#dichterdran. Masculin – Feminin oder: nicht mehr die Kinder von Marx, sondern von Coca-Cola

Bei den Literaturtwitterfrauen ist Hashtag-Alarm, da schreiben unter dem Slogan #dichterdran interessante Frauen aber leider auch teils skurrile Gestalten über die Abwertung von Frauen im Literaturbetrieb, in dem man Schriftstellerinnen aufs äußere reduziert. Sie schreiben Tweets über männliche Autoren in der Form wie Literaturkritiker über Autorinnen schreiben, wenn sie deren Reize betonen. Mich betrifft das alles nicht, denn ich lese fast nur Männer: Jean Paul, Herder, Wieland, Heinse, Tieck, Friedrich Schlegel, Melville, Dickens, Sterne, Goethe, Ingeborg Bachmann und George Eliot. Aber Scherz beiseite.

Was ist der Hintergrund? Der Kritiker Martin Ebel schrieb über die Autorin Sally Rooney sowie ihren neuen Roman und eben auch über das Bild  der Frau (zu sehen auf der Verlagshomepage von Luchterhand) belustigt, daß sie blicke „wie ein aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen“. Böse vielleicht, muß nicht sein, trotzdem es ein seltsames Photo ist, und es ist das Aussehen in der Tat kein Kriterium für Kritik am Werk. Sehr wohl aber kann es dann zum Kriterium werden, wenn es um die Autoreninszenierungen geht – das eine ist die Literatur als solche, das andere die sozialen Mechanismen, unter denen sie verbreitet wird.

Man muß schauen, auf welchem Feld man sich bewegt. Und da kann man in der Manege des Betriebes Thomas Glavinic eben genauso kritisieren und sich betrachten wie Sibylle Berg, wenn Berg etwa in einem bestimmten Modus in einem Literaturhaus auftritt und die „Welt“ dann schreibt „Der gewalttätigste Lidstrich Deutschlands“. Solche Überschrift ist eine Ermessensfrage, ich halte sie nicht per se für schlimm und vor allem sollte man aufpassen, daß man berechtigte Kritik – was eben auch bedeutet: zu sichten und zu unterscheiden – nicht mit simplem Gejammer verwechselt. Man kann solchen Satz eben auch als Kompliment deuten. Je nachdem, wie sich eine Frau verortet. Allen recht wird man es niemals machen. Hier zumindest wurde das Kraftvolle an Berg betont.

Wenn wir über Menschen und deren Auftritte im öffentlichen Raum schreiben, kommen Äußerlichkeiten ins Spiel: Man google Thomas Glavinic, ein Autor, der wegen solcher Dinge ebenfalls hart angegangen wurde.

Es gibt eine richtige Tendenz bei solchen Hashtags, die Sexismus oder Abwertung von Frauen im Literaturbetrieb markieren wollen, sie weist auf ein Problem, und es gibt zugleich einen ungeheuren Popanz, der da gemacht wird, Kleinigkeiten werden aufgeblasen,  aus Petitessen wird mit Absicht ein Skandal versucht zu inszenieren. Aber gerade solche Autorenportraits sind vielschichtig: Einerseits den Mehrwert solcher sinnlichen Photographien in Verlagsvorschauen oder auf der Autorinnen-Homepage einfahren und aus Marketing-Gründen den Lolita-Blick posen, andererseits, wenn das jemand bemerkt und darauf sich in einer Weise wie der Kritiker Martin Ebel äußert, in den Meckermodus verfallen. Da entsteht zugleich so ein bißchen Double-Bind. Mit dem Weibchenschema spielen und dieses als geldwerten Vorteil in Anschlag bringen, und springt dann jemand darauf an, unschuldig oder pöbelnd: „Hups, ich doch nicht!“ machen. Gerne mobilisiert sich dann auch eine Followerschaft unter jenem Hashtag und eine Verlegerin entdeckt die Sache als gutes Geschäftsmodel: Sie macht einfach aus solchen Twitter-Texten ein Büchlein. Kommunikation im Kreiselmodus.

Durchaus existiert teils solch anmaßender Ton, der Frauen aufs Fleisch oder auf anderes äußerliche zurückbricht, wenngleich ich meine, daß es besser geworden ist und nicht jeder Satz, der in den einen Ohren schief klingt (siehe der Lidschatten) ist auch schief und kritikwürdig und sexistisch. Wenn ich in der „Zeit“ oder auch in der FAZ und der Berliner Zeitung Buchkritiken lesen, in denen Bücher von Frauen besprochen werden, sehe ich nicht, daß Frauen aufgrund ihrer Äußerlichkeiten beurteilt werden, sondern es geht in die Literatur hinein. Mich würden da schon Beispiele interessieren, wo solche Fälle im Feuilleton vorkommen. Ebel mag in diesem Falle extrem sein, aber er weist eben auch auf den Mechanismus solcher Inszenierungen hin. Und zugleich muß man eben auch sagen, daß es Sätze von Kritikern gibt, die sind dumm, die haben nichts mit dem Buch zu tun. Andererseits finde ich es in einem Interview nicht allzu verwerflich, eine Autorin zu fragen, was sie denn gerne koche. Nicht die Frage, sondern der Ton der Frage macht die Musik und die Art wie das Interview insgesamt geführt wird.

Und allerdings gibt es Bilder von Autoren und Autorinnen, da fragt man sich: Wer in Gottes Namen sucht solche Photographien aus, gibt es keine kompetente Bildredaktion? Muß eine Autorin wie eine Blödsinnige gucken, als wäre sie gerade einem Geist begegnet? Allerdings sind das auch wieder Äußerlichkeiten. Das Ding nennt sich Marketing.

Ich erinnere mich Ende der 1990er noch gut an das „deutsche Fräuleinwunder“ in der Literatur. Da wurde gerne mitgespielt und der Werbevorteil eingefahren. Frauen posierten da in einem Spiegel-Artikel, wenn ich mich recht erinnere. Kann man alles machen und die Sache geriet irgendwann in den 2000ern dann auch wieder zu recht in Vergessenheit. Die Autorinnen überzeugten oder eben überzeugten nicht durch ihre Prosa.

Literatur ist eben nie nur die schöne Literatur, sondern Bücher bewegen sich auf einem Markt und da ziehen die Mechanismen des Marketing, die auch im Fall von Rooney (und ebenso bei Glavinic oder Berg) eine Rolle spielen. Wenn man sich in einer bestimmten Pose präsentiert, dann will man das als Autorin (oder Autor) auch irgendwie so, sei es, weil man ein Klischee bedient und sich auf diesem Ticket gut das Buch verkauft, sei es, weil es einem egal ist – es gibt da viele Möglichkeiten und Zwischentöne. Die Autorin Ronja von Rönne präsentiert sich sinnlich uns sexy, sie will das so und ich mag diese Bilder, man kann das genießen, aber es gibt einem das kein Anrecht auf sexistische Bemerkungen. Allenfalls kann man die Mechanismen kritisieren, die hinter solchen Inszenierungen stecken. Aber die betreffen eben genauso Stefanie Sargnargel oder Helene Hegemann.

Und ich kann das in einem gewissen Umfang nachvollziehen, es kommt eben auch aufs Äußere an, nicht nur bei Frauen übrigens, keiner will verhungern, jeder Autor braucht eine gewisse Aufmerksamkeit, denn er lebt von seinen Büchern undsoweiterundsofort. Und ohne jenen attraktiven Frauen, die ihr Aussehen nutzen, zu nahe treten zu wollen: Aber denken sie alle einmal und fragen sich, ob jene Frauen bei selber Qualifikation diese Medienpräsenz hätten, die sie haben und die diese Frauen auch weidlich nutzen, wenn diese attraktiven Frauen aussähen wie, nun ja, sagen wir Helga Feddersen – eine tolle Schauspielerin übrigens, man sehe nur ihre Rollen in ernsten Filmen und es ist ein Irrsinn, daß diese Frau als Ulknudel vermarktet wurde und sich so auch vermarkten ließ. (Aber wir alle haben vermutlich Hunger und verdurstet auf der Bühne mit großen Worten sterben ist nicht jedermanns Ding.)

Man sollte freilich diese Dinge nicht einfach individualisieren, denn hinter dieser Auswahl stecken grundsätzliche Mechanismen. Und die haben wesentlich etwas mit der Waren- und Verwertungslogik zu tun und mit einem System, das genau diese Logik andauernd forciert. Es muß verkauft werden und diese Akkumulation von Kapital samt Reinvestition und Wertzuwachs zwingt alle Beteiligten auf ein Rad und in ein System, in dem sie allesamt mitspielen. Man dünkt sich frei und ist es ganz und gar nicht. All das wird sich nicht durch immer neue Vorschriften und Regeln lösen lassen, und in diesem Sinne sind diese Konflikte dann von beiden Seiten auch wieder äußerlich. Denn wo heute das eine geregelt wird, kommt morgen das nächste Problem. Es ist dies nur eine Frage der Zeit, und all die Hashtag-Feminismen sind am Ende zugleich eine bequeme Form. Manchmal witzig, oft aber leider strunzendumm und ärgerlich, wenn sich daran Leute beteiligen, die sich selbst für Akademikerinnen oder Akademiker halten. Aber auch so kommt man eben in die Aufmerksamkeitsökonomie. Es gibt

Besser wäre es in der Tat, wenn Literaturkritik sich zum Werk äußert und nicht zu Äußerlichkeiten. Mich interessieren weder Peter Handkes Oberkörper noch Monika Rincks Unterwäsche, sondern deren Texte. Ansonsten aber bleiben wir doch lieber bei Eichendorff, dem „Marmorbild“ und seinem schönen Gedicht „Zwielicht“, das auch Adorno in seinem Eichendorff-Essay ansprach:

Dämmrung will die Flügel spreiten,
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken zieh’n wie schwere Träume –
Was will dieses Grau´n bedeuten?

