„‚Vielleicht ist es gerade die Einfachheit der Sache,
die Ihnen den Blick trübt‘, meinte mein Freund“
(E.A. Poe, Der entwendete Brief)
Nach eines langen Tages Ritt: Rückkehr ins Grandhotel Abgrund, unsichbar für meine Leserinnen und Leser: Heute, am 11.4., um es exakt zu datieren, ist der Weltunsichtbarkeitstag. Was es genau mit ihm für eine Bewandtnis hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Ist es der Tag der sehenden Blindheit, der Tag der Blendungen, der Tag der Verdrängungen, der Tag unseres Verschwindens im Orkus und im Har-Magedon, der Tag der Gespenster, der des Sich-Versteckens, wie es Kinder zuweilen spielen oder wenn sie sich die Augen zuhalten und nun glauben, selber nicht mehr gesehen zu werden, der Tag der verborgenen Strukturen, deren Aufdeckung die Aufgabe der Philosophie darstellt? Phänomenologisch gut möglich, wenn man sich in Maurice Merleau-Pontys Fragment gebliebenes Werk „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ lesend hineinbegibt:
„Die Frage stellen: das unsichtbare Leben, die unsichtbare Gemeinschaft, der unsichtbare Andere, die unsichtbare Kultur.
Eine Phänomenologie der ‚anderen Welt‘ als Grenze einer Phänomenologie des Imaginären und des ‚Verborgenen‘ schreiben –“

Überhaupt scheint der Blick, das Sehen eine nicht nur für die abendländische Rationalität wesentliche Weise des Wahrnehmens zu sein. All die Licht- und Optikmetaphern, die wir verwenden: Das reine Licht, das Vergrößern mit der Lupe, das Erleuchtete der Seele, das Lumen naturale als Licht der Aufklärung, der blinde Fleck als strukturierender Sehpunkt, der selber nicht gesehen werden kann, das Kaleidoskop als Modell von Erfahrung (so bei Adorno in der „Negativen Dialektik“), und das wohl bekannteste Gleichnis, das mit den Lichtmetaphern spielt, ist das von jener platonischen Höhle. Auch hier rangiert eine Ordnung des Unsichtbaren an höherer Stelle und der Schein scheint zu trügen und wirkt für die in der Unmittelbarkeit der Höhle gefesselten als Pseudos.
Licht, das überblendet. To see the white light: Noch im Angesicht des Todes scheint und dimmt das Licht in einem Zuge hin zu den erlöschenden Augen, so wie es in Kafkas Geschichte „Vor dem Gesetz“ erzählt, nein geschrieben wird: jener Einlaß begehrende Mann, jener im Warten harrende Höhlenbewohner aus dieser Welt:
„Schließlich wird sein Augenlicht schwach und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange.“
Oder die blinde Blumenverkäuferin in Charlie Chaplins „City Lights“, die vom Gehör aus sich orientiert und von dorther ihre Gedanken sowie ihre Gefühle ausrichtet. Sie kann den Vagabunden, der auf der Flucht vor der Polizei ist, weil er auf einer Arbeiterdemonstration durch unglücklichen Zufall eine rote Fahne schwenkte, und der mitten durch einen Wagen steigt und beim Verlassen des Fonds die Autotür beim Aussteigen hinter sich zuwirft, nur hören, aber nicht sehen, und so hält sie diesen Tramp, der ihr Blumen abkauft und ihr zudem ein fettes Trinkgeld überläßt – es ist das letzte Geld des Tramps – für einen reichen Mann: ihr Gesicht strahlt, wie eigentlich nur Gesichter im Stummfilm durch die Mimik erleuchtet sein können, während es sich bei dem Film doch um einen der ersten Tonfilme Chaplins handelt: Verzückung der Liebe, die auf dem Irrtum und der Verkennung beruht, und die doch der Wahrheit entspricht. Denn bekanntlich sieht man – so wird kolportiert – nur mit dem Herzen gut, jenem für die meisten unsichtbaren Organ, das lediglich der Chirurg zu Gesicht bekommt, wenn er den Thorax öffnet.
