen erinnere auch ich mich noch. Aber es ging alles das schnell wieder aus unserem Bewußtsein. Unsere ungeheure Naivität bzw. wir wollten es nicht sehen, wir wollten es nicht wahrhaben, was Putin im Schilde führte: gute Geschäfte waren wichtiger. Gerhard Schröder immer wieder als russischer Lobbyist. Die Energieversorung unter Merkel in der Hand eines ehemaligen Stasi-Mannes wie Matthias Warnig. Und ich muß sich auch selber fragen, warum ich alles das eigentlich nie richtig sehen wollte. Der Wunsch nach Ausgleich mit Rußland? Man hätte es wissen müssen und können.

Gazprom ist in diesem Sinne ein militärisches Unternehmen, daß dazu gedacht war, Abhängigkeiten zu erzeugen und Europa zu erpressen. Von Anfang an besetzte Putin es mit engsten Vertrauten. Eine perfide Form hybrider Kriegsführung, und nachdem ich mir diese Doku angesehen habe, muß ich sagen: Es ist Putin, als heimlicher Chef von Gazprom, auch gelungen. Fällig wäre ein Untersuchungsausschuß, der auch die Verstrickungen ranghoher Politiker aufarbeitet. Zu sagen, daß es nur jene SPD-Connections wären, ist gelogen und falsch. Die CDU war zu großen und größten Teilen, auch als wirtschaftsfreundliche Partei, an diesen Machenschaften mitbeteiligt. Vor Nord-Stream 2 haben lediglich Leute wie Norbert Röttgen gewarnt, der von Merkel kaltgestellt wurde.

Warum ich hier in diese Richtung abschweife? Wer sich diese Dokumentation über Gazprom, über Putins Erpressungen, nicht nur gegen die Ukraine angesehen hat, der wird sich nicht eine Sekunde mehr über Putins Charakter täuschen. Und er wird auch nicht mehr annnehmen, daß Putin den Krieg einstellt und verhandelt, wenn der Westen die Waffenlieferungen einstellt. Putin verfolgt konkrete Ziele und das unerbittlich. Eines dieser Ziele ist die Zerschlagung der Ukraine und ihrer territorialen Souveränität.

Die Seite „Ungesunder Menschenverstand“ formulierte es in einem Beitrag im Blick auf diese Petition wie folgt:

„Ich frage mich seit Tagen, warum die #Wagenknecht_und_Schwarzer Petition nicht über die Plattform des Petitionsausschusses des Bundestages läuft. Und wie man sicherstellt, dass dort nur deutsche Staatsbürger unterzeichnen.Oder wenigstens keiner aus St. Petersburg.“

Und es steht dort auch mein Mantra, das ich seit bald 12 Monaten sage:

„Seit einem Jahr hat mir noch keiner von jenen erklärt, wie es seiner Meinung nach konkret in der Ukraine weitergeht, wenn wir aufhören Waffen zu liefern. Keiner. Seit 354 Tagen.“

„… und die Welt ist eine kalte Welt“ – zum 125. Geburtstag von Bert Brecht

Bertolt Brecht, geboren in Augsburg, aus den schwarzen Wäldern, von der Mutter in die Städte hineingetragen: „Und die Kälte der Wälder//Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.“ Geflohen aus Umständen, die bekannt sind, 1933 ins Exil nach Dänemark und später dann als Kommunist bauernschlau in die erzkapitalistische USA emigriert – wohlweislich – und nicht in Stalins Sowjetunion, jenes Paradies der Werktätigen, das Brecht vermutlich nicht überlebt hätte. Die USA verlassend, in der DDR lebend, den Staat, den er mit aufbauen wollte und den er doch nicht mit aufbauen konnte. Es sind jene finsteren Zeiten, wie Brecht dichtete. Vom Ton der Utopie, die doch nicht ist:

Dabei wissen wir doch: 
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit 
verzerrt die Züge. 
Auch der Zorn über das Unrecht 
Macht die Stimme heiser. Ach, wir 
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit 
Konnten selber nicht freundlich sein. 

Ihr aber, wenn es so weit sein wird 
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist 
Gedenkt unserer 
Mit Nachsicht. 
[Aus: „An die Nachgeborenen“]

Denn es kamen die härteren Zeiten und die Regierung wählte sich besser ein neues Volk, so Brechts Vorschlag in „Die Lösung“:

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

Der politische Brecht, der kalte Brecht – jene Kälte der Jahre und des Habitus, wie sie der Germanist Helmut Lethen in seinem Buch „Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen“, in den 1990er Jahren des ironischen Zeitalters verfaßt, für jene Weimarer Jahre beschrieb. Der umtriebige Brecht, nicht nur in politischen Dingen. Und zugleich doch der Brecht der Liebesgedichte. Hart manchmal, wie jene wunderbare Poesie der Engel:

Über die Verführung von Engeln

Engel verführt man gar nicht oder schnell.
Verzieh ihn einfach in den Hauseingang
Steck ihm die Zunge in den Hals und lang
Ihm untern Rock, bis er sich nass macht, stell

Ihm das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock
Und fick ihn. Stöhnt er irgendwie beklommen
Dann halt ihn fest und lass ihn zweimal kommen
Sonst hat er dir am Ende einen Schock.

Ermahn ihn, dass er gut den Hintern schwenkt
Heiß ihn dir ruhig an die Hoden zu fassen
Sag ihm, er darf sich furchtlos fallen lassen
Dieweil er zwischen Erd und Himmel hängt –

Doch schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht
Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.

Ihr wollt ein Liebeslied? Es gibt kein Liebeslied. Nicht jetzt, nicht heute. Poetisiert Euch nicht, das ist Marketing für Buchverlage. Und glotzt nicht so romantisch, denn diese Romantik, die ihr meint, hat nichts mit Novalis‘ Fragmenten zu tun. Aber die Kampflieder gehen ebensowenig: Vorwärts und nicht vergessen. Unvergeßlich – nur eben: heute Geschichte und fürs Museum der Arbeit. Unbeweglichkeitsposen. Dem Morgenrot entgegen. Gute alte Zeit, „altes Linnen!“ (S. Beckett). „‚Dich behalte ich.‘ Er nähert das Taschentuch seinem Gesicht, bedeckt sein Gesicht mit dem Taschentuch, läßt die Hände auf die Armlehnen sinken und bewegt sich nicht mehr.“

Obwohl das Politische im Ästhetischen schon lange ins Belanglose gekippt ist, darin Gesinnungsgemeinschaften bedient werden, bleibt ein Stück wie Brechts „Die Maßnahme“ insofern interessant, weil es die Verheerungen des Stalinismus wie auch die Möglichkeiten der Propaganda zeigt, wenn man es in der Inszenierung zuspitzt. Jener Klassenkampf, der einst notwendig war, der in die Repression kippte und in den Terror. Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Die, die den Boden für Freundlichkeit bereiten wollten, konnten selbst nicht freundlich sein. Tücke der Geschichte. Vielleicht aber haben gegenüber dem unmittelbar Engagierten „Vorwärts -nieder“ solche Zeilen Bestand, die ins Grundsätzliche gehen, sozusagen historischer Ontologismus mit liquider Tendenz als Geschichtshoffnung

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Ich weiß es nicht. Ich glaube nur sehr bedingt ans Lehrgedicht und auch der Tag hat eben am Ende doch nur zwölf Stunden und im Winter deutlich weniger. Wirken solche politischen Parabeln heute noch? Und vor allem: bestehen sie in ihrer Konstruktion? Der politische Brecht ist genau in den Passagen gut, wo er den historischen Materialismus nicht bloß vulgär nimmt – Adorno hielt ihm dieses Simplifizieren des Komplexen vor; insbesondere in seiner Kritik an Benjamins Baudelaire-Text warnte er davor, das Basis-Überbau-Phänomen unidirektional einfach in jenem brechtschen Vulgärmaterialismus zu fassen. Denn der Weltgeist ist ein Trickser. Das eben ist die „List der Vernunft“. Brecht ist dort gut und wirkt ästhetisch, wo er im epischen Theater unsere Rezeptionsweisen befragt, wo er unsere Auffassungen erschüttert und die Art, wie wir Welt wahrnehmen, bei den Hörnern packt: Als Schock. Was freilich nicht bloß auf die Seite der Wirkung zu buchen ist, sondern zunächst als ästhetische Konstruktion und als Arbeit am Material im Text selbst auszuloten ist.

