„Überwachen und Strafen“: It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding). Zum 90. Geburtstag von Michel Foucault

„Wir müssen die Zukunft neu erfinden und
die Gegenwart schöpferischer gestalten. Lassen wir Disneyland und denken wir an Marcuse.“
(Michel Foucault)

foucault56Das ist im Titel dieser kleinen Würdigung allerdings ein schönes Bob-Dylan-Zitat, auch im Blick auf Foucaults Sexpraktiken, als er Anfang der 80er Jahre in Kalifornien lebte. Nachdem er sich 1978 in Japan aufhielt und sich mit Zen-Meditation beschäftigte, um Körper wie Geist zu entgrenzen, reiste er Anfang der 80er Jahre in die USA, durchstreifte die Darkrooms – sozusagen das erweiterte Pendant zum Zen, nur diesmal im aktiven Lustmodus und mit anderen männlichen Körpern vereinigt. Philosophie und Lebenskunst, eine Ästhetik der Existenz, wie er es für seine späte Philosophie im Rückgriff auf die Antike formulierte. Eine Ästhetik als ethische Selbstpraktik, die in der Rezeption leider manches Mißverständnis auslöste, bis hin zu den neoliberalen Eskapaden des Sich-neu-erfindens. Deckname Kreativität. Dennoch wollte Foucault diese Ästhetik als Philosoph nicht bloß theoretisch durchdeklinierten, sondern an solchen Schnittstellen mußte Philosophie praktisch werden. Sie gehörte dem Körper an. „Zen und Kalifornien“ übertitelt Didier Eribon in seiner Foucault-Biographie diese Phase des Probierens.

Aber nicht nur die Lustbarkeiten waren es, sondern ebenso der Philosophie als Theorie galt in den USA Foucaults Trachten. „The fog frog“ nannten ihn mit bösem Ton und in Aversion gegen das Französische die Philosophen aus den Analytischen Departments. Was schlicht Blödsinn ist, denn Foucault schrieb im Vergleich zu Lacan oder Derrida in einem relativ klaren Stil. Inzwischen ist Foucault Teil der Philosophiegeschichte. Sterblichkeit des Denkens. Darin jedes seine Grenze hat.

sarte-foucault-deleuze-672x372Ich erinnere mich an die selige Zeit meines Studiums in der Philosophie. Es waren die späten 80er Jahre, in die 90er hineinschlitternd, bis tief in die 90er Jahre sich hinziehend, Geiseln in Gladbeck, die Mauer fiel, Trabis kamen, Deutschland einigte sich als Vaterland, Helmut Kohl sang schräg, zweiter Golfkrieg: grüne Fernsehbilder schossen in die Wohnzimmer und Baudrillard deutete jenes Flimmern platonisch, Bürgerkrieg in Jugoslawien, keiner deutet oder denkt, Berlin wurde Hauptstadt, die UdSSR zerfiel, in Solingen verbrannten Menschen, in Rostock-Lichtenhagen brannten Häuser, Rivalen erschossen den US Rapper The Notorious B.I.G. in Los Angeles, oder seine Plattenfirma tat es als Werbegag, die documenta X ging ins Land, Lady Di starb in Paris.

Foucault war Anfang der 90er Jahre in der Philosophie gut im Schwange, mit böser Zunge kann man behaupten: Foucault war intellektuelle Mode. Ohne Foucault-Theorie im Gepäck konnte ein Student eigentlich auf keiner Party reüssieren und war nicht satisfaktionsfähig. Es gab sogar, wie Jens Balzer in der BLZ berichtete, aus der Generation Pop-Literaten einen Studenten, der legte sich eine extra zerlesene Ausgabe von „Die Ordnung der Dinge“ neben das Bett, ohne sie je gelesen zu haben, um wenigstens optisch-intellektuell beim anderen Geschlecht zu brillieren. Mode war dieser Foucault allein schon aus dem Grunde, um es solchen wie Habermas und überhaupt den liberalen oder sozialdemokratischen Vernunftaposteln zu zeigen. Aber ebenso reizte diese Verbindung von Philosophie und Leben: ein Dandy mit Rollkragenpullover, mit Lederjacke im Berliner Nachtleben. Der Glatzkopf. Ein Habitus, wie wir ihn – Philosophie als intellektuelle Mode – ansonsten lediglich bei seinem Widerpart Sartre fanden. Manche dachten, der Habitus färbe ab, wenn man nur die Bücher im Schrank hätte und die Titel zitierte. Doch dem ist nicht so.

foucault5Umtriebig und politisch, die Studenten der Fachschaft, und da hockte Antje am Boden des Seminarflurs, sie malte, beschrieb ein Stück Stoff. Antje reckte ihren Po in die Höhe, die enge Jeans umspannte ihre Rundung schmeichelhaft, und ich stellte mir vor, wie sich an dieser Stelle wohl „Überwachen und Strafen“ inszenieren ließe, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Antjes Arsch war formidabel, obwohl ich sie nicht erotisch fand. Aber diesen Gedanken aufschiebend, weil er mich von meinem eigentlichen Anliegen wegführte, fragte ich, was sie male, ob wieder Studentenstreik sei. Ich bemühte mich, meine Stimme nicht ironisch klingen zu lassen, sondern möglichst neutral, wenn nicht interessiert. Da Antje freundlich antwortete, schien meine Mimesis ans Harmlose aufgegangen. „Wir machen Plakate für die Freilassung der Gefangenen“ „Welcher Gefangenen? RAF?“ „Nein, aller. Die Öffnung der Gefängnisse, die Änderung der Haftbedingungen.“ Ja, es war Foucault-Seminar am Institut, und begierig sogen die Studenten die richtige Praxis auf, indem sie „Überwachen und Strafen“ und „Wahnsinn und Gesellschaft“ lasen. Mir war nicht wohl dabei, jegliche Klapse und jeglichen Knast zu öffnen, und ich weiß nicht, ob Antje glücklich wäre, wenn plötzlich die eingesperrten Vergewaltiger auf freiem Fuße liefen, um sich bei Antje auf ihre Art zu bedanken. Antje müßte dann, statt Stoffbahnen zu bemalen, wieder auf dem Campus sprühen: „Vergewaltiger, wir kriegen Euch!“ Auf die damalige Werbung eines Joghurt-Herstellers anspielend, mit dessen Produkt man jeden bekäme, pflegte ich bei solchen Debatten lächelnd „Mit Danone“ zu ergänzen, was mir böse Blicke einbrachte.

Der Witz zumindest war Foucault nicht fremd, wenn er in der Einleitung zur „Archäologie des Wissens“ gestand, daß er nicht da sei, wo man ihn vermute, sondern hier stehe, von wo aus er uns Leser lachend ansehe. Schönes Spiel, diesseits des Lustprinzips, mit dem Spulen des Hierundda. Wir imitierten das. Mit verstellter Stimme sprechend und sich den Identifikationen entziehend. „Der maskierte Philosoph“, wie ein Interviewtitel in den legendären Merve-Bändchen lautete, die wir in den Taschen trugen, um im Anschluß an die Kritische Theorie Adornoscher Provenienz die „Mikrophysik der Macht“ oder deren Dispositive auszuforschen. Aber ganz so spielerisch, wie es in manchen seiner Sätze und klang, ging es in Foucaults vielfältigen Werk denn doch nicht zu. Streng und als Historiker in die Archive steigend, befragte Foucault die Quellen. Seine Philosophie zeichnet Achsen zwischen dem Subjekt, dem Wissen, der Macht und der Sexualität. Archäologie, Genealogie und Ethik gaben in den drei unterschiedlichen Feldern die Methoden vor. Am Ende scheiterte es, das Projekt dieser tastenden Philosophie, die immer auch mit seinem Urheber etwas zu tun hatte – wie eigentlich jede gelungene Philosophie am Autor hängt und zugleich doch diesen Autor ausradiert. Das große Projekt Foucaults brach ab. Im Juni 1984 starb Foucault. Wer über Foucaults Leben mehr erfahren möchte, der nehme sich die unbedingt lesenswerte Biographie von Didier Eribon zur Hand.

foucault-balcony-672x372Auf einen Begriff läßt sich diese Philosophie nur schwer bringen. Nicht die Einheit der Vernunft oder – im traditionellen Sinne – die Frage nach dem Selbstbewußtsein, sondern Strukturen sind ihr Thema, die jedoch nicht als Invarianten, sondern strikt geschichtlich gedacht werden. Poststrukturalismus also. Wobei Foucault ebenso den Begriff der Geschichte auf seine Grundlage befragte. In einer solchen skeptischen Form geriet die Philosophie leicht in die Mise en abyme. Schlechte und auch gelungene Unendlichkeiten lassen sich nur als Kunst und in der Kunst auflösen. Zentrale Figur von Foucaults Theorie ist die Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffes – wir kennen diese Stelle am Ende von „Die Ordnung der Dinge“: Der Mensch, ein Gesicht im Sand, und er reitet auf einem Tiger durch den Dschungel, mit diesem Bild ein Motiv Nietzsches aufgreifend. Am selben Tag wie Nietzsche geboren: 15. Oktober.

