Pascals Wette

Wir können auf Pferde wetten, wir können darauf wetten, daß es immer einen Dümmeren gibt, der noch Dümmeres als der vorhergehende Dumme schreibt (das dürfen SpOn-Schreiber, FAZ- oder Zeit-Journalisten, gerne auch Blogs sein, ebenso Konferenzen wie die Trollcon, die die eigene Unbedeutendheit ihrer Begrifflichkeiten als Bedeutsamkeit zelebriert), wir können darauf wetten, daß Georg Diez und Sebastian Hammelehle (nomen est omen) auch die nächsten zwei Jahre keine Buchkritik hinbekommen, die den Namen Kritik irgendwie verdient hätte. Wir können darauf wetten, daß das neue Piratenmitglied in Bonn ebenso bei den Piraten in Bonn demnächst wegen Pöbelns hochkant herausfliegen wird, wir können darauf wetten, daß Bersarin auch in den nächsten zehn Jahren mit bösem Blick auf diese Welt schaut.

Die Möglichkeiten zu wetten, sind vielfältig. Pascal schlug eine Wette vor, bei der sich nicht verlieren, aber viel gewinnen ließe. Nämlich die Wette auf Gott. Gäbe es ihn nicht, hätte man nichts weiter verloren als den Glauben. Existiert er aber, gewönne der Wettende unendlich mehr, als wenn er verlöre und es keinen Gott gäbe. (Dieser Verlust manifestierte sich allenfalls im aufziehenden Nihilismus und im letzten Menschen als Resultat, könnte man mit Nietzsche entgegnen.) Wieweit sich das Dogma des Glaubens (als Wette) in die Skepsis der Erkenntniskritik verlagerte, zeigt eine Passage aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Eine Wette kennzeichnet nicht bloß den Hasardeur, sondern ganz im Gegenteil liefert sie ein Wahrheitskorrektiv – ganz und gar unspielerisch, doch bei vollem Einsatz. Kant schrieb diese Sätze, um das Verhältnis und den Zusammenhang von Meinen, Glauben und Wissen zu bestimmen. Glücksspiel fungierte als Modus der Erkenntnis:

„Der gewöhnliche Probierstein: ob etwas bloße Überredung, oder wenigstens subjektive Überzeugung, d. i. festes Glauben sei, was jemand behauptet, ist das Wetten. Öfters spricht jemand seine Sätze mit so zuversichtlichem und unlenkbarem Trotze aus, daß er alle Besorgnis des Irrtums gänzlich abgelegt zu haben scheint. Eine Wette macht ihn stutzig. Bisweilen zeigt sich, daß er zwar Überredung genug, die auf einen Dukaten an Wert geschätzt werden kann, aber nicht auf zehn, besitze. Denn den ersten wagt er noch wohl, aber bei zehn wird er allererst inne, was er vorher nicht bemerkte, daß es nämlich doch wohl möglich sei, er habe sich geirrt. Wenn man sich in Gedanken vorstellt, man solle worauf das Glück des ganzen Lebens verwetten, so schwindet unser triumphierendes Urteil gar sehr, wir werden überaus schüchtern und entdecken so allererst, daß unser Glaube so weit nicht zulange. So hat der pragmatische Glaube nur einen Grad, der nach Verschiedenheit des Interesses, das dabei im Spiele ist, groß oder auch klein sein kann.“
(Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft)

Ein halbes Jahrhundert später glitten Spiel und Wette in die Hände des Dichters. Baudelaire gab ihnen in den Pariser Bildern den Ausdruck. Die Wette ging nicht mehr aufs ganze des Denkens – obgleich der volle Einsatz blieb –, war nicht mehr Erkenntnis und Probierstein der Wahrheit, sondern Ökonomisierung und Mengenverhältnisse, Szenen einer Großstadt, in denen das Spiel, als Falschgeld, in dubiosen Salons und im Federhalter des Dichters, die Kurtisanen beschreibend, seine Markierungen setzte, zogen ihre Bahn. So in seiner Prosa „Das falsche Geldstück oder „Der großmütige Spieler“ in den „Spleen de Paris“ oder in den „Blumen des Bösen“ in seinem Gedicht „Le Jeu“: Ichszenen und das Wagnis als Individualität mit Verlustrechnung.

Dans des fauteuils fanés des courtisanes vieilles,
Pâles, le sourcil peint, l’oeil câlin et fatal,
Minaudant, et faisant de leurs maigres oreilles
Tomber un cliquetis de pierre et de métal;

Autour des verts tapis des visages sans lèvre,
Des lèvres sans couleur, des mâchoires sans dent,
Et des doigts convulsés d’une infernale fièvre,
Fouillant la poche vide ou le sein palpitant;

Sous de sales plafonds un rang de pâles lustres
Et d’énormes quinquets projetant leurs lueurs
Sur des fronts ténébreux de poètes illustres
Qui viennent gaspiller leurs sanglantes sueurs;

Voilà le noir tableau qu’en un rêve nocturne
Je vis se dérouler sous mon oeil clairvoyant.
Moi-même, dans un coin de l’antre taciturne,
Je me vis accoudé, froid, muet, enviant,

Enviant de ces gens la passion tenace,
De ces vieilles putains la funèbre gaieté,
Et tous gaillardement trafiquant à ma face,
L’un de son vieil honneur, l’autre de sa beauté!

Et mon coeur s’effraya d’envier maint pauvre homme
Courant avec ferveur à l’abîme béant,
Et qui, soûl de son sang, préférerait en somme
La douleur à la mort et l’enfer au néant!

Zeichenlose Zeichen in der gedeuteten Welt – Die Wahrheit Nietzsches oder die gezeichnete Haut

Eine Serie zu schreiben mit dem Titel „Tätowierungen“? Oberflächenphänomene und Ritzungen. Farbe unter Schmerzen. Zeichen der Erkennung und Distinktionsmerkmal. Einkerbungen, Brüche, Brechungen, Tätowierungen als Schibboleth. Hautzeichen als Anzeichen. In Turin auf dem Pflaster. Jenes gemagerte Pferd, das der Kutscher mit der Peitsche schlug, Hiebe fast auf dem blanken Knochen, bis das Tier zum Boden ging. Pittura metafisica. Animal rationale. Die unendliche Leere einer Stadt, ganz entgegen dem italienisch heiteren Himmel.

„… heute, wo wenigstens unter uns Immoralisten der Verdacht sich regt, daß gerade in dem, was nichtabsichtlich an einer Handlung ist, ihr entscheidender Wert belegen sei, und daß alle ihre Absichtlichkeit, alles, was von ihr gesehn, gewußt, ‚bewußt‘ werden kann, noch zu ihrer Oberfläche und Haut gehöre, – welche, wie jede Haut, etwas verrät, aber noch mehr verbirgt? Kurz, wir glauben, daß die Absicht nur ein Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung bedarf, dazu ein Zeichen, das zu vielerlei und folglich für sich allein fast nichts bedeutet, – daß die Moral, im bisherigen Sinne, also Absichten-Moral, ein Vorurteil gewesen ist, eine Voreiligkeit, eine Vorläufigkeit vielleicht, ein Ding etwa vom Range der Astrologie und Alchymie, aber jedenfalls etwas, das überwunden werden muß. Die Überwindung der Moral, in einem gewissen Verstande sogar die Selbstüberwindung der Moral: mag das der Name für jene lange geheime Arbeit sein, welche den feinsten und redlichsten, auch den boshaftesten Gewissen von heute, als lebendigen Probiersteinen der Seele, vorbehalten blieb. –“
(Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse)

Salome1Intension der Intentionslosigkeit – gleichsam als nichtdialektische Reflexionsfigur einer vertrackten Dialektik. Die Wahrheit hat Gründe, ihre Gründe nicht sehen zu lassen, wie Nietzsche in der „Fröhlichen Wissenschaft“ schreibt, weshalb diese Art von Wahrheit eben ein Weib ist, Spiele der Schleier, Bildnis zu Sais, das Moment der Verhüllung (auch durch ein Stück Wäsche, wofür wir den Begriff „Fetischismus“ verwenden, selbst dann, wenn unter dieses Wäschestück zwei Finger gleiten und feuchtnaß wieder sich hervorkehren), und wir erinnern uns dabei mit Gewißheit an diesen bekannten Satz, den im „Zarathustra“ das alte Weib spricht, wenn einer zum Weibe geht, und was er oder sie dabei nie vergessen sollten. Aber am Ende kann keiner diese Wahrheit zwingen. Die vermeintliche Misogynie Nietzsches steht in engem Zusammenhang mit seiner Wahrheitstheorie. Wenn das Weib ein Schleierspiel ist, das Gründe besitzt, ihre Gründe nicht sehen zu lassen, wenn ein Subjekt dieses Weib mit einer Peitsche zwingen oder aber erregen muß (je nachdem: die wunderbar kluge Lou Andreas-Salomé hatte an diesem Satz und diesem Sentenziösen ihre Freude) und wenn Nietzsche das Schminken und die Kunst der Verstellung beschreibt, so weist dies auf eine Weise von Wahrheit, die nicht mehr auf den bloßen erkenntnis- oder wahrheitstheoretischen Fundus sich gründet, der in der Präsenz, in Echtheit und Anwesenheit seinen Ort besitzt. Darin entwindet sich Nietzsche jeglicher abendländischer adaequatio-Theorie. In einem bestimmten Sinne wird also auch die Wahrheit ästhetisch. Aber eben nicht in der Weise, wie die postmodernen Relativierer und die Apologeten des Bestehenden es sich gerne wünschen, die in Herrenreitermanier Nietzsche als ihren Gewährsmann ausrufen.

