Im Hinblick auf den Status des Daseins, um ein wenig zu heideggern und damit zugleich zu kalauern, weil es (teils) so sehr Jargon ist und klingt, daß es fast weh tut, soll in diesem Blog nun auch noch und in Korrespondenz zu anderem Seriellen eine Textreihe mit dem schönen Wort „Melancholie“ im Titel geliefert werden. Nichts Systematisches entsteht hier freilich, und womöglich endet die Serie schnell oder sogar nach bereits einer Folge wieder, wenn ich die Lust verliere, wie ich im Grunde an allem die Lust verliere, weil die Dinge und die Menschen mich so unendlich langweilen, während ich mich in immer andere Bereiche verirre, ich mache hier im Blog nur noch Unsystematisches, und alles Versprechen breche ich. Der ästhetische Theoretiker ist notorisch unzuverlässig, wenn es nicht gerade um die Liebe in ihrer emphatischen Ausprägung sowie als narzißtische Wunschmaschine geht.
Melancholie, griechisch μελαγχολία, Schwarzgalligkeit, etymologische Herleitung aus der Naturwissenschaft der Antike, die Lehre von den Temperamenten; im etymologischen Wörterbuch von Kluge steht: „Täterbezeichnung: Melancholiker“ Dieses Kombination lese ich als oxymoronisch geniale Wesensbeschreibung, wenngleich es mit dem postulierten Wesen eine eher zwiespältige Angelegenheit ist. Mich erinnert der Begriff der Melancholie an jene schwarze Stelle auf der Haut: Melanom, und ebenso schön als Begriff: Melatonin, wenn ich denn schon in den Wortfeldern stöbere: für den Nachtrhythmus des Körpers zuständig; die wunderbare, blonde Kirsten Dunst, im Halbdunkel, hingestreckt, nackt auf dem Felsen, angestrahlt vom Licht und vom Abglanz jenes Sterns: die von jenem todbringenden Stern reflektierte Sonne flimmert fahl auf ihrer Haut, ein Bild, das niemals vergeht, schöner kann die Erde nicht verglühen, schöner eine Frau nicht illuminiert werden als in dieser Weise. Und allein dieses Filmbild inspiriert meine Serie „Belinda Projekt(s) – Datumsgrenzen“, weil es mir die Assoziationsräume jener Septembertage des Jahres 2011 öffnete, als „Melancholia“ ins deutsche Kino kam, und den versäumten Augenblick eines Oktobertages auf dem Ohlsdorfer Friedhof in der Freien und Hansestadt Hamburg.


„Das Wort ‚Melancholie‘ bezeichnet im modernen Sprachgebrauch recht unterschiedliche Dinge. Es ist der Ausdruck für eine Geisteskrankheit, die durch Angstzustände, tiefe Depression und Lebensüberdruß gekennzeichnet ist – wenngleich freilich in neuerer Zeit ihr medizinischer Begriff eine weitgehende Zersetzung erfahren hat. Es ist ferner der Ausdruck für eine auch im physischen Habitus kenntlich werdende Charakterveranlagung, die zusammen mit der sanguinischen, cholerischen, phlegmatischen das System der ‚vier Temperamente‘ (der alte Ausdruck ist: ‚vier Komplexionen‘) bildet. Es ist schließlich der Ausdruck für einen vorübergehenden Seelenzustand, der bald quälend, deprimieren, bald aber auch nur sanft-träge oder nostalgisch sein kann. In diesem Falle ist es eine rein subjektive Stimmung, die dann auf die Welt der objektiven Dinge übertragen werden kann, so daß man sinnvoll von der ‚Melancholie des Abends‘ der ‚Melancholie des Herbstes‘ oder, wie Shakespeares Prinz Heinz, von der Melancholie von ‚Moorditch‘, des nach einer Sumpfgegend benannten Londoner Stadtteils, sprechen kann.