Alle jene Theater-Inszenierungen, bis heute hin, die postdramatisch die vierte Wand aufbrechen, – sei das als Publikumsbeschimpfung oder in anderen Varianten des Bezugs – sind insofern Ahnen von Brecht, als sie mit einer Verfremdung arbeiten, die den Zuschauer direkt anspricht, wenn nicht bepöbelt. Insbesondere ist Frank Castorf Brechts großer Erbe. Er allerdings brach diese Wand manchmal bloß durch ganz simple, aber geniale Effekte auf: der Einsatz von Kartoffelsalat genügte, und eine Rutschbühne mit Gleitgel reichte aus, was Zurufe aus dem Publikum provozierte. Oder unendlich gedehntes Sprechen, daß es die Zuschauer veranlasste, in den Saal zu rufen, wann dieses Zeitgeschiebe endlich aufhöre. So in Ibsens „Die Frau vom Meer“, in der Szene als Hauslehrer Arnholm (Herbert Fritsch) der Bolette (Kathrin Angerer) einen Heiratsantrag machte. Was in fünf Minuten gesagt und getan wäre, zog sich eine halbe Stunde. Im Publikum rief es: „Mach schneller!“, worauf Arnholm/Fritsch nur trocken entgegnete: „Jetzt habe ich meinen Text vergessen, jetzt muß ich nochmal von vorne anfangen!“

Wie aber geht solches (politische) Theater? Castorf ist da politisch, wo er politisch schweigt und die Zeit unendlich dehnt. Adornos Brecht-Kritik am „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“, wie er sie in den „Minima Moralia“ und auch in seinem Essay „Engagement“ formuliert, ist nicht ganz von der Hand zu weisen:

„Die politische Ökonomie jedoch, deren Darstellung sie sich statt dessen zur Aufgabe setzt, ist unverändert im Prinzip, doch in jedem ihrer Momente so differenziert und fortgeschritten, daß sie der schematischen Parabel sich entzieht. Vorgänge innerhalb der großen Industrie als solche zwischen gaunerhaften Gemüsehändlern zu präsentieren, reicht eben aus für den schnell verbrauchten Schock, nicht aber für die dialektische Dramatik. Die Illustration des späten Kapitalismus durch Bilder aus dem agraren oder kriminalistischen Vorstellungsschatz läßt nicht das Unwesen der heutigen Gesellschaft aus seiner Vermummung durch komplizierte Phänomene rein hervortreten. Sondern die Unbesorgtheit um die Phänomene, die selber aus dem Wesen zu entfalten wären, entstellt das Wesen. Sie interpretiert die Machtübernahme durch die Größten harmlos als Machination von Rackets außerhalb der Gesellschaft, nicht als das Zusichselbstkommen der Gesellschaft an sich. Die Undarstellbarkeit des Faschismus aber rührt daher, daß es in ihm so wenig wie in seiner Betrachtung Freiheit des Subjekts mehr gibt. Vollendete Unfreiheit läßt sich erkennen, nicht darstellen. Wo in politischen Erzählungen heute Freiheit als Motiv vorkommt, wie beim Lob heroischen Widerstands, hat es das Beschämende der ohnmächtigen Versicherung. Der Ausgang wirkt allemal als durch die große Politik vorgezeichnet, und Freiheit selber tritt ideologisch, als Rede über Freiheit, mit stereotypen Deklamationen, nicht in menschlich kommensurablen Handlungen hervor. Kunst läßt nach der Auslöschung des Subjekts am wenigsten durch dessen Ausstopfung sich retten, und das Objekt, das heute ihrer allein würdig wäre, das reine Unmenschliche, entzieht sich ihr zugleich durch Unmaß und Unmenschlichkeit.“ (Adorno, Minima Moralia, Staatsaktion.)

Brecht scheitert an solchen Stellen, wenn man den Maßstab Adornos anlegt und in der Kategorie Beckett denkt. Ähnliches bei „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“: Tendenztexte, die man allenfalls aus ihrer Zeit heraus verstehen kann, die Kämpfe jener Jahre, und was bei mir unter die Rubrik „Parolenkunst“ fällt. Andererseits hängen Theatertexte immer an ihren Inszenierungen. Doch selbst in der genialen Ui-Inszenierung von Heiner Müller, 1995 am Berliner Ensemble, bleibt es bei dem, was Adorno den Effekt, den schnell verbrauchten  Schock nennt – hier nur eben in Humor transformiert: die Weltgeschichte als Komödie. Martin Wuttke spielt diesen Arturo Ui genial-komisch und übertragen auf die Diktatoren dieser Welt liefert das Stück auch heute noch eine Anschauung. Doch aus dem Abstand der Zeit löst sich das geschichtsphilosophische Drama in Geschichte und Komik auf – einer Geschichte, der das historische Subjekt abhanden kam. Für das freilich, was wir den autonomen Kern des Kunstwerkes nennen, für das Gesetz seines Gemachtseins richtete dieses Engagement samt politischer Parole Schaden an. Das reicht bis heute, wo es im identitären Theater agitpropt.

Doch Brecht schrieb auch solche Zeilen, die ironisch und doch ganz unironisch ins Mark treffen: „Vom armen B.B.“, für uns Großstadtbewohner, im harten Ich-Ton, und wie das Gewirr und die Annehmlichkeiten der Großstadt mit der Kühle der Modernen nachhallen und jener Ich-Distanz. Birth of the cool:

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein
Als ich in ihrem Leib lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang
Versehen mit jedem Sterbsakrament:
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.
Mißtrauisch und faul und zufrieden am End.

Solche Brecht-Texte funktionieren. Und zwar weil sie das Subjektive, gleichsam eine Befindlichkeit, in ein Allgemeines aufheben und in eine Geschichte bringen. Jenes Ich, das das des Dichters ist, in der Vergänglichkeit der Städte und der Menschen, diesem Sound nachspürend.

Beim politischen Brecht freilich ist dieses Besondere der Dichtung vor allem in der gesungenen Version der Fall, also als Lied, Lyrics gleichsam, weil Rhythmus, Klang und Ton die Lyrik zuspitzen. Auch solche engagierte Dichtung wie die „Lied von der belebenden Wirkung des Geldes“ halten und bleiben – noch im Lauf der Zeit, was aber zugleich bedeutet, daß sie ins Refugium des Klassikers rutschen, sich entschärfen zum behäbigen Vortragsabend mit Stimmung, wenn man den Gehalt nicht reaktualisiert. Brecht ist immer wieder neu zu singen – das ist die Herausforderung. Mann bleibt Mann oder von der belebenden Wirkung des Geldes:

Die Frage dabei ist eben nur, wie man es macht und ob es überhaupt einen Sinn hat, das, was lange Geschichte ist, zu reaktualisieren. Sicherlich gibt es bei Brecht immer noch jene Lyrik-Prosa (oder prosaische Lyrik), im Exil geschrieben, die uns heute noch einsichtig ist, im Blick auf den Verkauf von Kultur als Waren das, was Adorno/Horkheimer Kulturindustrie nannten und was Brecht in wenigen Zeilen in eine Anschauung bringt:

HOLLYWOOD
Jeden Morgen mein Brot verdienen
Geh ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden.
Hoffnungsvoll
Reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer.

HOLLYWOOD-ELEGIE
Die Engel von Los Angeles
Sind müde vom Lächeln. Am Abend
Kaufen sie hinter den Obstmärkten
Verzweifelt kleine Fläschen
Mit Geschlechtsgeruch.

Ist bei Brecht das Politische bleibend? Oder nicht vielleicht doch eher seine Liebesgedichte (denn die Liebe hört nimmer auf; die Geschichte freilich auch nicht), seine Gedichte zur Natur, zu Landschaften und Städten und zu den Menschen darin: sie gehören zu den liebsten mir. Oder jene kleine Dichtung, jene spezifischen Szenen in den „Buckower Elegien“, wenn in einem kleinen Bild sich ein Ganzes verdichtet. Und wenn ein Reisender das kleine und schöne Brecht-Haus in Buckow besucht, versteht er vielleicht ein wenig besser diese Elegien: der Blick auf den See, das Spazieren in den Wäldern, die Scherbe eines Tonkruges, die wir beim Spazieren ums Brecht-Haus fanden. Und dann natürlich eines der frühen Gedichte von Brecht. Die „Erinnerung an die Marie A“ gehört zu den schönsten Gedichten, die das Phänomen „Zeit“ ins private Moment setzen und die Bedeutung von Natur mit dazu. Wie sich ein Augenblick an einen Fetzen Himmel zu knüpfen vermag, eine Wolke, die im nächsten Moment schwindet, wie all die schönen Augenblicke. Vielleicht im Sommer vor dem Schinkel-Casino am Jungfernsee, abends beim verbotenen Picknick auf der Wiese. Mit dem Blick durch die Pergola, hinüber auf die Heilandskirche am Port von Sacrow, wo im Jungerfensee die Sonne absinkt. Vergänglichkeit und das Erinnern an eine längst vergangene Zeit.

Man kann es aber auch ganz anders und viel weniger in dieser melancholischen Erinnerungsfuge dichten und sagen, nämlich als eine Art von Harmonie im Zusammenschwingen, wie in Brechts Gedicht „Die Liebenden“:

Seht jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon als sie entflogen
Aus einem Leben in ein anderes Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Daß also keines länger hier verweile
Und keines anderes sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen:
So mag der Wind sie in das Nichts entführen.
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin ihr? – Nirgend hin. Von wem davon? – Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. – Und wann werden sie sich trennen? – Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.

Auch das eben ist Brecht und doch gehören der politische Brecht, der kalte Brecht, der (post)expressionistische Brecht, der Brecht der Liebesdichtung, der Brecht der Lehrstücke in ihrer Weise zusammen und genau dieser Bogen macht die Größe von Brechts Dichtung aus. Bis heute.

Damit es auch in der Ukraine weihnachtet: Spendet für Notstromaggregate und für Feuerwehrautos für Charkiw!

In diesem Beitrag will ich meinen Leserinnen und Lesern nicht nur ein gutes und gesegnetes Weihnachtsfest wünschen, sondern auch dazu aufrufen, für zwei wichtige Projekte zu spenden, die den Menschen in der Ukraine in ihrer Not helfen, und für die ich hier werben möchte. Zum einen, wie es das Bild bereits sagt, für Feuerwehrautos für Charkiw:

Der Link zum Spenden ist hier:

https://penberlin.de/spenden/?