Hast ein Reh du lieb vor andern,
Laß es nicht alleine grasen,
Jäger zieh’n im Wald’ und blasen,
Stimmen hin und wider wandern.

Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug’ und Munde,
Sinnt er Krieg im tück’schen Frieden.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neu geboren.
Manches bleibt in Nacht verloren –
Hüte dich, bleib’ wach und munter!

[Und damit wir uns nicht mißverstehen: das ist kein antifemistisches Manifest, sondern eine dialektische Kritik unter Einbeziehung der Marktverhältnisse.]

Die neue Weinerlichkeit oder das kleine Einmaleins der Warenkunde

Wenn in der Konsumgüter produzierenden Wirtschaft ein Produkt bei den Verbrauchern sich nicht gut verkauft, dann gibt es, sobald sich Marktforscher daran machen, die Ursachen dafür zu ergründen, kein einziges Unternehmen, das hinterher dem Verbraucher die Schuld zuschiebt und flugs behauptet, der Kunde wäre nur zu dumm für das Produkt gewesen oder er sei ein Arschloch. Sondern das Unternehmen versucht, entweder das Marketing zu verändern und die Vorzüge der Ware herauszustreichen, oder wenn das nicht funktioniert, rät der Marktforscher dem Produzenten, die Ware so zu verändern, daß der Kunde mit ihr etwas anfangen kann und sie gerne kauft. Was nicht überzeugt, wird nicht gekauft. Dieser Grundsatz gilt im Kapitalismus übrigens nicht nur für alle Waren, die sich irgendwie auf dem Markt anbieten.

Ansonsten verweise ich nicht nur auf meine Rezension von Didier Eribons Buch  „Rückkehr nach Reims“ (und auch hier ein Teaser dazu), sondern ich empfehle aus der „Berliner Zeitung“ das Interview mit Didier Eribon:

Eribon: „Der Begriff Klasse gilt als altmodisch und marxistisch. Klassen gibt es gar nicht mehr, heißt es jetzt. In den 80ern hat vor allem die sozialistische Partei in Frankreich versucht, die Existenz einer Sozialstruktur nach Klassen zu verleugnen. Stattdessen sprach man von der Selbstbestimmtheit des Individuums und dessen Verantwortung für sich selbst. Man sagte den Leuten: ‚Wenn du arbeitslos bist und keinen Schulabschluss hast, ist das deine schuld.‘

Wozu führte das?

Eribon: Damit nahm man den Arbeitern ihre Identität. Das Problem ist: Klassen existieren, auch wenn keiner darüber sprechen möchte. Und in dieses Vakuum stieß der FN. Marine Le Pen hat vor einigen Tagen noch in einer Rede gesagt: „Wir sind diejenigen, die für die Arbeiterklasse kämpfen.“ Die AfD in Deutschland und Ukip in Großbritannien machen das Gleiche.

In Deutschland ist Rechtspopulismus noch ein recht neues Thema. Haben Sie hier ähnliche Entwicklungen beobachtet wie in Frankreich.

Eribon: In Deutschland hat es in den vergangenen Jahrzehnten eine Prekarisierung der Arbeit gegeben. Und wie in Frankreich waren es auch in Deutschland die linken Parteien unter Kanzler Schröder, die das politisch durchgesetzt haben. In Großbritannien hat die Labour-Regierung sich ebenfalls nicht um die Arbeiterklasse gekümmert, obwohl das eigentlich ihr Klientel sein müsste. Wenn man sich anschaut, wer für den Brexit gestimmt hat, dann deckt sich das mit den Gebieten, die von der Deindustrialisierung am stärksten betroffen waren.“

(Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/25198024 ©2016)

Pour Gilles Deleuze – Postskriptum

„Mit Danone kriegen wir sie alle“
(Werbeslogan der 80er Jahre)

Gestern stand in einem Interview der Zeitschrift „Télérama“, das mit dem französischen Herausgeber der Texte von  Gilles Deleuze, David Lapoujade, geführt wurde:

„Natürlich hat sich der Kapitalismus seit zwanzig dreißig Jahren entwickelt, aber ihre [Deleuzes und Felix Guattaris] Reflexion über ‚Kontrollgesellschaften‘ ist aktueller denn je – als hätten sie die Umrisse des heutigen Kapitalismus bereits definiert. Sie haben gesehen, dass wir in eine Gesellschaft eingetreten sind, in der die Indivduen weniger einer permanenten Disziplinierung unterworfen sind. Kontrolliert werden sie eher über das Mittel von Informationen, die sie selber aussenden.“ (Quelle: Perlentaucher)

gilles_deleuze_2_h-672x372Gilles Deleuze, der sich vor 20 Jahren das Leben nahm, indem er am 4. November aus dem Fenster sprang (was heißt überhaupt: sich das Leben zu nehmen? Ist dies nicht eigentlich ein erobernder Akt? Sich das zu holen, was jedem Menschen zusteht: das Leben. Hier aber und in unserem Kontext der Sprache meint es genau das Gegenteil – auch dies ist bezeichnend und nicht ohne Bedeutung), schrieb in dem bis heute hin lesenswerten und nach wie vor aktuellen Aufsatz „Postskriptum über die Kontrollgesellschaft“:

„Die idiotischsten Spiele im Fernsehen sind nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie die Unternehmenssituation adäquat zum Ausdruck bringen.

(…)

In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht.

(…)

Zum Zentrum oder zur ‚Seele“ des Unternehmens ist die Dienstleistung des Verkaufs geworden. Man bringt uns bei, daß die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte Schreckensmeldung der Welt ist. Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle und formt die schamlose Rasse unserer Herren. Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.“

Zwang wird schon lange nicht mehr von außen, von einer anonymen oder auch sichtbaren Macht ausgeübt, schon gar nicht von personifizierten Gestalten oder dem zweifachen Körper eines Königs, sondern, ganz im Sinne von Foucaults Konzept einer Biomacht internalisieren wir die Kontrollmechanismen, die sich damit zu einer Disziplinarmacht samt Selbstoptimierung transformiert. Vom Veganer, über den sinnlosen Gesundheitsfetischismus, die Überbehütetheit von Kindern und einem absurden Vernetzungwahn bis hin zum internalisierten Zwang, den wir nicht umhinkommen, uns anzutun, wenn wir noch irgendwie dabeisein und Arbeit haben wollen. Das Unternehmen ist der Ort schlechthin geworden. [Und wie hieß es schon in Fechners/Kempowskis „Tadellöser & Wolff“: „Die Firma, die Firma, die Firma!“]

Tja – die immer gleiche Klage, die immer selben Sätze, die Wiederkehr des Immergleichen im Theorem. T(h)eorema oder die Geometrie der Warenbeziehungen. Wie es so ist, wenn die immer selbe Scheiße unter dem identitären Bann die immerselbe Scheiße bleibt. So wie sie ist und der Betrieb von uns allen es verlangt, den wir mit unserem Wirken, unserem Tun und Texten, dem Schreiben am Dampfen halten. Aber nein, es dampft nichts mehr: wir sind inzwischen im digitalen Zeitalter. Schauen wir mal, wann Sascha Lobo das postdigitale ausruft. Nein keine Klage: Anklage!

Auch die Differenzspiele taugen allenfalls in ihrer Glasperlenform. Kunst etwa, die einmal als widerständig sich konzipierte, ist Teil des Betriebes. Selbst dort, wo sie als hermetisch sich erweist, ist ihre Kritik, ihre Opposition, ihr kalter Blick auf die Struktur häufig bereits vom System integriert und eingekauft, wenn nicht einkalkuliert. Kein Ort – nirgends. Allenfalls die Fluchtorte der Ästhetik oder in den winzigen Lücken und Falten bleiben Reste. Im stillen Winkel, weit ab von den Großstädten, den Theatern, den Museen. Vielleicht doch die Uckermark? Nur bitte ohne dieses dumm Deutschtümelnde.

La vie/la vide

Salute Gille Deleuze!

Achtung: Heute Action-Event mit Suspense-Faktor!

„Nazi-Herrschaft: So haben Sie den Holocaust garantiert noch nie gesehen“ titelte am heutigen Tage das Onlineboulevardblatt „Huffington Post“ und macht uns Leserinnen und Lesern den Holocaust endlich wieder hinguckerisch schmackhaft. Und alle so: yeah Holocaust!

Immer wieder interessant und mit ironisch gelächeltem Mund zu lesen, wie manche in ihrem Ressentiment oder in ihrem Medienkonservatismus den Herrn Adorno der Übertreibung bezichtigten. Aber andererseits stimmt das sogar – freilich in einer anderen Variante als gedacht. Der Begriff Kulturindustrie war zu hoch gegriffen. Denn dieser setzte wenigstens ein Minimum an Kultur als Bestandteil von Gesellschaft noch voraus.

