Einmal wieder, wie bereits nach dem ersten Friedensaufruf im März 2022, hat Jürgen Habermas einen Essay, einen langen zudem, über eine zentrale Frage geschrieben: „Wie einen Krieg beenden?“ Und vor allem: „Wie geschieht dies auf eine effektive Weise, ohne daß Europa in einen Weltkrieg driftet?“ Daß diese Frage in der gegenwärtigen Situation und im Blick auf Putin jedoch von Habermas kurz zu beantworten ist, sei vorweggestellt und wer sich lange Wege sparen will, der lese die letzten vier Sätze dieser Kritik. Ich mache mir aber dennoch die Mühe, auf einige Aspekte von Habermas im Detail einzugehen. Er schreibt im Blick auf die Präliminarien:
„Auch aus Kreisen der SPD hörte man nun, dass es keine „roten Linien“ gebe. Bis auf den Bundeskanzler und dessen Umgebung nehmen sich Regierung, Parteien und Presse beinahe geschlossen die beschwörenden Worte des litauischen Außenministers zu Herzen: „Wir müssen die Angst davor überwinden, Russland besiegen zu wollen.“ Aus der unbestimmten Perspektive eines „Sieges“, der alles Mögliche heißen kann, soll sich jede weitere Diskussion über das Ziel unseres militärischen Beistandes – und über den Weg dahin – erledigen. So scheint der Prozess der Aufrüstung eine eigene Dynamik anzunehmen, zwar angestoßen durch das nur zu verständliche Drängen der ukrainischen Regierung, aber bei uns angetrieben durch den bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung, in der das Zögern und die Reflexion der Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht zu Worte kommen.“
Zunächst einmal heißt „Sieg“ nicht alles mögliche, sondern ganz primär geht es dabei um den Abzug der Russen aus den am 24.2.2022 überfallenen Gebieten. Dies ist die primäre Forderung der Ukraine, dies ist die primäre Forderung des Westens und vieler anderer Länder. Habermas spitzt hier eine Auslegung zu bzw. biegt sie um. Rote Linien heißt im Kontext von Hilfeleistungen des Westens: rote Linien im Blick auf Waffenlieferungen; diese rote Linie aber hinsichtlich der Waffen kann es nicht geben, weil prinzipiell alle konventionellen Waffen tauglich sind, die Ukraine in ihrer Verteidigung zu unterstützen. Und alle politischen Akteure betonen immer wieder, daß die NATO in keinem Fall Teilnehmer in einem Krieg sein dürfe. Diesen Wunsch hat auch die Ukraine respektiert: es kommen von ihr keine Forderungen, daß auch NATO-Truppen zum Einsatz kommen sollten. Insofern besteht keinerlei Gefahr, daß die NATO oder Staaten der NATO aktiv in diesen Krieg eingreifen.
„Rußland besiegen zu wollen“ heißt, wie gesagt, zunächst einmal, daß Rußland aus der Ukraine sich zurückzieht. Kein Mensch jedoch spricht von einem Einmarsch in Moskau. Sehr wohl aber muß es legitim sein, darüber nachzudenken, wie es mit Putin weitergeht und was möglicherweise nach Putin kommt – solches Durchspielen von möglichen Szenarien ist Bestandteil einer jeden vorausdenkenden (Geo)Politik.
Was diese Passage ebenfalls problematisch macht, ist der Umstand, daß sich Habermas hier gleichzeitig ins Fahrwasser einer unkritischen Äquidistanz manövriert: der „Prozess der Aufrüstung“ ist einzig und allein durch den russischen Angriff auf die Ukraine motiviert und durch nichts anderes. Die „Dynamik“ liegt in den immer neuen Angriffswellen Rußlands und im grausamen Beschuß von Zivilisten – von dem, was Rußland in den besetzten Gebieten anstellt, ganz zu schweigen. Und das Recht auf die Selbstverteidigung der Ukraine zu stärken, mit Worten und mit Waffen, hat nichts zu tun mit einem „bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“: bellizistisch sind jene, die einen brutalen Angriffskrieg gegen ein souveränes Land führen und nicht jene, die für eine Verteidigung plädieren, die im Falle eines Krieges nun einmal nur mit Waffen und nicht mit Worten geleistet werden kann.
