Pariser Ansichten (4) – Ne pas se pencher au dehors

Wissen kann unmöglich das Höchste sein – handeln ist besser als wissen.“
(H. v. Kleist, Brief an Ulrike v. Kleist, 1801)

Dann war es still.
Dann gingen viele Jahre hin
und ich blieb hier
in diesem kleinen Zimmer in Paris
und trank mit Trinkern auf ihr Glück
und sang mit Gauklern Liebeslieder
und morgens kamen auch die Diebe wieder,
nur du kamst nie zurück.
(Wolf Wondratschek)

„Paris – die unbesiegte Schönheit“ titelte „Der Spiegel“ vor einigen Monaten. Die Fragmente von Stadt, vom Mann mit der Kamera aufgenommen. Ich bleibe nirgends, und bis auf die letzte und die erste Zeile des Wondratschek-Gedichtes ist alles ein Klischee von Paris, das genauso in jeder beliebigen Stadt Europas spielen könnte. Eine Stadt als Mythos und unter den Schichten liegen andere Schichten verborgen, die es freizulegen gilt, die Traumbilder. Das können Dresden, Leipzig, Meißen oder Halle sein. Schöne Städte. Traumlandschaften. Küsse über der Burg; Küsse die Thomas Brasch trauriger besänge als  Wondratschek, womöglich noch eine Tonlage tiefer in den Alkohol gehaucht und eine Prise mehr ins Kokain getaucht.

Reisen bedeutet, in die Archive zu steigen und als Archäologe zu arbeiten. Reisen und photographieren hängt mit dem Imaginieren zusammen. Optisch Unbewußtes freizulegen. „Im Zug nach Paris“ könnte man in der schönen Pop-Variante von Georgette Dee ebensogut summen. „Zwei Augen gegenüber und was da klopft sind die Räder“.  Sowas ist heute nur noch bei langsamen Formen des Reisens möglich. Der Nachtzug damals Mitte der 80er Jahre fuhr über Köln, Aachen und dann durch den industrieöden Süden Belgien – nicht der wildschöne von R. D. Brinkmann aufgeladenen Wörtersüden: Sie träumen alle von Süden … Fiktion Süden.  Mir machte es Freude, nachts in das fahle Licht zu blicken, das am Fenster vorbeizog, und eine Landschaft zu schauen, die aus Halden und Ruinen bestand, zumindest sahen im Nachtlicht die Gebäude wie Ruinen aus, die dunklen Städte und Orte, durch die der Nachtzug sich gemächlich schob, während die Reisenden in den Abteilen schlief, draußen ein Licht, wie in Lars von Triers The Element of Crime.  Industriereste und die dazugehörigen Wohnbehausungen. Lüttich, Namur, während der Zug mit kreischenden Rädern hielt und am Bahnhof keiner einstieg, nicht einmal Arbeiter, die es in dieser Region in den 80ern sicherlich noch gab, geschweige daß einer den Zug verließe, eine Zigarette am offenen Fenster, reines Fürsichsein und dabei doch wach zu sein, anders als alle übrigen Reisenden, Charlesroi, Maubeuge, Saint Quentin und durch den Wald von Compiègne, um dann am frühen Morgen von Norden her über Saint Denis am Gare du Nord in die graue Stadt einzufahren. Die Schienenstränge, die sich durchs Häusermeer schnitten. Paris.

Heute geht es mit dem Flugzeug fix, doch die Sitzreihen fügen sich eng nebeneinander, daß es kein vis-à-vis mehr gibt. Funktionales Reisen. Andererseits möchte ich ebensowenig in einer Postkutsche mein Gegenüber finden und von Berlin nach Paris reisen. Ich, Heinrich von Kleist, ein preußischer Spion, in einer Kutsche bei Mainz, die stürzt. „Und an einem Eselsgeschrei hinge ein Menschenleben?“ (Brief an Karoline v. Schlieben, wo Kleist einen fast tödlich ausgegangenen Unfall in der Postkutschen schilderte. Sozusagen das Spiel von Zufall und Notwendigkeit, statt eines  Jeu de l’amour et du hasard, das dem armen von Kleist sicherlich schwergefallen wäre.) Heute reisen wir bequemer.

Die Bilder von Gewalt oder ein Bewußtsein von Nöten – f/stop Leipzig (1)

„Solche Mißgriffe (…) sind unvermeidlich, seitdem wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen,
und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo offen ist.“
(H. v. Kleist, Über das Marionettentheater)

Heinrich von Kleist beschreibt in seiner Novelle „Das Erdbeben von Chili“ den Einbruch einer Naturgewalt, die die verkehrte Ordnung der Welt hinwegfegte. Die Stadt St. Jago liegt nach diesem Ereignis in Trümmern und im Schutt. Eine Gemeinschaft könnte nun neu beginnen, so denkt man. Doch keineswegs tritt nach dieser Katastrophe und aus den Trümmern des Alten eine bessere Ordnung auf den Plan – im Wortsinne genommen als Umwendung. Allenfalls kurz blitzt ein Zustand Eden auf, wo Menschen einander beistehen. („Doch das Paradies ist verriegelt …“) Was sich danach und insbesondere in der Kirche als Szene abspielt, perpetuiert jedoch die Gewalt und scheint sie als Prinzip zu institutionalisieren: Menschen werden von einem christlich-religiös aufgestachelten Mob erschlagen. Alles bebt, zittert und stürzt in dieser grandiosen Novelle. Selbst die Sprache. Keine Perspektive, die bleibt, nicht einmal die eines Erzählers ist auszumachen. Wir finden eine Welt vor, die schrecklich ist. „Die zerstörende Gewalt der Natur“ ist eine Gewalt des Schicksals: Es geschieht. Als unverfügbares, nicht handhabbares Ereignis. Die Gewalt des Menschen ist jedoch hausgemacht, gesellschaftliches Moment, kein Mythos, kein Naturbann. Sie geschieht, als soziales Beben. (Vom Genus her müßte das Hauptwort „Gewalt“ eigentlich männlich sein.)

Das „Losung“ zum 7. Fotofestival in Leipzig lautet: „the end of the world as we know it ist der Beginn einer Welt, die wir nicht kennen.“ Zweisprachig ganz bewußt gehalten, und das Leitmotiv dieser Ausstellung – man könnte im Hegelschen und Adornoschen Sinne auch von einem Leidmotiv sprechen: Kunst als Bewußtsein von Nöten – ist Gewalt, ist Krieg und die damit einhergehenden Zerstörungen. Sei es von Objekten, sei es von Menschen. Insofern möchte ich als Auftakt zu meinem Blick auf dieser Ausstellung, die noch bis zum 3. Juli zu sehen ist, einen Text von Johann Peter Hebel aus den „Kalendergeschichten“ vorstellen, der in einer dunklen Kabine in der Halle 12  per Audioplayer vorgelesen wird, die gewissermaßen das Zentrum der Ausstellung bildet. (Sowieso sind diese Kalendergeschichten eine wahre Schatztruhe und lehrreich für alle, die erzählen und schreiben möchten. Hier insbesondere erhält diese Geschichte ihren Stelle über das Gewaltmotiv.)

Unglück der Stadt Leiden

„Diese Stadt heißt schon seit undenklichen Zeiten Leiden, und hat noch nie gewußt, warum, bis am 12 Jän. des Jahrs 1807. Sie liegt am Rhein in dem Königreich Holland, und hatte vor diesem Tag eilftausend Häuser, welche von 40,000 Menschen bewohnt waren, und war nach Amsterdam wohl die größte Stadt im ganzen Königreich. Man stand an diesem Morgen noch auf, wie alle Tage; der Eine betete sein: „Das walt Gott“, der Andere ließ es seyn, und niemand dachte daran, wie es am Abend aussehen wird, obgleich ein Schiff mit siebenzig Fässern voll Pulver in der Stadt war. Man aß zu Mittag, und ließ sichs schmecken, wie alle Tage, obgleich das Schiff noch immer da war. Aber als Nachmittags der Zeiger auf dem großen Thurm auf halb fünf stand – fleißige Leute saßen daheim und arbeiteten, fromme Mütter wiegten ihre Kleinen, Kaufleute giengen ihren Geschäften nach, Kinder waren beysammen in der Abend-Schule, müßige Leute hatten lange Weile und saßen im Wirthshaus beym Kartenspiel und Weinkrug, ein Bekümmerter sorgte für den andern Morgen, was er essen, was er trinken, womit er sich kleiden werde, und ein Dieb steckte vielleicht gerade einen falschen Schlüssel in eine fremde Thüre, – und plötzlich geschah ein Knall. Das Schiff mit seinen 70 Fässern Pulver bekam Feuer, sprang in die Luft, und in einem Augenblick, (ihr könnts nicht so geschwind lesen, als es geschah) in einem Augenblick waren ganze lange Gassen voll Häuser mit allem was darinn wohnte und lebte, zerschmettert und in einen Steinhaufen zusammengestürzt oder entsezlich beschädigt. Viele hundert Menschen wurden lebendig und todt unter diesen Trümmern begraben oder schwer verwundet. Drey Schulhäuser giengen mit allen Kindern, die darin waren, zu Grunde, Menschen und Thiere, welche in der Nähe des Unglücks auf der Straße waren, wurden von der Gewalt des Pulvers in die Luft geschleudert und kamen in einem kläglichen Zustand wieder auf die Erde. Zum Unglück brach auch noch eine Feuersbrunst aus, die bald an allen Orten wüthete, und konnte fast nimmer gelöscht werden, weil viele Vorrathshäuser voll Oel und Thran mit ergriffen wurden. Achthundert der schönsten Häuser stürzten ein oder mußten niedergerissen werden. Da sah man auch, wie es am Abend leicht anders werden kann, als es am frühen Morgen war, nicht nur mit einem schwachen Menschen, sondern auch mit einer großen und volkreichen Stadt. Der König von Holland sezte sogleich ein nahmhaftes Geschenk auf jeden Menschen, der noch lebendig gerettet werden konnte. Auch die Toten, die aus dem Schutt hervorgegraben wurden, wurden auf das Rathhaus gebracht, damit sie von den Ihrigen zu einem ehrlichen Begräbnis konnten abgeholt werden. Viele Hülfe wurde geleistet. Obgleich Krieg zwischen England und Holland war, so kamen doch von London ganze Schiffe voll Hülfsmittel und große Geldsummen für die Unglücklichen, und das ist schön – denn der Krieg soll nie ins Herz der Menschen kommen. Es ist schlimm genug, wenn er außen vor allen Thoren und vor allen Seehäfen donnert.“

