„Kein Ort. Nirgends“, so heißt eine Novelle von Christa Wolf, in der es zu einer (fiktiven) Begegnung der Karoline von Günderrode mit Heinrich von Kleist kommt. Zwei, die aus der Zeit gefallen schienen. Beide brachten sich um das Leben. Karoline von Günderrode tat dies im Jahre 1806. Dieser Titel der Novelle ist in mancher Hinsicht paradigmatisch für Kleist insgesamt, sei es im Werk, sei es im Leben – in Kleists Abschiedsbrief an seine Schwester Ulrike formulierte er diesen Aspekt des Ortlosen so – es ist tausendundeinsmal bemüht worden: „daß mir auf Erden nicht zu helfen war.“ Und wie er am 19. November an seine Cousine Marie von Kleist schreibt: „und daß ich sterbe, weil mir auf Erden nichts mehr zu lernen und zu erwerben übrig bleibt.“ Einerseits. Und diese zum geflügelten Wort geronnene Sentenz wird in bezug auf Kleist gerne zitiert und gleichsam zum Lebensmotto erhoben, und das tränkt für manchen Kleistforscher noch das Werk. Aber dies sind Blicke ex post factum. Und mehr zeugt es vom Verliebtsein ins Scheitern der Interpreten als das sich durch diesen Blick der Gehalt der Sache, mithin der Text Kleists aufklärte.
Denn andererseits wird, wie der Literaturwissenschaftler Günter Blamberger in seinem gerade erschienen Kleistbuch zu recht schrieb, Kleists Leben und vor allem sein Werk viel zu sehr von seinem (für uns dramatischen) Ende am Kleinen Wannsee her gedeutet, anstatt dieses Leben aus den Augenblicken, aus den Jetztpunkten heraus zu lesen, die eben nicht, gleichsam teleologisch und mit Notwendigkeit, auf jenes Ende am Wannsee zusteuern. Kleist ist nicht nur der Dichter des Scheiterns, ebenso wenig wie Kafka oder Beckett, es sind diese Sichtungen auf Kleist Abbreviaturen. Zugleich sind aber – dies bleibt festzuhalten – die „Verzückungsspitzen des Daseins“ (Nietzsche) bei Kleist doch rar und dünn gesät.
Was war dieser Tod? Die Tat eines Verzweifelten, ein Akt ästhetischer Auflehnung gegen die Welt, ein inszenierter Tod, die heitere Gestimmtheit griechischer Gelassenheit? – Das bleibt die Frage.
Daß es für Kleist keinen Ort, nirgends und nirgendwo gab, schuldete sich einer Zeit des Umbruchs: dem Beginn der ästhetischen und sozialen Moderne – die Zeit um 1800 kann als eine Epochenschwelle begriffen werden. Insbesondere Kleists Briefe, aber ebenso seine Prosatexte geben einen Reflex auf dieses Moment des Gesellschaftlichen. „Penthesilea“ zeigt eine Welt der Antike, die nicht mehr der Winckelmannschen Klassik und dem Bild der Griechen als Sehnsuchtsort angehört, sondern es offenbart den Bruch, Militärisches und Erotisches treten, wie häufig bei Kleist, in eine Konstellation und Liebe ist ein Schlachtfeld, liegt dicht beim Wahn – ganz anders als sein Gegenpart: Goethes „Iphigenie“, Schillers „Die Götter Griechenlandes.“ Mit solchen Maßnahmen der Literarisierung des Griechentums sind sicherlich und zugleich auch die Fiktionalisierungen des Politischen (Philippe Lacoue-Labarthe) verbunden; es drängt zum verlorenen Grunde hin, der sich im Zeichen der Moderne als Abgrund erweisen wird, was in einer Passage jenes anderen radikalen Dichters, nämlich in Büchners „Lenz“ sich verdichtet:
„Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Wege, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht, auf dem Kopf gehen konnte.“ (Georg Bücher, Lenz)
Wer aber auf dem Kopf geht, so Celan in seiner Büchnerpreisrede „Der Meridian“, der hat den Himmels als Abgrund unter sich. Und es ist, das sei hinzugefügt, solches Wandern und Gehen zugleich am Rande des Wahnsinns und eine schizoide Situation.