Zentraler Aspekt und Terminus dürfte zudem der Begriff der Kritik sein. Darin an Kant und ebenso an Nietzsche geschult. Einerseits fragte Foucault nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaft, ohne dabei auf hegelianische bzw. dialektische Figuren der Aufhebung zu rekurrieren. Ob ihm freilich diese Perspektivierung ohne Dialektik angemessen gelang, darf bezweifelt werden. Die Brüche, die er in der epistemé und in den Übergängen des Wissens insbesondere zum 18. Jahrhundert ausmachte, sind keine Kluft, kein Sprung in eine ganz andere diskursive Praktik, sie zeugen keineswegs von Diskontinuität. Jene Statik kann man bereits in der Einleitung zu „Die Ordnung der Dinge“ festmachen, wenn er die Stellung des Subjekts anhand von Diego Velázquezʼ „Die Hoffräulein“ anschaulich macht: Ein Gemälde. Stillgestellte Zeit, ohne Bewegung, auf den Moment geschossen. Eine kluge Bilddeutung zwar, doch jenseits jeglicher Dialektik.

Dennoch: Foucault probiert es in einer Denk-Variante, die die Tradition der Subjekt-Philosophie überborden sollte. Foucault stellt unsere Begriffssysteme in die Kritik, ohne sich auf jenen festen Punkt zu kaprizieren, und befragte ihre Herkunft. Was sind die untergründigen Mechanismen, weshalb es von den Folterstätten des Mittelalters zu den Gefängnissen und den modernen Strafpraktiken kam? Der Panoptismus als Metapher der Selbstkonditionierung. Daß sich hier die Idee des Humanismus Bahn brach, bezweifelte Foucault in der Tradition von Nietzsches Genealogie. An diesen von Nietzsche inspirierten Satz Foucaults zumindest sollten wir uns beim Blick auf Gesellschaft erinnern, wenn wir freudig einen Umbruch oder ein Ereignis bejubeln:

„Mein Ausgangspunkt ist nicht, daß alles böse ist, sondern daß alles gefährlich ist, was nicht dasselbe ist wie böse. Wenn alles gefährlich ist, haben wir immer etwas zu tun. Deshalb führt meine Position nicht zur Apathie, sondern zu einem Hyper- und pessimistischen Aktivismus.“

Wenn ein Philosoph seit über 30 Jahren tot ist, drängt sich die Frage auf, was von seinem Theoriearsenal für die Gegenwart brauchbar sein kann – um die Waffe der Kritik zu schärfen, wie auch um die Kritik der Waffen angemessen zu betreiben. Ganz sicher bleibt jene „Hermeneutik des Subjekts“, die Foucault in immer neuen Anläufen unternimmt. Denn wir selbst – und kein anderer – sind es, die innerhalb bestimmter Gesellschaftsmodelle philosophieren, und gleichzeitig ist nichts an diesem Selbst gesichert, Foucault rekurriert in dieser Hermeneutik nicht auf die traditionellen Methoden. Das Subjekt ist Effekt, auch wenn es sich als Herr dünkt. Foucault ging es um jenes ganz Andere, das nicht wir sind, das nicht ich ist und das dennoch in einer bestimmten Art sich in der Philosophie in Anschlag bringt. Ein sich überschlagendes Denken, das es vermag, sich noch selbst in den Rücken zu fallen:

„Das Motiv, das mich getrieben hat, ist sehr einfach. Manchen, so hoffe ich, könnte es für sich selber genügen. Es war Neugier – die einzige Art Neugier, die die Mühe lohnt, mit einiger Hartnäckigkeit betrieben zu werden: nicht diejenige, die sich anzueignen sucht, was zu erkennen ist, sondern die, die es gestattet, sich von sich selber zu lösen. Was sollte die Hartnäckigkeit des Wissens taugen, wenn sie nur den Erwerb von Erkenntnissen brächte und nicht in gewisser Weise und so weit wie möglich das Irregehen dessen, der erkennt? Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist. […]

Der ‚Versuch‘ – zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selber und nicht als vereinfachende Aneignung des andern zu Zwecken der Kommunikation – ist der lebende Körper der Philosophie, sofern diese jetzt noch das ist, was sie einst war: eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken.“
(Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste)

 

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Photographien Foucault: Internet
Photographien vom Meer, von Gesichtern und Schatten, Ostsee, Ende September 1993: © Bersarin, auf Ilford HP5

 

Das Subjekt ist ein Diskurseffekt und im Sand ein Gesicht – Michel Foucault zum 30. Todestag

458_Michel_FoucaultDer Name des Autors Michel Foucault wird derzeit viel im Munde geführt (auch von denen, die keine drei Zeilen von ihm gelesen haben), und insbesondere in den Zeiten des Überwachens unserer im Raum des Internets getätigten Äußerungen, unserer digitalen Diskurse scheint eine Renaissance seiner Philosophie, die in der BRD in den 80er Jahren ihren Zenit erreichte und ein wenig noch in die 90er als Mode abstrahlte, nicht ganz ausgeschlossen. Es geht der Weg von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft, wie es Deleuze formulierte, von den Praktiken der Subjektkonstitution des 17. und 18. Jahrhunderts und vor allem auch der Konditionierung des Subjekts hin zu einer Internalisierung des Zwangszusammenhangs. Wie dieser Zwang der (Subjekt-)Beobachtung (und -Konstituierung) ausschaut und wie jene anonyme Gesellschaftsmacht wirkt, zeigte Foucault unter anderem in „Überwachen und Strafen“ anhand des Benthamschen Panoptikums: Jener Beobachtungspunkt in einem Gefängnis, von dem aus eine für den Gefangenen anonyme, aber durchaus legitimierte Funktions- Instanz namens Wärter Einblick nehmen kann, ohne dabei aber selber gesehen zu werden und ohne daß die vereinzelten Gefangenen wissen, wann sie gesehen werden.

Eine subtile Form von Kontrolle also. Einerseits kann man zwar sagen, daß dadurch das System der drakonischen Körperstrafen sowie der Marter, wie wir sie aus dem Mittelalter und früheren Zeiten kennen, im Sinne der europäischen Aufklärung in eine neue Form des Bestrafens transformiert wurde, die – zumindest was das unmittelbar Schmerzhafte am Körper betrifft – als sehr viel weniger grausam sich erweist. Andererseits setzte durch diese Form des Strafens eine Weise der Selbstüberwachung und Konditionierung ein, die noch bis ins Innerste dieses Subjekts ragte. Der Panoptismus als durchaus humanes Moment, dem aber zugleich die Destruktion und die dunkle Seite innewohnt, denn er erzeugt jene gewünschte Konformität des Individuums, das sich dabei aber zugleich in seiner Individualität als ungemein einzigartig, als authentisch eben, glaubt. Der menschliche Körper und seine Regungen sind jedoch nicht an sich und unveränderlich, irgendwelche ontologischen Daseinskonstanten, sondern er ist einem Spiel der Kräfte und Diskurse ausgesetzt, die am Ende erst diesen Körper samt seiner mal mehr, mal weniger konformen Regungen hervorbringen. Der aufstrebende Kapitalismus des 17. und 18. Jahrhunderts benötige diese Körper als Arbeitskraft.

Insbesondere der Foucault der 70er und der 80er Jahre beschäftigte sich intensiv mit diesen Praktiken der Bio-Politik, die bis tief in den Körper des Menschen sich einschreibt. Wie jene haarfeine Sichel- und Nadelschrift in Kafkas „Strafkolonie“, die man ebenfalls einmal im Zusammenhang mit den Texten Foucaults lesen könnte. Nicht mehr ein anonymes Außen wird unter den Bedingungen einer post-modernen Kontrollgesellschaft im Grunde mehr benötigt. Es reicht hier die bloße Androhung, daß da ein anonymer Beobachter sein könnte, ohne daß da übehaupt noch jemand ist, und so vollziehen im vorauseilenden Gehorsam die Subjekte die Unterdrückung von ganz alleine, üben die Kontrolle über sich selber aus, wie der Zen-Meister seinen Körper trainiert und mental im Griff hat. Die schöne neue Welt der Arbeit: Insbesondere in all den Internet- und Softwarefirmen oder in den diversen Agenturen oder der Welt der Banken und der großen Konzerne zeigt sich dieses System der Internalisierung, die uns steuert. (Und aus diesem Grunde sind Zen und Japan in dieser schönen neuen Welt so derart beliebt.) Diese Kontrolle geschieht bis in die intimen Regungen des Körpers und dessen Sexualität hinein.