Und aufgrund der russischen Terrorangriffe auf Zivilisten und auf Infrastruktur – hallo Friedensbewegung: wo sind eure Großdemonstrationen zu Weihnachten? – ist es vor allem wichtig, sogar überlebenswichtig, daß die Bevölkerung mit Notstromaggregaten versorgt wird:

„Der russische Überfall auf die Ukraine bringt neben Leid und Tod auch immer mehr Zerstörung der Infrastruktur. Russische Raketen legen u. a. die Stromversorgung in weiten Teilen des Landes lahm. Rund zehn Millionen Menschen sind von der Stromversorgung abgeschnitten! Space-Eye liefert Notstromaggregate (Generatoren) zu unseren Partnern in der Ukraine. Sie werden die wichtigsten Einrichtungen (Kliniken, Schulen, Notunterkünfte) mit Elektrizität versorgen. Helfen Sie mit!“

Auf dieser Seite kann man spenden.

Bei all dem, was die Russen in der Ukraine anrichten, können wir froh und dankbar sein, daß wir Weihnachten in Frieden feiern können, viele von uns in Wohlstand oder zumindest auskömmlich, wenn auch nicht alle Menschen. Keine 1700 km von hier entfernt sieht es anders aus und Russen bombardieren Zivilisten, Kraftwerke und Wohnhäuser. In Deutschland muß zum Glück niemand in Trümmern feiern und Angst haben, daß auch zur Heiligen Nacht noch russische Raketen ins eigene Haus einschlagen. Und auch in vielen anderen Regionen der Welt, wenn wir an den Jemen, an die Kurden und an Äthiopien denken, sieht es nicht viel besser aus. „Ja, ja, das wissen wir doch alles“, wird nun mancher sage, „und wir können das Thema nicht mehr hören!“ Stimmt: genau das ist es, was Putin möchte: daß für uns dieser Krieg mitten im Herzen Europas zur Gewöhnung wird. Das aber darf er nicht, und insofern wird hier bei AISTHESIS immer wieder an diesen Krieg erinnert und insbesondere an den russischen Terror gegen Zivilisten, gegen Frauen und Kinder und Männer, gegen Alte, die in ihren Wohnungen erfrieren.

Wenn ihr also etwas abgeben könnt, dann gebt es – vor allem die Spenden für die Infrastruktur sind für die Menschen in der Ukraine überlebenswichtig.

In diesem Sinne wünsche ich allen meinen Leserinnen und Lesern ein den Umständen entsprechendes besinnliches Weihnachtsfest.

Zwischen russischer Propaganda und Verschwörungssound als Sabotage von Kommunikation: „Putin – der gefährliche Despot“

Daß Wladmir Putin nicht erst seit 2014 oder 2008 ein brandgefährlicher Politiker ist, der 1999 niemals in die große Politik hätte gelassen werden dürfen, zeigt die Dokumentation „Putin – der gefährliche Despot“. (Sie lief letzte Woche auf ZDF-Info und ist in der Mediathek noch einsehbar.) Wir sehen dort Putins Werdegang: Von der Ablehnung Putins durch den KGB für eine Tätigkeit im Ausland wegen Unbeherrschtheit und fehlender rationaler Selbstkontrolle, so daß es nur für die Provinz reichte, nämlich Einsatz in der Ostzone in Dresden, über seinen unheilvollen Aufstieg, als Boris Jelzins ihn 1999 zum Ministerpräsidenten ernannte, bis hin zu seiner Abschottung durch Corona und den verrückten Bildern, wo man Putin und Staatsgäste oder seine Lakaien an elend langen Tischen sah und meinte, es mit einem psychisch schwer gestörten Menschen zu tun zu haben.

Die Dokumentation einfaltet ein prägnantes und treffendes Portrait , was seinen politischen Aufstieg angelangt und auch Putins Kunst, Netzwerke der Macht zu knüpfen, wird thematisiert. Zentral für das Verständnis von Putins Tun bleibt jene bezeichnende Aussage von ihm: „Einmal KGB, immer KGB!“. Denn dort hat er gelernt und das sollte man bei all seinen Drohungen gegen den Westen immer im Hinterkopf behalten: Geschult darauf Gegner zu zermürben und andere Menschen zu bedrohen. Putins Methode dabei: Tricksen und täuschen, lügen und betrügen: Politikern frech ins Gesicht lügen, daß es keine russische Invasion in die Ukraine gibt, um dann zwei Tage später loszuschlagen. „Putin – der gefährliche Despot“ ist eine sehenswerte und leider auch erschreckende Dokumentation. Erschreckend vor allem deshalb: wir hätten all das schon lange wissen können. Nur wenige, wie Marielouise Beck und die Journalisten Golineh Atai, Alice Bota und Michael Thumann haben vor dem System Putin sowie vor dessen neoimperialen Ansprüchen gewarnt. Anfang 2022 brachte es auch der Buchtitel von Catherine Belton auf den Begriff: „Putins Netz – Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“. Zentraler Trick solcher neoimperialer Gelüste ist das Vernebeln der eigenen Ansprüche, indem in Dauerschleife aus den Kontext gerissene Meldungen gebracht und Lügennarrative sowie Falschbehauptungen installiert werden – in Deutschland gibt es dafür Putins willige Helfer: von Tom J. Wellbrock, über Dirk Pohlmann, Mathias Bröckers bis hin zu Albrecht Müller und zur AfD sowie den einschlägigen Kreisen in Schnellroda: unsere neue Querfront. Ich kann nur jedem raten, sich das, was diese Leute von sich geben, gut anzuhören, um dann abzugleichen, was Historiker und Forscher wie der ukrainisch-amerikanischer Historiker und Hochschullehrer Serhii Plokhy, die Historiker Karl Schlögel, Gwendolyn Sasse und Experten wie der Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Politik Carlo Masala und Experten wie Manfred Quiring und Winfried Schneider-Deters zu schreiben haben.

Wie Putins Propaganda auch beim russischen Volk wirkt und wie Putin und sein System den Menschen den Raschismus und eine neue imperiale Außenpolitik einträufeln, zeigt die Dokumentation „Putins Propagandamaschine – Das manipulierte Volk“ – insbesondere im Blick auf die Instrumentalisierung des Zweiten Weltkrieges für einen blutigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Im neuen russischen Totalitarismus, für den manche auch den treffenden Begriff des Raschismus prägten, geriert sich die Lüge als Antifaschismus und als Methode für totalitäre und imperialistische Innen- wie Außenpolitik. Fürs Innere werden die Lügen und die Propagandaerzählungen verbreitet, Putins Helfer instrumentalisieren die Toten im Kampf gegen Hitler-Deutschland, wenn da vom „Unsterbliches Regiment“ schwadroniert wird.

Was man dieser Dokumentation freilich gewünscht hätte, wären jene historische Fakten, wie man sie bei den oben genannten Wissenschaftlern und Experten nachlesen kann, statt nun Putin-Narrativ an Putin-Narrativ zu reihen. Aufschlußreich dabei freilich, wie diese Narrative bei den Russen verfangen. Angesichts der Tatsache freilich, daß es in Rußland lange schon keine freien Medien mehr gibt, nicht weiter verwunderlich. Die Situation in Rußland erinnert an das Deutschland von 1933: ein totalitärer Staat mit Propaganda, darin Systemkritiker in Lagern verschwinden, mit Gift umgebracht werden oder aber Journalisten wie Anna Politkowskaja und Oppositionspolitiker wie Boris Nemzow im Treppenhaus der eigenen Wohnung oder auf offener Straße von hinten erschossen werden. Putins Rußland eben, während in Deutschland die Friedensbewegung antiamerikanische Parolen ruft. Zu Putin aber schweigen sie.

Für das Ausland und besonders für Deutschland wird der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge verwischt und unsichtbar gemacht: russisches Giftgas in Syrien: „Nein, nichts Genaues weiß man nicht!“ Der Abschuß der Malaysia-Airlines-Flug 17 mit 298 Toten unter Mithilfe russischer Militärs:“Nein, nichts Genaues weiß man nicht!“ Seit 2014, als Russen im Donbas agierten und die Destabilisierung der Ukraine betrieben: „Nein, nichts Genaues weiß man nicht!“ Und so werden auch in Deutschland ganz bewußt von einschlägigen Propagandaportalen wie Russia Today, den Nachdenkseiten, Apolut oder Nuo Viso Lügen verbreitet oder aber Fakten werden manipulativ gegen den Strich gebürstet.

Ein keines Beispiel aus der Trickkister der Manipulation: Da wird im Brustton der Empörung auf einem dieser Portale bereichtet, daß die Ukraine die Rentenzahlungen für die Menschen im Donbas gestoppt hat. Leider nur wird zu dieser in der Tat richtigen Information nicht dazugesagt, daß es sich hierbei um genau die Gebiete handelt, die nun unter russischem Einfluß stehen, wo spätestens seit 2014 durch Rußland Abspaltungsbewegungen gefördert werden und wo russisches Miltitär agiert. In der Tat werden in jenen Gebieten, die unter dem Einfluß des russischen Aggressors stehen, der die territoriale Integrität der Ukraine zu untergraben versucht, keine Renten mehr gezahlt. Warum auch? Es betankt die Ukraine ja auch nicht die Panzer der Rebellen im Donbas. Und solcher Unfug wird dann von den Hörern solcher Kanäle bedenkenlos nachgeplappert, ohne sich dabei weiter mit dem Kontext und der tatsächlichen Situation im durch Rußland indirekt okkupierten Donbas zu befassen.