Im Grunde ist es traurig, einen solchen Text schreiben zu müssen, weil auch solche Glosse bereits dieses schwarze Geschehen, diesen absoluten Zivilisationsbruch instrumentalisiert. Einerseits soll und darf Auschwitz weder zu einer Veranstaltung des medialen Quotenhypes werden, andererseits darf dieser Begriff, der einen Ortsnamen als Bild des brutalen Todes und der grenzenlosen Vernichtung als pars pro toto in ein Zeichen bringt, nicht zu einer negativen Theologie oder zum bewußtlosen Erinnerungsritual erstarren. Lebendig bleibt Auschwitz für uns, also die Täterinnen und Täter bzw. deren Nachkommen als Akt barbarischer Gewalt, der im Namen Deutschlands von normalen Menschen und allzu willigen Vollstreckern durchgeführt wurde. Die, die das taten, hatten, wie auch all die Opfer, Namen. Daß die Auschwitzprozesse erst 19 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus durch die UdSSR, die USA und England stattfanden, bleibt ein weiteres Skandalon für die BRD.

Warenwelten, Kunstwelten, Zwischenwelten, auf der abc-Berlin und rund um die Umgebung der geprobte Blick

Flaneurpose im Regen über irgendeine Straße im Berliner Westen, vormittags Möbelausschau im Stilwerk, das Sofa ist durchgesessen, Kunstpose geprobt, Glycerine, klingender Name, Narbentexte, korkig schmeckender Wein, Liedertexte im Kopf, im Herzen Liebe nach Sachsens schönen Bräuten und Herbstzeitlose im Park. Ob so auch die Losverkäufer der Jahrmarktbuden ihre Produkte zu dieser Jahreszeit ausrufen und preisen? Motto für grundsätzlich klamme Botanische Gärten mit Spendenbedarf. Ich habe es gestern nun doch wahr gemacht und besuchte die Art Contemporary Berlin am Gleisdreieck in der Luckenwalder Straße. Da es sich um eine Messe handelt, bespreche ich die Veranstaltung nicht. Nicht etwa, daß ich an die hehren ewigen Wahrheiten der Kunst groß glaube, die vorm schnöden Geld geschützt werden müßten. In einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft geht nun einmal alles, jede Regung fast, bis zum Toilettengang, den Weg des Marktes und auch Künstlerinnen und Künstler wollen von ihrer Arbeit leben – wie alle anderen. Das geht durch den Verkauf und die Transformation der Kunst in Ware. Ob ich das gutheiße oder nicht, bleibt ganz und gar Nebensache.

Mir mißfällt vielmehr das Bezugslose solcher Messen. Es reihen sich verschiedene Positionen der Gegenwartskunst, genauer geschrieben deren Bilder, beziehungslos, beliebig und der Willkür anheimgegeben aneinander, genausogut wären ganz andere Bilder und Objekte denkbar. Ob das Gezeigte nun irgendwie repräsentativ sei, bleibt dahingestellt. Es gab, wie es im Leben so ist, Interessantes und Bedeutungsloses und es gab So-La-La. Die Selbstrelativierung der bildenden Kunst im Zeichen der herb gealterten Post-Moderne ist wohl auf ihrem Höhepunkt angelangt, niemand kann mit Fug und Recht noch sagen, was gelungen oder mißlungen sei, kaum einer, der auf kluge Weise all das Disparate, Beliebige, das Aufgreifen längst abgelebter Formen in eine andere Anordnung bringen könnte, als die vom Ende der herkömmlichen bürgerlichen, bildenden Kunst. Bildende Kunst drängt ins Kunstgewerbliche, vielfach ist sie rein dekorativ geworden. Zumal dort, wo es beim Betrachten sowieso nur um Wirkungen geht und die ästhetische Erfahrung als Maß allen Anschauens von Kunst funktioniert. Mache ich mit dem hach so sinnlichen Bild tolle Erfahrungen und finde ich mich im Werk wieder? Und dann noch flugs das überbordende Tafelbild gekauft und ausgesucht nach dem Motto „Paßt das Bild in meinen Wohnraum und wie paßt es zu meinem Typ?“, „Harmonisieren die Farben des Bildes mit meinem cremefarbenen Sofa und der Sengai-Kalligraphie im nach Askese duftenden Wohnzimmer?“ Nein, tut es nicht, zu bunt. Oh, sogar ein Meese hier. Meese auf der Messe. Ha, ha. Trotzdem stehen auch auf dieser Messe Werke, die herausragen und ironisch, verspielt, tiefsinnig, sinnlich, reflektiert oder auch hart den Begriff von Kunst und damit auch diese selber weitertreiben.

Viele Frauen, viele Männer, ich betrachte mir die rasierten Geschlechter der drei Performance-Aktivistinnen. Ich mag rasierte Geschlechter nicht. Andererseits geht es in der Kunst allerdings nicht ums Mögen (ich hätte beinahe „Mösen“ in die Tastatur gehauen) und so bin ich mit meinem eigenen Muschibewußtsein auf weiter Flur allein. Das ist alles aus sehr männlich-hilfloser Perspektive geschrieben, und als Ablaß für das sündige und politisch womöglich schandbare Denken an die Muschis der Performance-Darstellerinnen oder aber der Performance-Künstlerlinnen, die Performance-Darstellerinnen darstellen oder ganz einfach der drei aushilfsweise für ein Kunstwerk körperwirkenden jungen Frauen kaufte ich mir beim Stand der wunderbaren Buchhandlung Walther König den Band „Kunst und Feminismus“ aus dem Phaidon Verlag, der preislich herabgesetzt gerade im Angebot auslag. Und noch zwei weitere Bücher, was mir einen beigen Umhängestoffbeutel mit dem Aufdruck „Buchhandlung Walther König“ einbrachte. „Buchhandlung“ in blauer und „Walther König“ darauf in roter Schrift gedruckt. Die Trageschlaufen lang hängend, so daß der Transportsack nahe meiner schmalen Hüfte schwang.

Den Stoffbeutel trug ich dann ob des Gewichts freilich leicht nach rechts gebeugt über den Gehsteig, das Auto parkte zum Glück unweit, in der Luckenwalder Straße, und ich fuhr sinnierend und grübelnd nach Hause. Vorher jedoch einen kleinen Umweg nehmend an der nun geräumte Brache in der Cuvry-Straße im heruntergekommenen Teil von Kreuzberg vorbei. Vielleicht geht da noch was, eine kleine Demo, einiges an Photos. Das Leid anderer ist mein Anlaß, dachte ich kurz beschämt, aber dann in mein lakonisches Lächeln wieder zurückfallend. Mein Adrenalin ist im Moment so, daß ich wieder etwas mit Helm und Wurf und Wums möchte. Aber da geschah nichts, da stand nichts außer ein paar Wannen der Bereitschaftspolizei. Kunstmessen sind doch eigentlich für den Arsch, dachte ich mir, während ich blickend vorbeikurvte und über die Nebenstraßen auf Schleichwegen ins entfernte Nachhause fuhr, mit dem selbstgesetzten Ziel, nur durch 30er-Zonen zu gondeln, um ins geliebte Heim zu gelangen. Vor mir in irgend einer dieser unendlichen Nebenstraßen in Neukölln radelte eine Frau mit unsagbar schön geformtem Hintern, knapper Jeans, daß die Po-Ritze hervorblickte. Ich dachte mir, daß ich im September vor exakt drei Jahren am liebsten Lovely Lindas Rennradsattel gewesen wäre. Merkwürdig, wie Menschen so in die Ferne entschwinden. Die Frau, die ich liebe, ist zu selten bei mir, denke ich mir im Straßenfluß. Kunst gäbe es hier so viel. Im Nebeneinander der Messen aber ist es für den Arsch, an dieser Einsicht hielt ich beim Fahren weiterhin fest, wie mit der einen Hand das Lenkrad. Die Berliner Verkehrsbetriebe (kurz BVG) haben vor rund zehn Jahren Unterwäsche mit Aufschriften herausgebracht. Auf einer stand am signifikanten Muschibereich appliziert: Gleisdreieck. Für Männer wiederum: Rohrdamm. Ich glaube, Kunst und Kommerz sind an genau dem Ort positioniert, wo sie sich optimal ergänzen.

Ein jedes Kunstwerk sei der Todfeind des anderen, schrieb Adorno zu einer ganz anderen Zeit in den „Minima Moralia“ und ein jegliches benötigte insofern einen eigenen Ort, einen eigenen Raum im Museum, um sich zu exponieren und zur Entfaltung zu gelangen. Die Petersburger Hängung oder ein schnödes Nebeneinander an den geweißten Wänden haben allenfalls dann einen Sinn, wenn kunstgeschichtliche Bezüge, die Korrespondenz oder aber Dissonanz zwischen verschiedenen Bildern veranschaulicht werden sollen. Die Staatliche Kunsthalle Stuttgart hat ihre Räume farblich voneinander abgesetzt, bestimmte Farben korrespondieren mit bestimmten Kunstrichtungen. Darf man Museumspädagogen an extrem kalte Orte deportieren? Da, wo alle mitgenommen werden wollen, sollte man die Busfahrpläne drastisch streichen. Ich bin ein Anhänger des Marktes. Vielleicht deshalb, um ihn als das zu überführen, was er in seinem Wesen ist. Aber auch die Todfeindschaft und der Kampf um Leben und Tod bedeuten Anerkennungsverhältnisse, wenn ich Hegel folge.