Weiter schreibt Habermas im Blick auf nachdenklichen Stimmen:
„Wenn ich mich diesen Stimmen anschließe, dann gerade weil der Satz richtig ist: Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren!“
Die Ukraine gewinnt jedoch diesen Krieg nicht mit Worten. Insofern ist dieser Satz ein leeres Mantra und muß abstrakt bleiben. Vielleicht aber sollten wir in unseren Medien und in unseren öffentlichen Diskursen die Ukrainer und die Mitteleuropäer selbst vielmehr zu Wort kommen lassen, um zu hören, was sie brauchen, damit sie sich gegen Rußland behaupten können. Das wäre zielführender. Wie im übrigen die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren kann, beantwortet Habermas in seinem ganzen Essay mit nicht einem einzigen Wort. Darauf gehe ich noch weiter ein. Habermas führt in einer Kaskade von Ableitungen eine Menge an Unterscheidungen und Fragen ein, die jedoch im Reigen der Abschweifungen den zentralen Aspekt nicht nur aus den Augen verliert, sondern er unterschlägt vor allem den für die Ukrainer wesentlichen Aspekt, wie man die Russen aus der Ukraine verdrängen kann, und schiebt diese Fragen auf die Seite – läßt sie, um es zuzuspitzen, hinter einem Diskursnebel verschwinden. Habermas thematisiert teils berechtigte und auch politisch interessante Aspekte wie jene Fragen zum Völkerrecht und den Lehren, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen haben – die nur alle nichts dazu uns sagen können, wie wir Putin an den Verhandlungstisch bekommen können. Es sind Abschweifungen, die in der Sache nur bedingt dienlich sind. Und es sind in diesem Sinne leider nur Nebeltöpfe.
Habermas bringt in seinem Essay unterschiedliche Aspekte zusammen. Das eine ist die Frage nach einer neuen Friedensordnung, die zunächst in einer mehr oder weniger fernen Zukunft liegt. Nur haben diese Überlegungen etwas von einem Glasperlenspiel, das schön anzusehen ist und fein klingt, aber das Flirren und Klingen macht eben noch keinen Frieden und vor allem sagt uns Habermas nicht, wie er sich diesen Weg dorthin vorstellt bzw. wie er politisch zu bewerkstelligen ist: der Kommunikationstheoretiker ist in dieser zentralen Frage erstaunlich unkommunikativ und verschwiegen. Mit diesem Schweigen hängt ein weiterer Aspekt zusammen, der von Habermas ebenfalls nicht ausreichend zum Thema gemacht wird, nämlich auf welche Weise der Westen die Ukraine auf eine effektive Weise unterstützen kann, ohne daß es dabei zu einem Weltkrieg kommt und zugleich ohne dabei Putins Spiel der Erpressung mit einem solchen Weltkrieg mitzuspielen. Das Plädoyer fürs Verhandeln bleibt bei Habermas im luftleeren Raum.
Die Lage des Westens wird bei Habermas allerdings hinsichtlich innen- wie außenpolitischer Fragen der Regulierung thematisch:
„Der Westen hat eigene legitime Interessen und eigene Verpflichtungen. So operieren die westlichen Regierungen in einem weiteren geopolitischen Umkreis und müssen andere Interessen berücksichtigen als die Ukraine in diesem Krieg; sie haben rechtliche Verpflichtungen gegenüber den Sicherheitsbedürfnissen der eigenen Bürger und tragen auch, ganz unabhängig von den Einstellungen der ukrainischen Bevölkerung, eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; daher können sie auch die Verantwortung für die brutalen Folgen einer nur dank ihrer militärischen Unterstützung möglichen Verlängerung des Kampfgeschehens nicht auf die ukrainische Regierung abwälzen. Dass der Westen wichtige Entscheidungen selber treffen und verantworten muss, zeigt sich auch an jener Situation, die er am meisten fürchten muss – nämlich die erwähnte Situation, in der ihn eine Überlegenheit der russischen Streitkräfte vor die Alternative stellen würde, entweder einzuknicken oder zur Kriegspartei zu werden.“
Damit liefert Habermas allerdings gute Argumente, warum der Westen seine Waffenlieferungen unbedingt forcieren muß, und zwar bevor verhandelt wird. Denn insbesondere, weil in demokratischen Staaten die Stimmung sich ändern kann, ist es wichtig, daß in diesem russischen Angriffskrieg möglichst schnell militärische Resultate erzielt werden, um Rußland derart zu schwächen, daß es sich zu Verhandlungen gezwungen sieht. Leider aber gerät Habermas auch in dieser Passage wieder in jene Haltung der unkritischen Äquidistanz: „eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; …“ ist ein seltsamer Satz: Wenn Waffen aus dem Westen, wie im Juli 2022 durch die Lieferung von HIMARS geschehen, dazu dienen, daß der Beschuß von ukrainischen Zivilisten massiv zurückging, weil durch diese Waffen die Artillierie- und Raketenstellungen der russischen Aggressoren ausgeschaltet wurden, dann ist die Lieferung solcher Waffen naürlich sinnvoll. Das sollte auch Habermas wissen. Und da, wo Habermas zuvor noch zwischen Angreifern und Opfern differenziert hat, sind plötzlich auch jene, die dem Opfer des russischen Überfalls, nämlich der Ukraine, beistehen, auf der Seite von Tätern? Eine seltsame Logik. Doch selbst wenn die Ukraine auch russisches Territorium beschießt und Artillerie- und Raketenstellungen dort mit Waffen langer Reichweite vernichtet, so liegt der Grund nicht darin, daß die Ukraine Rußland angreift, sondern in dem banalen Faktum, daß Rußland am 24.2.2023 die Ukraine überfallen hat. Gegenwehr bei einem Angriffskrieg ist vom Völkerrecht gedeckt.