Dem System Putins und jenen oben genannten Putin-Vasallen hier in Deutschland geht es aber nicht einfach nur darum, gegen die Wahrheit nun die Lüge zu setzen, sondern vielmehr den Begriff der Wahrheit und der historischen Fakten selbst zu zerstören. Ich hatte dies vor einem Monat anhand des vranyo-Ritual als Spezialität russischer Politik herausgestellt: vranyo steht für ein Lügenmärchen, so Volker Eichener, „das gar nicht ernst zu nehmen ist. Ein Russe hat vranyo einmal mit folgenden Worten definiert: ‚Du weißt, dass ich lüge, und ich weiß, dass du es weißt, und du weißt, dass ich weiß, dass du es weißt, aber ich mache ohne mit der Wimper zu zucken weiter und du nickst ernsthaft und machst dir Notizen.'“

Und weiter heißt es bei Eichener in seinem Essay „Russlands Krieg gegen die Ukraine: Kann man mit habituellen Lügnern verhandeln?“ im Blick auf solche Art des Lügens, darin der Begriff der Wahrheit bewußt in die Unschärfe gezogen werden soll:

„Der langjährige russische Außenminister Lawrow hat es zu einer Meisterschaft gebracht, vranyos mit einem spöttischen Unterton zu erzählen: Denkt ihr, ich sage euch die Wahrheit? Natürlich erzähle ich euch ein Märchen – und einige von euch sind auch noch dumm genug, es zu glauben. Vranyos sind zum Ritual geworden: Westliche Medien oder Regierungen beschuldigen Russland, ein (Kriegs-) Verbrechen begangen zu haben, und Russland erzählt ein vranyo. Zum vranyo-Ritual gehört, der Gegenseite ebenfalls ein vranyo zu unterstellen, so dass vranyo gegen vranyo steht.

Vranyos werden nicht nur eingesetzt, um die Medien und die Bevölkerung in die Irre zu leiten. Als der französische Staatspräsident am 20. Februar 2022, also vier Tage vor Kriegsausbruch, mit dem russischen Präsidenten telefonierte, erzählte Putin vranyos am laufenden Band. Die größte Lüge war, dass Putin zu diesem Zeitpunkt längst entschlossen war, den Angriff zu starten, aber sagte, die Truppen würden bereits abgezogen.“

Solches Verfahren der Destruktion bringt auch der Soziologie Nils C. Kumkar auf den Begriff, nämlich mit dem Titel seines Buches „Alternative Fakten. Zur Praxis kommunikativer Erkenntnisverweigerung“. Kumkar zeigt, daß solcher Dauerbeschuß mit „alternativen“ Fakten, also mittels Lügen und Betrügen, im Diskurs sehr wohl eine kommunikative Funktion erfüllt – nämlich sollen ganz bewußt Wahrheit und Erkenntnis sabotiert werden. Bereits 1967 hat Hannah Arendt diese Umdeutung von Wahrheit in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ pointiert:

„Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, daß die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern daß der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.“ (Hannah Arendt, Wahrheit und Politik)

Dem ist bis heute nicht viel hinzuzufügen. Genau um solches Zerstören von Orientierung im Wissen und in der Wahrheit geht es jenen oben genannten Portalen sowie jenen Protagonisten Bröckers und Co., die ihre Verschwörungsmyten von Neuer Weltordung verbreiten. Allerdings bleibt kritisch gegen Arendt anzumerken, daß in solcher Verwischung von Wahrheit und Lüge am Ende doch die große Lüge installiert werden soll. Freilich nach der Manier von Paranoikern, die in einem Wahngebäude wohnen: Hat man einmal die erste Prämisse dieses Irrsinns akzeptiert, folgert sich alles weitere von selbst.

Verschwörungsmythen funktionieren als Zirkelschlußsystem: Man setzt eine Annahme X als wahr – sei es, weil man sie  dogmatisch festschreibt oder weil man einzelne Beispiele sich herausgreift und von „einige“ auf „alle“ schließt – und das, was dann als wahr gesetzt wurde – die neue Weltordung, Corona-Diktatur, Rußland als vom Westen „überfallenes“ Land, Mainstreammedien manipulieren, Medien sind in der Sache X in ihrer Berichterstattung gleichgeschaltet – bestimmt dann im weiteren alle übrigen Ausführungen, die dann genau unter diesem Aspekt gedeutet werden. Jedes Zeichen, jede Aussage, jede Meldung kann dann bequem unter diese Prämisse sortiert und eingeordnet werden. Und so bestätigt und trägt sich solches System von selbst und es verstärkt sich dabei mit jeder weiteren Meldung. Noch der Gegenbelegt wird vom Verschwörungswahn als Beleg dafür genommen, daß eben der Kritik von jenem Deep State, von den Medien oder von der NATO gekauft und ein Systemknecht sei. Die Anhänger solcher Wahnsysteme gleichen von der Denkstruktur her Sektenmitgliedern, deren Gehirne gewaschen wurden, wie dies bei Scientology oder in manchen religiösen Erweckungsbewegungen geschieht.

In der Durchführung jedoch gleichen solche Zirkelsysteme paranoiden Wahnsystemen, die in sich dicht und geschlossen sind, so daß, wie beim Paranoiker, von außen nichts mehr hereindringen kann. Ähnlich freilich auch bei Sekten, mit denen jene genannten Verschwörungsportale, auch in der monothematischen Ausrichtung, einiges gemeinsam haben. Im Gegensatz zu den psychischen Wahnsystemen aber wirken Verschwörungsmythen gesamtgesellschaftlich; sie unterwandern Diskurse und Debatten. Selbst ihre Thematisierung dient ihnen noch, es ist der klassische Streisand-Effekt: törichten oder falschen Informationen wird in der Berichterstattung Aufmerksamkeit gewidmet und so trägt auch solches zur Verbreitung des Unsinns bei. Daß die Grenzen zwischen Verschwörungsmythen und paranoidem Denken fließend sein können, zeigt der Vegan-Koch Attila Hildmann und auch die Video-Auftritte des ehemaligen rbb-Journalisten Ken Jebsen zur Corona-Pandemie, wo Realität und Fiktion nicht mehr getrennt werden können. Man mache sich einmal den Spaß und sehe sich die Videos von Jebsen zur Corona-Pandemie an, wo er wie Joker geschminkt in irrem Stakkato mit dem Grundgesetz fuchtelt – dessen Art. 11. Abs. 2 er offenkundig nicht gelesen hat.

In ihrem Essay zu Auschwitz, zur Barbarei der deutschen Faschisten sowie den  zugrundeliegenden Mustern der Kommunikation beschreibt Hannah Arendt implizit auch das System der Verschwörungsmythen, wenn sie die Methoden der Nazis analysiert:

„Dem von ihnen angerichteten Grauen liegt die unbeugsame Logik zugrunde, welche auch die Sichtweise von Paranoikern regiert, in deren Systemen alles mit absoluter Notwendigkeit folgert, wenn einmal die erste verrückte Prämisse akzeptiert worden ist. Der Wahnwitz solcher Systeme besteht natürlich nicht nur in der Ausgangsprämisse, sondern vor allem in der ehernen Logk, die sich durchsetzt, und zwar ohne Rücksicht auf die Tatsachen und – ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit – einer Wirklichkeit, die uns lehrt, daß es in der Praxis keine absolute Vollkommenheit geben kann.“ (Arendt, Nach Auschwitz)

Ambivalenzen und Ambiguitäten sind für solche Leute schwierig auszuhalten und weder im Wahn- noch im Zirkelsystem  vorgesehen.

Endstation Reeperbahn

Es gibt einen legendären Song von Gottfried & Lonzo, der heißt „Hamburg ʼ75“ – den Text schrieb der Satiriker Hans Scheibner, wunderbar gecovert 2005 von „Element of Crime“. Dieses ragtimeartige Stück handelt, wen wundert’s, von Hamburg, genauer gesagt von der Hamburger Szene jener Jahre rund um den Musikclub „Onkel Pö’s Carnegie Hall“ in Eppendorf. Berühmt durch sich selbst. Über Hamburg hinaus bekannt durch eine prägnante Zeile aus Lindenbergs „Andrea Dorea“: „Im Onkel Pö’s spielt ʼne Rentnerband, seit 20 Jahren Dixieland …“

Wer diesen Song von Gottfried & Lonzo (dem Teufelsgeiger von Eppendorf) kennt, weiß, was ich meine und der weiß um die Atmosphäre einer Stadt, die wir damals als Kinder erlebten: von Honka bis HSV, zwischen Billstedt, Jenfeld und Horn. Wer Song und Sound dieser Zeit nicht kennt, dem ist nicht zu helfen und dem kann man es auch nicht beschreiben: jenes Hamburg der 1970er Jahre. [Ich mache es vielleicht ein andermal, wenn wir eine „Sentimental Journey“ in jene wunderbaren Jahre unternehmen.] Wie dem auch sei: Dies waren die gemütlichen Zeiten. Es gab jedoch andere, häßlichere Zeiten, häßlichere Orte, weniger buntscheckig (wobei Billstedt und Horn auch nicht zu den schönsten zählen). Wild aber dennoch. Da waren nicht nur die feine Binnen- und Außenalster, die Flaniermeile Jungfernstieg, das politisch linke Eimsbüttel, wo all die Lehrer wohnten, das teils elegante, teile linke Eppendorf, verträumtes, ländliches Blankenese mit Elbhügelblick und jene herrliche Mutter Elbe, die breit strömte, sondern es war da auch die höchst seltsame Reeperbahn mit ihren Buden, Bordellen und Spelunken, der Hafen in der Nähe, der Fischmarkt, der Geruch von Pisse, Fisch, Hafen und Bier. Und was in den 1970er Jahren noch „normales“ Nuttengeschäft und Geschäft mit Bars und Bums war, das entwickelte sich in den 1980er Jahren ins organisierte Verbrechen: Kiez-Kriege wurden nicht mehr nur intern und mit Fäusten ausgetragen – sehr schön zu sehen in Klaus Lembkes „Rocker“ (1972), wenn sich Loden und Leder prügelten.