Was sich in der Stadt Leiden jedoch scheinbar wie ein unvermeidliches Schicksal zuträgt, ist es keineswegs, sondern das Unglück ist ein von Menschen gemachtes. Ein Schiff mit 70 Fässern Pulver lagert im Hafen – es herrscht Krieg zwischen England und Holland. Die Szenerie und der Anlaß sind im Grunde beliebig. Hier aber, bei Hebel, bekommt der Schrecken eine angemessene und zugespitzte Darstellung, und diese Geschichte liest sich wie eine frühe Form der Reportage. Was sie als Kalendergeschichte in diesem Sinne auch ist; aber verbunden mit einer Moral. In dieser Spezifikation bietet diese kurze Geschichte einen guten Auftakt, um in das f/stop Leipzig einzuführen. Denn anders als das letzte und 6. Festival vor zwei Jahren, geht es insbesondere in der Halle 12 nur bedingt um künstlerische Positionen von Photographie sowie deren Möglichkeiten zu ästhetischem Ausdruck. Auch knüpfen sich die Exponaten nicht konkret an Namen bzw. wenn Namen ein Rolle spielen, so sind nicht sie, sondern die Sache zentral: Thema ist vielmehr die Frage nach der Dokumentierbarkeit von Krieg und Gewalt, sei es in der längeren Reportage oder auf den Titelseiten und in den Berichten der Zeitungen, um das die f/stop in verschiedenen Variationen kreist.

Anlaß für diese Fragen nach der medialen Darstellung von Krieg und Gewalt boten den beiden Kuratoren Anne König und Jan Wenzel die Photographien der toten Kinder vom Mittelmeer, die der Künstler Khaled Barakeh auf seiner Facebookseite postete und die im September 2015 für teils hitzige Debatten sorgten, ob man diese Toten, die zudem Kinder waren, überhaupt zeigen dürfe. Ich schrieb an dieser Stelle sowie hier und dort über den Ästhetizismus von Gewalt und die Möglichkeiten der Photographie: „Das Leiden anderer betrachten“. Kunst in den Zeiten des Schreckens, so spitzte Adorno zu, müsse von der Grundfarbe schwarz zu sein. Man kann Adornos Bestimmung von Kunst kritisieren, insbesondere mit jener postmodernen Fröhlichkeit des berechenbaren Ironikers und des Possenreißers, in ihrer Konsequenz jedoch ist Adornos Kunsttheorie, ästhetisch und erkenntniskritisch genommen und nach der Katastrophe von Auschwitz, dem Zweiten Weltkrieg sowie dreier totalitärer Regime, konsequent. Der kultivierte Geschmack, an dem der Bürger einst feinsinnig sich delektierte und wo die Kunst seinerzeit in der Weise Hegelscher gesteigerter Selbstreflexion auf Gesellschaft, ihrer selbst und des Bürgers anschaulich wurde, lag beim alten Eisen. Schwarz für die Kunst. Dokumentationen und Reportagen jedoch haben das zu zeigen, was der Fall ist. Wie dies von Medien geleistet oder eben nicht und nur selektiv getan wird, denn unsere Wahrnehmung ist wesentlich über Bilder und weniger durch Text bestimmt, zeigt uns diese Photo-Schau. Wobei diese Ausstellung zur Photographie, Ironie der Sache, ausgesprochen textlastig sich gibt. Im nächsten Teil hauen wir dann ins Konkrete hinein und es geht um die Details und eine kritische Sicht auf diese Ausstellung. Raten kann ich jedem, der in Leipzig lebt oder gerne in diese ausgesprochen reizvolle Stadt reisen möchte, den Besuch in der alten Baumwollspinnerei sowie an diversen Orten der Stadt. (Dazu mehr im Teil 2)

Subjektivierungsweisen und Liebesdiskurse. Kommunikation und Reflexion des Selbst – Kleists Briefe

Das Problem der Subjektivität als Indikator der Moderne, so könnte die Überschrift für diesen Text ebenfalls lauten – es handelt sich bei dieser Wendung um eine Textstelle aus Karl Heinz Bohrers Buch „Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität“ (S. 12), die ich leicht modifizierte. Aber diese Lesart stellt nur einen von zahlreichen anderen Aspekte der Lektüre dar. Es könnte die Überschrift ebenso heißen: Die Fallen der Subjektivität. Am Ende reiht sich dieser (Blog-)Text in eine Poetik und Erfahrung des Datums ein, welche ich in diesem Blog für dieses Jahr in unterschiedlichsten Konstellationen, in verschiedenen Weisen der Darstellung unternehme. Es wird dies eine lose Reihe, welche ich anhand eines Titels oder einer Überschrift thematisch nicht immer markiere oder kennzeichne.

Kommunikation im Sinne einer Mitteilung an eine oder einen andern, mithin jenseits monologischer und monadologischer Verfassung, ist für bestimmte Menschen schwer möglich – für sie gilt es, diese Kommunikation mit dem Anderen abzubrechen, was einem Verstummen gleichkäme und damit den Tod des Subjekts bedeutet, oder aber ihr gestörtes, zerstörendes Moment in der Phase des Abbruches, des Unstimmigen gestalterisch – gleichsam in zweiter Reflexion – auf den Begriff zu bringen und die Mechanismen, die zu dieser Zerstörung führen, (qua ästhetischer Form) in den Blick zu bekommen. Kleists Denken, seine Texte kreisen um diese Formen von Kommunikation, und darin erweist er sich als eminent moderner Schriftsteller. Kleists „Der zerbrochene Krug“ etwa ist ein Blick auf (aporetische) Kommunikation: auf ihr Mißlingen, die daraus resultierenden Mißverständnisse und auf die Momente der Verdeckung samt der damit korrespondierenden Freilegung von Wahrheit, die am Ende als das gesellschaftlich Unwahre sich erweist. (Die sexuellen Konnotationen des Textes sind noch einmal ein Kapitel für sich.) Ebenso bedeutsam ist das Sprechen über etwas: so in der „Penthesilea“: häufig wird dort von den Akteuren über Handlungen und Ereignisse kommentierend gesprochen, gleichsam als ob die griechischen Helden plötzlich ein antiker Chor wären, anstatt daß das Drama selbst in seinem Verlauf das gerade Beschriebene zur Darstellung brächte.

Kleist nahm solche Motive der Zerstörung und die Unmöglichkeit des adäquaten Ausdrucks für das frühe 19. Jahrhundert bereits vorweg: daß eine Angelegenheit nur in der dritten Person, im Konjunktiv oder womöglich sprachlich gar nicht mehr verhandelt werden kann. In Hugo von Hofmannsthals „Chandosbrief“ wurde für das 20. Jahrhundert diese Tücke des Ausdrucks dann sinnfällig und auf den Punkt gebracht manifestiert.