[…]
Erst auf dem Boden der Aristotelischen Naturphilosophie vollzog sich die Vereinigung zwischen dem ursprünglich rein medizinischen Begriff der Melancholie und der Platonischen Konzeption der Mania. Ihren Ausdruck fand diese Vereinigung in der für das griechische Denken paradoxen These, daß nicht nur die tragischen Heroen wie Ajax, Herakles, und Bellerophon, sondern überhaupt alle Männer von überragender Bedeutung, sei es auf dem Gebiet der Künste, der Dichtung, der Philosophie oder der Staatskunst, ja sogar Sokrates und Platon Melancholiker gewesen seien.“
(R. Klibansky/E. Panowsky/F. Saxl, Saturn und Melancholie, S. 37 u. S. 57 f., Fft/M 1990)
Die Frauen fallen dort dann eher nicht mit hinein.

Die Melancholie hängt ebenfalls mit den Sternen zusammen: In jenem Film Lars von Triers trägt der Planet, welcher auf die Erde zutreibt, den Namen „Melancholia“, und auf Dürers rätselhaftem Stich „Melencolia I“ sieht die Betrachterin im Hintergrund einen strahlenden Kometen. Es ist ein so gleißendes sich strahlenförmig ausbreitendes Licht, daß es Betrachterin und Betrachter fast erscheint, als rase der Stern auf die Erde zu. Zu fragen bleibt, ob es sich um einen unbekannten, unheilvollen Kometen oder aber um Saturn selbst handelt: Jenen Planeten, der in der mittelalterlichen Astrologie für Unglück (und eben damit verbunden der Melancholie) steht, im Englischen etwa besitzt der Begriff „saturnine“ die Bedeutung „düster“ bzw. „finster“. Dürers Stich bildet ein Rätsel und die Produktion von Sinnzusammenhängen zerbricht in der Lektüre des Bildes.

Das Bild sprengt alle Eindeutigkeiten auf:
„… daß die Besonderheit der ‚Melencolia‘ darin besteht, daß die feste, in Theologie und Philosophie verankerte Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung aufgegeben ist. Damit sind Schaffender wie Betrachter gleichartig dem Problem der Erzeugung sinnvermittelnder, verstehbarer Zeichen ausgesetzt. Die Auslegungsgeschichte der ‚Melencolia‘ ist zu sehen als eine Kette von Sinnentwürfen, die in ihrer scheiternden Anstrengung, ein Sinnganzes zu erfassen, selbst Züge des melancholischen Syndroms trägt, das Dürer hier ins Bild setzt. Man muß – wie die geflügelte Frau – diesen Prozeß der rastlosen Sinnproduktion unterbrechen: das ist der Moment der Selbstreflexion, die nicht schon auf den nächsten Sinn aus ist, sondern fragt, was eigentlich in dieser Kette der Sinnzuweisungen geschah und geschieht.“
(Hartmut Böhme, Albrecht Dürer Melencolia I., S. 9, Fft/M 1989)
Und es ist dies zugleich der Moment reflektierender Kontemplation, welche sich auf eine Sache zusammenzieht: ein Subjekt, welches, in sich gekehrt, betrachtet und visualisiert; annähernd so wie jenes Wesen auf Dürers Stich, das, trotz der Flügel, eben keinen Engel darstellt, sondern die Melancholie personifiziert. Ganz anders hingegen Justine in von Triers Film, die hellwach und agil wird als der Stern sich auf die Erde bewegt. Sie weiß von Anbeginn an – seit der Hochzeitsfeier als sie jenen so hell strahlenden Stern erblickt –, daß alles verloren ist, und sie wird in dieser Sicht auf das, was unweigerlich geschieht, immer klarer.