Die ARD-True-Crime-Dokumentation zur „Reeperbahn Spezialeinheit FD65“ nimmt diese Zeit unter die Lupe: Eine speziell gebildete Ermittlergruppe der Hamburger Polizei gegen die sich herausbildende organisierte Kriminalität wird portraitiert, der Hamburger Kiez, seine Zuhälter und Prostituierten, das St. Pauli der späten 1970er und dann vor allem der 1980er Jahre. Fünf Teile mit Interviews, Archivbildern und nachgestellten Szenen. Die Doku-Bilder und die Doku-Szenerien aus NDR-Archivfilm sind insofern interessant, weil sie gute Einblicke in jene Zeit und in die Probleme liefern, sie lassen die Atmosphäre jener Jahre noch einmal an uns vorbeiziehen, dazu erzählen Zeitzeugen, wenn auch zuweilen in der Aufmachung überdramatisiert. Weniger schafft in manchen Fällen mehr. In diesem Sinne ist jene vor einem Jahr im NDR gelaufene mehrteilige Doku zum Kiez, von den 1950er bis zu den 1990er Jahren, besser geraten, nämlich ohne jene Effekte, bei denen man sich durch die nachgespielten Szenen in „Reeperbahn Spezialeinheit FD65“ zuweilen bei ZDF-History oder Terra-X wähnte. Aber man muß es vielleicht so sehen: Suspense will inszeniert sein. Und weil diese Serie mit Photographien und Filmen eine Menge an Doku-Material aus dieser Zeit bietet, funktioniert das Prinzip dennoch an einigen Stellen leidlich, auch weil dort Menschen sprechen, die dabei waren und diese Zeit kommentieren und von ihrem Blick her analysieren: Polizisten, Staatsanwälte, ehemalige Prostituierte, die MoPo Reporter Thomas Hirschbiegel und Thomas Osterkorn, Kiez-Größen wie der damals „Neger-Kalle“ genannte Geldeintreiber Karl Heinz Schwensen. Und es sprechen auch, was für die 1980er Jahre etwas Besonderes ist, ehemalige Polizistinnen über ihre Arbeit inmitten einer harten und harschen Männerwelt: eine der Polizistinnen von der Schutzpolizei herstammend, sie diente auf der Davidwache mitten auf St. Pauli; und eine Polizistin als Teil des Teams vom FD65. Damals waren Frauen in der Polizei eine Seltenheit, so wie auch in der Bereitschaftspolizei bei Demos Anfang der 1980er keine oder kaum Frauen dabei waren, sondern junge Männer mit Oberlippenbärten, wie sie heute wieder modern sind. Manche hätte man für den jungen Lee Hazlewood halten können, trügen sie keine Schlagstöcke, Schilder und schwere Uniformen.

Die Serie streift teils auch die politischen Bezüge jener 1980er Jahre, von der „Stoppt-Strauß“-Demo 1980; dazu 1981, 1982 dann die Hausbesetzerszene der Hafenstraße, die Brokdorf-Demos, der Hamburger Kessel Mitte der 1980er Jahre, wo mehrere hundert Anti-AKW-Demonstranten rechtwidrig über Stunden auf der Straße festgehalten und eingekesselt wurden (gezeigt in den letzten Teilen), aber auch das Rockermilieu der Hells Angels, die das Schanzenviertel einschüchterten und von den Wirten Schutzgeld erpreßten. Niemand sprach darüber, alle wußten es.

Zentrale Figur in dieser Doku ist der Leiter des FD65, Wolfgang Sielaff, damaliger Chef der frisch gegründeten Abteilung „Organisierte Kriminalität“, der von seiner Arbeit berichtet. Ein bis heute hin eindrucksvoller Mann, der eloquent, überzeugend und mit klarer Stimme die Lage benennt, Probleme beschreiben und eine Situation analysieren kann, um daraus gezielte Vorgehensweisen zu entwickeln. Solche Macher braucht es, vor allem auch heute, um solcher Organisierten Kriminalität das Leben schwerzumachen. Wenn man diese Polizisten bei ihrer Arbeit sieht, so leben wir keineswegs nur in einem postheroischen Zeitalter. Ganz im Gegenteil sind Menschen gefordert und gewünscht, die für eine gute Sache mit ihrem Mut, ihren Überzeugungen und ihrer Tatkraft einstehen. Das nur nebenbei gesagt – denn das Problem OK ist ja keineswegs vom Tisch, und auch sonst erweist es sich im Politischen, daß solche Eigenschaften gefragt sind. Polizisten wie Wolfgang Sielaff zeigen, wie man mit Entschlossenheit eine Sache angehen kann.

Die fünf Teile umfassen das Kiezleben der ausgehenden 1970er Jahre bis hin zum Amok des Auftragskillers Werner Pinzner am 29. Juli 1986 mitten im Hamburger Polizeipräsidium. Im ersten Teil geht es um den „Paten von St. Pauli“ genannten Wilfried „Frieda“ Schulz und seinem Handlanger Dakota-Uwe. Schulz betrieb auf dem Kiez Bars, Bordelle und Spielcasinos im großen Stil und es ging Anfang der 1980er Jahre jenes Gerücht um, daß über den Hamburger Kiezgrößen irgendwer in der Polizeibehörde seine schützende Hand hielt, insbesondere der Kriminaldirektor Hans Zühlsdorf geriet in Verdacht. Nachweisen konnte man ihm nichts. Aber der Verdacht blieb. Soziologisch aufschlußreich ist auch der Blick in Schulz‘ Anwesen in Blankenese und wie dieses Haus im inneren und im Garten eingerichtet ist: Plüsch und Protz: jene Mischung aus Emporkömmling und Kleinbürgergeist und wie sich solch ein Kleinbürger vom Interieur her die großbürgerliche Welt vorstellt, die er zu imitieren und an der er teilzuhaben versucht, um zu zeigen, daß er in der Gesellschaft oben angekommen ist. Aber Schulz war, folgt man den Zeugenaussagen, zugleich auch eine Persönlichkeit, die Menschen für sich einnehmen konnte. Nur setzte er dieses Wesen in die Manipulation von Roulette-Tischen und Spielkarten sowie in die Förderung von Prostitution.

Im zweiten Teil geht es um die Verbindungen von Schulz zur US-Mafia und wie die Hamburger Polizei in ihrer Arbeit von den US-Behörden und vom FBI lernte, um eine der effektivsten Abteilungen zur Bekämpfung von Organisierter Kriminalität in der Bundesrepublik aufzubauen. Sielaff berichtet von seinen Reisen in die USA und auch US-Polizei kommt zu Wort. Die Polizei mußte angesichts dieser neuen Art von Kriminalität auf neue Methoden zurückgreifen und so wurde auch das FD65 gegründet. 1982 wurde Schulz in einer großangelegten und bis auf die letzte Minute vor allen Dienststellen der Polizei geheimgehaltenen Aktion verhaftet und verschiedene Objekte auf dem Kiez und an anderen Orten Hamburgs wurden zeitgleich durchsucht.

Der dritte Teil handelt unter anderem von den Prostituierten und ihrer Ausbeutung durch die Zuhälter, es wird erzählt, was mit sogenannten Lampen-Bräuten passiert: Frauen, die der Polizei erzählen, was mit ihnen gemacht wurde, wenn sie nicht genug anschafften und dann von ihren Zuhältern verprügelt wurden oder wenn sie ganz einfach den Zuhältern nicht den nötigen Respekt erwiesen – so wie „Respekt“ auf der Reeperbahn sowieso ein Zauberwort war. Vor den großen Gestalten hatte man zu gehorchen und zu parieren. Ihr Wort war Gesetz. Schlecht nur, wenn die Alphatiere aneinandergerieten, so wie es in den 1980er Jahren geschah und als auf dem Kiez die Zuhälterkriege ausbrachen. Denn in die Leerstelle, die Schulz nach seiner Verhaftung hinterließ, strömten neue Kiezgrößen wie die Nutella Bande, Sunny-Boy- Zuhälter, die wegen ihres jugendlichen Aussehens derart genannt wurden, sowie die GMBH, die wegen der Vornamen ihrer vier Mitglieder diese Bezeichnung trug. Und plötzlich galt auch nicht mehr das Gesetz der Faust, welches auf dem Kiez Konflikte regelte: „Keine Schußwaffen!“, so hieß es, soll das Motto von Schulz gewesen sein; man traf sich und eine Art von Feme- und Privatgericht regelte die Sache, sprach Kiezverbote aus oder verteilte einen „Denkzettel“, der meist ein blutiges Andenken war. Nun aber kamen nicht nur Schlagringe, sondern auch Knarren ins Spiel.