Wenn Habermas davon spricht „Fatal ist, dass der Unterschied zwischen ‚nicht verlieren‘ und ‚siegen‘ nicht begrifflich geklärt ist“, so trifft das noch viel mehr auf die begriffliche Klärung von „verhandeln“ zu. Verhandeln setzt nämlich zunächst einmal voraus, daß mindestens zwei Akteure bereit sind das zu tun – und bei einem Angriffskrieg ist es unabdingbar, daß vor allem der Aggressor überhaupt bereit ist zu verhandeln. Ist dies nicht der Fall, dann ist jedes Differenzieren und jegliches Ausbuchstabieren von Begriffen am Ende sinnlos. Der Beweis vermeintlich überragender Analysequalitäten gerät nämlich schnell am kruden Faktum zunichte und wird zu jenem oben genannten selbstzweckhaften Gespinst. Vor allem wenn sich zeigt, daß da mit falschen Mitteln die falsche Sache analyisiert wird.
Wenn wir schon analysieren, dann sollten wir dabei auch auf die einzelnen Schritte achten, und zwar im Sinne einer zeitlichen Reihenfolge – nicht nur im Blick auf „verhandeln“. Zunächst einmal heißt „nicht verlieren“, daß die Ukraine nicht kapitulieren muß. Und was ist dazu unabdingbar erforderlich? Worte? Nein. Waffen. Waffen. Und nochmals Waffen. Und gut ausgebildete Soldaten, die in der Lage sind, Verteidigungsoperationen und komplexe Verbundangriffe auszuführen. Und bei genügend Waffen werden vielleicht auch die Worte Wirkung entfalten. Primär heißt „nicht verlieren“ also, daß die Ukraine nicht noch weitere Gebiete verliert, indem sie damit gezwungen sein wird, einen Diktatfrieden anzunehmen, einen „Frieden“, der von Rußland aufgezwungen ist, und der, auch diesem Aspekt widmet Habermas leider zu wenig Aufmerksamkeit, nur weitere und neue Kriege erzeugen wird, aber keine bleibende Friedensordnung. Denn weder die Ukraine noch der Westen werden akzeptieren, daß Cherson und Charkiw unter russischer Besatzung stehen und es wird also in diesen Regionen ein auf Dauer gestellter Bürgerkrieg stattfinden. Diesen Überlegungen widmet Habermas keinerlei Beachtung. Und auch nicht den Überlegungen, was es für die Sicherheitsordnung Europas konkret bedeutet, wenn die Ukraine verliert. Er schreibt zwar, die Ukraine dürfe nicht verlieren. Wie sie das aber bewerkstelligt, läßt Habermas seltsam in der Schwebe. Denn er hat ja sein Mantra „Verhandeln“, das er als ungedeckte Voraussetzung und damit als leere Spielmarke immer wieder einwirft.
Der Zeitfaktor, wie Habermas schreibt, spielt in der Tat eine große Rolle: dieser Faktor aber ist gerade ein Argument dafür, daß in Europa schon viel früher die Maschinen hätten angeworfen werden müssen, um Ausrüstung, Munition und Waffen zu produzieren, daß schon viel früher Patriot, HIMARS, Iris2, Leoparden und Marder geliefert werden und die Soldaten an diesen Geräten hätten ausgebildet werden müsse – wobei ich bei letzterem davon ausgehen, daß die Briten und die Amerikaner dafür schon gesorgt haben.