Vor die Schönheit der Bilder freilich haben wir einmal wieder die Arbeit der Lektüre und des Begriffs gelegt, und so gebe ich hier – bevor es zu den Photographien vom Super-Samstag der ABC-Messe geht – jenen kurzen Text aus den „Minima Moralia“ wieder, und zwar mit dem schönen Titel:

 De gustibus est disputandum. – Auch wer von der Unvergleichbarkeit der Kunstwerke sich überzeugt hält, wird stets wieder in Debatten sich verwickelt finden, in denen Kunstwerke, und gerade solche des obersten und darum unvergleichlichen Ranges, miteinander verglichen werden und gegeneinander gewertet. Der Einwand, bei solchen Erwägungen, die eigentümlich zwangshaft zustandekommen, handle es sich um Krämerinstinkte, ums Messen mit der Elle, hat meist nur den Sinn, daß solide Bürger, denen die Kunst nie irrational genug sein kann, von den Werken die Besinnung und den Anspruch der Wahrheit fernhalten wollen. Der Zwang zu jenen Überlegungen ist aber in den Kunstwerken selber gelegen. So viel ist wahr, vergleichen lassen sie sich nicht. Aber sie wollen einander vernichten. Nicht umsonst haben die Alten das Pantheon des Vereinbaren den Göttern oder Ideen vorbehalten, die Kunstwerke aber zum Agon genötigt, eines Todfeind dem andern. Die Vorstellung eines ‚Pantheons der Klassizität‘, wie noch Kierkegaard sie hegte, ist eine Fiktion der neutralisierten Bildung. Denn wenn die Idee des Schönen bloß aufgeteilt in den vielen Werken sich darstellt, so meint doch jedes einzelne unabdingbar die ganze, beansprucht Schönheit für sich in seiner Einzigkeit und kann deren Aufteilung nie zugeben, ohne sich selber zu annullieren. Als eine, wahre und scheinlose, befreit von solcher Individuation, stellt Schönheit nicht in der Synthesis aller Werke, der Einheit der Künste und der Kunst sich dar, sondern bloß leibhaft und wirklich: im Untergang von Kunst selber. Auf solchen Untergang zielt jedes Kunstwerk ab, indem es allen anderen den Tod bringen möchte. Daß mit aller Kunst deren eigenes Ende gemeint sei, ist ein anderes Wort für den gleichen Sachverhalt. Von solchem Selbstvernichtungsdrang der Kunstwerke, ihrem innersten Anliegen, das hintreibt ins scheinlose Bild des Schönen, werden immer wieder die angeblich so nutzlosen ästhetischen Streitigkeiten aufgerührt. Während sie trotzig und verstockt das ästhetische Recht finden wollen und eben damit einer unstillbaren Dialektik verfallen, gewinnen sie wider Willen ihr besseres Recht, indem sie vermöge der Kraft der Kunstwerke, die sie in sich aufnehmen und zum Begriff erheben, jedes einschränken und so auf die Zerstörung der Kunst hinarbeiten, die deren Rettung ist. Ästhetische Toleranz, wie sie die Kunstwerke unmittelbar in ihrer Beschränktheit gelten läßt, ohne sie zu brechen, bringt ihnen nur den falschen Untergang, den des Nebeneinander, in dem der Anspruch der einen Wahrheit verleugnet ist. (Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben)

 Das, was Adorno hier formuliert, betrifft insbesondere eine bestimmten Art von Kunstbetrachtung, die zu träge und behäbig ist, um überhaupt noch angemessen einem Werk sich zu nähern, und zwar jenseits eines bloß subjektiven Gefallens und des unendlich drögen Berührtwerdens durchs Werk und was dero Käsigkeiten mehr sind. Wer berührt werden will, soll sich eine Liebhaberin, einen Liebhaber oder ein Haustier suchen, aber ansonsten besser die Finger von der Kunst lassen. Es gibt in diesen Angelegenheiten besser Orte für die Finger. Der Wahrheitsanspruch der Kunst wird in solcher Haltung unvermittelter Sinnlichkeit getilgt. Und damit ebenso die Kraft der Kunst. Das schnöde Bewußtsein, dem jegliche Differenz abgeht und dem akademisch die Differenzierung systematisch ausgetrieben wurde, ist in seiner Quantifizierung zu opponieren. Das kann man gar nicht oft genug gegen die Gefühlsseligkeit der schönen oder weniger schönen Seelen betonen, die eines wie das andere als beliebig gültig und damit dann als gleichgültig gelten lassen. Wer zwischen „Alle meine Entchen“ und den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ keinen Unterschied in der Qualität sieht, sollte die Finger von der Kunst lassen. Nein, es geht nicht um quantifizierende Rangfolgen und Kunstwerke spielen nicht in der Bundesliga. Aber sehr wohl kommt es auf das qualitative Moment an. Die Unterschiede zwischen Beckett und Sartre, Warhol und Koons sind solche ums ganze und keine Frage des bloßen Geschmacks, wie das manche gerne hätten.

Man müßte bei solchen Messen die Werke aus ihren Verankerungen reißen. Every Me and Every You. So von Hegel gedacht.

Photographien dieses Tages zeige ich, wie oben vorauseilend versprochen, auf „Proteus Image“.

Treffende Sätze (3) – Kultur als Industriestandort, samt Tonspur zum Sonntag

 
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„Die ästhetische Barbarei heute vollendet, was den geistigen Gebilden droht, seitdem man sie als Kultur zusammengebracht und neutralisiert hat. Von Kultur zu reden war immer schon wider die Kultur. Der Generalnenner Kultur enthält virtuell bereits die Erfassung, Katalogisierung, Klassifizierung, welche die Kultur ins Reich der Administration hineinnimmt. Erst die industrialisierte, die konsequente Subsumtion, ist diesem Begriff von Kultur ganz angemessen. Indem sie alle Zweige der geistigen Produktion in gleicher Weise dem einen Zweck unterstellt, die Sinne der Menschen vom Ausgang aus der Fabrik am Abend bis zur Ankunft bei der Stechuhr am nächsten Morgen mit den Siegeln jenes Arbeitsganges zu besetzen, den sie den Tag über selbst unterhalten müssen, erfüllt sie höhnisch den Begriff der einheitlichen Kultur, den die Persönlichkeitsphilosophen der Vermassung entgegenhielten.“
(Th. W. Adorno/M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung)

Für die meisten Menschen sind solche Sätze mittlerweile nicht einmal mehr verständlich oder höchstens noch Ausdruck vermeintlich elitären Bewußtseins: Das Sinnieren des Snobs, der sich besser dünkt als die Masse. Denn Kultur für alle sei schließlich etwas Ehrbares, und ein Besuch im Museum stifte einen anderen Blick, bringe eine andere Zeit: die des Kontemplativen, wenn es gut läuft und niemand beständig die Bilder zuquatscht oder es ereignete sich die Zeit des gepflegten Austausches. Ambivalenzen der Kulturindustrie: Kunst, die sich nicht mehr an den Stand bindet und von einem erlesenen Kreis nur wahrgenommen werden kann, allgemeine Partizipation an Kunst ist in der Tat von Bedeutung für bestimmte Formen ästhetischer Erfahrung; es kommt allerdings darauf an, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zweck das Kunstprogramm gefahren wird. Und um genau diese Analyse geht es Adorno in seinem Kapitel über die Kulturindustrie: die Funktionalisierung von Kunst unter die Herrschaft der Zwecke, Kunst als ein Faktor, der der Reproduktion der Arbeitskraft dient, Kunst als kultureller Mehrwert. Das Motto der kulturindustriellen Museumslandschaften lautet: für jede/n ist gesorgt und es ist etwas dabei und dabeisein ist alles. Der Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit ist nur noch ein marginaler. Im Idealfall geht man nach der Arbeit als Firmenevent irgendeiner Agentur, Software- oder Internetbude in eine am besten interaktive Kunstschau. Kreativität und Selbstoptimierung stehen in einem unheilvollen Verhältnis.
 
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Kunst dient dabei zugleich der Distinktion, sie macht „Die feinen Unterschiede“ aus. Worüber die einen oberflächlich und im Gefühlsmodus salbadern, darüber können die anderen in der Tretmühlenhierarchie noch lange nicht sprechen. „Kunst? Was ist das? Du kunst mich mal am Arsch lecken.“ Wobei Pierre Bourdieu freilich den Fehler macht, die Logik des Kunstwerkes derart allgemein als bloßes Merkmal der Distinktion zu setzen, daß damit sowohl der Geschmacksbegriff als auch der des Kunstwerkes in die Eindimensionalität geraten, weil rein von den Rezeptionsweisen her gedacht wird. Die Struktur eines Werkes, das Gemachtsein des Kunstwerkes im Sinne des Poiesis-Begriffes gerät dabei aus dem Blick.