All diese Aspekte einer kritischen Aufklärung, die sich über sich selber aufzuklären vermag – in der Tradition von Kants Konzept von Aufklärung und Adornos/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ – versammeln die großartigen und verschlungenen Schriften dieses Philosophen, sie umkreisen in immer neuen Anläufen und Varianten ein Bündel an Themen: Wissen, Macht, Körper, Subjekt, Wahrheit. Aber ohne die Positionierung – darin dem ästhetischen Denken verwandt. „Ich bin nicht da, wo ihr mich sucht, sondern hier, von wo aus ich Euch lachend ansehe“ schrieb Foucault – jener Philosoph mit der Maske, der sich nicht gerne festnageln oder festlegen ließ.

Gerade dieses Proteushafte macht Foucaults Reiz aus. Das gesellschaftliche Draußen war für Foucault nicht nur bloßer Text oder der Innenraum einer vertrackten Immanenz, sondern es gab bei Foucault zugleich das ästhetische Spiel als den unendlichen Möglichkeitssinn, der das, was der Fall ist und doch durch und durch gesellschaftlich Gemachtes, in die Transgression bringen konnte. Zumindest für den aufscheinenden Moment, in jenen wunderbaren flüchtigen Augenblicken. Als Perspektive und Fluchtpunkt. Ohne daß dabei aber diese Ästhetik gleich zur Kontingenzbewältigung der Moderne und zur Überforderungskompensation instrumentalisiert wurde – eine Position der Kunst, die ihr die konservativen Entlastungs-Ästhetiker in vielfältiger Couleur gerne als ihre Daseins-Möglichkeit in den Rahmungen der verfehlten Moderne zuweisen wollen. Kunst als Korrektiv des lästigen Alltags und als Narkotikum. Aber am Ende ohne Konsequenz. Anästhetisch-anästhesistische Ästhetiker. Foucault machte alle diese Festschreibungen nicht mit. Sein Denken changierte vom französischen Hegelianismus, vermittelt durch die Vorlesungen Alexandre Kojèves, in denen sowohl Sartre, Raymond Queneau, Derrida, Barthes, Lacan und eben auch Foucault saßen. Über Heidegger und Nietzsche bis hin zur antiken Philosophie.

Gleichzeitig gehörte Foucault, ebenso wie Sartre, zu den engagierten Intellektuellen, die Partei ergriffen, die auf die Straße gingen, die sich tagespolitisch einmischten. Dieses Vielschichtige und Schimmernde reichte bis hin zur Lektüre der Kunstwerke: sei es sein Blick auf Manet als dem Maler der Moderne oder in jener großartigen Einleitung von „Die Ordnung der Dinge“, wo er eine für die Kunstgeschichte bahnbrechende Lektüre von Diego Velázquez‘ „Las Meninas“ lieferte, indem er anhand der Ordnung und der Strukturierung der Blicke und der Blickachsen in diesem Bild die Geschichte und die Positionierung des neuzeitlichen Subjekts aufzeigte, das an jenem unsichtbaren Ort seine zentrale Stelle hatte: jene empirisch-transzendentale Doublette.

Das Subjekt ist ein Diskurseffekt und insbesondere ist in der Literatur die Instanz des Autors eine durch und durch von der Moderne gezeitigte Erscheinung. Wer um die Möglichkeiten der Diskurse, ihrer Grenzen und ihrer Disziplinierungsstrategien erfahren möchte, der lese unbedingt „Die Ordnung des Diskurses“. Darin heißt es über die Instanz des Autors:

„Ich glaube, es gibt noch ein anderes Prinzip der Verknappung des Diskurses, welches das erste bis zu einem gewissen Grade ergänzt. Es handelt sich um den Autor. Und zwar nicht um den Autor als sprechendes Individuum, das einen Text gesprochen oder geschrieben hat, sondern um den Autor als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts. […] In den Bereichen, in denen die Zuschreibung an einen Autor die Regel ist – Literatur, Philosophie, Wissenschaft –, kann man sehen, daß sie nicht immer dieselbe Rolle spielt. Im Mittelalter war die Zuschreibung an einen Autor im Bereich des wissenschaftlichen Diskurses unerläßlich, denn sie war ein Index der Wahrheit. Man war sogar der Auffassung, daß ein Satz seinen wissenschaftlichen Wert von seinem Autor beziehe. Seit dem 17. Jahrhundert hat sich diese Funktion im wissenschaftlichen Diskurs immer mehr abgeschwächt: die Rolle des Autors besteht nur mehr darin, einem Lehrsatz, einem Effekt, einem Beispiel, einem Syndrom den Namen zu geben. Hingegen hat sich im Bereich des literarischen Diskurses seit eben jener Zeit die Funktion des Autors verstärkt: all die Erzählungen, Gedichte, Dramen oder Komödien, die man im Mittelalter mehr oder weniger anonym zirkulieren ließ, werden nun danach befragt (und sie müssen es sagen), woher sie kommen, wer sie geschrieben hat. Man verlangt, daß der Autor von der Einheit der Texte, die man unter seinen Namen stellt, Rechenschaft ablegt; man verlangt von ihm, den verborgenen Sinn, der sie durchkreuzt, zu offenbaren oder zumindest in sich zu tragen; man verlangt von ihm, sie in sein persönliches Leben, in seine gelebten Erfahrungen, in ihre wirkliche Geschichte einzufligen. Der Autor ist dasjenige, was der beunruhigenden Sprache der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre Einfügung in das Wirkliche gibt.“

Den letzten Satz begreifen nur die wenigsten, insbesondere manche Schriftsteller:innen scheinen vor ihm eine extreme Furcht zu hegen und versuchen, diesen Satz durchs Verschließen der Augen zu neutralisieren. Aber wer häufig genug „Ich“ sagt oder schreibt und das Authentische herbeiredet, ist deshalb noch lange kein Autor. Von Foucault zumindest können wir manches über die Hybris des modernen Subjekts und seine trughaften Wahrhaftigkeitsansprüche lernen.

Aber es geht natürlich das Lob ebenso in den privaten Rahmen über und ich sage „Danke, Michel Foucault“: Für jene unendlichen Stunden und Tage in den Bars, in jenem Zimmer mit jener Frau, mit den Büchern und dem Text als Instanz, und wie sehr wir jene Subjekte als Fragmente waren und blieben und wie wir auf diese Weise immer weitermachen wollten. Die Gesichter im Sand, die vom Meer fortgespült werden und wie wir am Ostseestrand mit unseren Fingern ein Foucault-Gesicht in den Sand zeichneten und darunter „Pour Michel“ schrieben, wie vermutlich bereits hunderte vor uns an anderen Stränden, anderen Meeren, anderen Orten, während irgendwann die Wellen über das Bild trieben, als wir bereits weiter in den Dünungen und gegen den Wind schlenderten. Deine schwarzen Lackstiefel und Dein schwarzes Höschen. Ostfrauenunterwäsche. Nachts, die Sommernächte, mit dem Fahrrad durch die Straßen fahrend. Mein Blick unter Deinen Minirock, oder während Du dasaßt und die Beine auseinander legtest. Philosophie bietet manchmal tiefe Einblicke. Körperpolitik. Mit unseren Zigaretten, „Lucky Strike“ Du mit, ich ohne Filter, den Flaschen Wein. Sie auf der Seite Hegels und im Malina-Sound um die Vermittlungen bemüht, während der junge Mann in der schwarzen Lederjacke und mit der schwarzen Jeans, den damals feingliedrigen Fingern, zwischen denen die Zigarette glühte, die Dissoziation predigte und jegliche Vermittlung ins dialektisch Negative zu überführen trachtete: Archäologie und Wahnsinn, Genese und Struktur, manchmal auch die Striktur oder die Transgression des Sinns als Instanz. Kein Ort nirgends. Bis zuletzt ins Schweigen. Mon amour. Die Erotik des Textes.