Nietzsches Frühschrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ deutet bereits auf den Metapherntrieb, der als ästhetisches Moment die Erkenntnistheorie dimensioniert. Metonymie und Metapher: Verschiebung und Verdichtung ins Bild. Der Trieb zur Metapher entwertet freilich die Erkenntnistheorie nicht, sondern bedeutet ihre Erweiterung um ein Somatisches und Begriffsfernes, das die Metapher relational in eine Anordnung bringen möchte, die zugleich der Apparition gleicht: Vom Ereignis sprechen, doch ohne es starr werden oder ontologisch in die Seyns-Sentenz gerinnen zu lassen. Wie und in welcher Weise mit dem Begriff über den Begriff hinaus zu philosophieren sei, brachte Adorno in seiner „Negativen Dialektik“ bündig auf den Punkt. Auch das schmeckt denen, die zu einfachen Sentenzen und Phrasen neigen, nicht sonders: Heute wieder auf dem Speiseplan: gefühltes Fühlen und einfache Begriffssoße mit Schuß. Dem Denken des Weiblichen, das sich nicht in blinden Bezügen vergegenständlichen läßt, wird solch banaler Speiseplan der Platitüde nicht gerecht.

Wesentlich an Nietzsches Satz scheint mir insbesondere dieses Insistieren auf der Haut zu sein. Darin schwingt ein taktiles Moment mit, das als Rezeptionsweise oder als aisthetische Möglichkeit ein halbes Jahrhundert später Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz veranschlagte, als er von einer antiauratischen Kunst und einer Weise der Erfahrung spricht, die über die bürgerliche Welt hinaus ist. Haut ist genau diese eigensinnige Erkenntnis-Oberfläche eines Entzuges, die trotzdem auf Berührungen und Spürungen angewiesen bleibt. Es sind nicht mehr die Metaphern des Lichts oder des Gesichtssinnes, die die Aufklärung bestimmen, sondern ein taktiles Moment, das wir zunächst als ein Fühlen auf den Poren bzw. dem Gewebe der Haut ins Spiel bringen. Sowieso wird bei Nietzsche reichhaltig aus dem Körper heraus philosophiert und gedacht. Diese Haut läßt sich – insbesondere im Blick auf die Moral, aber damit sind wir zugleich nahe an der Erkenntnistheorie und an unseren Begriffen von Wahrheit, die der abendländische Diskurs gerne in seine Sphären teilte – bei Nietzsche als Schleier begreifen. Der Schleier zeigt und verbirgt in einem, aber er zeigt zugleich ganz unmittelbar etwas an. Wie der Fetisch codiert er sich als Zeichen mehrfach, spielt als intensionslose Intention. Ist Objekt der Begierde und verweist gleichzeitig auf dieses absolut abwesende Objekt: als Symbolisierung, als Verschiebung, als Metapher. Die Haut als Schleier und Wahrheitsfläche. Die Geburt der Erkenntnis aus der Epidermis. Die Haut teilt Oberflächenphänomene und die tiefer liegenden Strukturen. Sie ist Oberfläche und zugleich Grundlage des Tieferen, sie zeigt und verbirgt. In ihrer Vergänglichkeit und in den Alterungsprozessen Akzidenz, und in allem Wandel als Erhaltende und Form Wahrende Substanz in einem. Auf dieses lebensbedrohliche oder zugleich lebenserhaltende Spiel verweist Nietzsches Kritik der Moral. Häutungen sind Tötung und Geburt in einem.

Ach, wer so zu denken und zu schreiben vermag, wie Nietzsche in jenem Satz! Wie angenehm, inmitten einer lenorweichgespülten Empfindungswelt solche Passagen zu lesen: nie mehr eine Gesellschaftskritik als Betroffenheitsschwadronieren, nie mehr Texte als sekretiöser Ausfluß, und jegliche eingebleute Moral erweist sich in dieser Diktion als haltlos. Werte und all das Gefasel von deren Positivität entlarven sich unter diesem Blick als das, was sie sind: Ideologie. Aus diesem Grunde ist mit Nietzsche ebensogut Kritische Theorie zu betreiben wie mit Hegel. Zwei Wege des Denkens. Wobei in diesem Spiel Hegel – so steht zu vermuten – der vielfache Igel ist, der immer schon da und wieder woanders auftaucht. Es mag sich das brave Subjekt, das Individuum noch so sehr hetzen. Aber das wußte auch Nietzsche: Nicht „Wer spricht?“, sondern: Was? Übersetzen wir diese Begriffe ins Griechische!

Nordbahnhof – metaphysisches Interieur: photographisch gezeichnet

Metaphysik wirkt in der entzauberten Welt einzig noch im Untergrund. Orte ohne Licht, Plätze mit wenig Licht, Zwischenwelten, Zwischendecks, Partisanenwerk, eingezogen zwischen der Oberfläche und dem Inneren der Erde, Höhlen als Zeichenorte, S 1 und Schienenverkehr, in Berlin häufig auch als Schienenersatzverkehr, nachts um zwei Uhr, Orte ohne Menschen, so wie ich es schätze. Underworld, Finsterworld, und Pommerland ist abgebrannt: „Marienkäfer fliege//dein Vater ist im Kriege//deine Mutter ist in Engelland//Engelland ist abgebrannt.“ Kein Ort, nirgends. Die Welt, so sagt man oder so heißt es in jener Parabel von Kafka, werde von Tag zu Tag enger. „Du mußt nur die Fahrtrichtung ändern.“ „Oranienburg oder Potsdam?“ „Na, wenn es nach mir geht: Potsdam: sans sousi.“ „Nord-süd-Achse, Ost-west, Südost, Nordwest, Südwest, Nordost.“ „Alles gleich!“ „Nicht ganz. Es gab eine Zeit, da hätte eine Fahrt nach Oranienburg unangenehme Folgen gezeitigt.“ „Also Potsdam – zumal ich sowieso für ein aristokratisches Regime plädiere.“ Aber oben und unten sind austauschbar.

In der Leere dieser Tunnel-Orte, nachts in Berlin, fühle ich mich wohl. Ihre Akustik, der Klang in den Tunneln ist eine ganz besondere Art von Ton. Kaum Menschen. Eine Fahrt nach Potsdam mit der S 1 im November 2012. Weihnachtsmarkt und der Park. Damit keine Erinnerung zirkuliert, werden die Photographien gemacht. Von jenem Ort: Nordbahnhof. Schöner kalter Name. Klangvoll wie Schienengeräusche.

Die Philosophie versinnlichen [„Das Subjektil ent-sinnen“, Derrida], die Ideen ästhetisch werden zu lassen: dies war das Anliegen des ältesten Systemprogramms des Deutschen Idealismus, ein Text, der nach dem Stand der Forschung mittlerweile wohl dem jungen Hegel und nicht Hölderlin zugeschrieben wird. „Der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besizen, als der Dichter. die Menschen ohne ästhetischen Sin sind unsre BuchstabenPhilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie.“ (Systemprogramm) Auch bei „Aisthesis“ bemühen wir uns, die Metaphysik zu versinnlichen und das Subjekt zu entsinnlichen und in den mon[ad]ologischen Zustand zu versetzen. Das geschieht z.B. auf „Proteus Image“, wo ich den Untergrund des Nordbahnhofes zeige.

„Sicher ist, daß ich kein Marxist bin.“ (Karl Marx) – Einige Aspekte zur Kritischen Theorie Adornos

Diese Überlegungen sind eine Antwort auf einen Kommentar von „Mathepauker“ hier im Blog. Ich stelle sie als eigenständigen Beitrag in den Blog, weil sich in diesem Text einiges über die Philosophie Adornos lernen läßt. Schließlich möchte auch dieser Blog – zumindest von Zeit zu Zeit – seinem Bildungsauftrag nachkommen. Wieweit ist die Kritische Theorie Adornos vom Text Marx‘ geprägt?