Denn in einem emanzipativ verstanden Sinne, falls Kunst noch so etwas wie einen Überschuß in der ästhetischen Erfahrung noch freizusetzen vermag, geht es ja gerade um den Eigensinn und die immanente Logik des ästhetischen Gebildes. Wer ungestört und mit dem sich vertiefenden Blick ein Kunstwerk betrachten will, der gehe in die beständigen Sammlungen der Kunsthallen. Die Galerien der Alten Meister in den Museen – solange es sich nicht um Dresden, Berlin oder München handelt – sind meist gähnend leer – insbesondere dann, wenn in einem dieser Museen wieder einmal eine Großschau des Künstlers x oder y läuft. Doch zugleich ist ein Kunstwerk der Todfeind des anderen. Adorno erläutert diese Konkurrenz der Kunstwerke in seinem Aphorismus „De De gustibus est disputandum“:

„Auch wer von der Unvergleichbarkeit der Kunstwerke sich überzeugt hält, wird stets wieder in Debatten sich verwickelt finden, in denen Kunstwerke, und gerade solche des obersten und darum unvergleichlichen Ranges, miteinander verglichen werden und gegeneinander gewertet. Der Einwand, bei solchen Erwägungen, die eigentümlich zwangshaft zustandekommen, handle es sich um Krämerinstinkte, ums Messen mit der Elle, hat meist nur den Sinn, daß solide Bürger, denen die Kunst nie irrational genug sein kann, von den Werken die Besinnung und den Anspruch der Wahrheit fernhalten wollen. Der Zwang zu jenen Überlegungen ist aber in den Kunstwerken selber gelegen. So viel ist wahr, vergleichen lassen sie sich nicht. Aber sie wollen einander vernichten. Nicht umsonst haben die Alten das Pantheon des Vereinbaren den Göttern oder Ideen vorbehalten, die Kunstwerke aber zum Agon genötigt, eines Todfeind dem andern. Die Vorstellung eines ‚Pantheons der Klassizität‘, wie noch Kierkegaard sie hegte, ist eine Fiktion der neutralisierten Bildung.“

 
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We like: Common People (am besten allerdings in der Version von William Shatner, zusammen mit Joe Jackson)

Ob ihr verblendet oder erhellt: Pop Pop Pop Musik: Talk about. Zwischen Bowie und Heino, zwischen Kommerz und Kritik

Zum Thema Pop gibt es viele Ansätze, die SPD schuf einst sogar – wie passend – das Amt eines Pop-Beauftragten, und es wird das weite Feld des Pop teils gehypte und auf einen Thron gehoben, der erstaunen läßt. Die Freude am Pop hat dabei viele Ursachen. Wie ein Thema angehen, das so viele Bereiche berührt? Das Phänomen Pop kann man rein binnenästhetisch von der Musik selber betrachten. Da bleibt dann, so vermute ich, in den meisten Fällen nicht viel von diesem Liedgut übrig. In der Regel werden eingängige Akkorde gebraucht, Tonfolgen, die im Ohr bleiben, Klänge, die die Sinne berühren, ohne daß sich diese Klangfolge tiefer in der Logik des Materials gründet. Selbst die innovative, großartige Band „Velvet Underground“ dürfte in dieser rein ästhetischen Perspektive deutlich schrumpfen. Aber für die Musikästhetik und die Partituren bin ich nicht hinreichend kompetent, um ins Detail zu gehen.

Die andere Weise, sich dem Phänomen Pop zu nähern, geschieht diskursübergreifend. So wie Diedrich Diederichsen in seinen Texten – jüngst in seiner neuen Veröffentlichung mit dem eingängigen, fast schon apodiktischen Titel „Über Pop-Musik“ oder aber das gelehrige Werk von Thomas Hecken „Pop. Geschichte eines Konzepts von 1955 bis 2009“. Da verschränken sich soziologische und musikästhetische Betrachtungen mit solchen der Kunst und der Medientheorie, da werden die Übergängigkeiten in den Musikstilen gezeigt und die Notwendigkeit solcher Verquickungen gedeutet. Der Sound und der Groove der Musik als Lebensstil werden in den Diskursrahmen gebracht.

Das Problem beim Phänomen Pop ist zunächst die Geschmacksästhetik, die Pop-Musik wesentlich konstituiert: Einst gab dieser Begriff des Geschmacks in der Betrachtung von Kunst eine emanzipative Kategorie ab und legte im 18. Jahrhundert Protest gegen den Regelkanon, gegen die Regelpoetik ein, anhand derer ein Kunstwerk zu verfertigen sei und an dem es sich auszurichten habe: Kunst als eine Form der techné: der Künstler beherrscht sein Metier. Der Geschmack brach diese Verhärtung auf. Über den Begriff des Geschmacks habe ich hier im Blog relativ ausführlich geschrieben.

Mittlerweile ist der Geschmack – nicht nur in der Kunstbetrachtung, sondern insbesondere im Pop – zur Ausrede für die subjektive Befindlichkeit geworden. Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall. Was dem einen sein Bowie, ist dem anderen sein Heino. Was dem einen seine Einstürzenden Neubauten sind dem anderen die Zillertaler Schürzenjäger. Etwas überspitzt geschrieben. Sinnlichkeitssurrogat Musik – je nach Lebenswelt und Lebensstil. Wenn im Pop der Geschmack die einzig bestimmende Kategorie sein sollte, dann ist jegliche Wahl eine Frage der persönlichen Präferenz. Das eine Meinen so gut wie ein anderes Meinen und Sinnen, und damit jeglicher Disput sowie jegliche ästhetische Kritik überflüssig. De gustibus non est disputandum. Nur auf der Ebene des Binnenästhetischen und im gesellschaftlichen Moment sowie in der soziologisch gewichteten Hörer/innen-Situation werden sich zwischen Heino und Bowie Unterschiede ausmachen. Auf der Ebene des Habitus handelt es sich um zwei Lebensmodelle, die so oder anders gleichberechtig nebeneinander stehen. Geschmacksfragen eben. Taumelnd mit Neubautens „Sehnsucht“ zechend durch die Nacht ziehen oder im eingehakten Gleichschritt mit dem braunschwarzen Haselnußmädchen, das im Schritt sauber geduscht riecht, durch die Shopping-Mall schreiten. Was aber ist das Kriterium der Differenz und das für richtig und falsch?

Allerdings ist das Phänomen des Pop zu komplex, um es nur auf Geschmacksfragen herunterzubrechen. Beatles oder Rolling Stones? Wie es „Metric“ in ihrem schönen Stück „Gimme Sympathy“ sangen. Pop bedeutet auf der Ebene der Analyse die Diskursverschränkung des Verschiedenen in den Blick zu nehmen – von Mode über Soziologie bis hin zur Kunsttheorie. Diese unterschiedlichen Gebiete der Theorie bzw. der angewandten Künste durchdringen wiederum die Lebenswelten. Und auf der Ebene der Lebenswelt ist Pop das Leben in nuce – zumindest für die, die daran glauben und gegen das falsche Leben entweder ihren Eskapismus oder eine andere Weise von Dasein setzen wollen, weil das Leben, in dem die Menschen leben, lange schon nicht mehr lebt. Pop eröffnet Räume und Pop ist der Reflex auf die beschädigte Welt: selbst noch in seiner eskapistisch-affirmativen Jukebox-Version und erst recht in der Variante des Pop, die sich emphatisch und kritisch versteht. Aber der Satz Adornos, daß es kein richtiges Leben im falschen gebe, bleibt dennoch bestehen und dürfte schwierig zu entkräften sein, sofern man nicht einer Kinderferienlager-Privatutopie huldigt.

Was die Diskursverschränkung anbelangt, so gehört zum Phänomen des Pop ebenso der Stil, die Inszenierungs-Szenerie, die Distinktion und der exzeptionellen Musikgeschmack dazu. Vor allem aber handelt es sich beim Pop um ein wirkungsästhetisches Phänomen, das an unsere Lebenswelten und unser Selbstbild anknüpft: Wie wir leben wollen, wie wir uns selber innerhalb von Mode, Kunst und Habitus verorten: Pop als Verausgabung und kalkulierte Verschwendung oder aber als Kompensation, um die Anmutungen der durchkapitalisierten Welt für eine Weile zu vergessen. Pop hat mit dem Selbstbild zu tun und insofern ist dem Pop in gewissem Sinne die Musik eher akzidentiell – ob Schlager, Hip Hop, Rock oder Jazz. Im Phänomen Pop steckt wesentlich die Warenwelt – zu der es kein Jenseits gibt: deren Immanenz ist total. Pop ist einerseits der hilflose Protest dagegen und zugleich deren Fortschreibung. Mode als Gegenmode mit anderen Mitteln und am Ende doch immer im Rahmen bleibend.

Wie ging Mitte der 80er die Werbung des Kaufhofs, als Punkrock seinen Zenit längst überschritten hatte? „Wir machen aus Punk Prunk!“ oder war es „Prunk mit Punk bei Kaufhof“? ich weiß es nicht mehr genau: Schöne Nietengürtel, Lederjacken im Abrißschick und andere Accessoires wurden für das richtige Image käuflich bereitgestellt: was Du auch machst, mach es nicht selbst. Wo andere früher mühsam durchs Karo-Viertel oder durch SO 36 streiften, damit sie der Inszenierung von Individualität nachkamen, oder wo junge Menschen in die wilde Bricolage verfielen, da gibt es nun die passende Garnitur ebenso im Kaufhaus zu erstehen. (Zumindest solange sie sich gewinnbringend verkauft.) Heute müssen wir dieses Basteln mit einem Song von Tocotronic ergänzen. Im Grunde jedoch kam in dieser Werbung des Kaufhofs Punk wieder bei sich selber an: Im Warenhaus nämlich, von dem er über die Modedesigner Vivienne Westwood und Malcolm McLaren in seiner populären Variante seinen Ausgang nahm. Dies ist die Gefahr jeglicher Pop-Musik. Aber auch die jeglicher Kunst – insbesondere der bildenden. Sie alle wollen gerne mit ihren Bildern in der Deutschen Bank hängen.