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Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Helene Hegemann und Michel Foucault

Paßt diese Kopplung? Nein, sie paßt nicht, auch wenn Frau Hegemann und ihre Gefolgschaft das gerne so hätten. Es handelt sich auch nicht um eine Koppelung, die verbindet, sondern bloß um eine Aufzählung: erst Hegemann und dann, in einem anderen Zusammenhang, Foucault. In der „Zeit“ dieser Woche schrieb Helene Hegemann auf der ersten Seite des Feuilletons einen Beitrag, um ihren Kritikern zu antworten. Es handelt sich bei diesem offenen Brief um die üblichen Worthülsen und Sprachblähungen; Blafasel, wie es der Nörgler einmal an anderer Stelle nannte – ein Wort das ich hiermit in meinen Wortschatz aufnehmen möchte. Aber schlimmer noch als dieser hingerotzte Text Hegemanns ist, daß sie nicht begriffen hat, worum es einem Teil der Kritiker geht: daß sie selber – ganz existenzialphilosophisch – sich zu dem machte, als was sie dann von einem Teil der Kritik auch wahrgenommen wurde. Man hat sie beim Wort genommen. Zudem: Nicht ihre Kritiker, sondern Hegemann selber spreizte sich auf der medialen Bühne. Zuhälter war der Ullstein Verlag. Erst die Beine breit machen und sich dann hinterher wundern: das läuft nicht. Beischlafdiebstahl unter verkehrten Vorzeichen. Daß Hegemann am Schluß des Beitrags ihren prominenten und unprominenten Freunden dankt, so etwa Sophie Rois, Dirk von Lowtzow und Christoph Schlingensief, zeigt wieder einmal auf das beste das Inzestuöse des Kulturbetriebs und spricht eher gegen die Freunde, ja läßt diese gar in einem ungünstigen Lichte dastehen. Andererseits: die Frau ist noch jung, lassen wir es also gut sein, und schließlich hat ein jeder das Recht, sich zu verteidigen. Wer gibt hinterher schon gerne zu und sagt: „Gut, ok, die Sache ist scheiße gelaufen, ich habe Fehler gemacht und ich habe mich geirrt.“? Keiner. Und als Produkt des organisierten Kulturbetriebs muß man schließlich irgend etwas sagen, und sei es auch nichtssagend, um im Boot bleiben zu dürfen. Schöner Satz auch im Kommentarteil des Hegemanntextes vom Schreiber „Aus-gerochet Helene…“: „…kannst Dich bei Papi bedanken.“ Punktgenauer Treffer. Jetzt aber zu Foucault und mitten drin in der analytischen Sitzung einen Schnitt gemacht, so wie es auch Lacan in seiner psychoanalytischen Praxis hielt, damit sich auf dem therapeutischen Weg des Fragmentierens ein kritisches Subjekt konstituiere: Thomas Assheuer schrieb im Feuilleton der „Zeit“ Nr 18 eine Rezension zu Foucaults letzter gehaltener Vorlesung, die nun bei Suhrkamp  publiziert wird unter dem Titel „Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II; Vorlesungen am Collège de France 1983/84“. Assheuer schreibt: „Foucaults Übertreibungen sind akademische Evergreens, und der Siegeszug der ‚Lebenswissenschaften“ macht ihren Refrain noch einmal auf andere Weise aktuell.“ Assheuer bezieht sich hier auf den mittleren Foucault der 70er Jahre aus dem Feld der Machttheorie, Kulminationspunkte sind hier sicher Foucaults „Überwachen und Strafen“ sowie „Die Ordnung des Diskurses“. So schreib Assheuer:

„Die hellen Spiegel der Freiheit verbergen die dunkle Realität der Macht, sie verbergen die Logik von Kontrolle und Disziplinierung, von Abrichtung und ‚Menschenführung‘. Sogar die Sprache verstand Foucault als Technologie der Macht.“

Als Übertreibungen würde ich die Theorie Foucaults nun nicht gerade bezeichnen, wenngleich es damals zum flotten Sound der 80er mit Nachwehen in die 90er Jahre hinein gehörte, diese Dinge zu popularisieren. Und ich sehe sie immer noch vor mir: Jene StudentInnengruppe samt ihrer scheinhaften Praxis, die damals – man glaubt es nicht, doch es war so – die Gefängnisse öffnen und damit die Gefangenen freilassen wollte. Und dieses Bild will nicht aus meinem Kopf: Jene Frau, die da auf dem Boden hockte und Schilder, Transparente oder sonst etwas malte. Ein gar köstlicher Spaß, diesen jungen Menschen aus de Basisbastelgruppe zusehen zu dürfen. Auch in der Pop-Kultur ist Foucault sicherlich als herabgesunkenes Bildungsgut lange schon angekommen, um es etwas provokant zu formulieren. (Ich verweise hier noch einmal auf den sehr treffenden Text von Jens Balzer aus der „Berliner Zeitung“.) Prominentes Beispiel hierfür ist sicherlich die Band „Tocotronic“, die das dann in teils gekonnten Texten vorführt. Ich will hier aber nicht zu sehr über jene verblendete Praxis spotten, die den blinden Aktionismus sozusagen zur Existenzverzierung gebrauchte, denn Foucault sah sich, genauso wie Sartre, mit dem er trotz erbitterter theoretischer Gegnerschaft Seite an Seite demonstrierte, auf die Praxis hin angelegt und verstand seine Theorie auch als Praxis: Die eingreifende Praxis des Intellektuellen, die in Frankreich eine sehr viel stärker ausgeprägte Tradition hat als in Deutschland. Im ganzen ist dieser Artikel von Assheuer lesenswert. Insbesondere die Aspekte der versteckten Macht aus der schönen neuen Welt des Liberalismus möchte ich zitieren: Es läßt sich das besser gar nicht selber formulieren: Also treibt‘s mich zum Zitat, denn warum selber schreiben, wenn andere es für einen machen können?: Assheuer schreibt:

„Nicht minder einflussreich ist seine (Foucaults) Kritik an der liberalen Gesellschaft. Das vielzitierte Schlagwort heißt ‚Gouvernementalität“, und dahinter steckt die Behauptung, der Liberalismus sei eine Herrschaftstechnik, die der Bürger gar nicht bemerkt, weil sie ihn nicht von außen, sondern von innen diszipliniert. Während die ‚alte‘ Regierungsmacht dem Einzelnen Befehle erteilt, regiert die liberale, mit der Wirtschaft fusionierte Staatsmacht durch sanfte mentale Nötigung. Sie bringt den Bürger dazu, sich selbst zu regieren, und zwar durch die Exerziten der Selbstbefragung: ‚Bin ich erfolgreich? Bin ich effizient? Bin ich Deutschland?‘ Kurzum, Liberalismus ist staatliches ‚Gouvernement‘ durch die ‚Mentalität‘ des Bürgers, damit dieser genau das will, was er soll. (Für solche Sätze liebe ich Thomas Assheuer.) Kein Wunder, dass für eine wachsende Zahl von Soziologen Foucault und nicht Luhmann das analytische Besteck bereitstellt, um jene neoliberale Revolution zu begreifen, die hierzulande Gerhard Schröder unter subalterner Mitwirkung der Grünen angezettelt hat (vgl. den Band von Klaus Dörre, Stephan Lessenich (den hätte ich beinahe nur mit einem ‚s‘ geschrieben, guter Name für einen Akademiker; doch es gilt: keine Witze über Namen, Einschub Bersarin,) Hartmut Rosa: Soziologie, Kapitalismus, Kritik, Suhrkamp Verlag).“

(Ok: Buch wird gekauft, ich habe verstanden Herr Assheuer, danke für den Lektüretip.)

Gut, mag man da (zu recht) entgegnen: diese Kritik Foucaults, wie sie Assheuer darstellt, ist nicht ganz neu. Früher nannten wir das Ideologiekritik, Gesellschaftskritik, und solche wurde ausgiebig von der frühen Kritischen Theorie betrieben; insbesondere im Zusammenspiel von Marxscher Theorie und Psychoanalyse, wo aufgezeigt wird, wie unter den bis heute herrschenden Bedingungen das Falsche der Gesellschaft als naturwüchsig internalisiert wird. Von Foucault selber stammt ja der Satz, daß er sich manchen Umweg hätte ersparen können, wenn er um einiges früher die „Dialektik der Aufklärung“ rezipiert hätte. Und auch der späte Adorno trieb diese Kritik dann weiter zu einer komplexen Ästhetik und einer negativ-dialektischen Philosophie, für die allerdings der Begriff einer Gesellschaftskritik zu kurz greift. Trotzdem: die Sätze Assheuers treffen es, läßt man einmal den Satz gegen Luhmann beiseite. Sicherlich liegen Lumanns Qualitäten nicht darin, eine Soziologie als Kritik der Gesellschaft zu formulieren. Aber wenn man die Texte Luhmanns ein wenig dreht und seiner Theorie eine andere Richtung gibt, nur um ein Winziges umjustierend, kann da Brauchbares herauskommen. Abschließend muß ich gestehen, den späten Foucault nicht ausreichend genug rezipiert zu haben, so daß ich nur eine vorläufige Einschätzung geben kann. Insbesondere dieses Thema einer „Ästhetik der Existenz“ halte ich zwar für wichtig, doch spielt darin zugleich ein heikles Motiv hinein: fließend ist die Grenze zu einer Philosophie als Kompensation der gesellschaftlichen Defizite, um die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft nicht aushalten zu müssen. „Ästhetik der Existenz“: nahe, sehr nahe ist das gebaut an einer Philosophie für Manager, um diese fit zu machen für den nächsten Tag und für all die kommenden Tage. Und Wilhelm Schmid, der über den späten Foucault und die „Ästhetik der Existenz“ seine Dissertation schrieb, ging dann genau in die Philosophische Lebensberatung. Daß Philosophie vermittelt auf die Praxis zu wirken habe: dem sei unwidersprochen, wenngleich man dabei den Auftakt von Adornos „Negativer Dialektik“ gegenwärtig haben sollte. Aber es muß diese Praxis eine solche sein, die im Denken erschüttert, anstatt dem, was ist, wie es ist, das Wort zu reden. Wie gesagt: dicht ist die Verbindung hier zu einer Philosophie geknüpft, die die Reparaturleistungen für eine defekte Gesellschaft erbringen muß. Andererseits steht Foucault mit dieser Rückbesinnung auf das Selbst sowie der Perspektive, das Leben zum Kunstwerk zu machen, in der Tradition einer individualistischen Ethik, die nicht nur eine Linie zur Antike zeichnet, sondern auch an das Denken Nietzsches (und vermittelt auch an den Text des späten Adornos) anknüpft. Eine Weggabelung eröffnet sich hier freilich auch zu Peter Sloterdijk, der in seinem Buch „Du mußt dein Leben ändern“ eben auch auf Foucault sich bezieht. Denn diese Arbeit am Selbst, so Sloterdijk, geschieht durch verschärftes Training (des Athleten) und durch Übungen. Auch der Foucaultsche Begriff des Wahrsprechens (Parrhesia) ist problematisch. Ehrlich gesprochen liegt mir hier Derridas fundamentale Kritik und die heillose Aporie des Derridaschen (aber auch des Adornoschen) Textes näher als der späte Ton Foucaults, welcher am Ende womöglich doch wieder auf einen Punkt absoluter Selbstpräsenz und Selbstermächtigung hinaus will. Da ist es wie mit Winnetou: Zum Ende hin, auf dem Sterbebett, werden sie doch noch zu guten Christen.