Thema wird bei Habermas aber auch die entsetzliche Gewalt des Krieges selbst.
„In dem Maße, wie sich die Opfer und Zerstörungen des Krieges als solche aufdrängen, tritt die andere Seite des Krieges in den Vordergrund – er ist dann nicht nur Mittel der Verteidigung gegen einen skrupellosen Angreifer; im Verlaufe selbst wird das Kriegsgeschehen als die zermalmende Gewalt erfahren, die so schnell wie möglich aufhören sollte. Und je mehr sich die Gewichte vom einen zum anderen Aspekt verschieben, umso deutlicher drängt sich dieses Nichtseinsollen des Krieges auf.“
Sollen und wollen: Habermasʼ Beobachtungen zum Krieg als entsetzliche Gewalt mögen richtig sein, aber sie sind nicht besonders originell und neu, und man kann in einem konkreten Krieg diese Überlegungen nicht unabhängig von Opfern und Tätern anstellen – dazu muß man nicht einmal Hitler und den Zweiten Weltkrieg bemühen, obwohl her Analogien naheliegend sind, was den destruktiven Charakter Putins wie auch Hitlers betrifft. Hinzu kommt, daß ein abstraktes Sollen oder in diesem Falle ein Nichtseinsollen leer und unbezüglich bleiben müssen, wenn, wie hier auf einen konkreten Fall bezogen, nicht wenigstens im Ansatz Vorschläge zur Lösung ausgebreitet und angeboten werden. Das freilich macht Habermas nicht mit einem Wort. Es bleiben bloße Proklamationen. Nun ist es zwar so, daß ein Intellektueller nicht bis ins letzte ausgefeilte praktische Pläne liefern muß. Aber er sollte, gerade wenn er, wie Habermas, viele Gebiete durchdringt und analysiert, auch in diesen Gefilden seine Analyse tätigen. Gerade auch wenn es ums Bestimmen von Prinzipien geht.
Ein Prinzip einzuführen, daß kein Krieg sein soll, ist eine gute Sache und man kann dieses Prinzip auch gut begründen. Aber ein Prinzip, das in der Wirklichkeit nicht zur Geltung gelangt, muß zugleich problematisch bleiben, wenn wir an Menschen wie Putin geraten, die keinesfalls gewillt sind, sich an dieses Prinzip zu halten. Ich will an dieser Stelle keine Debatte über Prinzipien und ihre Umsetzung sowie den Streit zwischen Kant, Fichte, Hegel und ihrer Anhänger in die Waagschale werfen und auch nicht debattieren, ob es ausreicht, ein Prinzip angemessen zu begründen. Wenn es jedoch, das ist meine Sichtweise, in der sozialen und gelebten Wirklichkeit keine Anwendung finden kann, dann müssen aus dieser sozialen Wirklichkeit heraus Mittel geschöpft und Möglichkeiten geschaffen werden, diesem Prinzip in irgend einer Weise Geltung zu verschaffen, sofern es ein logisch richtiges Prinzip ist. Im Falle des russischen Angriffs etwa hat eine supranationale Organisation wie die UNO kläglich versagt. Sie kann Beschlüsse fassen. Sie kann es aber genauso auch sein lassen. Die Auswirkungen für die Menschen in der Ukraine sind die gleichen. Wie also vorgehen?