Pop markiert die feinen Unterschiede: Dumpfer Popper oder subtiler Pop(per)-Dekonstrukteur, auf dessen Musikzettel Palais Schaumburg steht? Walter Benjamins Destruktiver Charakter sowie sein Kunstwerkaufsatz gekreuzt mit der Attitüde des Kunstpunks oder riechender Rotzlöffelpunk, am Straßenrand lagernd und „Exploited“ auf der Jacke gesprüht? Pop in seiner aufreizenden Variante paart sich als Habitus und im Sinne ästhetischer Souveränität übers herkömmliche Bürger- oder Kleinbürgerleben (unserer Eltern) mit den künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jhds, wie Dada und dem Surrealismus, und mit dem Dandytum des 19. Jahrhunderts. Aber Pop spürt zugleich dem Leben in seiner (vermeintlichen) Intensität nach, jenem Möglichkeitssinn, der in dem einen unvergeßlichen Augenblick dieser einen Nacht wohnt. Eine durchwachte, auf einer Party oder in einem Club mit Musik zertanzte, verrauchte, in Alkohol oder anderen Drogen geschwängerte Nacht. Genau diese eine Musik, dieser eine Sound, dieser Klangteppich, in dem sich Beat an Beat reiht. Dieser eine Ritt durch diese eine besondere Nacht. In der Pop-Musik verbindet sich das affektive Erleben mit einem Konzept vom Leben als einem Kunstwerk, das in jener Nacht den Schund der Tage zum schönen Schaum und zum sinnlichen Scheinen verwandelt. Pop ist ein aisthetisches Phänomen.

Und es ist die Pop-Musik während einer solchen Nacht Narkotikum, Anästhetikum, Augenblicksdehnung und Kraftspeicher für Neues in einem. Dies gilt für die unterschiedlichsten Musikstile, und dies ist unabhängig von der musikalischen Qualität des Gespielten. Zu solcher Regung sind simple Rock-Mucker in Maffay-Manier mit schlammcatchenden wohlgeformten Biker-Weibern auf Festivals und SPK-Eingeweihte im darkroom of music fähig. Lediglich die popkommerzielle Bekanntheit oder eben Ungekanntheit und das noch nicht vollständig warenförmig Gemachte, der Grad des Szenigen und des Exzeptionellen bildet hier das Distinktionsmerkmal zwischen denen, die übers Herkömmliche nicht hinauskommen und dem Connaisseur des Subtilen. Gelungener Pop ist eben auch die Differenz zwischen den Spacken und denen, die es besser wissen. Was uns die Pop-Kritik von Spex (einst) oder Jens Balzer in der „Berliner Zeitung“ gut vor Augen führen. Die Magie, der Schauer und der (manchmal inszenierte) Wahnsinn des Pop beruhen nicht nur, aber vielfach auf einer kalkulatorischen Inszenierung, die sich an den Moment knüpft und diesen abpaßt, auskostet und in neuen Popstücken wiederum konserviert. Das System Pop ist damit zugleich ein selbstreferentielles. Das Bier aber kostet so oder so 3 Euro fünfzig.

Was ist der Fortschritt beim Hören der Pop-Musik? Früher mußten wir uns abmühen und in die vielen Platten hineinhören oder das Ohr ans Radio pressen, um auf bestimmten Sendern wie AFN oder im NDR-Musikclub den einen Sound, dieses eine Stück herauszuhören und es sogleich weiterzuerzählen. Es war jener Kult, als erster dieses oder jenes Lied, diese oder jene Band für den Kreis der Freunde „entdeckt“ zu haben: es gab jene wunderbaren Musiktrüffelschweine, die immer das richtige fanden, und von dem wir beim gemeinsamen Hören oder beim Konzertbesuch dann profitierten. Diese eine Band, die alles bisherige topte und die bisher in der In-group keiner hörte. Diese umständliche Ochsentour samt subtiler Kennerschaft und mit dem Entdeckerblick versehen muß heute kein Jugendlicher mehr unternehmen. Heute weist uns iTunes darauf hin: Wer gerne EMA gerne mag, der wird auch xyz gerne hören. So bildet sich der persönliche Kanon populärer Musik.

Pop-Musik ist ein zwiespältiges Phänomen: emanzipativ einerseits, weil es bestimmten Gruppen überhaupt erst Möglichkeiten zum Ausdruck bietet, die ihnen im offiziellen Betrieb der Kultur niemals geboten würden, und ein Phänomen der kalkulierten Reaktion, der präformierten Gefühle und der Standardisierung von Leben in einem.

Einen unfreiwillig guten Dienst erwies Heino der Popmusik übrigens mit seiner Platte „Mit freundlichen Grüßen“, indem er zeigte, wie banal manches Lied ausschaut, wenn es vom falschen Sänger richtig intoniert wird.

Vergiftet sind wir so oder so. Mit den Liedern im Kopf und dem System, das wirkt. Pop-Musik kann jene auf den Punkt gebrachte Regung sein. Und es korrespondiert in diesen Kontexten manchmal der (vermeintlich) heterosexuelle Mackerrock in seiner feinen Variante mit dem lyrisch gestimmten Lied.

10 Jahre Facebook: Heidegger, Byung-Chul Han, Flusser und das Internet. Oder auch: Strukturwandel der Öffentlichkeit?

Heidegger, ontisch gelesen und ins Gesellschaftlich-Allgemeine gehoben, in den Raum der Befindlichkeiten gebracht: da wo die tausend Themen wuchern. Nein, keine Angst, es wird diesmal kein Heidegger-Seminar. Sondern nur: Das Internet als Kommunikationsraum. Alles in irgendeiner Weise wichtig, alles irgendwie nebeneinander – die synchronen Texte, im diachronen Raum des Internets dargeboten. All die Debatten, die geführt werden, all die Plauderblogs, alle die wichtigen Blogs, die Interessantes bieten. All die unwichtigen Töne. Eine Gemengelage entstand, ein heterogener Sound, teils ein Plapper-Sound, der sich in der Blogwelt in Wort, Bild und Ton entlud; eine Auswahl an Themen, die auf Homepages, Blogs, Online-Plattformen, Online-Zeitungen oder in den sogenannten Social Media wie Facebook dargeboten werden. Die sogenannte Kulturkritik, die keine Gesellschaftskritik sein möchte und es von ihrer Strukturierung her auch nicht sein kann, hat es in diesem Feld leicht, Häme, Ranküne oder Kritik zu produzieren, um das Erlesene und Höhere der eigenen Position ins Spiel zu bringen. Allein schon durch die unendliche Unwissenheit ihrer Gegner. Wer gestern in Lüneburg Kulturwissenschaften studierte und dann über das Digitale schreibt, ist als Schreiber nicht wirklich ernstzunehmen. Als Denkender schon gar nicht.

Schließen wir Heidegger also mit dem Internet kurz. Passend zum Jubiläum von Facebook. Alle sind da, alle sind drin, keiner mag es.

Es gibt eine Sicht aufs Internet, die zu einer umfassenden Kritik des Mediums ansetzt und das Internet insgesamt als eine Verfallserscheinung lokalisiert. Solche umfassende Medienkritik spricht Verteufelungen und Bannflüche aus oder zeigt die Schattenseiten. Es fielen, so orakeln die Auguren und Weisen, die Benutzer des Digitalen von einem einstmals Echten und Authentischen ab. (Was immer dieses Ursprüngliche, Echte und Authentische sein mag.) Zu solchen Kritikern der Netzwelt gehört Byung-Chul Han, der an der Berliner U.d.K. Philosophie und Kulturwissenschaft unterrichtet und sehr von Heidegger geprägt ist. Unter anderem promovierte Han über Heidegger. Seinen Unmut auf die digitalen Welten äußerte er in verschiedenen Büchern, jüngst in dem kleinen Bändchen „Im Schwarm“, das 2013 im Verlag Matthes & Seitz erschien. Auch hier zeigt sich, daß das Studium und das Lehren von Kulturwissenschaft zu Kurzschlußhandlungen im Schreiben und verkürztem Denken führen. (Eine kleine Besprechung zu diesem Buch folgt hier demnächst.)

Ebenfalls lieferte Heidegger in „Sein und Zeit“ eine Sicht auf jenes an die Uneigentlichkeit verfallene Dasein, das sich im Gerede des Man bewegt. (Freilich bleibt dieser Begriff des Daseins bei Heidegger zugleich vom empirisch-faktischen Subjekt freizuhalten.) Zudem betont Heidegger in seiner phänomenologischen oder fundamental-ontologischen Lektüre, daß es ihm nicht darum geht, diese Sphäre des Uneigentlichen abzuwerten, sondern vielmehr verfolge seine Interpretation eine ontologische Absicht, die von einer „moralisierenden Kritik des alltäglichen Daseins und von ‚kulturphilosophischen‘ Aspirationen weit entfernt ist“ (M. Heidegger, Sein und Zeit, § 34). Ganz und gar nicht handelt Heideggers Philosophie von den Werten. Mit Carl Schmitt geschrieben kann man vielmehr von einer „Tyrannei der Werte“ sprechen und diese nimmt Heidegger – inmitten der ontischen Sphäre – implizit in die Kritik. (Alles dies sind bis in die Gegenwart hinein – über den Begriff der Dekonstruktion sowie die politisch-moralisch aufgeladenen Diskurse – sehr aktuelle Themen.)

Die Uneigentlichkeit bei Heidegger ist – fast dialektisch gesprochen – in ihrer Uneigentlichkeit sehr eigentlich da, weil sie ebenso wie das Man zur existentialen Verfassung des Daseins wesentlich mit dazugehört. Dennoch wird diese Sphäre von den Begrifflichkeiten Heideggers und in der Durchführung immer wieder von der Bestimmung her als Verfallserscheinung in Anschlag gebracht: die (bürgerliche) Öffentlichkeit z.B., das allzu Kommunikative, ist ihm nicht geheuer: Öffentlichkeit, so Heidegger ist über die Struktur des Man als Abständigkeit, als Durchschnittlichkeit, als Einebnung konstituiert. „Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht.“ (Ebd., § 27).