Überschreiben wir diesen Beitrag zunächst einmal so: „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“ (Karl Marx in: MEW 37) Damit haben wir zunächst einiges über die Engführung der Begriffe Marxismus/Marxist hin zu Karl Marx gesichtet. Und so können wir dann und in diesem Kontext schreiben: sicher ist, daß Adorno kein Marxist ist. Ansonsten geriete die Formulierung Adorno sei kein Marxist, sondern Linksweberianer schief. Es ist nicht der Arbeitermarxismus oder der Herz-Jesu-Marxismus evangelischer Akademien, der Adorno umtrieb und auf den der Text von Marx gerne heruntergebrochen wird.

Daß sich die Kritische Theorie von Marx her nicht sinnvoll rekonstruieren ließe, ist schlichtweg falsch. Die Bestimmungen zum Fetischcharakter der Ware sowie die Tendenz der Verdinglichung, die bis ins Bewußtsein hineinragt, bilden immer noch den Bestandteil Kritischer Theorie. Allerdings produziert Adorno keinen Marxismus und keinen (Vulgär-)Materialismus, der Phänomene des Überbaus schlicht auf die Produktionsbedingungen zurückführt. Richtig ist es allerdings, daß wir bei Adorno – anders als bei der Philosophie Hegels oder Kants – keine direkte Auseinandersetzung mit dem Text von Marx finden. Dieser Umstand mag auf den ersten Blick befremden. Was freilich nicht bedeutet, daß die Kritische Theorie Adornos sich von Marx‘ Kritik der Politischen Ökonomie verabschiedet hätte. Ganze Passagen der „Dialektik der Aufklärung“ sind davon getragen und Adornos Überlegungen zum Begriff eingreifender, gesellschaftsverändernder Praxis sind eine implizite Weiterführung Marxscher Begrifflichkeit. Adorno Text von Marx zu „befreien“ und ihn der Metaphysik zuzuschlagen, bedeutet schlicht eine Entschärfung der Kritischen Theorie. Nicht anders als Habermas es mit Adorno tat, indem er den Gehalt Kritischer Theorie in Kommunikation und kommunikative Rationalität überführte. „Um sich vom Ideologieverdacht zu reinigen, ist es neuerdings gelegener, Marx einen Metaphysiker zu nennen, als den Klassenfeind.“ (Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Einleitung) Dies trifft ebenfalls auf eine bestimmte (entschärfende) Adorno-Lektüre zu, die Adorno von Marx zu reinigen beabsichtigt.

In Adornos akademischer Antrittsvorlesung von 1931 „Die Aktualität der Philosophie“ heißt es:

„Wenn Marx den Philosophen vorwarf, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, und ihnen entgegenhielt, es käme darauf an, sie zu verändern, so ist der Satz nicht bloß aus der politischen Praxis, sondern ebensowohl aus der philosophischen Theorie legitimiert. In der Vernichtung der Frage bewährt sich erst die Echtheit philosophischer Deutung und reines Denken vermag sie von sich aus nicht zu vollziehen: darum zwingt sie die Praxis herbei. Es ist überflüssig, eine Auffassung vom Pragmatismus ausdrücklich zu sondern, in welcher Theorie und Praxis derart sich verschränken wie in der dialektischen. (GS 1, S. 338-339)

Nun hat sich freilich in dieser Zeit zwischen 1931 und 1945 einiges geändert: Die Weimarer Republik geriet mithilfe einer entstellen Sozialdemokratie endgültig in die Geiselhaft reaktionärer Kreise, die Arbeiterklasse dankte dank Stalin ab und verschwand wie eine Träne im Ozean, Hitler kam, Stalin säuberte, ein totalitärer US-Kapitalismus verkaufte Kultur als Ware. Diese Parameter bestimmten fortan auch die Kritische Theorie der Gesellschaft. Den Hitler-Schergen entronnen, blieb nicht viel Spielraum für Hoffnungen auf die Arbeiterklasse. Wenn sie nicht in den Lagern deportierte wurde oder mitmachte, sah sie Filme aus Hollywood oder inhalierte vorfabrizierte Musik. Nicht anders als die bürgerliche Klasse, die sich anschickte im nivellierten Mittelstand zu verschwinden. Grob gesprochen.

Daß Adorno nicht der Arbeiterklasse entstammt, dürfte kein Geheimnis sein. Adorno generell Empathie für Arbeiter abzusprechen, läuft der Philosophie Adornos entgegen. Es käme ihm kaum in den Sinn, einzelne Individuen oder Gruppen pauschal zu verurteilen. Was er in seinen Texten jedoch freilegt, sind Mechanismen der Subjekt- und Bewußtseinszurichtung sowie – auch an Weber orientiert – Formen der Rationalität. In dieser Weise der Analyse und der Kritik folgte ihm Foucault später nach. Allerdings hegte Adorno, anders als mancher Linke in der BRD, keinerlei Illusion, daß dem Arbeiter als Klasse irgend eine revolutionäre, gesellschaftsverändernde Funktion zukäme. Im Bewußtseinsstand hatte der Arbeiter dem Kapitalisten nichts mehr voraus. Und auch hinsichtlich der Studentenproteste verstand Adorno seine eigene Theorie nicht als Handlungsanweisung für einen alleinseligmachenden Weg.

Richtig ist es, daß Adorno an Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes festhält. Allerdings aus einem materialistischen Motiv heraus: In der Leiderfahrung sowie ihrer Anamnesis in Philosophie und Kunst verschwistern sich Materialismus und Metaphysik. Die verschiedenen Stränge der Adornoschen Philosophie lassen sich nicht in einem einzigen Aspekt zusammenfassen, so daß man sagen könnte: Adorno sei nun dies oder das, ihm ginge es lediglich um die Rehabilitierung einer Metaphysik, wobei damit die Aspekte Marxscher Theorie aussetzten. Er ist so nahe bei Hegel und Nietzsche wie er nahe bei Kant und Marx ist. Dialektische Lektüre läuft darauf hinaus, den einen mit dem anderen gegenzulesen und in ein konstellatives Denken zu bringen. Was die Dialektik betrifft, so borgt Adorno von Hegels Denken. Aber diese Dialektik stellt sich nicht positiv still und kommt zu keinem Abschlußhaften. Das Nichtidentische ist kein Ort, der sich fixieren läßt, sondern es changiert, erzeugt immer wieder neue Modelle und Bilder – kaleidoskopähnlich. Die Nähe zur literarischen Romantik ist hier evident, und damit berührt sich die Adornosche Gesellschaftskritik auch mit der Ästhetik: Das Kunstwerk und ästhetische Erfahrung liefern Bilder und Modelle, aber sie lassen sich im Akt eines zugreifenden hermeneutischen Verstehens nicht stillstellen.

„Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel: an ihm läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen. Leibhaft, weil es der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz ist, dem die Individuen ausgesetzt sind, auch nachdem Individualität, als geistige Reflexionsform, zu verschwinden sich anschickt. Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral. Der Gang der Geschichte nötigt das zum Materialismus, was traditionell sein unvermittelter Gegensatz war, die Metaphysik.“ (Th. W. Adorno, Negative Dialektik)

Diese Sätze inthronisieren nicht die Metaphysik, sondern sie deuten vielmehr darauf, wie sich inmitten einer Gesellschaft, die nicht mehr auf unmittelbare revolutionäre Befreiung hoffen kann, die Kategorien verschoben haben. Telos Adornoscher Philosophie ist ein Subjekt, das sein Anderes in sich befaßt und auch die leiblichen, die somatischen, die impulshaften Momente in sich aufnimmt. Hierfür steht in vielfältiger Weise Adornos Begriff der Mimesis ein, die sich, um nicht bloßer idiosynkratischer Impuls zu bleiben, mit begrifflichem Denken koppelt. Synthesis des Zerstreuten ohne dieses gleichzumache, so könnte man es formelhaft auf den Punkt bringen, wenn sich denn Philosophie in einzelnen Sätzen erschöpfte. Das aber tut sie nicht.

Adorno liefert theoretische Bestimmungen zur Möglichkeit und zur Unmöglichkeit von Praxis. Es geht ihm dabei nicht um Handlungsmodelle, die zu einer Parole oder zum Pamphlet gerinnen, sondern es überlebt in der Theorie ein Moment von Praxis. Dies aber bedeutet nicht, daß sich Adorno nun im stillen Kämmerlein und als unschuldiger Metaphysiker von der 11. Feuerbachthese des Karl Marx verabschiedet hätte, um der Innerlichkeit zu huldigen. Daß die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben und eine Veränderung nun unmöglich sei. Allerdings bleibt Adorno skeptisch gegen allzu einfache Modelle, weil er – darin freilich Webers Modell von Rationalität folgend – eine Vernunft und ein Denken am Werke sieht, das genau diese Emanzipation des Subjekts verhindert. Von diesem Blick her kann man dann wiederrum Adornos Denkmodelle, die er in der „Negativen Dialektik“ entwickelt mit seinen Texten aus den „Minima Moralia“ und der „Dialektik der Aufklärung“ gegenlesen.