Bekenntnishaft schrieb Kleist an seine hochverehrte Schwester Ulrike: „Ach, es gibt kein Mittel, sich andern ganz verständlich zu machen und der Mensch hat von Natur keinen anderen Vertrauten, als sich selbst.“ (Brief an seine Schwester Ulrike von Kleist, Februar 1801, in: H. v. Kleist, Werke und Briefe, Bd. IV, S. 192, Fft/M 1986) In solchen Stellen zeigt sich die monadologisch-monologische Verfassung. Aber bei allem Bruch und bei aller Skepsis an den Formen der Mitteilung herrscht zumindest in solchen Passagen noch der Glaube an das Vertrauen bzw. an eine Form von Selbstpräsenz und Selbstrepräsentation innerhalb der Sprache und innerhalb des Subjekts. Kommunikation aber mit dem Auswendigen, dem anderen Subjekt ist wesentlich gestört – und zwar, in Kleists Diktion, von Natur aus –, wenngleich das Begehren des Sprechens dahin treibt, den unverstellten Ort einer erfüllten Präsenz (auch in der Gemeinsamkeit) zu finden. Das zeigen die Stücke Kleists gut, wenngleich man nicht voreilig von seinem Schriftwechsel und dem Biographischen auf seine Texte schließen soll. Die soziale und die physische Welt korrelieren zwar und durchdringen sich, wie so oft bei Kleist. Die Kleistsche Wunschmaschine will (einerseits) zusammenbringen, was in der Optik der Moderne nicht mehr zusammen gedacht werden kann. Und weil das nicht möglich ist, stellen sich jene Kleistschen Verwicklungen und Brüche ein, die ob der Unmöglichkeit samt dem gleichzeitigen Begehren nach der erfüllten Präsenz deshalb um so stärker hervortreten. Das reicht bis in die zerrüttete Sprache samt seiner eigenwilligen Syntax hinein.

Und innerhalb dieser Konzeption von (erfüllter) Einheit fällt Kleist dann wiederum hinter eine Moderne, welche die Kantische Ausdifferenzierung der Sphären zum Primat und zum Faktum bürgerlicher Ordnung erhob, zurück. Als Slogan oder Stichwort hierzu sei die Wendung „Kantkrise“ genannt – wenngleich zu recht bezweifelt werden darf, daß Kleist Kant überhaupt rezipierte. Diese Trennung als Signum der Moderne konnte und wollte Kleist in dieser Weise nicht akzeptieren. In seine literarischen Texten manifestiert sie sich in wechselnder Weise – etwa im „Erdbeben von Chili“, wo in den Verrüttungen, welche der Zufall der Natur produziert, Gesellschaft in den Wirbel gerät und am Ende Gewalt und Notwendigkeit um so unvermittelter hereinbrechen. Und insbesondere Kleists Briefe sind, als Medium der Selbstvergewisserung, die gleichzeitig Mitteilung in einem emphatischen Sinne sein möchte, davon durchdrungen.

Dennoch: Primat bleibt die gelungene Kommunikation, die auf ein unzerstörtes, bei sich seiendes Subjekt rekurriert, welches (verfügender) Herr im eigenen Hause ist. Das Bewußtsein des Risses, der gleichsam durch Welt und Mensch ragt – es ist bei Kleist zwar eminent vorhanden, aber der Wunsch nach Heilung ebenso: daß man ins Paradies käme, indem man die Erde einmal umrunde, wie es im Aufsatz zum Marionettentheater heißt. Welthaltigkeit und Ankunft als Wiederkehr – das ewige abendländische Motiv der odysseischen Reise. (Und manche der Bücher von Ernst Bloch beginnen ja ebenfalls in der Weise, daß sie das Motiv des klassischen Bildungsromanes als Form der Reise aufgreifen: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ (E. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie) Bei Kleist persifliert sich dieses Konzept von  Bildung aber gleichzeitig, man schaue auf die Novelle „Michael Kohlhaas“.

Insbesondere in den Briefen Kleists manifestieren sich die Formen der Selbstvergewisserung des Subjekts, der Subjektbildung. Und in diesem Sinne zeigen – contre coeur – gerade diese Briefe Kleists das spezifisch Moderne: die Ausdrucksform des Bürgerlichen, Schreiben als Selbstrepräsentation. Diesem ist freilich der Solipsismus bereits eingeschrieben – Ausdruck des Prinzips bürgerlicher Konkurrenz. „Die Notwendigkeit eine Rolle zu spielen, und ein innerer Widerwille dagegen machen mir jede Gesellschaft lästig, und froh kann ich nur in meiner eigenen Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf.“ Und einige Zeilen weiter dann: „Das alles verstehst Du vielleicht nicht, liebe Ulrike, es ist wieder kein Gegenstand für die Mitteilung und der andere müßte das alles aus sich selbst kennen, um es zu verstehen.“ So schriebt Kleist am 5.2.1801 an Ulrike (S. 194).

Dieses (unendliche) Begehren nach Selbstpräsenz und Wahrheit als unverstellter Anwesenheit und Bei-sich-sein sowie jenes Motiv des Beim-anderen-sein als Struktur des Begehrens reicht soweit, daß es sogar den Körper erfaßt bzw. durch die (zerteilten) Zeichen des (zerstückelten) Körpers repräsentiert werden muß: Kleist an Ulrike am 13/14. März 1803: „Ich weiß nicht, was ich Dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. – Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und Dir zuschicken. – Dummer Gedanke.“ (Briefe S. 309) Die Mitteilung gerät zur Teilung und Zerstückelung. Individuum est ineffabile. (Den Bezügen respektive dem Gegensatz von der Sprache des Herzens, auch im Sinne Rousseaus, dessen Texte Kleist sehr gut bekannt waren, und der Schrift als dem (scheinbar) Sekundären und Parasitären (mithin Abgeleiteten) wäre im Sinne Derridas ebenfalls nachzugehen.) Und an diesem Grundwiderspruch zwischen Selbstpräsenz, Selbstrepräsentation, Körper und Gesellschaft zerbricht das schreibende Subjekt, welches bereits gestisch auf das bürgerliche Subjekt deutet. Der Riß geht mitten durch es hindurch.

Eine ganz ähnliche Schreibsituation der monadologisch-monologischen Reflexion auf das Selbst, welche aber – über die bloße Reflexion hinaus, und anders gelagert als bei Kleist, zugleich um eine Frau kämpft – haben wir im Feld des Briefes dann 110 Jahre später. Es handelt sich um einen der faszinierendsten Schriftwechsel, die ein Autor mit einer Frau führte: Und zwar Franz Kafkas Briefe an seine Verlobte Felice Bauer. Die Briefe Felice Bauers sind nicht überliefert – am Ende war es ein Schreiben ins Nichts hinein: jenes unbeschriebene, leere Gesicht, welches Kafka bereits bei ihrer ersten Begegnung konstatierte.

Auch Kafka weiß um die Vergeblichkeit des Briefeschreibens als Medium von Fremd- und Selbstreflexion. Dies trifft insbesondere auf Liebesbriefe zu, welche sich nach Antworten sehen: daß der Strom, der unendliche Fluß des Schreibens nie abreißen möge, daß ein Brief immer ankommt, seinen Bestimmungsort, seine Bestimmung erreicht:

„Die leichte Möglichkeit des Briefeschreibens muß […] eine schreckliche Zerrüttung der Seelen in die Welt gebracht haben. […]Briefe schreiben […] heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse können nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern ausgetrunken.“ (Franz Kafka, Briefe an Milena, S. 302, Fft/M 1986)

„Zum Straucheln braucht‘s doch nichts als Füße“ – Heinrich von Kleist zum 200. Todestag (2)

Woher kommt dieser Furor in Kleists Texten? Das Extreme, diese Orgie der Gewalt, welche aus heiterem Himmel niederfährt, hereinbricht wie aus dem Nichts, die mit Knüppeln auf einen Menschen einschlägt: wenn das Gehirn an die Mauer spritzt, wie im „Michael Kohlhaas“, im „Erdbeben in Chili“ „mit aus dem Hirn hervorquellenden Mark“, in „Der Findling“. Solcher Rausch des Blutes, des Verspritzens von Innenteilen des Körpers als lustvolle und unvermittelte Feier der Gegenwart und als Kulminationspunkt von Schicksal und Charakter ist vom Jetzt her allenfalls aus dem Splatter- oder im extremen Kriegsfilm bekannt. In „Der Findling“ heißt es: „Durch diesen doppelten Scherz gereizt, ging er, das Dekret in der Tasche, in das Haus, und stark, wie die Wut ihn machte, warf er den von Natur schwächeren Nicolo nieder und drückte ihm das Gehirn an der Wand ein.“ (Bd. III, S. 235 f.) Aber Nicolo ist von der Natur her nicht schwächer, denn als das Findelkind hat es anders als das natürliche Kind des mordenden Protagonisten seinerzeit die Pest überlebt und wurde als eigenes Kind adoptiert und angenommen. Verstrickungen und Verwicklungen, wie sie in der Kunst der Erzählung dann erst wieder bei Kafka auftauchen werden.