Kleist nahm diesen Bruch in der Epoche literarisch vorweg; er besaß für den Riß und jene Zeit des Umbruches ein seismographisches Gespür. Kleist schrieb diese Erfahrung der Kontingenz, machte darauf aufmerksam, indem er ihr in Form der Literatur Gestalt gab und wurde von ihr zugleich getragen und geprägt.
So geschehen während Kleists Reise mit seiner Schwester Ulrike. Kleist schreibt am 18. Juli 1801 in einem Brief als Postspriptum an Karoline von Schlieben:
„Ein einziges Mal waren wir ein wenig böse auf sie [die Kutschpferde], und das mit Recht, denke ich. Wir hatten ihnen nämlich in Butzbach, bei Frankfurt am Main, die Zügel abnehmen lassen vor einem Wirtshause, sie zu tränken und mit Heu zu futtern. Dabei war Ulrike so wie ich in dem Wagen sitzen geblieben, als mit einemmal ein Esel hinter uns ein so abscheuliches Geschrei erhob, daß wir wirklich grade so vernünftig sein mußten, wie wir sind, um dabei nicht scheu zu werden. Die armen Pferde aber, die das Unglück haben keine Vernunft zu besitzen, hoben sich hoch in die Höhe und gingen spornstreichs mit uns in vollem Karriere über das Steinpflaster der Stadt durch. Ich griff nach dem Zügel, aber die hingen ihnen, aufgelöset, über der Brust, und ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug schon der Wagen mit uns um, und wir stürzten – Und an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, rätselhaften, irdischen Leben gewollt, und weiter nichts –? Doch für diesmal war es noch nicht geschlossen, – wofür er uns das Leben gefristet hat, wer kann es wissen? Kurz, wir standen beide ganz frisch und gesund von dem Steinpflaster auf und umarmten uns. Der Wagen lag ganz umgestürzt, daß die Räder zu oberst standen, ein Rad war ganz zerschmettert, die Deichsel zerbrochen, die Geschirre zerrissen, das alles kostete uns 3 Louisdor und 24 Stunden, am andern Morgen ging es weiter – Wann wird der letzte sein?“
Berlin – Wannsee, 21.11.1811
„Stimmings bei Potsdam
d. – am Morgen meines Todes“
(H. v. Kleist, in der Signatur seines Abschiedsbriefes)
Kleists und Vogels Sterbeort liegt knapp zwei Kilometer nordöstlich des kleinen Nests Kohlhasenbrück. Ein Lohnkutscher brachte sie aus Berlin in diesen Ort am Wannsee. Sie blieben die Nacht zum 21. November, die ihre letzte Nacht des Lebens sein sollte, auf ihren Zimmern im Wirtshaus Stimmings wach und schrieben ihre Abschiedsbriefe, bestellen sich Kaffee auf die Zimmer. Nach der Aussage der Wirtsleute Stimming waren sie vergnügt, fast schon ausgelassen; Kleist sprang über die Kegelbahn und wollte Henriette Vogel dazu verführen, es ihm gleichzutun, doch sie mochte nicht recht; sie riefen sich mit lieben Worten und Kosenamen, spielten im Wald fangen und verstecken, sie lachten und scherzten miteinander. Kleist und Vogel waren kein Liebespaar, aber auf eine bestimmte Weise doch aus gleichem Holz – zumindest was diesen letzten Schritt anbelangte. Auf jenem Hügel am Kleinen Wannsee ließen sie sich Tisch und Stühle stellen, was bei den Wirtsleuten große Verwunderung auslöste, denn im November speiste man in der Regel nicht draußen. Kleist genehmigte sich in den Kaffee einen Schuß Rum. Vorher schrieb Henriette Vogel, etwa gegen Mittag, an einen Bekannten der Familie Vogel, daß sie mit Kleist zusammen im Gasthaus Stimming weilte, dort befänden sie sich „in einem sehr unbeholfenen Zustande, indem wir erschossen da liegen.“
Die Bäume bereits kahl und der See lag ausgebreitet da. Mit diesem Blick auf den See und in den Herbstwald hinein schoß Heinrich von Kleist am 21. November 1811, irgendwann zwischen 15 und 16 Uhr, zuerst die todkranke Henriette Vogel in das Herz und hernach sich selbst in den Mund. Ein vielfach erzählter Freitod.