Vadderns Tochter, Helene Hegemann, sowie die postmoderne Moderne und das Plagiat

Ob das Buch der Tochter vom Dramaturgen und Professor für Dramaturgie Carl-Georg Hegemann gut ist, das weiß ich nicht, es steht hier nicht zur Debatte, es interessiert mich nicht sonderlich, weil die meisten Texte von 15- oder 17jährigen in der Regel ästhetisch mißlungen sind, geschuldet auch ihrer mangelnden Bildung und ihres noch völlig unzureichenden, kaum zusammenhängenden Wissens. Glücklicherweise schrieb dieses Buch jedoch die Marketingabteilung von Ullstein. Aufgrund ihrer signifikanten Dürftigkeit lasse ich meist die Finger von solchen Texten, denn die Lesezeit ist knapp, es kann und soll nicht alles gelesen werden. Ich halte mich mittlerweile lieber an die sogenannten Klassiker der Moderne und der Vormoderne, weil die literarische Gegenwart ausgesprochen öde ist. Rimbauds gibt‘s halt nicht im Sixpack und in der Auslage. Insofern ist es für die Kritik in diesem Blog auch egal, ob das Buch „Axolotl Roadkill“ gelungen oder ästhetisch gescheitert ist. Wer mit 16 schreibt, mag bereits einiges erlebt haben oder nicht. Gereift ist es nimmer. Ohne „Axolotl Roadkill“ gelesen zu haben, wette ich darauf, daß es ohne den Namen der jungen Frau nicht einmal auf dem Schreibtisch des Lektors gelandet wäre, selbst bis zum Papierkorb desselben dränge es nicht vor, weil eine freundliche Hilfskraft es vorzeitig aussortierte.

Doch von Zeit zu Zeit taucht solche Jugendliteratur immer einmal wieder auf: Ob Irina Denezkina, Alexa Henning von Lange (wer war das nochmal?) oder Nick McDonell, in Phasen preßt das hervor; die (eigentlich bekannten) Gründe nenne ich gleich. Die Feuilletons loben das Buch von Helene Hegemann sehr. Vielleicht ist etwas dran. Da verhält es sich wie mit den Büchern von Daniel Kehlmann: man nimmt es sich vor: die müßte man mal lesen. Und doch ereignet sich der unendliche Aufschub.

Ja, diese jungen wilden Jahre und die Literatur, die das aufschreibt: Natürlich gehören diese Feuchtgebiete, die Irrungen, Wirrungen und die Gelage zur lang anhaltenden, absichtsvoll hinausgezögerten Pubertät: Wer‘s in der Schulzeit nicht hatte und – verlängert – in die Studienzeit hinein, der ist womöglich arm dran, dem fehlt etwas: fette Partys, feuchte Pussy, fiese Drogen, ich habe das ja ausgiebig in meinem Erzählungsband „Dicke Geier hat der Eier“ verarbeitet.

Im Grunde handelt es sich bei solchen Büchern wie von Hegemann et al. jedoch um Literatur aus der Retorte, die bewußt für den Markt produziert wird, weshalb die Analogie zum Musikvideo nicht falsch ist: Bedürfniserzeugung, Bewußtseinsindustrie, Vorgefertigtes, Tütensuppenliteratur. Das vermeintlich Innovative ist das Allzubekannte. Die verschiedenen Medien inszenieren einen Strom der Kommunikation; Skandälchen und Provokation werden in diesen Strom eingespeist, der zunächst einige Zeit fließt; es gereicht zum (nicht nur finanziellen) Wohle aller, bis die Sache versiegt oder platzt. Die Namen verschwinden sodann in der Versenkung oder kommen irgendwo in einer Talkshow, im Feuilleton, am Theater unter.

Ja, es existieren Designer-Drogen, warum nicht auch designte Literatur? Mit Projekten wie „Crazy“ und dem deutschen Froileinwunder in der Literatur der 90er fing es an, daß die Marketingabteilungen der Verlage Planwirtschaft vorlegten. (Vielleicht auch schon früher, ich habe es vergessen. In den 80ern war die Kritik ja vom Erstlingswerk des 23jährigen Michael Chabon sehr begeistert.) Dieses In-Szene-Setzen läßt sich sodann beliebig steigern, Papa, Förderer oder der großen Ranschmeiße sei Dank. Auch der Hype und der Verriß gehören zu solchen inszenierten Projekten. Ich selber mache da ja bereits mit, weil ich darüber schreibe, mich darüber auslasse; Schweigen wäre im allgemeinen Gebrabbel und im weißen Rauschen der Medien besser. Besser weitermachen im Text mit Benjamin und Adorno, dem dialektischen Bild, der Phantasmagorie, einem neuen Aufsatz zur Postmoderne.

Es geht, wie gesagt, gar nicht so sehr darum, ob der Roman gut oder schlecht ist; es spielen ästhetische Kriterien in der Bewertung der Causa Hegemann zunächst eine untergeordnete Rolle. Auch das Thema Plagiat: das sei hingenommen, wenn es hier nur um ein zwei Sätze ginge. Natürlich gibt es nicht das Original, geschenkt und gewußt, es sind die Übergänge von „Original“ und Umschrift sehr fließend. Schlimm ist daran aber, und hier fasse ich die sehr guten Beobachtungen, die Hartmut zu diesem Thema auf „Kritik und Kunst“ unter dem Titel „Plagiat und Postmoderne“ anstellte, zusammen: daß es nämlich nicht angehen kann, sich einerseits (als Subjekt) medial derart zu spreizen, die geballte Ladung „Personality“ und Monetäres in Anspruch zu nehmen, und wenn einer es dann an der Person festmachen möchte, wird, wie etwa in dem grottenschlechten Artikel auf SpOn von Daniel Haas, die lange Nase gezeigt: Es ist ja alles nur ein textuelles Spiel, das gehört doch dazu. Was erregt ihr euch so sehr?

Obwohl Hartmut und ich einiges, was die Postmoderne betrifft, wohl unterschiedlich betrachten und bewerten, muß ich den Sätzen Hartmuts zustimmen, kann es selber gar nicht anders und besser formulieren, als er es in seinem Blog macht. Und weil mir diese Ausführungen zu einem Begriff vom Subjekt, das sehr wohl für Dinge verantwortlich ist, so gut gefallen, zitiere ich sie einfach mal. Diese Ausführungen Hartmuts treffen die Sache exakt: Wenn ich mich als geniale 17jährige hype und hypen lasse, da bin ich mit meinem guten Namen als Subjekt (selbstverständlich, comme il foucault, dissoziiert) präsent; wenn ich das nicht will, muß ich dieses Spiel abbrechen. Da zieht jedoch eine Frau die Wunderkindnummer durch – wenn auch sich kalkuliert sträubend, medial den Widerwillen bekundend, das gehört ja zum Geschäft – und macht hinterher, wenn die Dinge schlecht laufen, auf unschuldiges Kindchenschema-Gesicht: „Ach, böse, böse, das hätte ich nicht tun dürfen. Da war wohl eines meiner zahlreichen Ichs total gedankenlos und egoistisch. Upps.“

Nein, so geht es eben nicht, so läuft das nicht. Völlig richtig schreibt Hartmut auf „Kritik und Kunst“:

„Ob nun – ohne dass ich das ineins setzen will – Sascha Anderson jahrelang Stasi-Tätigkeit ausübte oder Helene Hegemann bloß ein bißchen abgekliert hat – es ist eigentlich immer das Gleiche: Schriftsteller, die sich zu Stars haben ausrufen lassen, die die sehr wohl personengebundenen Zuschreibungen der Szene, zusamt der materiellen Vorteile, die sich daraus meist ergeben, genossen haben, entdecken ausgemacht dann postmoderne Texttheorien, entdecken ausgemacht dann die Destruktion von Subjekt- und Wahrheits-Begriff, wenn sie beim Mogeln erwischt werden. Und da wirds dann ranzig. Denn man merkt die Absicht und ist verstimmt. Solange es gut fürs Geschaftl ist, werden die Gesetzlichkeiten – das ist jetzt auch und gerade juristisch zu verstehen! – der Bürgerlichen Gesellschaft stillschweigend abgenickt – Eigentum, Talk-Show-Auftritt, ICH bin der Autor…und wenn die Sach´ scheep gangen iss, wird das Hohelied Foucaults gesungen. Sorry, aber das ist mir, im Modus des Bürgerlichen betrachtet (das Künstlerische spielt jetzt mal keine Rolle!) zu verlogen, zu verkommen. Foucault hat, als Monsieur Delacampagne, bekanntlich einmal den Vorschlag unterbreitet, alle Autoren sollten ein Jahr lang ohne Namen veröffentlichen. Hätte Helene Hegemann ihre Anzitationen und Brechungen als Melissa Meiners oder gar anonym veröffentlicht – alles wäre in Ordnung gewesen.“

Genau so ist es. Wir fügen kein Jota hinzu.

„Das hier ist es: Postmodern schwatzen, identitätsphilosophisch abkassieren – das ist es, was mich so anwidert. leute, die daran glauben, dass es so etwas wie Wahrheit letztlich nicht gibt, dürften (was soll der Konjunktiv?) eigentlich keine Unterlasungserklärungen verschicken…“

Wie gesagt, ich teile Hartmuts Positionen zur Postmoderne nicht überall, aber das, was in der Causa Hegemann geschieht und dazu ein solcher Artikel wie der von Haas, das ist einfach nur eine bittere Lachnummer und Ärgernis in einem.

Man lese auf SpOn das hier:

„Wenn dann aber die Risiken eines solchen, nicht mehr selbstherrlich auf Individualität und Originalität pochenden Schreibens deutlich werden, dann fängt das Gezeter an. Es scheint für viele, auch für das Feuilleton, eine große Kränkung darin zu liegen, dass die für gut befundene literarische Provokation eine genuin postmoderne, das heißt aus Versatzstücken montierte ist.“

So, so; und es ertappt sich der Schreiber dieser Zeilen auf SpOn nicht beim heimlichen In-sich-Hinein-Prusten? Man fragt sich, welches Ich da gerade schreibt: das, was nicht alle an der Muschel hat oder das, welches gerade mit dem Versuch kämpft, den Poststrukturalismus adäquat zu verstehen und darin grandios scheitert? Man weiß es nicht, man wird es nicht erfahren, wo der Has im Pfeffer liegt. Und so geht das fröhlich weiter im Text. Da werden Foucault, der Tode des Autors, das sogenannte Intertextuelle verwurstelt und zerhackt, daß es weh tut.

Was mich an dieser Debatte und diesen trüben Theorie-Gestalten wie Haas so stört, das sind ihre zwei auf der Party angelesenen Zeilen Barthes und Foucault, weshalb ich hier noch einmal auf einen Text von Jens Balzer aus der „Berliner Zeitung“ verweisen möchte, den ich mir an anderer Stelle anläßlich von zehn Jahren „Tristesse Royale“ erlaubte zu zitieren:

„Auch lag auf dem Kaffeetisch in seinem Zimmer dekorativ ‚Die Ordnung der Dinge‘ drapiert. Nach dem Zustand des Buches zu urteilen, hatte Joachim darin noch keine einzige Zeile gelesen. Aber er wusste immerhin aus Gesprächen, dass es darin um eine ‚Absage an den alten Subjektbegriff‘ ging. Dessen intellektuelle Kritik schien ihm die passende Ergänzung zu seinen zuletzt gesammelten Schallplatten zu sein …“

Daß Foucault (und im Grunde auch Roland Barthes) für diese völlig falsch verstandene Dekonstruktion des Autors herhalten müssen, ist mehr als ärgerlich, weil durch solches Verschwurbeln und Verwursten ein interessanter Philosoph banalisiert und aufs Niveau von SpOn bzw. von Daniel Haas heruntergezogen wird. Warum läßt man nicht einen Redakteur schreiben, der dieses Gebiet der Literaturtheorie in einem Studium bearbeitet hat und dem ein paar wesentliche Unterscheidungen geläufig sind?

Und Allgemeingut sollte natürlich sowieso sein, daß dieser Begriff eines vielfältigen, gespaltenen, dekomponierten, fragmentierten Subjekts sowie der erweiterte Textbegriff ein wesentlicher Bestandteil der literarischen Moderne sind, welche seit über 100 Jahren in vielfachen Konstellationen durchgespielt wurden: Man denke an Bachmanns fragmentierte Subjekte im Todesarten-Zyklus, jene Frau, die in der Mauer verschwand, oder an Max Frischs ersten Satz aus dem Stiller, oder man erinnere den Titel „Mein Name sei Gantenbein“. Und auch in der frühen Moderne finden sich zahlreiche Texte: man lese Hofmannsthals Chandos-Brief, man gehe von Benn über Kafka zu Joyce und Proust zurück zu Rimbaud. Das ist doch alles nicht neu und nicht erst mit Foucault auf dem Markt: Wer hat‘s erfunden? Nein, nicht Ricola und die Schweizer, das reicht bis in die Romantik zurück. Hartmut hat das ja alles genannt.

Aber das eine ist Kompositionstechnik wie bei Joyce, Proust, Dos Passos, dem leicht überschätzten Burroughs oder Döblins „Alexanderplatz“ (Adorno mochte dieses Buch nicht, nebenbei gesprochen), das andere sind Personen, die (längere Passagen) fast wortwörtlich abschreiben. Das eine ist Referenz auf das, was ist und was uns als Wirklichkeit dargeboten wird (Herr Haas bezieht sein Salär ja nicht virtuell-textuell-aufgelöst, sondern hält es nach dem Gang zum EC-Automaten in den fröhlichen Händen, auch wenn man nicht weiß, wofür.) Das andere ist das Leben des Textes. Wenn Frau Hegemann also als die Frau mit der Maske und ohne Namen, vielleicht als Mme Foucault, auf der Bühne aufkreuzte, nicht einmal der Verlag wüßte, wer sie ist, die Sache stünde anders. Sie hat sich jedoch ganz bewußt als Frau Hegemann positioniert, da wird sie dann mit ihren 17 Jahren auch die Suppe auslöffeln und mit dem Namen des Autors oder dem „nom du père“ herhalten müssen.

Was schreibt „Kritik und Kunst“: „Sollte eine 16,17jährige von den Mechanismen des Markts überrollt worden sein: Geschenkt! Sollte es – Stichworte: Ullstein, Papi, Privilegien – hier aber Unklarheiten geben, dann immer gib ihr Kante! Da bin ich dann Schwein. Da möge der Name Helene Hegemann wieder und wieder mit dem Namen Forestier vergoogelt werden, bis die Suppe dick ist.“

Nun, Frau Hegemann tut mir einerseits leid. Denn bei all ihrer vermeintlichen Abgebrühtheit und Hipnes muß man sie im Grunde vor sich selber schützen, denn sie ist gerade einmal 17, demnächst 18 Jahre alt. Schade auch, wenn ein eigentlich in diesem Betrieb erfahrener Vater seiner Sorgfaltspflicht nicht nachkommt. Andererseits: Was soll‘s? und wohl bekommt‘s: Postmodernism can be so hard (boiled). Doch wer weiß schon was?: Vielleicht gehört genauso dieses Stück Plagiatsgeschichte als hübsche Inszenierung dazu; immerhin war Vaddern ja beim Theater tätig, da weiß er als geschulter Dramaturg sicherlich, worauf es wirkungsästhetisch ankommt. Lassen wir uns überraschen.

PS und als Nachtrag: Wer einmal schöne bestsellerreife Satzproduktionen aus der Klischee-Küche lesen möchte, den verweise ich umgehend auf „Kritik und Kunst“: Fast wie bei Raymond Queneaus Gedichtbuch, wo man sich selber aus Papier-Bauteilen ein beliebiges Gedicht machen kann, bietet Hartmut die wunderbarsten Phrasen der Beliebigkeit frei Haus zum Gebrauch. In der Tat: diese Sätze von Hegemann, die auf dem Blog „Gefühlskonserve“ zitiert werden, sind billige Ficki-Ficki-Kotzi-Kotzi-Prosa.