In den letzten beiden Teilen geht es um die erheblichen Veränderungen, die nach der Verhaftung von Schulz das Leben auf dem Kiez mit sich brachte. Leider reißen insbesondere die beiden letzten Teile, darin auch die politischen Aspekte von St. Pauli qua linksautonomer Szene in den Blick kommen, vieles nur noch an. Auch die Straßengang-Szene, die Anfang oder Mitte der 1980er Jahre auf dem Kiez mitmischte, kam zu kurz: die Streetboys, die sich mit den Zuhältern der GmbH und der Nutella-Bande prügelten, der Kampf der Gangs wie der Champs und der Streetboys, die zu einem Teil aus Türken-Jungs, aber auch aus deutschen Kids bestanden, gegen die in Hamburg hart vertretene Nazi-Skinhead-Szene werden genannt, aber auch ihr Kampf gegen Punks und Hafenstraßenlinke. Im Blick auf den Polit-Kiez kommt auch Schorch Kamerun (Sänger der Punk-Band „Die Goldenen Zitronen“ und Mitbetreiber des Golden Pudel Club zwischen Hafenstraße und Fischmarkt) zu Wort. Was diese Verquickungen und Kämpfe angeht, hätte ich mir pro Folge mindesten eine ¾ Stunde mehr gewünscht statt der üblichen 42 Minuten, die jeder der Teile umfaßt. Diese Szenarien und Hintergründe wären mindestens zwei Extrafolgen wert gewesen. Und auch die sich auf dem Kiez tummelnden und seit Mitte der 1980er Jahre ins rechtsextremistische Milieu abgeglittene Szene des HSV-Fanclubs die Löwen hätte eine Erwähnung finden können. Ich hätte mir an manchen Stellen dieser Serie einen vertiefenden Einblick gewünscht – auch über die Prostitution und das Schicksal der Prostituierten. Andererseits war der Fokus der Serie die Organisierte Kriminalität und dafür spielen die soziologischen und politischen Aspekte jener wilden wie kriminellen Kiez-Jahre nun einmal nur eine Nebenrolle.

Dennoch: Es ist dies eine Serie, die man über das Thema OK hinaus auf mindestens 20 Folgen ansetzen könnte, mit Themenfäden wie: Der Kiez, die Zuhälter, die Huren, die Freier, das Alltagsleben, die Polizei, Organisierte Kriminalität, das politische St. Pauli, die Hafenstraße, der Wandel von St. Pauli, das Nacht- und Musiknachtleben, die Drogen, der Hafen, die Schanze, die S-Bahnlinie 3. Freilich mit einigen Verränderungen in der Machart und der Inszenierung. Eigentlich gäben solche Folgen ein schönes Sittenbild jener wilden 1980er Jahre, die auf dem Kiez eben auch so derart viel Trauriges hervorbrachten: Armut, Drogen, Erpressung, derbe Gewalt. Der MoPo-Reporter Thomas Hirschbiegel beschreibt es am Ende der Serie treffend und es ging auch mir meist so, wenn ich dort zum Ausgehen mich aufhielt: Der Reporter war jedesmal wieder froh, wenn er von seinen nächtlichen Photo-Einsätzen mit Toten, mit Drogen, mit Nutten, mit Zuhältern und mit all dem Versifften dort wieder nach Hause in seinen (klein)bürgerlichen Bezirk kam und er weg von jenem ranzigen, räudigen Kiez war.

Jene romantisierende Kiez-Schwärmerei mancher Szenegänger, die zwischen Schanzenviertel und Reeperbahn und ihren Seitenstraßen in den 1980ern lustwandelten und ihre Ausgehabende organisierten, habe ich nie verstanden, und als da eine junge Frau verzückt ausrief: „Oh, wie geil ist es hier auf der Reeperbahn!“ erboste es mich dann doch: als ob die Nutten, die Schläger, die Junkies und die Zuhälter dort herumstanden, um der jungen Frau ein Privatvergnügen zu bereiten und als ob es ein wilder Spielfilm nach Manier von New Hollywood sei. Ich muß vielleicht zur Entschuldigung sagen, daß sie im Grunde mit ihren 15 Jahren noch ein Mädchen war. Aber der Heroin-Schick und die große weiße Dame namens Koks sind am Ende kein Spaß und kein Spiel. Und auch über Prostitution kann man sich streiten, wenngleich ich kein grundsätzlicher Gegner derselben bin, solange sie nicht unter Zwang geschieht. Hier waren dann auch die kurzen Sequenzen der Huren interessant, die eben nicht wirkten, als wären sie gezwungen worden, wenngleich ihr Leben sicherlich nur bedingt schön zu nennen ist – aber auch das sind nur Ausschnitte, anderen geht es anders, und es war nicht jede eine Domenica Niehoff.

Diese Serie ist durchaus spannend, aber sie zeigt vielfach auch, wie man es besser machen kann. Ehemalige Polizistinnen, die auf der Davidwache wirkten, muß man nicht unbedingt mehr in Uniform zeigen, wenn sie lange schon außer Dienst sind. Ähnliches gilt für die Kameraführung bei Kalle Schwensen: Das Objektiv von unten, so daß es bedrohlich und mächtig wirkt, gefilmt in irgendeiner edel wirkenden Nachtbar, damit Milieuatmosphäre entsteht: solches Setting zielt auf Effekte und nicht auf Wissen. Als ein Stück visueller Sozialgeschichte von Hamburg ist diese Serie interessant – auch im Blick auf solche inzwischen vergessenen Orte wie das „Cleopatra“ in Hamburg-Bramfeld. Aber es hätte der Geschichte als Forschungsdisziplin, als Oral History wie auch einfach nur im Sinne eines seriösen Dokumentarfilms gutgetan, auf manchen reißerischen Effekt zu verzichten – auch bei den Interviews. Warum muß man ehemalige Streetboys in Bomberjacken stecken? Warum müssen Staatsanwälte in einem Interieur sitzen, das wie eine hochelegante Hotellobby ausschaut oder einer großbürgerlichen Villa ähnelt? Solche Settings sind überflüssig. Und so hinterläßt diese Serie leider immer wieder den Eindruck, daß es sich am Ende mehr um eine voyeuristische Schlüssellochperspektive handelt und nicht um einen gutgemachten Dokumentarfilm über ein Stück Hamburger Leben und Geschichte. Das ist schade.

Photographie: Homepage ARD zur Doku-Serie.

Zur Katastrophe, zu Putins Drohton und heute abend Mantas Kvedaravicius‘ „Mariupol 2“

Gestern in der NZZ gab es einen Kommentar des Historikers Timothy Snyder zum Ukraine-Krieg und seiner möglichen Deeskalation – einen Dank auch an El Mocho für die Verlinkung im Kommentarbereich. Der Artikel bringt Putins Taktik und sein Gebaren gut auf den Punkt, vor allem Putins rhetorische Eskalationen: sein Mittel ist es, den Angstlevel im Westen möglichst hoch zu halten, damit die Unterstützung der Ukraine aus dem Westen nachläßt. Dazu im Hybridkrieg das Plazieren der Falschinformationen, vor allem hier in Deutschland und auch mit Putins willigen Vollstreckern auf diversen Portalen. Die entsetzliche Gewaltlogik des Hinterhofschlägers wurde gestern auch wieder in der Talkshow von Anne Will gut auf den Punkt gebracht – insbesondere im Blick darauf, daß der Rußlands Krieg gegen die Ukraine nicht erst seit dem 24.2.2022 tobt, sondern bereits mit der russischen Annexion der Krim und der russischen Intervention im Donbas. (Dazu und für die Hintergründe vor allem die von mir mehrfach erwähnten zwei Bände von Winfried Schneider-Deters „Ukrainische Schicksalsjahre 2013-2019“ und gerade neu erschienen von Gwendolyn Sasse „Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen“, im  C.H. Beck Verlag für gerade mal 12 Euro. Wer also zu den Hintergründen dieses Krieges etwas wissen will, kann es wissen.

Snyder nun schreibt zu solchen putinschen Drohgebaren:

„Indes erzeugt das Bild vom Atompilz als Schlusspunkt dieser Geschichte Angst und behindert klares Denken. Der Fokus auf dieses Szenario verhindert, dass wir sehen, was tatsächlich passiert, und dass wir uns auf wahrscheinlichere Szenarien vorbereiten. In der Tat sollten wir nie aus den Augen verlieren, wie sehr ein ukrainischer Sieg die Welt, in der wir leben, verbessern wird.

[…]

Sicherlich gibt es eine gewisse Versuchung, sich mental einer nuklearen Erpressung zu beugen. Sobald das Thema Atomkrieg aufgeworfen wird, scheint es von überwältigender Bedeutung zu sein, und wir verzweifeln und werden besessen. Genau dahin versucht Putin uns mit seinen vagen Anspielungen auf den Einsatz von Atomwaffen hinzubiegen. Er bringt uns dazu, uns Dinge vorzustellen, mit denen Russland gar nicht droht. Wir beginnen über eine ukrainische Kapitulation zu sprechen, nur um den psychologischen Druck abzubauen, den wir spüren.

Damit jedoch erledigen wir Putins Arbeit, und er vermag sich aus einer Katastrophe zu retten, die er selbst verursacht hat. Er hat gemerkt, dass er den von ihm begonnenen konventionellen Krieg verlieren könnte. Er hofft, dass sein Hinweis auf Atomwaffen die westlichen Demokratien davon abhält, Waffen an die Ukraine zu liefern. Darüber hinaus soll er ihm Zeit verschaffen, russische Reserven auf das Schlachtfeld zu schaffen, um die ukrainische Offensive zu bremsen. Wahrscheinlich liegt er damit falsch, aber die rhetorische Eskalation ist eine der wenigen Möglichkeiten, die ihm noch geblieben sind.