Überhaupt der Verweis von Bild zu Bild, wenn die Betrachter an den Strom der Bilder andocken und sich von diesem Fluß tragen lassen: „Melancholias“ Bezug zu „Solaris“ und der rätselhafte Verweis auf das Breughel-Bild „Jäger im Schnee“, die Materialisation der toten Haris‘ auf Solaris aus jenem Ozean heraus– jener Geliebten von Kelvin, die sich ums Leben brachte. Schuld und Sühne, die Bilder des Gedächtnisses, Andenken: sehr russisch stellt sich dieser Film dar.
Melancholie ist das Leiden an der Zeit. Daß sie linear fließt und nicht anders.
Der Melancholiker reflektiert auf den einen Moment – jenen versäumten Moment, der unwiederbringlich entschwunden ist und der sich im Fluß der Zeit nicht mehr zurückholen läßt. Freud bezeichnet dies in seinem Aufsatz zu Trauer und Melancholie als den Objektverlust und bringt diese Dinge in ein Modell psychoanalytischer Rahmenhandlung.
„Jezt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,
Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond,
Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt,
Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns,
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlinging unter den Menschen
Über die Gebirgshöhn traurig und prächtig herauf.“
(F. Hölderlin, Brod und Wein, Erste Fassung)
In der zweiten Fassung heißt der Mond bei Hölderlin interessanterweise nicht das Schatten-, sondern das Ebenbild unserer Erde.
Eine vollkommen andere, für den naturwissenschafltichen, astro-physikalischen Blick antimelancholische Bedeutung besitzt jenes Ereignis, das unter dem Namen „Venustransit“ firmiert: Wenn am 5./6. Juni 2012 die Bahn der Venus genau zwischen Erde und Sonne hindurchführt und sie als dunkler Punkt an der Sonnenscheibe vorbeizieht. Eine solche Konstellation ereignet sich relativ selten: man kann es als ein großes Glück bezeichnen, daß diese Passage bereits 2004 stattfand. Das vorletzte Mal geschah das Schauspiel am 6. Dezember 1882. Im 18. und 19. Jahrhundert diente dieses seltene Ereignis den Astronomen dazu, um die Entfernung zwischen Sonne und Erde zu bestimmen. „Edmond Halley kam 1716 auf die Idee, durch Messung der exakten Dauer einer Venuspassage an möglichst weit voneinander entfernten Orten auf der Erde den Abstand zwischen Sonne und Erde zu bestimmen. Mit Hilfe des dritten Keplerschen Gesetzes ließen sich dann die Abstände aller anderen Planeten im Sonnensystem berechnen.“ (Wikipedia) Halley selbst kam nicht in den Genuß, den Venus-Transit beobachten und Vermessungen anstellen zu können, weil zwischen den Jahren 1656 und 1741 der Planet nicht passierte. So kann‘s gehen im Leben.
Ohne beim Blick in die Sonne geeignete Sonnenfilter einzusetzen, erblindet der Sternenbetrachter: Der bestirnte Himmel über mir: er übt vielerlei Funktionen aus, und das reicht von der Kontemplation, welche an die Kantische Konzeption des Erhabenen anknüpft und die zugleich mit dem Zustand der Erregung und Gemütsaufwallung gepaart ist, bis hin zu den Beobachtungen der Astrophysik. Die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung folgen dabei verschiedenen Mustern. In einem Ganzen sind die differenten Aspekte nicht mehr zu haben, nicht einmal mehr bei Kant, wenngleich man seine „Kritik der Urteilskraft“ als einen letzten Versuch lesen kann, das Auseinanderdividierte der Vernunft in einen Zusammenhang zu bringen.
Der nächste Transit wird dann am 11. Dezember 2117 stattfinden. Es gilt auch dann wieder: Nicht vergessen, das Schutzbrillchen aufzusetzen, und rechnen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch dann wieder mit einem qualifizierten Bericht auf „Aisthesis“. Vielleicht aber haben wir jedoch Glück und befinden uns zu dieser Zeit woanders.
Anläßlich dieser Betrachtungen reichen wir heute Abend eine Flasche Riesling vom Weingut Clemens Busch an der Mosel.