Auch bleibt die Frage zu stellen, warum es ausgerechnet der Kopf samt jenem Organ des Denkens ist, welches sich bei Kleist aus dem Zusammenhang des Körpers löst. Dieser Exzeß kulminiert und verdichtet sich zum (gesellschaftlich) Allgemeinen in jenem rasenden, faszinierenden, outrierten Satz aus der „Hermannsschlacht“: „Schlagt sie tot, das Weltgericht fragt Euch nach den Gründen nicht!“ Sieht man einmal von den aktuell politischen Implikationen Kleists in bezug auf Napoleon ab, so ist dieses Denken, welches nahe zur Praxis steht, Dezisionismus in seiner puren, allem Gehalt entkleideten Variante. Der Mensch ist in diesen Entäußerungen auf das reduziert, zu dem er gemacht wurde. Heinrich von Kleist ist, anders als Friedrich Schiller oder Goethe, ein (prä-)moderner Dichter – diesseits von Klassik und Romantik, wenngleich beiden Strängen verbunden. Aber die Form ist exaltiert, und dies konnte Goethe nicht schätzen, nicht leiden; in Kleists Text lag die Überspanntheit, die jedes Maß und jedes Maßhalten überschritt. Kleist bricht mit dem Maß und mit der Winckelmannschen Klassik – nicht restlos zwar, auch nicht subtil, aber doch auf eine Weise, welche auf die Erfahrung von Kontingenz innerhalb der aufkeimenden Moderne deutet. Kleists Werk war, so heißt es, unzeitgemäß, aus der Zeit gefallen, Kleist stilistisches Mittel ist die Groteske, welche in der Romantik zu ihrer Blüte kam. Der Jurist und Schriftsteller Kafka zählte die Texte Kleists zu den höchsten der Literatur, und die Inspiration Kafkas durch Kleist dürfte augenfällig sein.

„Kleist entwarf alternative Lösungsversuche derselben literarisch-historischen Problematik, der sich die Romantik zu stellen hatte, und seine Werke können darum vielleicht als ein kritischer Maßstab für die Möglichkeiten wie die Grenzen poetischer Kunst im Horizont der frühen bürgerlichen Gesellschaft gelten.“ (Geschichte der deutschen Literatur, Bd. I/2, S. 142, hrsg v. Viktor Zmegac, Königstein/Ts 1984)

Diese Erfahrung der „krisenhaften gesellschaftlichen Dissoziation der gesellschaftlichen Ordnung“ (ebd. S. 142) – Stichwort sei die Französische Revolution, der Aufstieg Napoleons sowie ungeheure Umwälzungen in den Bereichen von Wirtschaft, Technik und Militär – machten viele Schriftsteller. Für Kleist wurde dieser Bruch freilich zu einer Grunderfahrung, welche „die Intention wie das Verfahren seiner poetischen Arbeit bestimmte.“ (ebd. S. 142) Im Text Kleists gerät Unverbundenes in einen neuen Zusammenhang, in der „Marquise von O.“ verbindet sich, ebenso wie in der „Penthesilea“, das Militärische mit dem Sexuellen, den Auftakt der Geschichte bildet, nach der unglaublichen und ungeheuerlichen im Konjunktiv der indirekten Rede gehaltenen Suchanfrage der Marquise, die detaillierte Beschreibung eines Kampfes, einer Schlacht.

Diese Krisenerfahrung transformierte sich in Kleist Werk zum Aktionismus einer Praxis hin, die aber ins Leere lief und dadurch sich in das Gegenteil von gelingendem Handeln verkehrt, gleichsam schicksalhaft geriet. In den Studien, die Kleist betrieb, war er freilich unstet und das Handeln, das Reisen, die Fluchten und die Augenblicke, die es auszukosten oder anzuzweifeln galt, lagen ihm näher als die trockene Höhenluft von Hörsälen.

Wissen kann unmöglich das Höchste sein – handeln ist besser als wissen.“ (Bd, IV, S. 195) so schreibt es Kleist 1801 an seine Schwester Ulrike

Aber in den literarischen Texten Kleists verhält es sich in bezug auf die Handlungen so einfach nicht, wie es – noch ganz emphatisch und jugendlich formuliert – in jenem Brief an Ulrike von Kleist zum Ausdruck kommt. In der Welt tut sich ein Riß auf, Handeln ist nicht mehr umstandslos und in sinnvollen Bahnen möglich. Nicht nur, daß es mißlingen kann, sondern es verkehren sich die gewünschten Effekte, die Intentionen durch eine winzige Verschiebung und durch den Zufall ins Gegenteil. Vielfach sieht dieses Tun nicht mehr wie rationales Handeln, sondern nach schicksalhafter Verstrickung aus. Bei Kleist hält der Mythos als Form (gesellschaftlicher) Gewalt wieder Einzug in die Literatur. Was die Klassik und die Aufklärung im Modus der Reflexion und im Maß bannten, man nehme pars pro toto die Iphigenie, das bricht bei Kleist als Verdrängtes wieder hervor und wütet.

Das kann man an verschiedenen Texten Kleists zeigen – etwa anhand von „Das Erdbeben in Chili“. Was, wie in dem Prosastück, zunächst dem Leben Platz zu schaffen scheint, noch durch das große Unbill hindurch, das gerät in einen furiosen Todesrausch, in ein Gemetzel von unvorstellbarem und vor allem eruptiven Ausmaß. Es bebt in jenem Text nicht nur die Erde, sondern ebenfalls alle sozialen Verhältnisse, samt der Sprache, nachdem erst einmal die Schranken gefallen sind. Zugleich eröffnet dieser Einbruch einer Naturgewalt aber eine neue Form der Freiheit: die der bürgerlichen Gesellschaft des Tausches, des im Grunde unmöglichen Tausches, der unmöglichen Gabe.

Davon mehr in der nächsten Kleistlektüre.

(Die Werke Kleists werden zitiert nach: Heinrich von Kleist, Werke und Briefe in vier Bänden, Frankfurt/M 1986)

„Zum Straucheln braucht‘s doch nichts als Füße“ – Heinrich von Kleist zum 200. Todestag (1)

„Kein Ort. Nirgends“, so heißt eine Novelle von Christa Wolf, in der es zu einer (fiktiven) Begegnung der Karoline von Günderrode mit Heinrich von Kleist kommt. Zwei, die aus der Zeit gefallen schienen. Beide brachten sich um das Leben. Karoline von Günderrode tat dies im Jahre 1806. Dieser Titel der Novelle ist in mancher Hinsicht paradigmatisch für Kleist insgesamt, sei es im Werk, sei es im Leben – in Kleists Abschiedsbrief an seine Schwester Ulrike formulierte er diesen Aspekt des Ortlosen so – es ist tausendundeinsmal bemüht worden: „daß mir auf Erden nicht zu helfen war.“ Und wie er am 19. November an seine Cousine Marie von Kleist schreibt: „und daß ich sterbe, weil mir auf Erden nichts mehr zu lernen und zu erwerben übrig bleibt.“ Einerseits. Und diese zum geflügelten Wort geronnene Sentenz wird in bezug auf Kleist gerne zitiert und gleichsam zum Lebensmotto erhoben, und das tränkt für manchen Kleistforscher noch das Werk. Aber dies sind Blicke ex post factum. Und mehr zeugt es vom Verliebtsein ins Scheitern der Interpreten als das sich durch diesen Blick der Gehalt der Sache, mithin der Text Kleists aufklärte.

Denn andererseits wird, wie der Literaturwissenschaftler Günter Blamberger in seinem gerade erschienen Kleistbuch zu recht schrieb, Kleists Leben und vor allem sein Werk viel zu sehr von seinem (für uns dramatischen) Ende am Kleinen Wannsee her gedeutet, anstatt dieses Leben aus den Augenblicken, aus den Jetztpunkten heraus zu lesen, die eben nicht, gleichsam teleologisch und mit Notwendigkeit, auf jenes Ende am Wannsee zusteuern. Kleist ist nicht nur der Dichter des Scheiterns, ebenso wenig wie Kafka oder Beckett, es sind diese Sichtungen auf Kleist Abbreviaturen. Zugleich sind aber – dies bleibt festzuhalten – die „Verzückungsspitzen des Daseins“ (Nietzsche) bei Kleist doch rar und dünn gesät.

Was war dieser Tod? Die Tat eines Verzweifelten, ein Akt ästhetischer Auflehnung gegen die Welt, ein inszenierter Tod, die heitere Gestimmtheit griechischer Gelassenheit? – Das bleibt die Frage.

Daß es für Kleist keinen Ort, nirgends und nirgendwo gab, schuldete sich einer Zeit des Umbruchs: dem Beginn der ästhetischen und sozialen Moderne – die Zeit um 1800 kann als eine Epochenschwelle begriffen werden. Insbesondere Kleists Briefe, aber ebenso seine Prosatexte geben einen Reflex auf dieses Moment des Gesellschaftlichen. „Penthesilea“ zeigt eine Welt der Antike, die nicht mehr der Winckelmannschen Klassik und dem Bild der Griechen als Sehnsuchtsort angehört, sondern es offenbart den Bruch, Militärisches und Erotisches treten, wie häufig bei Kleist, in eine Konstellation und Liebe ist ein Schlachtfeld, liegt dicht beim Wahn – ganz anders als sein Gegenpart: Goethes „Iphigenie“, Schillers „Die Götter Griechenlandes.“ Mit solchen Maßnahmen der Literarisierung des Griechentums sind sicherlich und zugleich auch die Fiktionalisierungen des Politischen (Philippe Lacoue-Labarthe) verbunden; es drängt zum verlorenen Grunde hin, der sich im Zeichen der Moderne als Abgrund erweisen wird, was in einer Passage jenes anderen radikalen Dichters, nämlich in Büchners „Lenz“ sich verdichtet:

„Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Wege, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht, auf dem Kopf gehen konnte.“ (Georg Bücher, Lenz)

Wer aber auf dem Kopf geht, so Celan in seiner Büchnerpreisrede „Der Meridian“, der hat den Himmels als Abgrund unter sich. Und es ist, das sei hinzugefügt, solches Wandern und Gehen zugleich am Rande des Wahnsinns und eine schizoide Situation.