Kritische Theorie der Gesellschaft bleibt eine Theorie der Emanzipation und sie ist der Aufklärung geschuldet, darin der Kritik der Politischen Ökonomie verwandt. Die Aufklärung wird innerhalb einer Dialektik der Aufklärung nicht mit der Gegenaufklärung eines Heidegger, eines Carl Schmitt oder eines Leo Strauss bekämpft, sondern dialektisch bei ihrem eigenen Begriff genommen. Dies schließt materialistische und metaphysische Aspekte zusammen.

„Der Prozeß, durch den Metaphysik unaufhaltsam dorthin sich verzog, wogegen sie einmal konzipiert war, hat seinen Fluchtpunkt erreicht. Wie sehr sie in die Fragen des materiellen Daseins schlüpfte, hat Philosophie seit dem jungen Hegel nicht verdrängen können, wofern sie sich nicht an die approbierte Denkerei verkaufte. Kindheit ahnt etwas davon in der Faszination, die von der Zone des Abdeckers, dem Aas, dem widerlich süßen Geruch der Verwesung, den anrüchigen Ausdrücken für jene Zone ausgeht. (…) Wem gelänge, auf das sich zu besinnen, was ihn einmal aus den Worten Luderbach und Schweinstiege ansprang, wäre wohl näher am absoluten Wissen als das Hegelsche Kapitel, das es dem Leser verspricht, um es ihm überlegen zu versagen. Theoretisch zu widerrufen wäre die Integration des physischen Todes in die Kultur, doch nicht dem ontologisch reinen Wesen Tod zuliebe, sondern um dessentwillen, was der Gestank der Kadaver ausdrückt und worüber deren Transfiguration zum Leichnam betrügt. Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Daß das vergessen wird; daß man nicht mehr versteht, was man einmal vorm Wagen des Hundefängers empfand, ist der Triumph der Kultur und deren Mißlingen.“ (Negative Dialektik, Meditationen zur Metaphysik)

Dies sind entscheidende Sätze Kritischer Theorie: jener Hotelbesitzer, der Adam hieß, ist eines der Urbilder entstellter Subjektivität. Wer jene Passagen in dieser Adornoschen Diktion liest, dem stellt sich die Frage nach der (unsinnigen) Wahlmöglichkeit „Materialismus oder Metaphysik“ nicht mehr. Als ob das Subjekt in einer Cafeteria sich befände: Marx oder Cola oder Metaphysik? Adornos Text lediglich einer Seite zuzuschlagen, perpetuiert verdinglichtes und undialektisches Denken. Dieser Umstand eben macht nach wie vor die Aktualität Adornos aus: daß sein Text in immer neuen Facetten schimmert und scheint, weil es eine Theorie ist, die sich nicht auf eine Position festnageln läßt. Darin dem Denken Hegels und Marx‘ verwandt.

Inside/Outside/Seaside

Todes- und Abgrundmotive freistellen. Die Photographien sichten, die Bilder sich zu betrachten, das was ich ins Licht des Digitalen brachte, zu bearbeiten, in die angemessene Form zu bringen, die Photographie in der Dunkelkammer zu komponieren, bedeutet viel Aufwand. Kaum bleibt noch Zeit zum Schreiben.

Auf Proteus Image gibt es den dritten Teil meiner Portugalserie mit dem schönen Titel „Inside/Outside/Seaside“ zum Betrachten.

Die Photographien entstanden in Cascais und in Estoril. Ich kommentiere zu meinen Bildern in der Regel nicht viel. Allerdings muß ich innerhalb dieser Bilderserie jenen Boca do Inferno (Höllenschlund) erwähnen: im Jahre 1930 täuschte hier der eigenwillig-skurrile Aleister Crowley seinen Selbstmord vor. Ein Ort, der sich dazu gut eignet. Nichts geht über eine gelungene Inszenierung. Ich hingegen sah, als ich hinabblickte und herabstieg auch in der Hölle und in ihren Schlünden keinerlei Leben oder Regung. Charon lächelte lediglich milde am Grund und nahm mit verwegenem Blick sein Trinkgeld entgegen. Erstarrt schaute er auf mich, als ich nach meinem Aufstieg Eurydike zurückließ, da mich ihr Anblick nicht mehr rührte. Das Gesicht von Lovley Linda war inzwischen verbraucht und abgenutzt. Ab 49 Jahren werden Frauen unsichtbar, so sagte ich mir. Ich benötige weder Hermes noch Hermeneutik. Denn wir verschicken mit UPS oder anders. Unsere Sendungen und Geschicke kommen niemals und nirgends an und erfreuen sich ihrer Ortlosigkeit. Das hyperkryptische Spiel von Entbergen und Verbergen treibt uns zu den Inszenierungen des Textes, nötigt uns zu Masken, selbst das Unmaskiertsein mag in bestimmten Momenten dennoch eine Maske sein. Kann man in der Wahrheit lügen?, so fragte Lacan in seinem Seminar über Poes entwendeten Brief. „ein Brief (eine Letter) erreiche immer seinen (ihren) Bestimmungsort“, schrieb Lacan am Ende dieses Seminars. Dieses Seminar handelt – unter anderem – vom Wiederholungszwang. Es bleibt immerzu die alte Leier.

„Die weithin Richtende“, so ließe sich Eurydike übersetzen. Über die Funktion des Orpheus kann in diesem Zusammenhang nur spekuliert werden: eine bloße Liebesrückholung zumindest war dieser Akt nicht. Orpheus simulierte in der Maske des Liebenden die Zuneigung. Einen anderen Weg, um einen Blick in die Hölle zu werfen und das Reich des Todes betrachtend zu betreten, gab es nicht, als die Götter und die Torwächter im Schein der Liebe zu rühren und zu blenden, so daß sie am Ende Orpheus den Eintritt gewährten. Dagegen mochte die Fahrt auf der Argo eine Kleinigkeit sein, denn das Tote festzuhalten und auf seinen Begriff zu bringen, erfordert bekanntlich die größte Anstrengung und Kraft. Der Sänger Orpheus war einer der ersten Thanatosforscher. Rückgriffe auf die Antike sind beliebt. Der Begriff der Kraft ist nicht bloß physikalisch zu nehmen, sondern – nicht nur im Rahmen der Ästhetik – eine Kategorie, die auf das Moment der Synthesis verweist: Einbildungskraft ist jene Instanz, die die Vermittlung zwischen Anschauung und Verstand herzustellen fähig ist. Daß Orpheus seine Fahr in die Unterwelt aus Liebe unternahm, bleibt ein Gerücht, welches sich zur Legende verfestigte, um den thanatosforschenden Ästhetizismus unter der Maske des Gefühls zu bändigen und einzuhegen.

Der versehrte Körper – Oder wie der Text des Kreuzestodes zu lesen sei

„Es stand aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, des Kleophas Weib, und Maria Magdalena. Da nun Jesus seine Mutter sah und den Jünger dabeistehen, den er liebhatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn! Darnach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. Darnach, da Jesus wußte, daß schon alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllt würde, spricht er: Mich dürstet! Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Isop und hielten es ihm dar zum Munde. Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.“ (Joh. 19:25-29)

Heute am Karfreitag erwartet die geneigte Leserin und den geneigten Leser wieder ein Höhepunkt der reinen Geistigkeit und der intellektuellen Brillanz intensiv sublimierter Sexualität. („Text is Sex“ wie die Bloggerin Julia Seeliger es in ihrem Blog „zeitrafferin“ als Headline formuliert.) Ich schreibe, passend zum Karfreitag, einige Überlegungen zum Körper, und zwar über den in seiner physischen Beschädigung medial inszenierten Körper. Den in der Marter im Bild dargebotenen Körper als eine Weise der Repräsentation von Gottesfurcht und Dasein Gottes im dunklen Moment seiner Abwesenheit, einem Moment, der mit Notwendigkeit erfolgen muß – religio. Daß sich die Schrift erfülle. [Und um dieser Erfüllung willen ist auch eine Person wie Judas religionsdramaturgisch notwendig.] Der Text selbst ist es, der den Körper des Jesus, der zum Christus ward, steuert. Damit die Schrift sich erfülle. Zugleich bleibt dieser Körper jedoch – trotz medialer Darbietung, insbesondere in der christlichen Ikonongraphie – akzidentell. Eine eigentümliche Paradoxie in der Bildlektüre offenbart sich hier: einerseits verweist der gemarterte Körper auf ein bloßes Moment im Prozeß von Zerschindung, Verklärung und Auferstehung als Geist; das Wesen des Bildes und das Zentrum ist nicht die Marter. Andererseits kann sich jener Geist, die Aufhebung des Opfers, das trinitätische Wesen nicht in Abstraktion oder Ornament entäußern und präsentieren, sondern muß (womöglich mit Notwendigkeit) auf die sinnliche Form rekurrieren. Der Geist und das Wesen Gottes bleiben auf die irdische Repräsentation samt den Repräsentationsmedien und damit auch: auf den Körper als Trägermaterial angewiesen.