Um die Lektüre zunächst noch ein wenig weiter biographisch aufzubereiten: Kleist Leben ist von Anbeginn an geprägt vom Zweifel und von Rastlosigkeit, und es erschütterten sich ihm die Gewißheiten. Früh schon, als 15jähriger Kindersoldat regt sich während der Belagerung von Mainz, an der er teilnahm, die Skepsis. Sinnbild für den Zweifel noch am philosophischen Zweifel ist die sogenannte Kant-Krise Kleists im Frühjahr 1801, wobei es allerdings fraglich ist, ob Kleist tatsächlich Kants „Kritik der reinen Vernunft“ gelesen bzw. deren Inhalt, zumindest in der Diktion Kants, adäquat repetiert hatte – Jens Bisky zweifelt in seiner Kleist-Biographie daran: allein die Versinnlichungen der Kantischen Philosophie über das populäre Bild von den grünen Gläsern, durch die die Welt gesehen werde, so daß man eben nur grün sehen könne und nicht anders, ist im Rahmen Kants ganz und gar unzulässig, weil es sich hier um die Beispielhuberei und um eine verkürzende Form handele, die Philosophie im Modus des unmittelbar Handzuhabenden verbildliche. Zudem betrieb Kleist während seiner Jahre an der Universität niemals systematische Studien der Philosophie. „Er rang nicht mit der Transzendentalphilosophie, trieb keine ‚Fichte-Studien‘ wie Novalis. Der Zweifel verdarb ihm alle Lust an der Philosophie, nahm ihm jegliches Interesse, sich weiter mir ihr einzulassen.“ (J. Bisky, Kleist, S. 109)
Kleist reiste, und er mochte sich und konnte sich auf nichts festlegen, weil er danach strebte, sich auszubilden, ohne aber zu verweilen, am Ende seines Lebens war er in Berlin als Journalist und Zeitschriftenherausgeber tätig. Seine Reisen führten ihn an zahlreiche Ort; sei es Würzburg, der Rhein, der Harz, Paris oder die Schweiz. Fern von seiner zukünftig Verlobten Wilhelmine v. Zenge, die er um 1800 während seiner Zeit in Frankfurt/Oder umwarb, die seinem Werben letztlich schweren Herzens nachgab. Während Kleist reiste, harrte Wilhelmine von Zenge in Frankfurt/Oder. Mit der Eheschließung wurde es am Ende freilich nichts. Er schrieb ihr Briefe, so aus Paris, jenem Ort der Moderne des 19. Jahrhunderts, der bei Kleist nur Widerwillen und Unbehagen auslöste.