Kleist nahm diesen Bruch in der Epoche literarisch vorweg; er besaß für den Riß und jene Zeit des Umbruches ein seismographisches Gespür. Kleist schrieb diese Erfahrung der Kontingenz, machte darauf aufmerksam, indem er ihr in Form der Literatur Gestalt gab und wurde von ihr zugleich getragen und geprägt.

So geschehen während Kleists Reise mit seiner Schwester Ulrike. Kleist schreibt am 18. Juli 1801 in einem Brief als Postspriptum an Karoline von Schlieben:

„Ein einziges Mal waren wir ein wenig böse auf sie [die Kutschpferde], und das mit Recht, denke ich. Wir hatten ihnen nämlich in Butzbach, bei Frankfurt am Main, die Zügel abnehmen lassen vor einem Wirtshause, sie zu tränken und mit Heu zu futtern. Dabei war Ulrike so wie ich in dem Wagen sitzen geblieben, als mit einemmal ein Esel hinter uns ein so abscheuliches Geschrei erhob, daß wir wirklich grade so vernünftig sein mußten, wie wir sind, um dabei nicht scheu zu werden. Die armen Pferde aber, die das Unglück haben keine Vernunft zu besitzen, hoben sich hoch in die Höhe und gingen spornstreichs mit uns in vollem Karriere über das Steinpflaster der Stadt durch. Ich griff nach dem Zügel, aber die hingen ihnen, aufgelöset, über der Brust, und ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug schon der Wagen mit uns um, und wir stürzten – Und an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, rätselhaften, irdischen Leben gewollt, und weiter nichts –? Doch für diesmal war es noch nicht geschlossen, – wofür er uns das Leben gefristet hat, wer kann es wissen? Kurz, wir standen beide ganz frisch und gesund von dem Steinpflaster auf und umarmten uns. Der Wagen lag ganz umgestürzt, daß die Räder zu oberst standen, ein Rad war ganz zerschmettert, die Deichsel zerbrochen, die Geschirre zerrissen, das alles kostete uns 3 Louisdor und 24 Stunden, am andern Morgen ging es weiter – Wann wird der letzte sein?“

Berlin – Wannsee, 21.11.1811

„Stimmings bei Potsdam
d. – am Morgen meines Todes“
(H. v. Kleist, in der Signatur seines Abschiedsbriefes)

Kleists und Vogels Sterbeort liegt knapp zwei Kilometer nordöstlich des kleinen Nests Kohlhasenbrück. Ein Lohnkutscher brachte sie aus Berlin in diesen Ort am Wannsee. Sie blieben die Nacht zum 21. November, die ihre letzte Nacht des Lebens sein sollte, auf ihren Zimmern im Wirtshaus Stimmings wach und schrieben ihre Abschiedsbriefe, bestellen sich Kaffee auf die Zimmer. Nach der Aussage der Wirtsleute Stimming waren sie vergnügt, fast schon ausgelassen; Kleist sprang über die Kegelbahn und wollte Henriette Vogel dazu verführen, es ihm gleichzutun, doch sie mochte nicht recht; sie riefen sich mit lieben Worten und Kosenamen, spielten im Wald fangen und verstecken, sie lachten und scherzten miteinander. Kleist und Vogel waren kein Liebespaar, aber auf eine bestimmte Weise doch aus gleichem Holz – zumindest was diesen letzten Schritt anbelangte. Auf jenem Hügel am Kleinen Wannsee ließen sie sich Tisch und Stühle stellen, was bei den Wirtsleuten große Verwunderung auslöste, denn im November speiste man in der Regel nicht draußen. Kleist genehmigte sich in den Kaffee einen Schuß Rum. Vorher schrieb Henriette Vogel, etwa gegen Mittag, an einen Bekannten der Familie Vogel, daß sie mit Kleist zusammen im Gasthaus Stimming weilte, dort befänden sie sich „in einem sehr unbeholfenen Zustande, indem wir erschossen da liegen.“

Die Bäume bereits kahl und der See lag ausgebreitet da. Mit diesem Blick auf den See und in den Herbstwald hinein schoß Heinrich von Kleist am 21. November 1811, irgendwann zwischen 15 und 16 Uhr, zuerst die todkranke Henriette Vogel in das Herz und hernach sich selbst in den Mund. Ein vielfach erzählter Freitod.

Um die Lektüre zunächst noch ein wenig weiter biographisch aufzubereiten: Kleist Leben ist von Anbeginn an geprägt vom Zweifel und von Rastlosigkeit, und es erschütterten sich ihm die Gewißheiten. Früh schon, als 15jähriger Kindersoldat regt sich während der Belagerung von Mainz, an der er teilnahm, die Skepsis. Sinnbild für den Zweifel noch am philosophischen Zweifel ist die sogenannte Kant-Krise Kleists im Frühjahr 1801, wobei es allerdings fraglich ist, ob Kleist tatsächlich Kants „Kritik der reinen Vernunft“ gelesen bzw. deren Inhalt, zumindest in der Diktion Kants, adäquat repetiert hatte – Jens Bisky zweifelt in seiner Kleist-Biographie daran: allein die Versinnlichungen der Kantischen Philosophie über das populäre Bild von den grünen Gläsern, durch die die Welt gesehen werde, so daß man eben nur grün sehen könne und nicht anders, ist im Rahmen Kants ganz und gar unzulässig, weil es sich hier um die Beispielhuberei und um eine verkürzende Form handele, die Philosophie im Modus des unmittelbar Handzuhabenden verbildliche. Zudem betrieb Kleist während seiner Jahre an der Universität niemals systematische Studien der Philosophie. „Er rang nicht mit der Transzendentalphilosophie, trieb keine ‚Fichte-Studien‘ wie Novalis. Der Zweifel verdarb ihm alle Lust an der Philosophie, nahm ihm jegliches Interesse, sich weiter mir ihr einzulassen.“ (J. Bisky, Kleist, S. 109)

Kleist reiste, und er mochte sich und konnte sich auf nichts festlegen, weil er danach strebte, sich auszubilden, ohne aber zu verweilen, am Ende seines Lebens war er in Berlin als Journalist und Zeitschriftenherausgeber tätig. Seine Reisen führten ihn an zahlreiche Ort; sei es Würzburg, der Rhein, der Harz, Paris oder die Schweiz. Fern von seiner zukünftig Verlobten Wilhelmine v. Zenge, die er um 1800 während seiner Zeit in Frankfurt/Oder umwarb, die seinem Werben letztlich schweren Herzens nachgab. Während Kleist reiste, harrte Wilhelmine von Zenge in Frankfurt/Oder. Mit der Eheschließung wurde es am Ende freilich nichts. Er schrieb ihr Briefe, so aus Paris, jenem Ort der Moderne des 19. Jahrhunderts, der bei Kleist nur Widerwillen und Unbehagen auslöste.

„… daß wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht gibt – – kann Gott von solchen Wesen Verantwortung fordern? Man sage nicht, daß eine Stimme im Inneren uns heimlich und deutlich anvertraut, was recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinen Feinden zu vergeben, ruft dem Seeländer zu ihn zu braten und mit Andacht ißt er ihn auf – Wenn die Überzeugung solche Taten rechtfertigen kann, darf man ihr trauen? – Was heißt das auch etwas Böses tun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten –“ (Kleist, Brief an W. v. Zenge v. 15. August 1801, in: Briefe, S. 256)

Diese Fragen und Zweifel werden später in Kleists literarischem Werk komplex ausgestaltet – man denke nur an den „Michael Kohlhaas“, den man als eine Mischung von Sage, Erzählung, Legende, politischer und rechtstheoretischer Schrift sowie als Spiel wilder, grausamer Phantasie nehmen kann. Sicherlich läuft der positivistische Schluß vom Leben aufs Werk zu kurz, wenn man Briefstellen nimmt und sie aufs Werk appliziert, und es sagt dieses Verfahren nichts über die Struktur des Werkes. Doch es zeigt sich in dieser Form von Parallellektüre ein Stück Sozialgeschichte, die sich vom kollektiven Unbewußten einer Epoche her in deren ästhetischen Ausformungen und Produkten sedimentiert – „Literatur als Symbol sozialen Handelns“, wie es beim US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Fredric Jameson heißt. „Das Erdbeben von Chili“ beschreibt nicht bloß ein Erdbeben, sondern zeigt zugleich das Aufbrechen von Gesellschaft und den unmittelbaren Umschlag, den Furor und das Extrem. Und obige Briefstelle korrespondiert sicherlich mit diesem grundsätzlichen Zweifel Kleists, welchen Kleist später dann literarisch gestaltete, ein Zweifel, der – anders als Kants erkenntniskritischer – alles in sein Gegenteil zu verkehren vermag, keinerlei Halt mehr bietend. Es ist die eine Position möglich und genauso und zum gleichen Zeitpunkt ihr Gegenteil, wie in der „Marquise von O.“: das Kind kam von nirgendwo, als wäre es nie gezeugt und gleichsam von Gott implementiert, und zugleich gibt es einen Erzeuger und damit einen Akt der Sexualität, der in ihrem Falle eine Vergewaltigung ist.