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In jenem Körper des Gekreuzigten verbinden sich – zumindest in den meisten medialen Inszenierungen des Abendlandes – Marter, Qual, Verklärung und Verzückung im Schmerz, so wie ihn die zahlreichen und vielschichtigen Gemälde von der Kreuzigung Christi zeigen, über Lucas Cranach d. Ä. Kreuzigungsbilder, aber auch El Grecos semi-expressive Leidverzückung in düsterroter Farbe. Oder wie später dann der (biblische) (Hollywood-)Film den Körper (als lesbares Zeichen) ausstellt – ob nun „Das Gewand“ oder „Ben Hur“ und in aller Drastik vielleicht bei Mel Gibsons „Die Passion Christi“. Aber auch Filme, die dem kulturindustriellen Strom entgegenstehen, wie „Montana Sacra“ von Alejandro Jodorowsky oder Pasolinis „Das 1. Evangelium – Matthäus“, präsentieren einen unter dem Zeichen der Religion gekerbten und versehrten Körper.

Eine der ungeschminktesten Darstellung des Leidens Christi während des Kreuzestodes findet in der Bildenden Kunst beim Isenheimer Altar (in Colmar) sich, wie es das Tafelbild von Matthias Grünewald zeigt.

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Dieser Körper der Marter wird erst in der Auferstehung zum Leib, und an diesem Leib sind alle Zeichen der Entstellung getilgt, elevatorische Transformation alles Irdischen und gegen alle Gesetze der Physik, umgeben von der Aureole.

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Das Pendant zu jeglichem Kreuzigungsbild – inspiriert vom Dada – in satirisch-zuspitzender Absicht und zugleich eine komplexe Materie im freilich bereits abgelebten Dada-Getus (notwendig) simplifizierend zeigt wohl Martin Kippenberger:

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Das Bild  entstammt folgender hier verlinkter  Quelle.

Im biblischen Hollywoodfilm hingegen verweltlicht sich in monetärer Absicht der Aspekt der Marter und des Schmerzes. Der Kreuzestod geriet säkular und zur Produktion der Studios. Der Kalvarienberg und die Schädelstädte (des Geistes): Aber das Lebendige des Geistes ist (nach Hegel) nicht im Toten zu suchen oder gar zu fixieren.

Der gemarterte Körper ist zugleich als mediales Ereignis bedeutsam, das auf mehr als nur Religiöses verweist: nämlich auf die Folter. Auf eine Folter, die ohne Wenn und Aber und ohne Einschränkungen nicht sein darf. In den vier Evangelien finden sich z.B. keine nennenswerten Hinweise auf Gewalt am Körper Jesu, nichts an Gewalt wird dort in extenso ausgemalt, die Via Dolorosa ist kein Ort für bildliches Theater, für Passionsspiele und Filmeffekt, sondern allenfalls Zeichensprache. Die Gewalt am Körper um der Darstellung von Gewalt willen ist den Evangelien fremd, ihr zentrales Moment ist vielmehr das letzte Opfer des Menschen- und Gottessohnes als Ende jeden Opfers. Anders der Hollywood-Film, der diese Gewalt am Körper im Extrem und als bereits fetischhafte Obsession inszeniert und in überbordenden, reißerischen Bildern darbietet, am drastischsten wohl in Mel Gibsons Film „Die Passion Christi“, den man weniger als einen religiösen Film, sondern als eine Orgie der Selbstdestruktion lesen kann – von der darin sich manifestierenden politischen, reaktionären Bildsprache einmal ganz abgesehen. Religion geschieht hier um des Effektes und um der Vermehrung von Kapital willen und dient wesentlich der Produktion von Ideologie qua Bildsprache. Was nicht ausschließt, daß man bei „Die Passion Christi“ auch eine dekonstruktive Lesart wählen kann, die die Formen der Sexualisierung darstellt. [Jeder Fesselung wohnt ein Reiz inne. Sei’s der an den Felsen gefesselte Prometheus, sei’s der ans Kreuz geschlagene Jesus: formschöne, gezeichnete Männerkörper. Die Linie Jesus, Justine, Juliette ziehen.]

Verklärung des Leids oder Exzeß der Verausgabung?: „– Hat man mich verstanden –? Dionysos gegen den Gekreuzigten!“, wie es im letzten Satz von Nietzsches letzter Schrift heißt: „Ecce homo“.

Die Grenze zwischen Lust, Erotik, Gewalt, Schmerz und Religion sind fließend: der kaum bekleidete, gemarterter Körper eines Mannes, den Blicken dargeboten, der Beckenbereich mit einem Schamtuch verhüllt und der warme, der heiße Schmerz durchfährt jede Faser des Körpers. Die Selbstgeißelung und auch die Fremdgeißelung, die sich im Akt des Religiösen ereignet, maskiert ein im Grunde sexuelles Spiel. (Und insofern wird mich auch Ulrich Seidls Film „Paradies: Glaube“ interessieren.)

Die Lust am versehrten Körper hängt einerseits mit einer Form von Gewalt zusammen, die eine absolute Macht darstellt, (der so ausgesetzte Subjekt-Körper als Homo sacer im Sinne Agambens), aber diese Lust ist nicht unbedingt totalitäts- oder faschismuskompatibel, und es hat seine Gründe, weshalb Breker und Riefenstahl lediglich den makelloses Körper in Skulptur und Film umsetzten, von dem alle Spuren der Entstellung getilgt wurden – man betrachte nur diese speer- und diskuswerfenden Männer in Riefenstahls Olympia-Film „Fest der Völker“.

Der Körper der Kreuzlegung aber ist versehrt. Soviel ist richtig. Aber diese Versehrung bildet keineswegs das zentrale Motiv.

„Und es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels zerriß mitten entzwei. Und Jesus rief laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt, verschied er.“ (Lukas 23:44-46)

Man lese diese Stelle parallel mit Kafkas „Die Strafkolonie“. Der gemarterte Körper bei Kafka mit einer Schrift versehen, die zugleich Tat und Strafe zum Inhalt hat: der Körper als inszenierter Text. So und nicht anders haben wir Verfechter des Textes es gerne. Auch am Karfreitag.

Habemus papam: 13.03.2013

Ich bin bloß ein einfacher Diener im Weinberg des Herrn. Allerdings einer, der sich ab und zu einige Trauben abzwackt. Nicht als Rohsubstanz jedoch, sondern in einen abgeleiteten, aber dennoch nicht akzidentiellen Zustand gebracht. Freilich, nicht nur das: der böse Mundraub im Weinberg. Sondern bereits mehrfach ließ mir ein Abgesandter der katholischen Kirche, welcher von Zeit zu Zeit in Rom weilt, aus bestimmten Gründen eine Kiste herrlichen Rotwein zukommen. Ich bin, wenn ich es genau besehe, ein recht versoffener Diener im Weinberg des Herrn. Nun trinke ich heute jedoch keinen italienischen oder südamerikanischen Rotwein, sondern ein zweites Glas Bordeaux, um die metaphysisch-theologische Stimmung in mir zu befördern. Als junger Mann wäre ich gerne Inquisitor geworden. Ich gäbe gerne jenen Großinquisitor in Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“, der mit Härte im Gemüt vorgeht:

„Doch Du mußt wissen: gerade jetzt, gerade heutzutage sind die Menschen mehr als je davon überzeugt, völlig frei zu sein; dabei haben sie selbst uns ihre Freiheit gebracht und sie uns demütig vor die Füße gelegt. […] Denn das Geheimnis des menschlichen Seins liegt nicht darin, daß der Mensch lebt, sondern darin, wozu er lebt. Ohne eine feste Vorstellung davon, wozu er leben soll, wird der Mensch nicht leben wollen und sich eher vernichten, als auf Erden bleiben, selbst wenn er Brot in Hülle und Fülle hätte. So ist das, was aber machst Du daraus? Statt Dich der Freiheit der Menschen zu bemächtigen, hast Du sie noch mehr erweitert! Oder hast Du vergessen, daß Ruhe und selbst der Tod dem Menschen lieber sind als freie Wahl in der Erkenntnis von Gut und Böse? […] Es gibt drei Mächte, nur drei Mächte auf Erden, die das Gewissen dieser kraftlosen Rebellen zu ihrem eigenen Glück auf ewig besiegen und gefangennehmen können – diese Mächte sind: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität.“

Wir sind Papst, so sagen sich heute die Argentinierinnen und die Argentinier. Mit Spannung verfolgten wir Anhänger der Mutter Kirche – wenngleich nur aus ästhetizistischen Gründen – den heutigen frühen und späten Abend. Und zu Jorge Mario Bergoglio fällt mir der blinde Bibliothekar aus Buenos Aires ein, und so möchte ich einen im Grunde zutieftst theologisch geprägten Gedanken wiedergeben:

„Der Umstand, daß jede Philosophie von vornherein ein dialektisches Spiel, eine Philosophie des Als Ob ist, hat zu ihrer Vervielfältigung beigetragen. Es wimmelt von unglaublichen Systemen, deren Aufbau jedoch ansprechend und aufsehenerregend ist. Die Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, ja nicht einmal die Wahrscheinlichkeit: sie suchen das Erstaunen. Sie sind der Auffassung, daß die Metaphysik ein Zweig der phantastischen Literatur sei. Sie wissen, daß ein System nichts anderes ist als die Unterordnung aller Aspekte des Universums unter irgendeinen von ihnen.“ (Jorge Luis Borges, Tlön, Uqbar, Orbis, Tertius)

Und die Literatur bleibt ein Zweig der Metaphysik. Womit ich, wie es zunächst den Anschein hat, vom Bezirk der Theologie ins Feld der Literatur abschweifte.