„… daß wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht gibt – – kann Gott von solchen Wesen Verantwortung fordern? Man sage nicht, daß eine Stimme im Inneren uns heimlich und deutlich anvertraut, was recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinen Feinden zu vergeben, ruft dem Seeländer zu ihn zu braten und mit Andacht ißt er ihn auf – Wenn die Überzeugung solche Taten rechtfertigen kann, darf man ihr trauen? – Was heißt das auch etwas Böses tun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten –“ (Kleist, Brief an W. v. Zenge v. 15. August 1801, in: Briefe, S. 256)
Diese Fragen und Zweifel werden später in Kleists literarischem Werk komplex ausgestaltet – man denke nur an den „Michael Kohlhaas“, den man als eine Mischung von Sage, Erzählung, Legende, politischer und rechtstheoretischer Schrift sowie als Spiel wilder, grausamer Phantasie nehmen kann. Sicherlich läuft der positivistische Schluß vom Leben aufs Werk zu kurz, wenn man Briefstellen nimmt und sie aufs Werk appliziert, und es sagt dieses Verfahren nichts über die Struktur des Werkes. Doch es zeigt sich in dieser Form von Parallellektüre ein Stück Sozialgeschichte, die sich vom kollektiven Unbewußten einer Epoche her in deren ästhetischen Ausformungen und Produkten sedimentiert – „Literatur als Symbol sozialen Handelns“, wie es beim US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Fredric Jameson heißt. „Das Erdbeben von Chili“ beschreibt nicht bloß ein Erdbeben, sondern zeigt zugleich das Aufbrechen von Gesellschaft und den unmittelbaren Umschlag, den Furor und das Extrem. Und obige Briefstelle korrespondiert sicherlich mit diesem grundsätzlichen Zweifel Kleists, welchen Kleist später dann literarisch gestaltete, ein Zweifel, der – anders als Kants erkenntniskritischer – alles in sein Gegenteil zu verkehren vermag, keinerlei Halt mehr bietend. Es ist die eine Position möglich und genauso und zum gleichen Zeitpunkt ihr Gegenteil, wie in der „Marquise von O.“: das Kind kam von nirgendwo, als wäre es nie gezeugt und gleichsam von Gott implementiert, und zugleich gibt es einen Erzeuger und damit einen Akt der Sexualität, der in ihrem Falle eine Vergewaltigung ist.
Nein, getrieben von Leidenschaft, Sehnsucht und Hingabe an eine Frau sind solche Briefe wie Kleist sie an Wilhelm von Zenge schrieb, nicht, eher dienen sie dazu, sich der eigenen Subjektivität zu vergewissern, auszuloten im Prozeß des Schreibens.
Es heißt, daß die Liebesbriefe Kleists an Wilhelmine von Zenge zu den schrecklichsten gehören, die je ein Mann je an eine Frau schreiben konnte. Belehrend, bevormundend, scheiternd – ein Mann, der einer Frau in Briefen Übungsaufgaben aufgibt, ist vom Heute her gedacht ein unmöglicher Mensch und wenig geeignet zum guten und das heißt im emphatischen Sinne umfassenden Liebhaber. Jedoch aus Kleists Epoche heraus gelesen, im Zeitalter der Ausbildung des Bürgertums, steckt dahinter zugleich die Überwindung einer aristokratischen, feudalen Gesellschaft samt ihren Lebensformen und Eheritualen. Die „Codierung der Intimität“ (Luhmann) erfuhr zu jener Zeit einen grundlegenden Wechsel im Paradigma, und Kleist steckte inmitten dieser Phase gesellschaftlicher Umbrüche, war mithin ein Kind seiner Zeit. Der zweckmäßigen aristokratischen Vermählung – etwas verkürzt dargestellt –, die nicht aus Liebe, sondern aus Kalkül erfolgte – Liebe konnte daraus erwachsen, mußte es aber nicht – wurde als Ideal jene „Liebe als Passion“ und ein gegenseitiges Sich-Aneinander-Ausbilden entgegengestellt – wenngleich auch dies sich schnell zur bürgerlichen Zweckgemeinschaft transformierte und zum ungleichen Tauschverhältnis auswuchs. Bei aller Kritik, die sich an Kleists Liebesbriefen an Wilhelmine von Zenge üben läßt, sollte dies nicht ganz aus dem Blick genommen werden. Kleist überwarf sich mit den aristokratischen Konventionen.
Wenngleich die Rolle der Frau bei Kleist noch einmal gesondert in den Blick genommen werden muß – von der rein sich opfernden, passiven Frau (etwa Lisbeth im „Kohlhaas“ über die gleichberechtigt Liebende wie in „Familie Schroffenstein“ bis zur interessantesten, vielschichtigsten und wohl auch eigenständigsten Frauengestalt Kleists: der Penthesilea.
Aber das eine ist das Leben, das andere das Werk. Mehr in im nächsten Part.