Nein, getrieben von Leidenschaft, Sehnsucht und Hingabe an eine Frau sind solche Briefe wie Kleist sie an Wilhelm von Zenge schrieb, nicht, eher dienen sie dazu, sich der eigenen Subjektivität zu vergewissern, auszuloten im Prozeß des Schreibens.

Es heißt, daß die Liebesbriefe Kleists an Wilhelmine von Zenge zu den schrecklichsten gehören, die je ein Mann je an eine Frau schreiben konnte. Belehrend, bevormundend, scheiternd – ein Mann, der einer Frau in Briefen Übungsaufgaben aufgibt, ist vom Heute her gedacht ein unmöglicher Mensch und wenig geeignet zum guten und das heißt im emphatischen Sinne umfassenden Liebhaber. Jedoch aus Kleists Epoche heraus gelesen, im Zeitalter der Ausbildung des Bürgertums, steckt dahinter zugleich die Überwindung einer aristokratischen, feudalen Gesellschaft samt ihren Lebensformen und Eheritualen. Die „Codierung der Intimität“ (Luhmann) erfuhr zu jener Zeit einen grundlegenden Wechsel im Paradigma, und Kleist steckte inmitten dieser Phase gesellschaftlicher Umbrüche, war mithin ein Kind seiner Zeit. Der zweckmäßigen aristokratischen Vermählung – etwas verkürzt dargestellt –, die nicht aus Liebe, sondern aus Kalkül erfolgte – Liebe konnte daraus erwachsen, mußte es aber nicht – wurde als Ideal jene „Liebe als Passion“ und ein gegenseitiges Sich-Aneinander-Ausbilden entgegengestellt – wenngleich auch dies sich schnell zur bürgerlichen Zweckgemeinschaft transformierte und zum ungleichen Tauschverhältnis auswuchs. Bei aller Kritik, die sich an Kleists Liebesbriefen an Wilhelmine von Zenge üben läßt, sollte dies nicht ganz aus dem Blick genommen werden. Kleist überwarf sich mit den aristokratischen Konventionen.

Wenngleich die Rolle der Frau bei Kleist noch einmal gesondert in den Blick genommen werden muß – von der rein sich opfernden, passiven Frau (etwa Lisbeth im „Kohlhaas“ über die gleichberechtigt Liebende wie in „Familie Schroffenstein“ bis zur interessantesten, vielschichtigsten und wohl auch eigenständigsten Frauengestalt Kleists: der Penthesilea.

Aber das eine ist das Leben, das andere das Werk. Mehr in im nächsten Part.

Kleisttage, Herbsttage, Wannsee – Eine melancholische Reise in den Süden

„Küsse, Bisse/Das reimt sich und wer recht von Herzen liebt,/Kann schon das eine für das andre greifen“

H. v. Kleist, Penthesilea

Wenn eine Reisende oder ein Reisender, etwa vom Osten kommend, vom Potsdamer Platz über das Kulturforum sich bewegend, die Potsdamer Straße in Richtung Süden immer weiter geradeaus fährt, dann …, ja dann ist der Autofahrer ziemlich bescheuert und ortsunkundig, weil sie oder er nämlich nur im Stau steht und nicht vorankommt. Nichts schlimmer als Samstag auf der Potsdamer Straße mit dem Auto, auf nur einer Spur. Langsamer nie als im November. Also umfahren wir den direkten, den geraden Weg, schließlich besitzt Berlin wunderbare Stadtautobahnen – jede Stadt sollte sich Stadtautobahnen zulegen: man kommt schnell durch und es gibt dort keine Fahrräder. Also über die Stadtautobahn spurten, mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit versteht sich. Und so beginnen wir unsere Reise: in Steglitz, die Autobahn verlassend, und fahren die Straße Unter den Eichen immer geradeaus, dann auf die Berliner Straße, bis man, weiter geradeaus, die Potsdamer Chaussee erreicht, welche, wie es der Name bereits sagt, direkt nach Potsdam führt. Teils stehen am Straßenrand schöne Alleebäume, am Wegesrand, zu den entsprechenden Obst- und Gemüsezeiten der Saison, verkaufen Händler, die vorgeben, aus dem Umland zu stammen, Erdbeeren, Spargel und sonst was für Obst und Gemüse an Hungrige und an Köche. Die Fahrt über die Straße ist eine Reise für sich, etwa wenn man durch das ruhige und verschlafene Zehlendorf kommt. Wie heißt ein Schlachtruf, sobald sich Nachbarn über zu laute Musik auf Kreuzberger oder Neuköllner Partys beschweren?: „Geh doch nach Zehlendorf!“ Dabei ist es schön in Zehlendorf, ab einem gewissen Alter zieht man entweder nach München – sofern man ordnungsliebend ist, graffitibefreite Zonen sowie klinisch-antibakterielle Sauberkeit mag und etwas für die Bayern übrig hat – oder nach Ottensen, wer Lehrer oder Yogatherapeut geworden ist. Und für den ganz normalen und beschaulichen Menschen mit Berliner Gemüt bieten sich Zehlendorf, Steglitz, Friedenau an. Dort wohnten, nebenbei gesprochen, Uwe Johnson, Günter Grass, meines Wissens zeitweise auch Max Frisch und Erich Kästner.

Wenn der Autofahrer endlich den fast äußersten Teil des Berliner Südwestens erreicht hat und nach Wannsee kommt, dann biegt er hinter der Eisenbahnunterführung links ab in die Bismarckstraße, und da findet sich nach kurzer Strecke rechter Hand das Doppelgrab von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist. Es befindet sich auf einem Hügel, von dem die Betrachterin oder der Betrachter auf den Kleinen Wannsee schauen können. Schöner Herbstwald, gefärbtes Laub, das ich mir betrachte, wer möchte da nicht begraben liegen? Und die Ufer sind leider besetzt von Ruder- und Segelclubs, so daß der Flaneur nicht spazieren kann. Mit diesem Blick auf den See und in den Herbstwald hinein erschoß Heinrich von Kleist am 21. November 1811 zuerst die todkranke Henriette Vogel und hernach sich selber. Davon mehr und im Detail am Todestag  – hier in Ihrem Sensationsblog, unter der Rubrik „Todesschüsse“. Als wärst Du selbst dabei, so hautnah reportiert Ihnen ihr ästhetischer Lieblingsberichterstatter Bersarin jene Ereignisse, die sich an jenem 21.11.1811 an einem trüben Novembertag am Kleinen Wannsee zutrugen. Auf dem ersten ursprünglichen Grabstein kam der Name von Henriette Vogel nicht einmal vor.

Die Anlage des Kleistgrabes ist recht verwildert, sie soll umgestaltet bzw. ästhetisch flurbereinigt werden, so daß es dort mehr Platz zum Spazieren am Wasser gibt. Ich selber begab mich, nach einer sinnierenden Minute, in der ich auch der eigenen Melancholie frönte, weil ich am Vormittag eine ziemliche schriftliche Eselei begangen habe, weiter hin zum Großen Wannsee, um dort ein wenig zu spazieren – bis hin zum Heckeshorn. Photographien von diesem Kleistgang zeige ich auf Proteus Image.

Auch die Strecke am Großen Wannsee entlang – auf der Straße, auf dem Gehsteig – führt lediglich an Häusern im Privatbesitz vorbei: ein Segel- oder Ruderverein folgt auf den anderen. Es gibt kaum einen freien Blick auf den, geschweige einen freien Zugang zum Wannsee: Members only. Zuweilen thronen am Ufer auch prachtvolle Villen. Aber es stehen zur linken ebenfalls Appartementhäuser der 70er Jahre, die architektonisch recht interessant ausschauen. Unten beim Heckeshorn geht es dann in den Wald hinein und es gibt Wege am See

Vor 70 Jahren, einige Kilometer entfernt, begannen im Oktober 1941 am S-Bahnhof Grunewald die ersten umfassenden Deportationen der Berliner Juden. Über 50 000 Juden wurden von diesem S-Bahnhof in die Vernichtungslager im Osten verbracht. Gefüllt mit 1.013 Juden in den Vieh- oder Güterwagons verließ am 18. Oktober 1941 der erste Deportationszug der Deutschen Reichsbahn den Bahnhof Grunewald.