Ein Nachgeben gegenüber einer nuklearen Erpressung würde den konventionellen Krieg in der Ukraine keineswegs beenden. Es würde indes einen künftigen Atomkrieg sehr viel wahrscheinlicher machen. Wenn man einem nuklearen Erpresser Zugeständnisse macht, lernt dieser, dass er mit dieser Art Drohung bekommt, was er will, was für weitere Krisenszenarien in der Zukunft sorgt. Es lehrt andere Diktatoren, dass sie nur eine Atomwaffe und ein bisschen Getöse brauchen, um zu bekommen, was sie wollen. Das führt schliesslich dazu, dass alle davon überzeugt sind, dass die einzige Möglichkeit, sich zu verteidigen, der Besitz von Atomwaffen sei, was wiederum die weltweite Verbreitung solcher Waffen zur Konsequenz hat.“

Genau das ist, im Blick auf Nordkorea und den Iran, das Fatale, vor allem aber hinsichtlich Putins nächsten Ambitionen, wenn wir ans Baltikum und die Aufrichtung einer neuen russischen Welt denken, die dann wieder mit der alten Sowjetunion und ihren schrecklichen Repressionen identisch ist. Einen Anlaß, irgendwo zu intervenieren und gegebenfalls dann im Falle einer Niederlage auch mit Atormwaffen zu drohen, findet Putin immer. Man warte nur den nächsten „historischen Essay“ des Hinterhofgelehrten Putin ab.

Eine gute Reaktion auf solche Methoden, die Leute kirre zu machen und immer wieder systematisch neue Angst zu erzeugen, findet sich – zu den Hochzeiten des Koreakrieges 1950 – in einem Brief vom 1. August 1950, den der Philosoph Theodor W. Adorno an Thomas Mann schrieb. Es ist eine Reaktion des Standhaltens, um gewissermaßen mit einer Art britischen Gelassenheit sich dem Druck nicht zu beugen und vor allem der irrationalen Angst nicht anheimzufallen, mit der Gangster wie Putin spielen:

„Ihre Gedanken zur zweiten Emigration verstehe ich nur allzu gründlich, aber wohin? Drüben sind Sie ja vermutlich doch ungestörter als in Europa und haben ihren eigenen Rahmen, dessen Bedeutung für die Kontinuität der Arbeit nicht hoch genug anzuschlagen ist. Wir haben die größte Sehnsucht nach dem Pazifik, der zwar nicht Korea, aber doch gemessen an den hiesigen Konstellationen seinem Namen Ehre macht. Aber sonst sieht die Welt so aus, daß es schon fast gleichgültig ist, wo man sich befindet, so daß es wohl wirklich am weisesten ist, wenn man sich von den je gegebenen Möglichkeiten einigermaßen beraten läßt. Dazu kommt, daß in mir ein tiefer Widerstand dagegen sich regt, Maßnahmen zu ergreifen, durch die man sich im Fall eines Atomkries in Sicherheit bringen könnte. Wenn schon Weltuntergang, dann will man doch wenigstens dabei gewesen sein. Aber Sie wissen, ich glaube nicht daran.“
(Th.W. Adorno/Th. Mann, Briefwechsel 1943-1955, S. 80 f.)

Nein, diese Photographie zeigt keine Stadt nach einem Atomangriff, sondern sie zeigt, was die Russen in Mariupol angerichtet haben. Und wer genauer wissen will, was russische Kriegsverbrechen sind, der schaue heute abend auf ARTE den Dokumentarfilm des von russischen Soldaten  ermordeten litauischen Regisseurs Mantas Kvedaravicius.

https://www.arte.tv/de/videos/109827-000-A/mariupolis-2/

Ist das sowjetische Ehrenmal am 17. Juni noch zeitgemäß?

Ich bin kein Freund davon, Denkmäler zu entfernen – nicht einmal das monumental-seltsame Thälmann-Denkmal im Prenzlauer Berg, obgleich da wenig zu ehren ist, denn Thälmann gehörte zu jener verrotteten, stalinistischen KPD, die die Weimarer Republik mit zum Einsturz brachte. Und dennoch: Es ist Deutschland, es gehört dieser in Stein gehauene Mensch zur deutschen Geschichte. Denkmäler und Statuen sind Ausdruck solcher Geschichte, und sie unterliegen zudem in in den Zeitläuften einem Wandel: was einst affirmierend gemeint war, kann nun Anlaß zum Nachdenken sein. Gerade deshalb, weil die sich an manche Denkmäler anknüpfenden Deutungen und Debatten kontrovers ausfallen, ist es wichtig, daß solche Orte so bleiben wie sie sind: egal ob Thälmann oder Wilhelm.

Das Bismarck-Denkmal in Hamburg, jener Koloß, der zwischen Heiligengeistfeld und Hafen in den manchmal herrlichen, machmal grauen Hamburger Himmel ragt, hat seine triumphale Bedeutung eingebüßt. Es ist diese Statue vielmehr eine Erkennungsmarke und auch Wahrzeichen geworden, das wir Hamburger lieben und schätzen. Sein Sturz wäre auch insofern und aus politischen Gründen unsinnig, weil Bismarck eine ambivalente Persönlichkeit ist, manch Gutes, mach Schlechtes – da mag Jörg Zimmerer noch so zetern. Statt abzureißen oder umzugestalten, wäre es würdig und gut, ein Denkmal zu schaffen, das auch jenen Kolonialismus zum Thema macht. Böse Zungen sagen, daß ja bereits eines in Aumühle stehe. Insider wissen, welches ich meine. Es sollte wohl im Sinne von Heia Safari und Deutsch-Ostafrika eine Huldigung deuscher Kolonialpolitik sein, bringt aber das Grauen dieser Exzesse besser zum Ausdruck als manch wohlmeinendes Denkmal: Neger in Ketten am Boden, darüber schwarze Askari mit Gewehren und guter Deutscher Schutzherr-Mann. Wir lassen das alles besser stehen, denn auch dieser Ort gehört zur Geschichte. Und für die Generation, die beim Betrachten solcher Objekte all das nicht mehr weiß und es nicht unmittelbar beim Betrachten zu kontextualisieren vermag: mach ’nen QR-Code dran! Da steht dann das Wesentliche.

Nun gibt es aber einen anderen Fall: nämlich an der Straße des 17. Juni, mitten im Zentrum von Berlin, jenes Sowjetische Ehrenmal, darin ein Rotarmist majestätisch-erhoben schreitet, nach vorne heraus flankiert von zwei sowjetische T-34 Panzer und zwei Artilleriegeschütze 152 mm. Der Bund und das Land Berlin haben zwar der damaligen Sowjetunion und Rußland die Pflege und Erhaltung der Berliner Ehrenmale zugesichert, doch unter den gegenwärtigen Umständen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine bleibt die Frage, ob die zwei Panzer und die beiden Artilleriegeschütze so bleiben sollen und ob sie zeitgemäß sind.

In Berlin gibt es vier Sowjetische Ehrenmale: eines im Treptower Park (das größte und bekannteste), eines in der Schönholzer Heide und das weitgehend unbekannte Ehrenmal im Bucher Schlosspark (Bezirk Pankow, Ortsteil Buch). Um diese drei weiteren soll es nicht gehen. Es sind diese, bis auf Buch, Kriegsgräber und die sowie der Gedenkstein in Buch müssen erhalten bleiben. Ebenso die Monumentalbauten, die zugleich nicht nur Mausoleum und Monument, sondern auch Architekturgeschichte sind. Wie aber sollen wir mit den Panzern und der Artillerie umgehen?

Es gibt bei der Frage der Umgestaltung am 17. Juni Für und Wider. Ein Argument dafür, daß das Denkmal so bleibt, ist der Grund, daß in der Sowjetarmee auch ukrainische Soldaten fochten und Deutschland befreiten. Und diesen Teil der Geschichte darf und kann man nicht ungeschehen machen. Aber darf man das auch mit Panzern und Geschützen, die bei vielen Menschen, die im Machtbereich der Ostblockdikatoren aufwuchsen, manch ungute Erinnerung wachwerden lassen? Balten und Tschechen dürften ein eher schlechtes Verhältnis zu T-34 Panzern haben.

Ein Argument gegen dieses Denkmal besteht darin, daß der Tag der Befreiung für Deutschland und Europa zwar ein Ende des Faschismus und der Naziherrschaft bedeutete, zugleich aber für Ost- und Mitteleuropa der Tag des Jochs war: von 1945 bis 1989 und für die baltischen Staaten noch bis 1991 standen jene sowjetischen T-34 Panzer für Repression, Unterdrückung und vielfachen Mord an Menschen – vom Volksaufstand am 17. Juni 1953 über den Ungarnaufstand 1956, der von der Roten Armee niedergeschlagen wurde, bis zum Prager Frühling und den Einmarsch der Roten Armee in die Tschechoslowakei. Und aus genau diesem Grunde ist ein Denkmal, das Panzer und Angriffswaffen ausstellt, zumal wenn damit implizit der gegenwärtige Russenterror in der Ukraine und der Angriffskrieg verbunden sind, kein angemessener Ort im Zentrum Berlins. Stellen wir dort an der Straße des 17. Juni vielleicht doch jene von der tapheren ukrainischen Armee abgeschossenen Russenpanzer aus? Es wäre dies eine Möglichkeit – zumindest solange sich russischen Invasoren auf dem Territorium der Ukraine von 2013 befinden. Andererseits ist die Kombination von Staßenname und dem Denkmal mit den T-34 Panzern zugleich selbstevident.