„Demgegenüber hätte das erklärte Ziel der Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022 den späteren Weg zu Verhandlungen erleichtert. Aber beide Seiten wollten sich gegenseitig dadurch entmutigen, dass sie weitgesteckte und anscheinend unverrückbare Pflöcke einschlagen. Das sind keine vielversprechenden Voraussetzungen, aber auch keine aussichtslosen. Denn abgesehen von den Menschenleben, die der Krieg mit jedem weiteren Tag fordert, steigen die Kosten an materiellen Ressourcen, die nicht in beliebigem Umfang ersetzt werden können. Und für die Regierung Biden tickt die Uhr.“
Auch hier wieder finden wir bei Habermas jene Äquidistanz. Es sind in diesem Krieg nicht beide Seiten irgendwie gleich und beide Seiten führen gleichberechtigte Interessen an. Das Interesse der Ukraine nach territorialer Unversehrtheit und nach sofortigem Abzug der russischen Truppen von den am 24.2.2022 überfallenen Gebieten ist primordial und vor allem ist es vom Völkerrecht gedeckt, wenn wir uns in rechtsphilosophischen Gefildenbewegen. Bei dieser Forderung geht es nicht um „unverrückbare Pflöcke einschlagen“, sondern um die Existenz eines souveränen Staates. Insofern sei hier noch einmal darauf verwiesen, daß die Ukraine am 29. März 2022 weitreichende Zugeständnisse und Verhandlungen mit Rußland angeboten hat, um überhaupt einen Waffenstillstand zu erreichen und die Ukraine war sogar bereit „auf weite Teile ihrer Souveränität zu verzichten“, wie es auf der Seite „Ungesunder Menschenverstand“ heißt. Dieser Vorschlag firmiert unter dem Titel „Istanbuler Kommuniqué“ und ist recherchierbar und nachzulesen. Rußland hat diesen Vorschlag einen Tag später zurückgewiesen. Und weiter heißt es bei „Ungesunder Menschenversand“:
„Wer Verhandlungen fordert, soll deutlich sagen, was er bereit wäre Russland anzubieten. Und er täte gut daran, sich die abgelehnten Vorschläge vorher durchzulesen.“
Am Ende läuft es bei Habermas auf Konjunktive hinaus. Hätte, müßte, wäre, sollte:
„Schon dieser Gedanke müsste uns nahelegen, auf energische Versuche zu drängen, Verhandlungen zu beginnen und nach einer Kompromisslösung zu suchen, die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert und doch ihr Gesicht zu wahren erlaubt.“
Ja, das wird auch Olaf Scholz immer wieder und wieder mit seinen Telefonaten versucht haben. Der Effekt war gleich null. Putin hat Scholz deutlich zu verstehen gegeben, worum es ihm geht. Diese Aussagen von Habermas sind sehr freundlich gedacht – ich fürchte aber, daß all das Putin nicht interessieren wird. Und ich denke, daß dies auch all jene Experten sagen, die sich hinreichend mit Putin beschäftigt haben und die Putins politische Reaktionen einschätzen können. Putin geht es um die Niederwerfung der Ukraine. All das, all seine Ziele hat Putin deutlich und klar und vernehmbar immer wieder formuliert. Der zwanglose Zwang des besseren Arguments funktioniert jedoch leider nicht bei Leuten, die es nicht darauf anlegen, zu argumentieren, sondern wie Putin, eine Agenda durchzuziehen, die wesentlich durch Erpressung und Gewalt getragen ist.
Sicherlich wäre es wünschenswert, wenn Putin sich an den Verhandlungstisch setzte. Aber er tut es nicht. Er weiß, daß die Zeit für ihn spielt, wenn der Westen nicht weiterhin die Ukraine massiv unterstützt. Und je mehr die Zeit für ihn spielt, weil der Westen ermüdet, desto fetter seine Beute. Um also, und damit drehen wir uns wieder im Kreis, Putin zu Verhandlungen zu bringen, muß man Druck auf Putin ausüben. Ich kann nur jedem raten sich diese heute von mir verlinkte Dokumentation „Gazprom – Die perfekte Waffe“ https://www.arte.tv/de/videos/108467-000-A/gazprom-die-perfekte-waffe/? anzusehen. Wir finden dort Einblicke in Putins Welt, in Putins Denken, die jede Hoffnung auf Verhandlungen zunichte machen. Putin ist ein KGB-Gewächs, was seine Methoden betrifft. Putin verfolgt eine Agenda und diese Agenda ist die Zerschlagung der Ukraine als souveräner und aus sich selbst heraus existierender demokratischer Staat. Putin sammelt an den Grenzen Rußlands eine Anzahl an Satelitenstaaten, wie bereits bei Weißrußland und Tschetschenien. Und Putin hat andere Staaten wie Georgien und Moldau bereits lange schon im Blick. Mit diesem Wissen im Kopf und mit diesen Fakten gerüstet, die sich in zahlreichen Büchern über Putin nachlesen lassen, wird man keine großen Hoffnungen hegen, daß Putin morgen an den Verhandlungstisch sich setzen wird.
Ich kann den Wunsch nach Frieden gut verstehen, den haben viele Leute, aber man muß bei Politikern wie Putin ein hohes Maß an Realismus sich bewahren.
Es gibt für Habermasʼ Ausführungen im Blick auf Friedensverhandlungen eine Redewendung, die, wenn Habermas sie in Anschlag gebracht hätte, seinen Text erheblich kürzer hätte ausfallen lassen – und meinen dann auch. Sie lautet: Er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und der Wirt ist in diesem Falle Putin. Witze zu Putins Koch seien den Lesern erspart.