Wann kommt eigentlich das kalkuliert provokative Konzentrationslager-Sex-Buch: „Ich fickte den Karl Fucktor“? Ullstein übernehmen Sie.

Michel Foucault – zum 25. Todestag

Es soll ja nicht der Verdacht entstehen, dies sei ein nekrophiler Blog, welcher nur noch zu Nekrologen fähig ist, aber es ist nun einmal so eingerichtet, daß heute der 25. Todestag von Michel Foucault ist. Da aber noch einige Texte zu anderen Themen ausstehen, so der zweite Teil des Habermas-Essays, der dann zum ersten Juli-Wochenende folgt, und die Lektüre von Nietzsches Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ aus der Misreading-Nietzsche-Reihe bisher nicht geschrieben wurde, so will ich eine Foucault-Würdigung erst einmal nach hinten setzten. Oder vielmehr: ich will schon würdigen, aber heute lediglich mit zwei Zitaten von Foucault selbst, das ist vielleicht sogar besser als kommentieren:

„Die Philosophie, was ist sie, wenn nicht eine Weise, nicht so sehr über das, was wahr oder falsch ist, zu reflektieren als über unser Verhältnis zur Wahrheit. Man beklagt sich manchmal, daß es in Frankreich keine herrschende Philosophie gibt. Umso besser. Keine souveräne Philosophie, das stimmt; aber immerhin eine Philosophie oder besser: Philosophie als Aktivität. Denn Philosophie ist eine Bewegung, mit deren Hilfe man sich nicht ohne Anstrengung und Zögern, nicht ohne Träume und Illusionen von dem freimacht, was für wahr gilt, und nach anderem Spielregeln sucht. Philosophie ist jene Verschiebung und Transformation der Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um anderes zu machen und anders zu werden als man ist.“

Das einzige Gesetz über die Presse, das einzige Gesetz über das Buch, das man aufstellen sollte, wäre zu unterbinden, daß der Name des Autors zweimal verwendet wird, und zusätzlich sollte dem Autor das Recht auf Anonymität und aufs Pseudonym gewährt werden, damit jedes Buch für sich selbst gelesen werden kann. Es gibt Bücher, bei denen die Kenntnis des Autors ein Schlüssel zu Verstehbarkeit ist. Aber von wenigen großen Autoren abgesehen, nützt diese Kenntnis bei den meisten Autoren überhaupt nichts. Sie dient als Schirm. Für jemanden wie mich, der ich kein großer Autor bin, sondern lediglich jemand, der Bücher produziert, wäre es wünschenswert, daß sie für sich selbst gelesen werden, mit ihren Schwächen und ihren möglichen Qualitäten.“

Eine Glosse, Aric Sigman und der medizinische Blick

 In der Berliner Zeitung vom 27.2.: eine einerseits sehr gute, spaßige Glosse von Harald Jähner, den Zusammenhang von Geselligkeit und Einsamkeit sowie die neuen Medien betreffend. Andererseits geht sie an Aric Sigmans Einwand vorbei, und sie ist  polemisch abgefaßt, was aber das Wesen einer Glosse sein darf und manchmal auch sein muß. Die Einschätzung Aric Sigmans, daß virtuelles Leben im „social networking“ nicht nur einsam, sondern auch krank macht, muß insofern separat dazu gelesen werden, um sich ein angemessenes Bild machen zu können.

Dieses Plädoyer Jähners für die (zeitweise) Einsamkeit gilt jedoch – etwas Nietzscheanisch (1) beiseite gesprochen – nur für die Wenigen, sollte der Befund von Sigman zutreffen. Da sich aber zu jeder Stimme eine Gegenstimme erheben wird und dort mit anderen medizinischen Fakten, Details und Untersuchungsergebnissen das Gegenteil des gerade Ausgesagten beweisen wird, so kann es hier durchaus bedeutsam sein, den Blick vom Streit der Meinungen und von den sich widersprechenden, widerstreitenden Fakten einmal abzuheben und auf etwas ganz anderes zu richten.

Es sollte der Blick auf die Bedingungen gerichtet werden, die es überhaupt erst ermöglichen, gesellschaftliche Praktiken mit dem medizinischen Feld zu koppeln. Es müßte also untersucht werden, auf welche Weise ein Diskurs strukturiert ist, der es ermöglicht, gesellschaftliche Phänomene in den medizinischen Blick zu überführen. Was sind die Bedingungen, unter denen er entstehen kann? (Ja, Foucault, ganz genau und richtig entschlüsselt.) Warum schließen wir soziale Phänomene wie den Umgang mit dem Internet mit medizinischen Kategorien zusammen?

Verhält es sich doch, mit dem 19. Jahrhundert beginnend, zunächst einmal so, daß mit dem Aufkommen von neuen Medien und neuen Techniken sowie ihrer größer werdenden Verbreitung und sozialen Relevanz vermehrt kritische Stimmen auftauchen; immer wieder werden soziale Praktiken an die Medizin angeschlossen: von der individuellen Regung, im Feld des Körpers, hinsichtlich der Onanie, die zu Schwachsinn und dergleichen führe, oder um nur ein Beispiel von vielen in bezug auf Entwicklungen der (industriellen) Technik zu nennen: So bei der Eisenbahn, mit der es die in der menschlichen Geschichte noch niemals dagewesene Möglichkeit gab, die räumliche Distanz in sehr kurzer Zeit vermittels einer Maschine zu überwindenden. Es ist dieser Moment die Stunde der (gesteigerten) Geschwindigkeit in der menschlichen Fortbewegung (2). Mit dem Aufkommen dieser neuer Transportmöglichkeiten gab es zugleich Untersuchungen, die diese Beschleunigung des Körpers als etwas Unverhältnismäßiges und damit Krankmachendes auswiesen. Und auch heute wird die Sucht nach Entfernung und Reisen in fernste Regionen, die wir unter normalen Umständen eigentlich nie zu Gesicht bekommen würden, unter Gesichtspunkten der Psychologie, aber auch der Medizin betrachtet.

(Wie fasziniert und befremdet zugleich man seinerzeit von dieser Beschleunigung war, läßt sich vielleicht exemplarisch an dem Bild „Regen, Dampf, Geschwindigkeit“ von William Turner zeigen. Dazu auch der Aufsatz von Monika Wagner, „ Wirklichkeitserfahrung und Bilderfahrung“, in: „Moderne Kunst 1“, Reinbek b. Hamburg, 1991, die Eisenbahn als Medium eines neuen, anderen Sehens der Landschaft. Aber auch die Bilder der Romantik verarbeiten diese Erfahrung, so etwa bei Carl Blechen, wo Objekte der frühen Industrialisierung mit einer lieblichen Landschaft korrespondieren. Vom vielfältigen Ausdruck der Industrialisierung in der Literatur ganz zu schweigen, angefangen bei Goethes Faust II.)

Es wurde hier etwas abgewichen, ein Umweg gegangen, von einer Glosse, die von der Einsamkeit als Refugium und als Bedingung von Kultur handelte, hin zur Koppelung von sozialer Praxis und medizinischem Blick. Schließen wir also mit einem Zitat Jähners und begeben uns heute am Samstag ein wenig noch hinaus unter Menschen:

„Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft geht einher mit dem Anwachsen von Einsamkeit. Sie fördert die Sehnsucht und Fantasie, die Brief- und Schreibkultur, die Malerei, die Begabung, sich auszudrücken. So gerüstet, kann man unter die Menschen gehen.“

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(1) Man muß hier und in solchen Zusammenhängen mit Nietzsche allerdings sehr vorsichtig sein, denn schnell werden aus den Wenigen auch die Auserlesenen, die Elite und was dergleichen Geschwafel mehr zu hören ist im Umfeld  des Neonietzscheanismus. Diese Konnotation möchte ich hier jedoch vermeiden.

 (2) Die Steigerung von Geschwindigkeit und das Begehren nach Geschwindigkeit sind natürlich nicht neu. So war diese Erhöhung von Geschwindigkeit bereits hinsichtlich der Kriegstechnologien in der Signalübertragung (man denke an die optischen Telegrafen aus der Napoleonischen Zeit) oder bei der Übermittlung von Nachrichten in der Antike bedeutsam. Daß es diese Steigerung der Geschwindigkeit in Ansätzen also bereits lange vorher gab, widerspricht dem oben ausgeführten aber nicht, da durch das Aufkommen der Dampfmaschinen (und die Eisenbahn ist eine Form derselben) eine völlig neue Qualität der Geschwindigkeit erreicht wurde. Die Steigerung von Quantität führt insofern zu einer vollkommen neuen Qualität, die, so könnte man fast mit Heidegger sprechen, eine planetarische Umwälzung verursachte. Im Zusammenhang mit einer Geschichte der Geschwindigkeit sei noch auf den amerikanischen Pony Express verwiesen, der innerhalb kürzester Zeit Postsendungen durch die USA beförderte und trotz seiner Kurzlebigkeit von 1860 bis 1861 zu einer Legende wurde.