Die Befreiung Deutschlands von den Nazis wurde mit der Unterjochung von Ost- und Mitteleuropa erkauft. Im Westen ist diese Perspektive wenig bekannt und aus diesem Grunde wissen auch die wenigstens, daß der 23. August dort ein Gedenktag ist, nämlich er Tag des Hitler-Stalin-Pakt aus dem Jahr 1939: „Ein Gedenktag, den Russen und Deutsche ignorieren“, wie der Tagesspiegel zu diesem Anlaß schrieb.

„In der Mitte des Landes trafen sich die Verbündeten dann zu einer gemeinsamen Siegesparade. Zwischen 1939 und 1941 ermordeten die Soldaten von Wehrmacht und Roter Armee rund 200.000 polnische Zivilisten. Außerdem konnte Stalin durch den Pakt ungehindert auf Finnland, Estland und Lettland zugreifen.

In Russland, wo Stalin heute beliebter ist als ein Michail Gorbatschow, wird der 23. August 1939 weitgehend ausgeblendet. Stalin hatte Hitler besiegt, die Rote Armee hatte Europa vom Faschismus befreit, mehr als 20 Millionen Sowjetbürger waren von den Nazis umgebracht worden: Dieser Dreiklang prägt die offizielle Geschichtsschreibung. Dass die Veteranen der Roten Armee sowohl Opfer als auch Täter, Sieger und Besatzer waren, dringt nicht ins Bewusstsein. Keine Schmach darf stärker sein als der Stolz.

Dieser Stolz darf nicht gefährdet werden, nicht durch den Gulag, die Zeit des Großen Terrors, die „Säuberungen“, den Holodomor – die von Stalin verursache Hungersnot, der Millionen Ukrainer erlagen –, das Leiden der Krim-Tataren. Er darf auch nicht gefährdet werden durch die Verbrechen des sowjetischen Besatzungsregimes.

Für viele Völker jenseits des Eisernen Vorhangs, im Machtbereich Moskaus, folgte auf den Sieg über den Nationalsozialismus eine andere, die kommunistische Diktatur. Nationalsozialismus und Kommunismus erwiesen sich als die prägenden europäischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.“

Und genau dieser Umstand macht jenes Denkmal im Zentrum Berlins einerseits problematisch, andererseits erfordert es eine Kontextualisierung. Und es zeigt sich dazugleich, wie oben geschrieben, daß Denkmäler ihre Bedeutung ändern und sich in ihre Aussage wandeln. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Verletzung der Souveränität der Ukraine haben diesen Teil der sowjetischen und dann der russischen Geschichte signifikant vor Augen geführt. Und es zeigt uns auch, gerade im Blick auf die Wahrnehmung der nichtsrussischen Territorien der ehemaligen Sowjetunion, zu der auch die Ukraine gehört, daß viele Menschen bis heute nicht zwischen Sowjetunion und Rußland unterscheiden können und insofern dem Irrtum unterliegen, daß auch die Ukrainer irgendwie Russen seien. Doch die Ukraine ist von ihrer Geschichte her nicht Rußland, aber sie gehörte zur Sowjetunion und sie hat im Zweiten Weltkrieg erhebliche Opfer gebracht. Ein Großteil der deutschen Verbrechen spielte sich auf ihrem Territorium ab und es waren zugleich auch Rotarmisten aus der Ukraine, die Deutschland befreiten – übrigens insbesondere deshalb, weil die Roten Armee ausgerüstet war durch die USA im Rahmen des Lend and Lease-Abkommens von 1941 Auch diesen Part der Geschichte wollen wir nicht unterschlagen.

Die Legende der siegreichen und großen und ruhmreichen Sojetarmee ist wahr und sie ist zugleich nicht wahr und brachte im selben Zug und im Sinne der Teilung Europas, der auch die westlichen Alliierten zustimmten, erhebliches Leid über die Länder Mittel- und Osteuropas. Wie dieses Grauen aussah und was das für die einzelnen Länder bedeutete, müssen Historiker erforschen. Im Bewußtsein der Letten, der Esten, der Litauer, der Polen, der Ungarn, der Tschechen, der Slowaken, der Bulgaren und Rumänen ist dieses Leid, ist diese Unterdrückung, sind Folter und Gewalt des sowjetischen  Imperiums noch immer präsent. Das eben ist auch die besondere Bedeutung des 23. August 1939. Und dieser Blick aus dem Osten ist leider bei allem – teils berechtigten – Protest gegenüber den USA unter den Tisch gefallen.

Auf all diese Aspekte zu reflekieren, gibt das Denkmal an der Straße des 17. Juni Anlaß. Insofern sollte es bleiben, wie es ist, trotz seiner martialischen Aufmachung. Und es zeigt uns zudem, anders als die meisten Denkmäler, daß Kriege mit echten Waffen, mit echten Panzern und Haubitzen geführt werden. Rußland führt dies gerade wieder auf blutige Weise vor. Und wenn wir die von der tapferen ukrainischen Armee zerstörten russischen Panzer ausstellen wollen, so plazieren wir sie am besten auf der Straße Unter den Linden vor der russischen Botschaft. Dort gehören sie hin, sofern wir solche krude Faktizität denn zeigen wollen.

Diese Karikatur von Greser & Lenz ist übrigens aus dem Jahr 2014. Wir hätten wissen können, was uns durch Rußland droht.

Russischer Widerstand: Denis Zakharov

Denis Zakharov ist ein russischer, pro-ukrainischer Aktivist und Kriegsgegner, der in Moskau lebt (und nicht erst seit gestern offen und einfallsreich mit QR-Code protestiert).

Er organisiert Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg und will russischen Einberufenen an der Front helfen, sich zu ergeben. Die Ukrainer:innern haben schließlich eh schon alle Hände voll zu tun, meint er, und Russen seien für Russen verantwortlich.

Er war auch am 21. September bei der Anti-Mobilisierungsdemo auf dem Arbat, hat gefilmt und von vornherein damit gerechnet, dass er verhaftet wird. Was auch geschah. Was anschließend passierte, schilderte er hinterher. Er hat jetzt eine Klage an der Backe, ist wohl untergetaucht und Einsatzkräfte drangen in seine Wohnung ein als er nicht dort war.

Es lohnt sich, die verlinkten Threads von ihm zu lesen.“

[Gepostet von der Bloggerin arboretum, drüben bei che2001]

Wie lange solche tapferen Menschen wie Zakharov im System des Raschisten Putin noch agieren können, bleibt fraglich. Und auch, wie lange sie am Leben bleiben, während hier in Deutschland Schmierfinken wie Dirk Pohlmann, Tom J. Wellbrock und Manipulationsportale wie die Nach“Denk“Seiten gegen genau die Freiheit hetzen, die sie hier unverhohlen in Anspruch nehmen.

„Sie werden für immer unsere Bürger sein“

So drohte Putin in seiner Annexions-Rede im Kreml. Im Hinblick auf die Aspekte Freiheit und das Eingebundensein der Menschen in eine blutige Diktatur erinnert mich Putins Spruch an Hitlers Reichenberger Rede vom Dezember 1938, besonders an jenen letzten Satz dieser Passage:

„Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn nun diese Knaben, diese Mädchen mit ihren zehn Jahren in unsere Organisationen hineinkommen und dort so oft zum erstenmal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei und anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen, alle mit einem Symbol: dem deutschen Spaten (Beifall). Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder dort noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre (Beifall), und wenn sie dann nach zwei oder drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben (Beifall), und sie sind glücklich dabei.

Nein, man kann in vielen Aspekten Hitler nicht mit Putin vergleichen. Bei Putin findet kein Genozid statt, die Parallele liegt in den Kriegsverbrechen, im Angriffskrieg und im Landraub und dem Abbau von jeglicher Freiheit sowie der Abschaffung freier Wahlen. Und die Strukturen faschistischer oder semifaschistischer Diktaturen ähneln sich – wobei Putins Diktatur mehr noch einen brutalen Mafiasystem aus Korruption, Erpressung, Vorteilsnahme und Mord gleicht, und wer da nicht spurt, der „springt“ dann schon mal aus dem Fenster, wie diverse Manager der russischen Staatskonzerne, bekommt einen Herzinfakt oder hat Novitschok in der Unterhose wie Nawalny. Hinzu kommt Putins Satz zum KGB: Wer einmal in seinem Leben KGB-Agent war, der bleibt es sein ganzes Leben. Putins Zeit im KGB reichte bis über dessen Auflösung.

Und unter Garantie werden da wieder Leute sein, die sagen „Aber das war gar nicht Rußland“ oder „Rußland wurde ja nur von der NATO dazu gedrängt!“ Und wenn man diese Leute dann als Putins Rektumsschlecker bezeichnet, werden sie es mit empörter Geste von sich weisen. Es ist immer das gleiche Spiel. Nein, Diskussionen mit solchen Leuten wie Dirk Pohlmann, Matthias Bröckers, Ken Jebsen, Uli Gellermann, Tobias Riegel, Albrecht Müller, Jens Berger, Tom J. Wellbrock und ihren Gefolgsleuten sind völlig unsinnig, sie führen zu nichts. Es geht nicht mehr darum, diese Leute zu überzeugen, sondern es muß gezeigt werden, daß die Lügen und Dekontextualisierungen dieser Menschen für andere sichtbar gemacht werden.

***

Eine gute Aktion haben mutige Menschen in Rußland geliefert: Sie brachten am Grab von Putins Eltern auf dem Serafimowski-Friedhof in Sankt Petersburg einen Mahnzettel an:

„Liebe Eltern! Euer Sohn benimmt sich grässlich! Er schwänzt den Geschichtsunterricht, prügelt sich mit seinen Banknachbarn und droht, die ganze Schule in die Luft zu jagen! Handeln Sie!“