Die Quersumme dieses heutigen Datums übrigens, kabbalistischer Wunderrabbi der ich bin, lautet: 13. Finis hominem. Das europäische Christentum ist zu seinem Ende gekommen. Der aristotelische Metaphysiker der Substanzen lehnt sich auf seinem Sessel am Arbeitstisch des Grandhotel Abgrund zurück. „Von der Potenz halte ich nichts: mich interessiert das Unmögliche.“  So kommentierte ich gerade eben bei mir selbst im Blog. Franziskus I. Ein schöner Name. Vögeln predigen. „Push the sky away“ wie Nick Caves großartiges neues Album heißt. Metaphysik ist teils sehr irdisch.

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Und hey, und wie cool ist das denn?:

Quo vadis, Domine?

Nun ist er am 28. Februar wieder heim. Zumindest fast. Wenn ich aber recht nachdenke, ergeben sich im Anschluß an diesen Rückzug doch einige theologische Fragen und Überlegungen, die bedeutsam sind. Die theologischen Mucken, die treiben auch im Felde physisch-metaphysischer Dublizierung ihren Schabernack. Wenn ein Papst zurücktreten kann, darf dann ebenfalls die Taufe, die den Bund zwischen Mensch und Christus besiegelt, zurückgenommen werden, wenn jemandem mit der Kirche hadert und scheiden will, weil er nicht mehr mag, nicht mehr kann? Überhaupt stellt sich die Frage nach dem dezisionistischen Akt: Wieweit vermag der Entschluß des Subjekts, die Entscheidung, die freie Wahl als Vermögen des Subjekts sich über das Sakrament der Taufe zu erheben, oder eben auch: wieweit kann aus Freiheit ein Amt zurückgegeben werden, das mehr als nur ein weltliches Amt ist? Kirchenrechtlich scheint ein Rücktritt vom sogenannten Petrusamt kein Problem darzustellen. In der Denk-Dimension jedoch, die sich im Feld des Theologisch-spekulativen befindet, verhält es sich nicht ganz so einfach. Es gibt Positionen, die kein Subjekt aus freien Stücken je verlassen kann. Die Transsubstantiation zum Beispiel ist keine bloß erbauliche Metaphorisierung oder ein Spiel des Als-ob, das man sich nach Belieben drehen und verschieben kann, sondern reale Dingwandlung. (Ich schrieb hierüber auf Aisthesis verschiedentlich. Es handelt sich um eines der bedeutsamsten Themen. Was diese Frage betrifft, bin ich strenger Katholik, ohne katholisch zu sein.)

Dante Alighieri plazierte jenen Papst Coelestin V., der 1294 aus freien Stücken abdankte, in seiner „Göttlichen Komödie“ nahe den Pforten der Hölle:

So heißt es zu Beginn des III. Gesanges, als der Dichter in Begleitung Vergils das Tor der Hölle durchschreitet:

„‚Durch mich gelangt man zu der Stadt der Schmerzen,
Durch mich zu wandellosen Bitternissen,
Durch mich erreicht man die verlorenen Herzen.

Gerechtigkeit hat mich dem Nichts entrissen;
Mich schuf die Kraft, die sich durch alles breitet,
Die erste Liebe und das höchste Wissen.

Vor mir ward nichts Geschaffenes bereitet,
Nur ewiges Sein, so wie ich ewig bin:
Laßt jede Hoffnung, die ihr mich durchschreitet.‘

[…]

Nachdem erkannt ich hatte manch Gesicht,
Sah und erkannte ich den Schatten dessen,
Der feige tat den großen Amtsverzicht.

Da konnte ich sofort daran ermessen,
Daß hier die Menge jener Schlimmen steckt,
Von Gott und seinen Feinden gleich vergessen.“

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„Venio Romam iterum crucifigi.“ So steht es in den Apokryphen. Theologisch ist das, was Papst Benedikt XVI. tat, lange nicht abgegolten. Manchmal bedauere ich es, nie in meinem Leben der Kirche in einem Amt angehört zu haben. Ich wäre sicherlich ein begnadeter (katholischer) Theologe. Wenn nur diese verflixte Superbia samt Acedia nicht wären. Alles hätte gut werden können. [Es ist dies übrigens, wie mir WordPress anzeigt, der 669. Beitrag, den ich fertigte. Was für eine Zahl! Wie gut, daß die letzte Ziffer umgedreht ist. Aber wie das deuten? Der Zahlenmagier Thomas Mann wäre verzückt.]

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Eine Stadt, im fahlen Licht. Daily Diary (43)

„Die Beziehungen zu einer Frau, die man liebt (das aber kann genau so gut für die Liebe zu einem jungen Mann gelten), können auch noch aus einem anderen Grunde platonisch bleiben (…). Dieser Grund kann darin bestehen, daß der Liebende, gerade aus dem Übermaß seiner Liebe heraus allzu ungeduldig, nicht genügend Gleichgültigkeit beim Abwarten des Augenblicks zu heucheln imstande ist, in dem er erlangen wird, was er sich wünscht.“ (Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit)

„Hitler hat Crystal genommen“, so sagte sie, als wir an den „Höfen am Brühl“ vorbeiflanierten – jener Passagen-Verschandlung der Stadt durch die immergleiche Welt der Waren –, ich wollte es zunächst nicht glauben, weil Hitler Vegetarier sowie Nicht-Raucher war. „Quatsch“, entgegnete ich, „Hitler sicherlich nicht!“ „Doch, hat er! Und Crystal war eine Droge, die im Zweiten Weltkrieg sehr begehrt war. Sie hieß damals bloß anders.“ Leipzig, so sagte sie, sei momentan die Stadt des Crystal, während in Berlin die Einnahme von Heroin überwiege. „Methamphetamin halt.“

Und wie kann man den langen Weg bis zum Endsieg ohne Drogen durchstehen? Die Innenstadt von Leipzig ist voll von Menschen.

Wir bewegen uns zum „Museum der bildenden Künste“, um uns die Grafiken der Pop-Art sowie die Fotografien des Rock‘n‘Roll von Elvis bis heute anzusehen. Vorher betreten wir den Museumsshop. Ich möchte, das ist bei mir jedesmal so, bevor ich eine Ausstellung besuche, erst in den Kunstbuchkaufladen. Dann erst gehen wir die Treppe zum Kellergeschoß hinunter, wo sich die Ausstellung befindet. Wir betrachten Fotografien und Grafiken, ohne sie im Detail zu sehen. Wir lassen alles auf uns zukommen, und der Tag liegt noch vor uns. Es ist dieses unendliche Sprechen vor den Bildern, assoziativ, wild, wirr, schön und sich treiben lassend, alles kommt zusammen und es ist eine Weise von nicht-kontemplativer und dennoch produktiver Rezeption. Gut getroffene Fotos von „Franz Ferdinand“, Ausschnitte und dem Zufall oder dem analytischen Blick geschuldete Komposition, und von den „White Stripes“ sehen wir das großartige Plattencover ihrer ersten LP.

Was zählt, ist der Moment, jeder Moment in dieser Stadt, denn es gibt für uns nicht sehr viele von solchen Augenblicken. Das Photographieren ist im Museum zu Leipzig streng, sehr streng sogar verboten. Ich mache schnell und heimlich ein Foto, das laute Auslösen der Nikon ist durch den gesamten Saal zu hören, und sofort erscheint hinter einer Stellwand hervor die Aufseherin, blickt strafend, aber da ich die Nikon bereits wieder unschuldig an der Seite hängen habe, bleibt ihr nur das stumm-streng-strafende Schauen übrig. Nun behält sie uns skeptisch im Blick. Eines von Ed Ruschas Bilder habe ich erwischt. Ich kritisierte seine Bilder: zu grafisch, zu affirmativ, während die Frau die Grafiken lobt – insbesondere das Hollywoodbild. Ich habe es nicht photographiert, nun bleibt dieses Bild der Bewußtseinsindustrie und der Welt des schönen Scheins als Erinnerung hängen und durch diesen einen Tag brannte sich Ed Ruscha in mein Gedächtnis. Einen Künstler, dessen Bilder ich ansonsten wieder vergessen hätte.