Embedded Art (Teil 2)

 Dokumentierte Systeme der Überwachung.  Oder: ich sehe was, was du nicht siehst

Etwas benommen zwar, aber im ganzen doch gut beisammen, taucht der Besucher aus den Katakomben heraus und begibt sich sogleich zum zweiten Teil der Ausstellung. Am Cafetrakt vorbeigehend und nicht der Versuchung erliegend, sich auch eine der gerade vorbeigetragenen nicht-virtuellen schönen dampfenden Suppen zu bestellen.

Bevor der Besucher in die abgedunkelten Räume der nun ungeführten Ausstellung tritt, muß er an einem Fernseher vorbei. Dieser ist aufgebaut wie in einem Wohnzimmer, das wohl die Hölle eines Wohnzimmers darstellen soll, denn an den drei Seiten stehen jeweils die gleichen unansehnlichen billigen Schrankwandteile, wie man sie in Möbelhäusern erstehen kann, die schlecht verarbeitete Möbel feilbieten. Der Sinn dieser Einrahmung im Zusammenspiel mit der Vorführung im Fernseher scheint etwas beliebig. Und ein Zusammenhang mit dem Video ist nicht sofort ersichtlich. Dafür ist das gezeigte Video interessant. Teils mit Musik von Stockhausens „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“ begleitet, teils mit Originalton wird die Vorführung eines Tasers gezeigt, bei der sich Polizisten zu Testzwecken mit dieser nicht letalen Waffe gegenseitig beschießen. Man sieht den vor Schmerzen zusammensackenden von seinen Kollegen aufgefangenen Polizisten. Dann ist der nächste an der Reihe: Schmerzverzerrtes Gesicht und Schreie, Auffangen durch Kollegen, das Auf-den-Boden-legen des „Opfers“, usw.: der nächste bitte. Bekannt ist diese Waffe durch Nachrichtenbilder aus den USA, wo bei einer normalen Fahrzeugkontrolle dieser Taser brutal zum Einsatz kam.

Die Bilder haben ihren Reiz: man könnte zwar aufstehen, weil nach dem zweiten Durchgang bereits klar ist, was auch beim nächsten geschehen wird, doch fällt es schwer, sich diesen Bildern zu entziehen. Auch entbehren die Bilder nicht einer gewissen Komik, weil die Schreie der „Opfer“ wie gekünstelte Schreie eines Schauspielers wirken und das Hinabfallen mehr einer Inszenierung gleicht. Die Schreie und das Zusammenfallen des Körpers sind aber real, und immer wieder muß man sich vor Augen führen, daß diese Waffe zur Anwendung kommt; auch in Deutschland. Aus dieser Spannung und aus dem sich wiederholenden, seriellen Moment heraus bezieht dieses Video seine Stärke; und die Grenze zwischen dem ästhetischen Gebilde als Artefakt und der Dokumentation wird offener. Gerade einmal die Schrankwände erinnern in ihrer Ungemütlichkeit daran, daß man sich nicht in einer Dokumentation befindet. Vielleicht ist dies ja die Stärke der Schrankwände. (Gut eigneten sie sich, um eine nette Einraum-Hochhauswohnung in der Leipziger Straße (Ost) einzurichten.)

Überhaupt scheint in dieser Ausstellung das Moment des Artifiziellen, des künstlerisch Gemachten zurückzutreten zugunsten des Dokumentierenden, welches in manchen Passagen Mitmachcharakter entwickelt. So im ersten Raum: hier besteht die Möglichkeit, seinen Finger in einen Scanner zu legen, um den Fingerabdruck zu erfassen. Getestet werden soll hier – laut Tafelauskunft der Aussteller – die Bereitschaft, sich dieser Prozedur zu unterziehen. Der Besucher läßt sich gerne testen. Nach Einlegen des Fingers erscheint auf der Videowand eine fortlaufend gezählte Nummer, sodann generiert sich auf der Videowand ein Zufallsbild aus Mustern. So steht dort ein Muster neben dem anderen als Serie der Bereitwilligen. Wenn es doch im richtigen Leben auch so leicht und spielerisch wäre

Auch kann man sich in diesem Raum an einem anderen Objekt mittels Tastaturbefehlen in virtuellen Gängen eines Gebäudes, das den Charakter eines Sicherheitstraktes oder des „Flures“ von einem Raumschiff hat, bewegen: Der Blick des Besuchers „geht“ mittels Tastatur auf einer Videowand in Gängen umher, der Blick richtet sich, wenn die Kamera einigermaßen korrekt zentriert ist, auf eine Tür. Dort ist eine Frage mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten; sodann öffnet sich die Tür wie im Raumschiff Enterprise und es geht weiter zu einer nächsten Tür. Auch dort eine Frage, Antwort mit „ja“, Antwort mit „nein“: es ist eigentlich gleich, wie man antwortet, die Enterprise-Tür öffnet sich. Die Tastatur ist bewußt ungemütlich angeordnet und erschließt sich nicht intuitiv: nicht einfache Pfeiltasten symbolisieren Bewegungsrichtungen, sondern man muß sich diese Richtungen erschließen und probieren. Dies soll Konzentration in Anspruch nehmen. Ziel dieser (spielerischen) Veranstaltung ist es – laut Tafel des Ausstellers , daß der Teilnehmer sich in einem virtuellen Raum bewegen soll, dabei aber in diesem seinem Tun, in den Bewegungsrichtungen und seinen Blicken wiederum den Blicken und Beobachtungen der anderen ausgesetzt ist.

In einem weiteren Raum löst sich das Rätsel der Kameras aus dem Kellerbereich Sie dienen dazu, die Bilder ins Parterre zu übertragen, wo man die Räume, die Kunstwerke, die Besucher auf Großmonitoren in Ruhe überwachen und betrachten kann. Bilder sind da zu sehen und Menschen, die dort stehen, wenn eine eingebettete Führung stattfindet. Bis hin zu jenem „War Room“, in dem nun eine Beobachtung dritter Ordnung stattfindet.

Sinnfällig wird bei „Embedded Art“ eine Ordnung der Blicke, wie ich es im ersten Teil bereits genannt hatte, die zum Ende der Ausstellung hin in einen computer-spielerischen Umgang mit dem Benthamschen Panopticon mündet, welches Foucault in „Surveiller et punir. La naissance de la prison“ darstellte.

Es ist aber nicht nur eine Ordnung des Blickes und eine Ordnung des auf den Punkt zentrierten und festgestellten Subjekts, das – dann im transzendentalen Sinne wiederum als Grund der Ermöglichung von Beobachtung überhaupt fungiert, wie man es zunächst aufgrund all der Weisen von Beobachtung meinen könnte, mit denen der Besucher konfrontiert wird, sondern das Ziel und Feld ist gleichzeitig die rein praktische Anwendung: nämlich die (folternde, marternde) Zurichtung des gefangenen Körpers. Denn mit all den Blicken und Beobachtungen sind immer Handlungen verbunden, die Beobachtungen sind nicht (ästhetischer) Selbstzweck, sondern münden, als entsprechende Strafe für Devianz, in die Praktiken der Züchtigung. Dies zeigt die Ausstellung drastisch in den Kellerräumen, aber auch zu ebener Erde, wenn etwa hörspielartig der polizeiliche Umgang und die Verwendung von (Kampf)-Hunden gezeigt wird.

Es handelt sich bei den in der Ausstellung gezeigten Exponaten gerade vermittels dieses Moments des Dokumentarischen um engagierte Kunst, die – und dies ist ein generelles Problem der engagierten Kunst – jedoch in ihrer Darstellung einseitig wirkt. Der Doppelcharakter der Überwachungssysteme und der Kriegstechnologien als Gefährliches und (teilweise) Notwendiges wird in dieser Ausstellung viel zu wenig herausgestellt. Und in all den „Erschütterungen“, denen der Betrachter ausgesetzt wird und die am Ende doch als berechenbar sich erweisen, hätte man sich durchaus wenigsten zwei bis drei Werke gewünscht, die einen anderen Blick zulassen als den des linkspolitisch eingeübten common sense hinsichtlich der Themen. Am Ende sieht man das, was man sowieso schon ahnte und wußte. Und dabei dachte der Besucher, daß Kunst neue Sichtweisen auf und neue Zugänge zur Welt eröffnen sollte.  Dem ist hier leider nicht immer so. Doch trotzdem ist diese Ausstellung sehenswert und jedem zu empfehlen. „Embedded Art“ bietet Anregungen, um sich mit den Themenblöcken Terrorismus, Kriegstechnologien und Überwachung tiefergehend zu befassen. Hingehen ist zu empfehlen.

Möglicherweise wird es demnächst noch einen dritten, abschließenden Teil geben, in dem ich einige grundsätzliche Erörterungen zu diesem Themenblock vornehmen werde.