Dieser omnipräsente Zug, diese Hybris legt sich über jegliche Regung des Daseins und verdeckt jene andere Sphäre. Leider bleibt Heidegger in all diesen Bestimmungen immer wieder in den Termini von Echtheit und Eigentlichem hängen, die den (undialektischen, antithetischen) Gegenpart zum Verfall bilden, ohne der zugleich fortschrittlichen Komponente einzugedenken, die im Begriff der Öffentlichkeit steckt. „Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und Zugängliche aus.“ (Ebd.) Immer wieder dies: Die verteufelte „Dialektik der Aufklärung“ bleibt Heidegger fremd. Wer das produktive Moment der Öffentlichkeit in den Blick bekommen möchte, die oder der seien auf Jürgen Habermas‘ teils sehr anregendes, frühes Werk „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ verweisen. Das ist allemal mehr und gehaltvoller als das, was uns die sogenannten Internettheoretiker mit dem Studienabschluß Kulturwissenschaften anbieten. Bei Habermas wird Basales zum Begriff der Öffentlichkeit geliefert wird, ohne daß der kritische Gehalt dieses Begriffes preisgegeben oder lobhudelnd über den grünen Klee affirmiert wird.

Öffentlichkeit das ist auch: Zehn Jahre Facebook. Dazu fällt mir Lobendes-Preisendes nicht viel ein, weil ich dieses Medium, wie auch Twitter, für eine Verschwendung meiner Lebenszeit halte. Entweder ich twittere und facebooke oder ich lese bzw. schreibe einen zusammenhängenden, von Argumenten bzw. einer bestimmten Struktur getragenen Text. Beides geht nicht. Wer twittert, sie oder er habe Lacan und Foucault gelesen, ist meist über die ersten Seiten nicht hinausgelangt. Aber es klingt gut, wenn Hunderte eine im Grunde nicht vorhandene Lektüre mitgeteilt bekommen: Habe Lacan und Foucault gelesen. Wie das eben ist: manche geben sogar vor, Kant gelesen zu haben und bekommen die basale Unterscheidung von transzendental und transzendent nicht hin. Selbst dies gibt es in der Blogwelt. Ja: diese Form von Öffentlichkeit hat auch etwas mit dem Posertum und dem Narzißmus zu schaffen.

Nein, ich verteufele Facebook und Twitter nicht. Es sind in bestimmtem Rahmen nützliche Kommunikationsmedien, wenn man sie denn wieder abzuschalten weiß. Wer aber schreibend und lesend am Schreibtisch sitzt und froh ist, wieder eine Flasche Riesling oder Blauen Zweigelt aus den Klösterlichen Weingütern von Schulpforta trinken zu dürfen, benötigt Facebook nicht. Wozu gesellig sein, wenn es auch für sich alleine sehr viel besser geht? Die tiefste Versenkung in den Text findet in der Ruhe der intensiven Lektüre statt. Jeder Philosophierende, der in dieser Weise liest und aufnimmt, ist per se Zen-Meister und bedarf da keiner weiteren Meditationen. Überhaupt: die einzigen Meditationen, die ich kenne, sind die von Descartes und Husserl. (Das ist leider nicht von mir, sondern der Satz stammt von Jacques Derrida. Ich teile ihn. So leicht geht es zu liken und den gehobenen Daumen zu inszenieren. Auch das nicht neu. Facebook hat für das System der Affirmation lediglich ein Logo oder ein Symbol geschaffen.)

Nun aber wieder zu Heidegger in Korrespondenz mit der Welt des Digitalen. Eigenartig aktuell scheint mir dieses Zitat nach wie vor, und insbesondere im Kommunikationsraum des Internet treffen diese Sätze Heideggers mehr als nur einen Nebenschauplatz:

„Die Seinsart der Erschlossenheit des In-derWelt-seins durchherrscht aber auch das Miteinander als solches. Der Andere ist zunächst ‚da‘ aus dem her, was man von ihm gehört hat, was man über ihn redet und weiß. Zwischen das ursprüngliche Miteinandersein schiebt sich zunächst das Gerede. Jeder paßt zuerst und zunächst auf den anderen auf, wie er sich verhalten, was er dazu sagen wird. Das Miteinandersein im Man ist ganz und gar nicht ein abgeschlossenes, gleichgültiges Nebeneinander, sondern ein gespanntes zweideutiges Aufeinander-aufpassen, ein heimliches Sich-gegenseitig-abhören. Unter der Maske des Füreinander spielt ein Gegeneinander.“ (M. Heidegger, Sein und Zeit, § 37)

Wir könnten ebenso schreiben: Überwachen und Strafen. Aber nicht mehr im Sinne des von Foucault konstatierten Panoptismus, sondern als eine Form der Durchsichtigkeit, in der jede/r zugleich Sehender und Gesehener sein kann. Ein post-panoptisches Szenario, in der sich die betrachtende Instanz nicht mehr an einem Ort lokalisiert, wie in dem klassischen Gefängnis von Bentham – egal ob sich nun im Kontrollturm jemand befindet oder nicht: die Gefangenen richten zumeist ihre Handlungen so oder so konform zum Wärter oder Beobachter aus, weil sie potentiell gesehen werden könnten, ohne selber aber sehen zu können. Das Internet arbeitet anders. Jede/r kann in einer bestimmten Weise sehen und partizipieren und übt bei entsprechender Position sogar eine Kontrollfunktion aus, nach der sich andere ausrichten. Zugleich aber wird auch die Kontrolle von irgendwoher kontrolliert und wird sich selten als feste Instanz etablieren. Nicht einmal SpOn vermag dies mehr.

Dennoch wäre der Schluß, der aus all diesen Blick-, Kontroll- und Kommunikationsachsen gezogen wird, falsch: Das Digitale erziehe grundsätzlich zu konformem Verhalten. Die Erziehung zur Konformität kam sicherlich nicht erst mit dem Internet ins Spiel. Die Sätze Heideggers zeigen es (von den Untersuchungen Adornos ganz zu schweigen). Und das, was Deleuze im „Postskriptum über die Kontrollgesellschaft“ ausführt, trifft auf die Welt herkömmlicher Kontrolle – gleichsam von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft – ebenso zu, wie auf die Welt der neuen digitalen Medien – vermittelt über den Begriff der Arbeit. Was aber Kontrolle und Konformitätsdruck betrifft, so kann allerdings eine sich ändernde Quantität in eine neue Qualität umschlagen.

Insofern passen diese Sätze Heideggers auf vieles – sogar auf die NSA. Trotz ihrer Skepsis gegenüber den seinerzeit noch neuen Medien wie Photographie, Kino, Radio und Fernsehen (oder gerade deshalb) besaßen sowohl Heidegger wie auch Adorno ein untrügliches Gespür für ihre Tücken sowie für das Zweifelhafte des Begriffes Kommunikation. Sehr viel anders später dann schrieben die Generalaffirmateure der neuen Medien und des Kommunikativen wie Villem Flusser, denen sich diesseits der Schriftkultur ein neues digitales Christentum und die kommunikative Verkündung im Digitalen als dem neuen Band der Liebe auftaten. Kitsch as Kitsch can.

Pferderennen – Horner Derby

Leben gibt es nirgends, aber es finden immerhin Pferderennen statt, und auch in Berlin läuft auf der Derbybahn Marienfelde die Rennwoche: das heißt: es traben und sprinten die Pferde, sodann zieht das Rennen nach Hoppegarten weiter, aber da weile ich bereits im Urlaub. Wer es geschickt anstellt, kann bei den Pferdewetten Geld gewinnen, ein Blick auf die Pferde und etwas Intuition, zuweilen auch Wissen reichen aus. Vor etwas über einem Monat schaute ich in Hamburg beim Horner Derby zu. Hier können die Bilder zum Rennen betrachtet werden.

Was bleibt ansonsten übrig?: Raben töteten 40 Lämmer, die USA werden im Rating um ein geringes herabgestuft, der Slutwalk findet am 13. August in verschiedenen Städten der BRD statt, Syrien ist momentan kein gutes Reiseziel, das Mittelmeer im europäischen Raum hingegen schon, die Bundesliga hat ihren ersten Spieltag, im Raum Buxtehude wurde eine Frau zerteilt, an verschiedenen Stellen abgelegt, und ihre einzelnen Teile nächtens an diesen Stellen im Feld und im Wald verbrannt, Stuttgart schlägt Schalke, Jahrestag Hiroshima, wesentlich erhöhte Werte von Radioaktivität in der Region um Fukushima, Fahndung nach einem zweifachen Todesschützen in Berlin und bundesweit. Das Wetter ist, wie es sein soll. Nach der Rückkehr aus dem Urlaub im Elsaß samt einem Abstecher ins schöne französische Freiburg wird „Aisthesis“ sich mit Moody’s, mit Fitch, mit Standard und Armut zusammentun und die Blogs bewerten, die ich so lese. Das wird dann manche Überraschung bereiten, und da schauen wir mal, ob die von uns gelesenen Blogs ihrem Namen gerecht werden und wie sich das Rating auf die Blogroll auswirkt.