„E io a lui: ‚Iʼ mi son un che, quando
Amor mi spira, noto, e a quel modo
chʼeʼ ditta dentro vo significando.‘“
(Dante, Divina Commedia, Purgatorio XXIV,)

(„Und ich zum ihm: ‚Ich bin ein solcher, der wenn/Amor es mir eingibt, aufzeichnet, und so,/wie er innen diktiert, zeige ich es an.‘“

„Amor mi spira“. Inspirationen und der Anlaß dazu eröffnen eine Form von Schrift, die läutert. Eine der vier Platonischen Tugenden ist das Maß.

Der Aufzug fuhr uns um halb zwei Uhr nachts in die dritte Etage des Hotels. An den Wänden hängen Druckgrafiken von Künstlern der Leipziger Schule bzw. von Künstlern, die in Leipzig studierten oder lehrten. Vorher spazierten wir in ein spanischen Restaurant irgendwo in Connewitz. Eine junge Serviererin mit roten Haaren fragte uns alle viertel Stunde: „Bei ihnen alles in Ordnung?“ Man kann sich so etwas gar nicht ausdenken: eine solch absurde Frage, die in einer Permanenz und penetrant wiederholt wurde. Die Frau dachte sich nichts Böses dabei.

Das Taxi brachte uns nach Reudnitz. Kurz vor halb zwei.

Stimmungen. Träume. Situationen, Momente, ein und ein halber Tag. Alles dies sind Ereignisse, die im Körper für einen Augenblick nachwirken und hängenbleiben, am Tag danach verdichten sie sich, anschließend verflüchtigen sie sich, irgendwann, und es ist, als sei niemals irgend etwas geschehen und gewesen. Phantasmen. Und es entschwindet der eine Mensch. Der Versuch über den geglückten Tag läßt sich in keine Prosa oder Poesie der Welt in eine Schrift oder gar in Gestalt bringen; er manifestiert sich nirgendwo sonst als in der Erinnerung, die mit der Zeit verblassen wird. Es konserviert sich nichts. Nicht einmal bleibt dieser eine Tag in einer Photographie aufbewahrt: aufgenommen vor Auerbachs Keller, an dem wir nach dem Besuch im Museum durch Zufall vorbeischlenderten, schon zum frühen Abend hin ging die Zeit, es dämmert, wir gehen gleich etwas essen, während ich die Nikon auslöse und sie sich mit ihrem so schönen Gesicht und dem Körper halb lachend und zugleich verlegen abwandte, so daß die Photographie komplett mißlang. Ich werde diese Photographie trotzdem aufheben, ich werde sie nicht löschen.

Es wird uns beide in diesem Leben niemals mehr geben. Es bleiben nur diese Tage übrig. Was ich gestern während der letzten Stunde im Café noch in die Ironie tauchte, ist heute die bittere, unaufhebbare Wahrheit.

Am Ende, wenn zwei Menschen sich in einem Parkhaus verabschieden, weiß keiner vom anderen, was er denkt, was sie gerade denkt. Und es fahren zwei Autos in ganz unterschiedliche Richtungen davon und verlassen die Stadt. Was bleibt, sind im Rückblick die roten Lichter.

Keine Photographie, keine Erinnerung, kein Satz vermag diesen Moment zu bannen. Am Kassenautomaten bezahlte sie ihre Parkgebühren und zog das Ticket. Es bleibt nicht mehr viel Zeit für irgendein Wort. Mein Wagen steht noch beim Hotel. Jedes Wort, jeder Satz scheint gleichbedeutend sinnlos. Leer. Triste. Die letzten Minuten, die letzten Schritte, die wir gehen, bis sie ihr Auto erreicht hat, sind ein Nichts und weniger als dies. Es vergeht in Sekunden – dieser eine Moment. Inmitten einer kalten Warenwelt, in den unwirtlichen Gängen eines Parkhauses, im zweiten Obergeschoß, dunkel und ins fahl gedimmte Neonlicht getaucht. Draußen das Licht der Stadt scheint trübe. Matt inmitten der grauen Wolken. Es regnet nicht einmal. Wir suchen ihr Auto, wir gehen zum Auto, das gleich abfahren wird ins Anderswo.

Auf Orte reimt sich Worte. Abschiedsorte – Abschiedsworte, „Machs gut!“, während die Arme sich kurz umeinander um die Schultern legen, die Oberkörper sich umhalten, umschlingen für die kurzen Sekunden und die Wangen sich leicht streifen. Ein kurzer Druck, während die Körper sich aneinander pressen, flüchtig wie sich Freunde verabschieden. Dann fuhr der Wagen aus der viel zu engen Parklücke eines Parkhauses am Leipziger Hauptbahnhof heraus. Die Rücklichter und eine japanische Automarke bleiben als letzter Blick. „Mach‘s gut, schöne Frau!“

Leipzig ist eine Stadt der Melancholie, des Wiederaufbaus, der Zerstörung, der Fragmente und sie ist, zumindest in manchen Stadtteilen, einer jener ausgewählt öden Ort. Weitere Photographien von Leipzig gibt es auf Proteus Image.

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„Die kleinsten innerweltlichen Züge hätten Relevanz fürs Absolute, denn der mikrologische Blick zertrümmert die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Vereinzelten und sprengt seine Identität, den Trug, es wäre bloß Exemplar. Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes.“
(Theoder W. Adorno, Negative Dialektik)

„Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur: jenes Leben, das in gewissem Sinne bei allen Menschen so gut wie bei dem Künstler in jedem Augenblicke wohnt“
(Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit)

Unvergeßlich bleibt der Geruch eines Menschen, wenn zwei Menschen morgens nebeneinander erwachen und jene Frau die verschlafenen Augen öffnet, während sich der Kopf des Mannes an ihrem Körper vergräbt.

Melancholia (1) – sowie astronomische Aspekte: Der Venustransit am 6. Juni 2012

Im Hinblick auf den Status des Daseins, um ein wenig zu heideggern und damit zugleich zu kalauern, weil es (teils) so sehr Jargon ist und klingt, daß es fast weh tut, soll in diesem Blog nun auch noch und in Korrespondenz zu anderem Seriellen eine Textreihe mit dem schönen Wort „Melancholie“ im Titel geliefert werden. Nichts Systematisches entsteht hier freilich, und womöglich endet die Serie schnell oder sogar nach bereits einer Folge wieder, wenn ich die Lust verliere, wie ich im Grunde an allem die Lust verliere, weil die Dinge und die Menschen mich so unendlich langweilen, während ich mich in immer andere Bereiche verirre, ich mache hier im Blog nur noch Unsystematisches, und alles Versprechen breche ich. Der ästhetische Theoretiker ist notorisch unzuverlässig, wenn es nicht gerade um die Liebe in ihrer emphatischen Ausprägung sowie als narzißtische Wunschmaschine geht.

Melancholie, griechisch μελαγχολία, Schwarzgalligkeit, etymologische Herleitung aus der Naturwissenschaft der Antike, die Lehre von den Temperamenten; im etymologischen Wörterbuch von Kluge steht: „Täterbezeichnung: Melancholiker“ Dieses Kombination lese ich als oxymoronisch geniale Wesensbeschreibung, wenngleich es mit dem postulierten Wesen eine eher zwiespältige Angelegenheit ist. Mich erinnert der Begriff der Melancholie an jene schwarze Stelle auf der Haut: Melanom, und ebenso schön als Begriff: Melatonin, wenn ich denn schon in den Wortfeldern stöbere: für den Nachtrhythmus des Körpers zuständig; die wunderbare, blonde Kirsten Dunst, im Halbdunkel, hingestreckt, nackt auf dem Felsen, angestrahlt vom Licht und vom Abglanz jenes Sterns: die von jenem todbringenden Stern reflektierte Sonne flimmert fahl auf ihrer Haut, ein Bild, das niemals vergeht, schöner kann die Erde nicht verglühen, schöner eine Frau nicht illuminiert werden als in dieser Weise. Und allein dieses Filmbild inspiriert meine Serie „Belinda Projekt(s) – Datumsgrenzen“, weil es mir die Assoziationsräume jener Septembertage des Jahres 2011 öffnete, als „Melancholia“ ins deutsche Kino kam, und den versäumten Augenblick eines Oktobertages auf dem Ohlsdorfer Friedhof in der Freien und Hansestadt Hamburg.