„Die Rolle der Deutschen Reichsbahn im Holocaust blieb lange unbeachtet. Erst in den 1980er und 1990er Jahren wurden in Erinnerung an dieses Kapitel in der Vergangenheit des Bahnhofs Grunewald mehrere Mahnmale errichtet. Daher wurden die ersten Mahnmale von anderen Gruppen errichtet. Die erste Gedenktafel zur Erinnerung an diese Deportationen wurde 1953 am Signalhaus aufgestellt, allerdings wurde sie aus unbekannten Gründen wieder entfernt, auch der Zeitpunkt des Abbaus ist nicht dokumentiert. Die Einweihungsfeier wurde damals von Polizisten gestört, weil die Vereinigungsgruppe, die die Gedenktafel initiiert hatte, als kommunistisch galt. Die zweite Tafel des Gedenkens wurde erst zwanzig Jahre später im Jahr 1973 angebracht und 1986 gestohlen. Am 18. Oktober 1987, dem 46. Jahrestag des ersten Transportes, wurde ein weiteres Mahnmal von einer Frauengruppe der evangelischen Gemeinde Grunewald errichtet. Auf zwei Eisenbahnschwellen stand senkrecht eine dritte mit der Inschrift

„18.10.41“

Eine Messingplatte mit der Beschriftung

„Wir erinnern / 18. Okt. 41 / 18. Okt. 87“

vervollständigte das kleine Ensemble. Nachdem die Initiatorinnen das Mahnmal altersbedingt nicht mehr pflegen konnten, wuchs es zu und die Messingplatte wurde entwendet. 2005 wurde es dann vereinfacht, mit querliegender anstatt senkrechter Eisenbahnschwelle, wieder hergerichtet und eine neue Messingplatte montiert, …“ (Wikipedia)

Soviel zur zeitnahen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. „Entwendet“ ist ein feiner Euphemismus.

Sicherlich böte sich in bezug auf Kleist eine Text/Photostrecke an: eigene Bilder, dazu Texte von Kleist, aber mir scheint solche Anordnung doch ein wenig zu bemüht. Und um solch ein Projekt wirklich gut zu gestalten, muß man sich sehr viel Zeit nehmen, die jemand, der in Vollzeit im Beruf steht, naturgemäß nicht besitzt. Und schließlich ist „Aisthesis“ bloß ein bescheidener ästhetisch-kritisch-theoretischer Blog, aber kein Buchprojekt.

„Zeit geben“

Kleisttage

Auch in die Ästhetik hält nun die demokratisch-liberale Willensbildung Einzug. Das Kunstwerk wird im Rahmen der kulturindustriellen Lautverschiebung zum Kunstwert, über den Sie entscheiden können. Setzen sie Werte, vermehren Sie Werte, bewerten Sie Bewährtes: was ist gut, was mißlungen? Seien Sie Wertphilosophin oder -philosoph, und wenn Sie dies nicht bereits sind, so werden Sie es. Wer nichts Wert wird Wirt. Es muß ja nicht gleich ein Herr Stimming sein.

Hier gilt es, den Wert der Kunst zu entdecken. Stimmen Sie über die Theaterstücke Heinrich von Kleists ab. Viele haben diesen Dichter bereits für sich entdeckt und vereinnahmt. Sogar die Tapezierer. Sie benannten ein Binde- und Haltemittel nach ihm – den Kleister, welcher den Kitt der Inneneinrichungsmoderne bildet. Kleist – der erste moderne Dichter, so lautet die These.

Ja, man muß die Menschen da abholen, wo sie stehen, das gebietet der gesunde Menschenverstand. Begeben wir uns also in die Niederungen oder einfach nur in den Keller.

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Dieser Blog wird den 200. Todestag Kleists mit einem kleinen Rahmenprogramm begleiten und begehen, kulminierend am 21. November, wenn sich der Blogbetreiber am Müggelsee, allein und auf sich gestellt, erschießen wird, weil die Frau, die er umwirbt, die er begehrt, die er sehen möchte und mit der er versucht, sich zu verabreden, so schwierig erreichbar und unnahbar ist, daß eine Verabredung nicht nur so gut wie unmöglich sondern schlechthin unmöglich erscheint – wenn es einen Möglichkeitssinn gibt, dann existiert ebenso ein Unmöglichkeitssinn, das Schloß erreichte sich leichter als jene Schöne; und schwieriger ist es zuweilen eine Verabredung zu treffen als das Passieren der Grenze nach Nordkorea hin. (Achtung: das war ein Scherz. Natürlich erschießt sich der Blogbetreiber nicht, wer sollte dann auch diesen Blog weiterbetreiben? Zudem neige ich in solchen Dingen nicht zu Erpressung.) Andererseits dürfen sehr schöne und sehr kluge Frauen nun einmal mehr als nicht so schöne und nicht so kluge Frauen, und insofern ist alles sehr legitim und fast schon legal zu nennen, was sie macht. Von Element of Crime gibt es ein Lied, das heißt,  „Mehr als sie erlaubt“.

(Und in gewisser Weise ist es fast absurd, daß der Derridasche Theoretiker, der auf die Schrift setzt und von jener Frau E-Mails erhält, nun auf die Präsenz drängt. Aber es ist doch alles unendlicher Aufschub und Verzögerung, so weiß es die (Derridasche) Schrift. Ich bin aber ein wenig in andere Richtungen hin geschweift. Fort von Kleist.)

Ach, würde das Hegelsche Diktum doch immerzu gelten – auch für die empirischen Subjekte: eine Grenze zu setzen, heißt, sie zu überschreiten.

So aber bleiben wir da, wo wir sind – im Gefängnis der Endlichkeit verhaftet. Doch bewirkt zuweilen ein winziger Dreh im Gefüge eine Änderung ums ganze. Dies läßt sich bei Kleist gut lesen. Doch dazu kommen wir hier im Blog im folgenden noch. Ich möchte da nichts vorwegnehmen.

Caspar David Friedrich

„… als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.“
(Heinrich v. Kleist)

Schwarz ist das, was für den gewöhnlichen Sprachgebrauch als die Romantik eines C. D. Friedrich bezeichnet wird, nicht, doch treten die Gemälde in ihrer Mehrheit düster-verhangen oder melancholisch auf den Plan. Der Grundton seiner Bild ist (meist) gedämpft. Manches Bild scheint rätselhaft. Doch trotz dieses Rätsels und der Daseins-Verdüsterung (um einen bernhardschen Ausdruck zu wählen) bleibt das Delektable der Bilder; eigentümlich reizen die Gemälde, gelten als stimmungsvoll, und rasch ist man im ästhetischen Minderbereich des bloß Gefälligen, wie ein Besuch in der „Alten Nationalgalerie“ zu Berlin, wo einige der Bilder Friedrichs hängen, verdeutlichen kann, wenn man die Betrachter beim Betrachten betrachtet: der ästhetische Genießer, der einsaugt, schlürft, sich an der Stimmung des Bildes berauscht. Diese verdinglichte Verhaltensweise, welche unter den Begriff des Kunstgenusses fällt, tangiert das Werk selber. In der Musik wird das nicht anders sein: kaum noch kann man die „Eroica“ oder die „Pastorale“ hören, ohne daß etwas in der Rezeption angefressen ist. (Der Photograph Thomas Struth hat zu Besuchern beim Betrachten von Gemälden in verschiedenen Museen eine schöne Photoserie gefertigt.)

Wenn damals noch Adornos Diktum gelten mochte, daß man Musik im Akt der Aufführung hören muß anstatt vom Tonträgern, so hat sich dieses Verhältnis unglücklich umgekehrt. Aus jedem Konzert- oder Museumsbesuch geht man zwar nicht dümmer, aber verstörter heraus. Die Aggressivität des Bildungsbürgers, wenn er auf seine Deformierung gestoßen wird: Museumsbesucher sind entrüstet, wenn man sie darauf anspricht, sich vor einem Bild doch bitte nicht über die Schulnoten der Tochter zu unterhalten, sondern entweder ins Museumscafé zu gehen, um derart gewichtige Dinge dort zu bereden, oder ansonsten und fürderhin zu schweigen. Strukturelles Sehen und Hören ist in solchen Kontexten schlicht unmöglich, zu vielfältig überlagern die Zerstreuungen das Denken. Auch am Vormittagen sind Museumsbesuche kaum möglich, weil eine Horde lärmender Schüler vor den Bildern lümmelt. Ginge Benjamin heutzutage in ein Museum, würde er sein Konzept einer zerstreuten, kollektiven Rezeption womöglich überdenken. Doch zurück zu den Bildern Friedrichs.

