„Die Wiener bestehen in der Regel aus einer Mischung aus Mißmut und schlechtem Gewissen.“
Ich las gestern Abend, gegen 23 Uhr, in jenen Nachtstunden kurz vor letztem Weißwein und dem Gang ins Bett, mit Trauer und Bestürzung, daß der Schriftsteller Gerhard Roth mit 79 Jahren gestorben ist. Seine „Archive des Schweigens“ und insbesondere „Eine Reise in das Innere von Wien“ und auch „Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien“ haben mir Mitte der 2010er Jahre diese herrlich-traurige Stadt erschlossen. Es war diese Sprache und die Art der Beobachtung: als Flaneur noch bis ins Stiegenhaus zu gehen und zu schauen, was da ist und wie Briefkästen ausschauen. Was für Sätze im Blick auf Wien:
„Wie alles in der Welt trägt auch die Nationalbibliothek den Keim der Zerstörung in sich.“
„Feuer und Wahn wüteten bei Bücherverbrennungen schon im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Paradoxerweise waren die Zensoren und Oberzensoren gleichzeitig Beamte der Nationalbibliothek – da sie am besten Bescheid wußten.“
Roth ist einer dieser Autoren, um die keiner je großes Gewese machte zu Lebzeiten und bei denen wir doch merken werden, wenn sie nicht mehr da sind, wie sehr sie uns bzw. mir fehlen werden. Wenn da im Detail und doch ohne Belehrungsverve grausige Dinge beschreiben werden. Wie da in und an Details und Nebensachen ein Problem aufgeht. In welcher Art Roth scheinbare Kleinigkeiten vergrößert und dort das ganze herausliest. In diesem Sinne auch ein Nachfahre von Benjamin und Adorno und deren mikrologischem Blick, nur im Ton leiser, trauriger, nüchterner auch als etwa Adorno in den „Minima Moralia“ – eher schon Benjamins Kindheit um 1900. In all diesen Beobachtungen aber sticht immer wieder der Schrecken hervor, auch darin in solchem Freilegen ist er eben legitimer Nachfahre Benjamins und Adornos. All der kleine Haß, und immer wieder der Antisemitismus. Roth spazierte mit dem Leser durch Wien, zum Narrenturm, ins Heeresgeschichtliche Museum, durch die Leopoldstadt, in den Stephansdom und dorthin auch, wo man eigentlich nichts mehr vermutet. So in die Hetzgasse, wo das „k. k. privilegierte Hetztheater unter den Weißgerbern“ stand, im heutigen Dritten Bezirk. Es war ein Gebäude, darin solche Spektakel wie Tierkämpfe aufgeführt wurden. Daher der Name. Mitte des 18 Jahrhunderts erbaut und 1795 abgebrannt und nicht wieder aufgebaut. Roth schreib am Ende seines Artikels „Das „k. k. privilegierte Hetztheater“:
„In der Hetzgasse Nr. 4, unmittelbar dort, wo das Amphitheater stand, brannte um die Jahrhundertwende dann ein Feuer, das seinen hellen Schein auf die allgemeine, österreichische Hetz warf. Es war die Redaktion der satirischen Zeitschrift ‚Die Fackel‘ von Karl Kraus.“
Und so möchte man aus Roths Büchern weiter- und weiterzitieren, weil der schönste Nachruf ist nun einmal, den Autor selbst noch einmal sprechen zu lassen. Sein Spazieren und sein Blick, sein Photographieren:
„Ich fing an, die Mauerflecken des Gebäudes Am Heumarkt 7 zu fotografieren, stromerte an den anderen Tagen in der Stadt herum, betrachtete mit wachsender Begeisterung in verschiednene Bezirken Wiens die Mauerflecken und die in ihnen verborgenen Bilder, verglich sie mit dem Hintergrund von Gemälden im Kunsthistorischen Museum und fotografierte schließlich, bis ich eine eigene Stadtkarte der österreichischen Hauptstadt beisamenn hatte.“
Roth führte uns in das Innere Wiens und zeigt nicht einfach nur die schönen Seiten, da geht es auch schon mal in ein Obdachlosenasyl. Bei Gerhard Roth assoziiere ich die dunklen wie die schönen Facetten des geliebten Wiens, was ja in dieser Stadt beides zusammengehört: der Jahrhundertstadt wegen Kunst und Psychoanalyse und wegen Naschmarkt und Karl Kraus und wegen Egon Schiele und der Mariahilfer Straße, dem Gasthaus Wild, dem böhmischen Prater. Das Revers ist Paris: Surrealismus und die Wanderschaft der Psychoanalyse in den Westen. Und wie schon Louis Aragon in „Paysan de Paris“ legt auch Roth einen untergründigen Strom jener Stadt Wien frei. Der letzte Gang aber geht zum Zentralfriedhof:
„‚Der Zentralfriedhof‘, sagte Herr Westermeyer, ein neunundsechzigjähriger Pensioneis, der vor drei Jahren einen Verein für Friedhofskunde und Persönlichkeitsforschung gegründet hat, ‚der Zentralfriedhof ist fünf Quadratmeter groß und hat drei Millionen Tote aufgenommen. Auf dem stillgelegten jüdischen Friedhof, dem ‚alten‘ – hier beim Tor 1 – sind ungefähr 60.000 beigesetzt.‘ Der Wind löst Schwaden von Blättern aus den Kronen der Ahornbäume und treibt sie über den Platz, auf dem bis zur ‚Reichskristallnacht‘ die Zeremonienhalle stand und jetzt ein Polizist mit einem Schäferhund spielt. Es ist ein flaches, grasbewachsenes Stück Erde, nicht weit von der Friedhofsmauer und der ersten Grabreihe, in der Arthur Schnitzler und Friedrich Torberg liegen.
[…]
Wir spazieren an den Armengräbern, die auf der weiten Wiese vor dem kirchlichen Palast verstreut liegen, vorbei. Nach einer Weile sagt Herr Westermayer: ‚Wir leben in einem riesigen Totenreich … der Friedhof ist ein Mikrokosmos, ein Totenbuch, in dem wir lesen können, solange es noch eine Zeit gibt. Denken Sie an die Menschen, die vor uns gelebt haben … sie sind da … sie sprechen zu uns.“
(Gerhard Roth, Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien. Epilog: Der Zentralfriedhof.)

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