„Das Wort ‚Melancholie‘ bezeichnet im modernen Sprachgebrauch recht unterschiedliche Dinge. Es ist der Ausdruck für eine Geisteskrankheit, die durch Angstzustände, tiefe Depression und Lebensüberdruß gekennzeichnet ist – wenngleich freilich in neuerer Zeit ihr medizinischer Begriff eine weitgehende Zersetzung erfahren hat. Es ist ferner der Ausdruck für eine auch im physischen Habitus kenntlich werdende Charakterveranlagung, die zusammen mit der sanguinischen, cholerischen, phlegmatischen das System der ‚vier Temperamente‘ (der alte Ausdruck ist: ‚vier Komplexionen‘) bildet. Es ist schließlich der Ausdruck für einen vorübergehenden Seelenzustand, der bald quälend, deprimieren, bald aber auch nur sanft-träge oder nostalgisch sein kann. In diesem Falle ist es eine rein subjektive Stimmung, die dann auf die Welt der objektiven Dinge übertragen werden kann, so daß man sinnvoll von der ‚Melancholie des Abends‘ der ‚Melancholie des Herbstes‘ oder, wie Shakespeares Prinz Heinz, von der Melancholie von ‚Moorditch‘, des nach einer Sumpfgegend benannten Londoner Stadtteils, sprechen kann.

[…]

Erst auf dem Boden der Aristotelischen Naturphilosophie vollzog sich die Vereinigung zwischen dem ursprünglich rein medizinischen Begriff der Melancholie und der Platonischen Konzeption der Mania. Ihren Ausdruck fand diese Vereinigung in der für das griechische Denken paradoxen These, daß nicht nur die tragischen Heroen wie Ajax, Herakles, und Bellerophon, sondern überhaupt alle Männer von überragender Bedeutung, sei es auf dem Gebiet der Künste, der Dichtung, der Philosophie oder der Staatskunst, ja sogar Sokrates und Platon Melancholiker gewesen seien.“
(R. Klibansky/E. Panowsky/F. Saxl, Saturn und Melancholie, S. 37 u. S. 57 f., Fft/M 1990)

Die Frauen fallen dort dann eher nicht mit hinein.

Die Melancholie hängt ebenfalls mit den Sternen zusammen: In jenem Film Lars von Triers trägt der Planet, welcher auf die Erde zutreibt, den Namen „Melancholia“, und auf Dürers rätselhaftem Stich „Melencolia I“ sieht die Betrachterin im Hintergrund einen strahlenden Kometen. Es ist ein so gleißendes sich strahlenförmig ausbreitendes Licht, daß es Betrachterin und Betrachter fast erscheint, als rase der Stern auf die Erde zu. Zu fragen bleibt, ob es sich um einen unbekannten, unheilvollen Kometen oder aber um Saturn selbst handelt: Jenen Planeten, der in der mittelalterlichen Astrologie für Unglück (und eben damit verbunden der Melancholie) steht, im Englischen etwa besitzt der Begriff „saturnine“ die Bedeutung „düster“ bzw. „finster“. Dürers Stich bildet ein Rätsel und die Produktion von Sinnzusammenhängen zerbricht in der Lektüre des Bildes.

Das Bild sprengt alle Eindeutigkeiten auf:

„… daß die Besonderheit der ‚Melencolia‘ darin besteht, daß die feste, in Theologie und Philosophie verankerte Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung aufgegeben ist. Damit sind Schaffender wie Betrachter gleichartig dem Problem der Erzeugung sinnvermittelnder, verstehbarer Zeichen ausgesetzt. Die Auslegungsgeschichte der ‚Melencolia‘ ist zu sehen als eine Kette von Sinnentwürfen, die in ihrer scheiternden Anstrengung, ein Sinnganzes zu erfassen, selbst Züge des melancholischen Syndroms trägt, das Dürer hier ins Bild setzt. Man muß – wie die geflügelte Frau – diesen Prozeß der rastlosen Sinnproduktion unterbrechen: das ist der Moment der Selbstreflexion, die nicht schon auf den nächsten Sinn aus ist, sondern fragt, was eigentlich in dieser Kette der Sinnzuweisungen geschah und geschieht.“
(Hartmut Böhme, Albrecht Dürer Melencolia I., S. 9, Fft/M 1989)

Und es ist dies zugleich der Moment reflektierender Kontemplation, welche sich auf eine Sache zusammenzieht: ein Subjekt, welches, in sich gekehrt, betrachtet und visualisiert; annähernd so wie jenes Wesen auf Dürers Stich, das, trotz der Flügel, eben keinen Engel darstellt, sondern die Melancholie personifiziert. Ganz anders hingegen Justine in von Triers Film, die hellwach und agil wird als der Stern sich auf die Erde bewegt. Sie weiß von Anbeginn an – seit der Hochzeitsfeier als sie jenen so hell strahlenden Stern erblickt –, daß alles verloren ist, und sie wird in dieser Sicht auf das, was unweigerlich geschieht, immer klarer.

Überhaupt der Verweis von Bild zu Bild, wenn die Betrachter an den Strom der Bilder andocken und sich von diesem Fluß tragen lassen: „Melancholias“ Bezug zu „Solaris“ und der rätselhafte Verweis auf das Breughel-Bild „Jäger im Schnee“, die Materialisation der toten Haris‘ auf Solaris aus jenem Ozean heraus– jener Geliebten von Kelvin, die sich ums Leben brachte. Schuld und Sühne, die Bilder des Gedächtnisses, Andenken: sehr russisch stellt sich dieser Film dar.

Melancholie ist das Leiden an der Zeit. Daß sie linear fließt und nicht anders.

Der Melancholiker reflektiert auf den einen Moment – jenen versäumten Moment, der unwiederbringlich entschwunden ist und der sich im Fluß der Zeit nicht mehr zurückholen läßt. Freud bezeichnet dies in seinem Aufsatz zu Trauer und Melancholie als den Objektverlust und bringt diese Dinge in ein Modell psychoanalytischer Rahmenhandlung.

„Jezt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,
Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond,
Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt,
Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns,
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlinging unter den Menschen
Über die Gebirgshöhn traurig und prächtig herauf.“
(F. Hölderlin, Brod und Wein, Erste Fassung)

In der zweiten Fassung heißt der Mond bei Hölderlin interessanterweise nicht das Schatten-, sondern das Ebenbild unserer Erde.

Eine vollkommen andere, für den naturwissenschafltichen, astro-physikalischen Blick antimelancholische Bedeutung besitzt jenes Ereignis, das unter dem Namen „Venustransit“  firmiert: Wenn am 5./6. Juni 2012 die Bahn der Venus genau zwischen Erde und Sonne hindurchführt und sie als dunkler Punkt an der Sonnenscheibe vorbeizieht. Eine solche Konstellation ereignet sich relativ selten: man kann es als ein großes Glück bezeichnen, daß diese Passage bereits 2004 stattfand. Das vorletzte Mal geschah das Schauspiel am 6. Dezember 1882. Im 18. und 19. Jahrhundert diente dieses seltene Ereignis den Astronomen dazu, um die Entfernung zwischen Sonne und Erde zu bestimmen. „Edmond Halley kam 1716 auf die Idee, durch Messung der exakten Dauer einer Venuspassage an möglichst weit voneinander entfernten Orten auf der Erde den Abstand zwischen Sonne und Erde zu bestimmen. Mit Hilfe des dritten Keplerschen Gesetzes ließen sich dann die Abstände aller anderen Planeten im Sonnensystem berechnen.“ (Wikipedia) Halley selbst kam nicht in den Genuß, den Venus-Transit beobachten und Vermessungen anstellen zu können, weil zwischen den Jahren 1656 und 1741 der Planet nicht passierte. So kann‘s gehen im Leben.

Ohne beim Blick in die Sonne geeignete Sonnenfilter einzusetzen, erblindet der Sternenbetrachter: Der bestirnte Himmel über mir: er übt vielerlei Funktionen aus, und das reicht von der Kontemplation, welche an die Kantische Konzeption des Erhabenen anknüpft und die zugleich mit dem Zustand der Erregung und Gemütsaufwallung gepaart ist, bis hin zu den Beobachtungen der Astrophysik. Die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung folgen dabei verschiedenen Mustern. In einem Ganzen sind die differenten Aspekte nicht mehr zu haben, nicht einmal mehr bei Kant, wenngleich man seine „Kritik der Urteilskraft“ als einen letzten Versuch lesen kann, das Auseinanderdividierte der Vernunft in einen Zusammenhang zu bringen.

Der nächste Transit wird dann am 11. Dezember 2117 stattfinden. Es gilt auch dann wieder: Nicht vergessen, das Schutzbrillchen aufzusetzen, und rechnen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch dann wieder mit einem qualifizierten Bericht auf „Aisthesis“. Vielleicht aber haben wir jedoch Glück und befinden uns zu dieser Zeit woanders.

Anläßlich dieser Betrachtungen reichen wir heute Abend eine Flasche Riesling vom Weingut Clemens Busch an der Mosel.