 

Stadtlandschaften – Ancien et Moderne

„Den Typus des Flaneurs schuf Paris. Daß nicht Rom es war, ist das sonderbare. Und der Grund? Zieht nicht in Rom selbst das Träumen gebahnte Straßen? Und ist die Stadt nicht zu voll von Tempeln, umfriedeten Plätzen, nationalen Heiligtümern, um ungeteilt mit jedem Pflasterstein, jedem Ladenschild, jeder Stufe und jeder Torfahrt in den Traum des Passanten eingehen zu können? Auch mag manches am Nationalcharakter der Italiener liegen. Denn Paris haben nicht die Fremden sondern sie selber, die Pariser zum gelobten Land des Flaneurs, zu der ‚Landschaft aus lauter Leben gebaut‘, wie Hofmannsthal sie einmal nannte, gemacht. Landschaft – das wird sie in der Tat dem Flanierenden. Oder genauer: ihm tritt die Stadt in ihre dialektischen Pole auseinander. Sie eröffnet sich ihm als Landschaft, sie umschließt ihn als Stube.“

Walter Benjamin, Passagenwerk, GS I 1, S. 525

 Das Interieur und das Draußen schließen sich in der Großstadt der Moderne, jenem Paris des 19. Jahrhunderts, zur Einheit. Es entsteht eine künstliche Landschaft. Bei Baudelaire gab es das Lob des Künstlichen und den Haß bzw. die Verachtung für die bloße Natur – darin, nebenbei, Hegel nicht unähnlich, der keinen Blick für die Natur und das Naturschöne besaß. Seine Vorlesungen zur Ästhetik geben das gleich im Auftakt kund; während seiner Zeit in Bern, Jena oder Heidelberg hatte er keinen Blick für die Landschaften, welche ihn umgaben. Erst bei Adorno wird das Naturschöne rehabilitiert und kommt zum philosophischen Bewußtsein, gleichsam als unverfügbare Instanz, in dem ein Anderes aufblitzt, ohne dabei aber der Verklärung anheimzufallen. Denn die Schönheit des Gesangs der Vögel ist zugleich dem Mythos verbunden und damit ein Teil des Gewaltzusammenhangs:

„Das Naturschöne ist der in die Imagination transponierte, dadurch vielleicht abgegoltene Mythos. Schön gilt allen der Gesang der Vögel; kein Fühlender, in dem etwas von europäischer Tradition überlebt, der nicht vom Laut einer Amsel nach dem Regen gerührt würde. Dennoch lauert im Gesang der Vögel das Schreckliche, weil er kein Gesang ist, sondern dem Bann gehorcht, der sie befängt. Der Schrecken erscheint noch in der Drohung der Vogelzüge, denen die alte Wahrsagerei anzusehen ist, allemal die von Unheil. Die Vieldeutigkeit des Naturschönen hat inhaltlich ihre Genese in der der Mythen.“ Th. W. Adorno ÄT, S. 104 f.

Die Städte, das Künstliche, also das Gemachte wandeln sich bei Baudelaire zur artifiziellen Landschaft, durch die der Dichter streift, in der er, dem Lumpensammler gleich, die Überbleibsel, die Reste und Fetzten aufliest. Das Idyll jedoch, welches in der Naturlandschaft seinen Ort fand, gerät zur Farce, so wie bereits in den Bildern von Carl Blechen der schönen Landschaft die Industrie eingeschrieben ist, wenn im Hintergrund ein Sägewerk oder ein Schornstein ragt; es destruiert der Text Baudelaires das Naturschöne, transponiert es in die Regungen des Subjekts angesichts der Stadtlandschaften: der Dichter bei der Arbeit:

„Ich will, um meine Hirtenlieder keusch zu schreiben, dem Himmel nahe schlafen wie die Sterndeuter und, der Glockentürme Nachbar, in meinen Träumen ihre feierlichen Lobgesänge hören. Die beiden Hände unterm Kinn, werde ich von der Höhen meiner Mansarde hinaussehen auf die Werkstadt voller Lieder und Geplapper, auf Schornsteine und Türme, diese Masten der Stadt, und auf die großen Himmel, die an die Ewigkeit erinnern.“ Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, S. 175, München 1986)

Mit diesen Zeilen beginnt der Teil „Tableaux Parisiens“ der „Fleurs du Mal“. Was diese Passagen entlassen, ist nicht das Werben um die Natur, die klassische Pastoraldichtung oder das Naturgedicht, sondern die Phantasmagorie, die zugleich ein Traumbild abgibt. Ein wenig nähern wir uns hier bereits den dialektischen Bildern Benjamins. An die Ewigkeit kann nur noch erinnert werden, sie läßt sich nicht mehr im Modus der Präsenz evozieren. Dem Nicht-mehr wird niemals wieder ein Noch-Nicht folgen (sei es in der Ferne einer Zukunft) oder in der Verborgenheit korrespondieren. Obwohl ansonsten die Korrespondenz einer der zentralen Begriffe der Dichtung Baudelaires ist – eines seiner Gedichte in den „Fleurs du Mal“ heißt so.

Es haben sich die Verhältnisse zwischen Rom und Paris mittlerweile jedoch verkehrt. In Paris gibt es in diesem Baudelaireschen oder Benjaminschen Sinne – Franz Hessel muß man hier freilich genauso nennen – kein Flanieren mehr. Was Benjamin an Rom beklagte, das trifft auf das moderne Paris zu: Alles das, was von der Vergangenheit zeugt, steht hinter Plexiglas, ist konserviert, die alten Viertel sind grundsaniert, gentrifiziert, gewandelt. Es ist dies ein Vorgang, den man in den 80ern bereits beobachten konnte – und ich vermute auch schon davor, doch zu dieser Zeit war ich noch nicht in Paris. Insbesondere am Bastille-Viertel konnte ich diesen Wandel festmachen. Aber auch andernorts: Bewohner, die einst in den Arbeiter- und Kleinbürger-Arrondissements lebten, wie man das so aus den Klischeefilmen kennt, wurden in die Banlieues oder noch weiter weg gedrängt. Der Horror einer solchen Welt (der Angestellten) wird in Jacques Tatis „Playtime“ (1967) gezeigt. Auch im Bastille-Viertel war es – nebenbei – die bildende Kunst, die den Vorreiter machte. Diese ist die am besten an das Verwertungssystem des Kapitalismus angedockte Kunstform, in ihr kanalisieren und transformieren sich die monetären Ströme, erfahren die Metamorphose zur Schönheit des Geldes. Der Gebrauchswert eines Hirst oder Monet ist sein reiner Tauschwert. Und die Kunst ein Ich zu sein, ein Künstler zu sein, sein Selbst auf dem Markt auszustellen und zu verkaufen, ist dem Kapitalismus geborgt und spiegelt auf diesen zurück in den Ideologien des Self-Made-Man, der sich entwirft, sein Leben zu einem Quasi-Kunstwerk macht, das sich in die jeweilige betriebliche Ordnung einfügt, das flexibel und verfügbar ist. Wir bezeichnen dies im Wirtschaftssystem als Scheinselbständigkeit und als Ich-AG, in denen die Vereinzelung produziert wird. (Dankesgrüße noch mal an die SPD und die Grünen. Schröder, der Kanzler, welcher die Künstler zu sich einlud: Lasset die Künstler zu mir kommen.)

Noch heute sehe ich 1999 die im Fernsehen auftauchenden Gesichter von dynamischen, willensstarken Jungmenschen vor mir, die in irgend welchen dotcom-Buden oder in den Werbeagenturen arbeiteten und auf die Frage eines Interviewers nach einem Betriebsrat überheblich in die Kameras grinsten: „Aber so etwas brauchen doch wir nicht, das ist doch sowas von oldschool.“ Ein Jahr später standen sie auf der Straße und waren wieder ihres Glückes Schmied, dürften sich neu und selbst entwerfen. Der bildende Künstler der Spätmoderne gibt das Paradigma des neuen, des „flexiblen Menschen“ (Sennett), der seine Haut zu Markte trägt und es nicht einmal bemerkt.

Aber ich schweife von Benjamin und Baudelaire, mithin vom Wesentlichen ab. Baudelaires Konzeption des Schönen verbindet zwei Momente in sich:

„Das Schöne besteht aus einem ewigen, unveränderlichen Element, dessen Anteil außerordentlich schwierig zu bestimmten ist, und einem relativen, von den Umständen abhängigen Element, das, wenn man so will, eins ums andere oder insgesamt, die Epoche, die Mode, die Moral, der Leidenschaft sein wird. Ohne dieses zweite Element, das wie der unterhaltende, den Gaumen kitzelnde und die Speiselust reizende Überzug des göttlichen Kuchens ist, wäre das erste Element unverdaulich, unbestimmbar, der menschlichen Natur unangepaßt und unangemessen. Ich bezweifle, daß sich irgendein Probestück des Schönen auffinden läßt, das nicht diese beiden Elemente enthält.“ (Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 215)

Diese zwei Aspekte nimmt zuweilen auch der Flaneur wahr, und der Dichter als Lumpensammler bahnt dies in den Text. Aus dem Wanderer und seinem Nachtlied ist das große Ja, die wunderbare Afirmation der Großstadt und das Nein zur Natur geworden. (Im Punk finden wir diese Haltung dann wieder: etwa in jenem schönen Stück von S.Y.P.H.: Zurück zum Beton. Sozusagen Baudelaire zu reduziertem Preis.)

Ich sehe bei diesen fragmentarischen und assoziativen Aspekten, daß die Lektüre von Benjamins Baudelaire-Aufsatz aussteht. Und ich denke, daß der Bogen sich hier gut spannen läßt zu jener Frage nach dem Wozu der Kunst sowie ihrem Ende.