Friedrich verschaffte der im Gegensatz zur Historienmalerei eher gering angesehenen reinen Landschaftsmalerei eine neue Wendung. Das Landschaftsbild soll nicht auf die einfache Nachahmung der Natur eingeengt werden, wie dies Werner Hofmann in seiner Schrift zu Friedrich formuliert. Genauso wenig darf die Landschaft jedoch im Sinne eines Stils oder einer übersteigerten Symbolisierung der Realität enthoben werden. Friedrichs Bilder verhalten sich in sich antithetisch. Der Betrachter sieht eine realistische Landschaft, in der (meist) eine oder mehrere Figuren wie enthoben stehen, meist ist ihr Blick dem Betrachter abgewandt. Diese Figuren verändern gleichzeitig die Konzeption dieser Landschaft, anders als im Historienbild, wo die Landschaft lediglich einen Rahmen abgibt. Landschaft steht nicht mehr als eine reine Landschaft, der zur Darstellung verholfen werden soll, sondern transformiert sich im Zusammenspiel mit den Figuren zu einem Erfahrungsraum. Was an solchen Landschaftsbildern zunächst auffällt, ist ihr Oszillieren zwischen Sachtreue und Symbol. Die Rede von der Entzweiung bzw. dem Moment der Entfremdung in Friedrichs Bildern – einerseits Natur, andererseits Mensch, ohne daß beides noch in einer Form zusammentrifft – dürfte geläufig sein, trifft dieses veränderte Konzpt von Landschaft aber unzureichend.

Von seinem Gemachtsein und den ästhetischen Mitteln her kann der „Mönch am Meer“ wohl als das avancierteste der Gemälde von C.D. Friedrich gelten. Es zeitigt Wirkungen bis in die gegenwärtige ästhetisch-philosophische Diskussion hinein. „Der Mönch am Meer“ wurde 1810 zusammen mit der „Abtei im Eichwald“ zur Jahresausstellung der Königlichen Akademie in Berlin ausgestellt, und diese Werke etablierten Friedrich als durchaus angesehenen Maler, was nicht ganz selbstverständlich war, da Friedrich der Regelästhetik seiner Epoche nur eine mäßige Beachtung schenkte. Goethe, der sich in der Einschätzung manchen Künstlers irrte, so bei Kleist, schrieb, daß man den „Mönch am Meer“ auch auf dem Kopf betrachten könne. Goethe wußte nicht, wie recht er hatte, als er irrte. Diesen ungeheuren Epochenbruch bzw. Paradigmenwechsel, den das beginnende 19. Jahrhundert brachte, der sich in Zeichen andeutete, ist wohl bei Kleist, nicht jedoch bei Goethe angekommen. Bezüglich der Ästhetik steht Goethe festverwurzelt im 18. Jahrhundert.

Sicher ist die These zu vermessen, daß es sich bei diesem Werk um eine Vorstufe zur abstrakten Malerei handelt, dennoch scheint durch dieses Bild bereits ein Moment der konzeptuellen Kunst sowie ein Hang zur Abstraktion auf. In keinem der mir bekannten Bilder Friedrichs verdeutlicht sich dies so sehr wie bei jenem „Mönch am Meer“. In Latenz strukturiert sich dort etwas, das dieses Bild empfindlich modern macht.

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Quelle: Wikipedia

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Dieses Gemälde wirkt zunächst durch eine geradezu extremistische Reduktion der Gegenständlichkeit, die für ihre Zeit nicht einmalig, aber doch ungewöhnlich ist. Ursprünglich malte Friedrich auf dem Meer Segelboote. Diese wurden dann aber zugunsten eines düsteren Farbraums entfernt. Der Einschnitt, den Friedrich vornimmt, liegt in der radikalen Aussparung. Der Strand, ein Meer sowie ein Himmel ohne Halt, ein paar Möwen im Wind. Und am Rand des linken Drittels steht jener Mönch.

Vielfältig deuteten die Kunsthistoriker dieses Bild. Heinrich von Kleist sah es in Berlin, war tief beeindruckt und lieferte in den „Berliner Abendblättern“ eine eindringliche Beschreibung, auch im Rahmen einer Wirkungsästhetik: „Herrlich ist es, in der unendlichen Einsamkeit am Meeresufer, unter trübem Himmel, auf eine unbegrenzte Wasserwüste, hinauszuschauen.“ (H. v. Kleist, Werke III, S. 502, Frf/M 1986) Einer jener eigentümlichen Kleistschen Auftakte, die dann eine spezielle Drehung erhalten.

Was in der Natur funktioniert, die – wenn auch gebrochene – Korrespondenz, versagt vor dem Bild bzw. gerät in eine andere Ordnung. Denn das Bild Friedrichs verschließt sich zunächst vor dem Blick. Es funktioniert anders als das Naturschöne; obwohl auch in diese „unbegrenzten Wasserwüste“ des Realen bereits ein Moment hereinragt, welches das Schöne übersteigt bzw. in Begriffen wie schön/unschön nicht mehr zu erfassen ist. Der „Anspruch, den das Herz macht, und ein Abbruch, um mich so auszudrücken, den einen die Natur antut“ (S. 502) läuft in der Wirklichkeit der Kunst völlig anders. Er zieht den Betrachter unmittelbar in das Bild Friedrichs hinein, es geschieht eine eigenartige Form von Mimesis und Verwandlung sowohl beim Bild als auch beim Betrachter:

„… und so ward ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne, das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See, fehlte ganz. Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da, als ob es Youngs Nachtgedanken hätte, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.“ (S. 502)

Ein drastische Bilderfahrung, die neben einer Ästhetik des Schreckens bereits auf die Kategorie des Schocks deutet. Die Beschneidung des Auges, was eine vielschichtige Metapher im Text Kleist ist und voran sich eine eigenständige Ausführung anschließen müßte, ein Bild, dem der Vordergund abhanden gekommen ist; nichts, was den Betrachter in das Bild hineinführt, inmitten einer Öde, die auf Unendliches weist: übermächtig, überwältigend, bedrohlich. Der Schritt zum Erhabenen, wie es Kant konzipierte, liegt nahe. Es muß dann vom Kantischen Ansatz her nur noch in die Kunst transponiert werden, denn jenes Kantische Erhabene ist eine Kategorie, die einer bestimmten Form von Natur und Naturbetrachtung vorbehalten ist. Vermittelt über den „Mönch am Meer“ geriet eine philosophisch-ästhetische Kategorie zum zentralen Begriff der Ästhetik. Allerdings erst mit einiger Verzögerung.

Für die Ästhetikdebatte der 70er Jahre und in Deutschland mit etwas Verspätung in den 80er Jahre, angeregt vor allem durch Lyotard, spielte diese Kategorie des Erhabenen dann eine besondere Rolle. Das Erhabene geriet zum zentralen Begriff einer Ästhetik, die sich auf die Anforderungen einer Kunst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert einzustellen hat. Insbesondere einer (bildenden) Kunst, die zunehmend den Betrachter und seine Reaktionsweisen einbezog. (Aktuell mag hierfür Olafur Eliasson einstehen,um es an einem Beispiel zu veranschaulichen.) Das Primat sollte auf der Wahrnehmung liegen, weshalb die Ästhetik teils zu einer Aisthetik umgepolt wurde. In einer solchen, nennen wir es einmal erweiterten Ästhetik tauchte, neben Barnett Newmans „Who‘s Afraid of …“-Bildern, die zu einem der Ausgangspunkte der Diskussion wurden, genauso jener Mönch am Meer auf, so etwa in Max Imdahls Aufsatz zu Barnett Newman, aber auch, fast phänomenologisch, Aspekte des Sinnlichen fielen in diese Ästhetik hinein. (Barnett Newman selbst beschäftigte sich ausgiebig mit dem Erhabenen.)

Jedoch steht dieses Erhabene, was (etwa von Lyotard oder auch Wolfgang Welsch) als philosophisch-ästhetische Kategorie stark gemacht wird, eher für eine (absolut notwendige) Kunst der Abstraktion, weniger für das Projekt Realismus in der Malerei. Hierzu – womöglich – demnächst etwas mehr. Es gerät dieses Erhabenen in den Bannkreis einer Ästhetik des Immateriellen, woran sich zugleich Reflexionen über die Struktur des Augenblicks anschließen. „The sublime is now“, wie Barnett Nwemann es in einem Aufsatz von 1948 als Überschrift titelte. Eine Vielfalt an Themen bündelt sich in diesem Begriff des Erhabenen, so die Struktur des Ereignisses: daß es geschieht, daß etwas geschieht. Verbindungen zur Phänomenologie, zur Zeitphilosophie sowie zu Heidegge stellen sich ein. Lyotard greift diese Dinge auf, handelt diese Aspekte etwa in seinem Aufsatz „Das Erhabene und die Avantgarde“ ab.

Diese philosophisch-ästhetischen Ausführungen liegen jedoch bereits weit entfernt von den Bildern Friedrichs.

C. D. Friedrich verstarb am 7.5.1840.

Und um der Daten einzugedenken sei auch an den 8. Mai als dem Tag der Befreiung erinnert. Wobei sich damit der Kreis zu einem journalistisch trivialisierten C. D. Friedrich schließt, und zwar tauchte jener „Wanderer über dem Nebelmeer“ als Titelbild der Spiegelausgabe 19/1995 auf, seinen Blick diesmal aber auf die deutsche Geschichte gewendet. (Ein Hinweis, den ich der interessanten Monographie von von Werner Hofmann „Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit“ entnehme.)

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