Aber der „annihilierendste Signifikant“, wie Jacques Lacan das Geld nennt, spielt am Ende dieser Verwechselungsszenerie keine Rolle. Dennoch bezieht diese Szene aus der unbewußten Täuschung ihre Komik: daß in der Ordnung der Figuren einer an die Stelle des anderen gesetzt wird. Liebe beruht auf dem Phantasma der Andersartigkeit, des Andersseins, Liebe ist die gelungene Täuschung, die nicht mit böser Absicht erfolgt, das Unsichtbare eines Begehrens in einem realen Leib, im Körper des oder der Anderen manifest werden läßt. In der Struktur jedoch überwiegen die Figuren der Latenz – wie bei jedem Phantasma. Die Erzählungen E.T.A. Hoffmanns aber auch die Detektivgeschichten E.A. Poes geben dafür zahlreiche Beispiele ab. Jener „entwendete Brief“; der unsichtbar und doch offensichtlich mitten auf dem Schreibtisch liegt, lieferte Anlaß zur Deutung. Es ist der Besitz des Briefes, nicht jedoch seine Verwendung, auf dem die Macht dieses Briefes beruht. Würde er verwendet, wäre es mit der Macht, die der Besitzer ausüben kann, zuende.
Unsichtbar aber sind auch all die Gespenster, die umgehen: das fängt mit Marx bekanntem Satz aus dem Kommunistischen Manifest an: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ Diesem „Märchen vom Gespenst des Kommunismus“ stellt Marx „ein Manifest der Partei selbst“ entgegen. Auch Kafka ging es in seiner Briefkorrespondenz mit Felice Bauer sowie später dann mit Milena Jesenská darum, dieser Gespenster Herr zu werden, sie zu bannen, zu besänftigen, sie zu beschwichtigen: „Briefe schreiben heißt sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken …“ So formulierte es Kafka an Jesenská, Franz an Milena, diese wunderbaren geschriebenen Küsse verschwinden in der Ordnung des gespenstisch Unsichtbaren, es entleeren die Küsse sich auf ihrer Strecke, wie es nun einmal das Medium bedingt.
Unsichtbar auf eine mehrfache Weise sind ebenfalls all die „Sans Papiers“ in den westlichen Ländern, die in den Städten leben und auf irgendeine Weise ihr Auskommen finden müssen, die nicht aufgegriffen werden möchten, weil das ihr Ende bedeutet. Die meisten Menschen wollen sie nicht sehen und sie selber dürfen von der Ordnungsmacht nicht gesehen werden, weil ansonsten Abschiebe„gewahrsam“ (was für ein Euphemismus!), Ausweisung und Schlimmeres drohen.
Blendungsszenarien oder Verblendungszusammenhänge, in denen uns die Welt unsichtbar wird: Im „Kurier des Zaren“ wird Michael Strogoff mit einem glühenden Schwert geblendet. Er verfällt in die Finsternis, die Welt entgleitet dem Blick: doch nur vorübergehend, denn die Tränen, die er weinte, weil seine Mutter die Blendung mitansehen mußte, schützen vor der vollständigen Blendung. Blendung und Unsichtbarkeit lassen eine Linie hin bis zum Verblendungszusammenhang ziehen. Die Welt nähert sich in diesem Modus der der Lurche an; eine der schönsten Passagen aus der „Dialektik der Aufklärung“; die ja reich an poetischen Elementen ist, und die, wie jede Philosophie ebenso von einer Form der Rhetorik getragen wird (die „Strategie“ jedes Textes) lautet wie folgt:
„Die Eliminierung der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen überträgt sich von der Wissenschaft vermöge der rationalisierten Arbeitsweisen auf die Erfahrungswelt der Völker und ähnelt sie tendenziell wieder der der Lurche an. Die Regression der Massen heute ist die Unfähigkeit, mit eigenen Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können, die neue Gestalt der Verblendung, die jede besiegte mythische ablöst. Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die Menschen zu eben dem wieder gemacht, wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwangshaft gelenkten Kollektivität. Die Ruderer [auf dem Schiff des Odysseus, als es an den Sirenen vorbeifährt, deren Gesang sie nicht lauschen dürfen, Hinweis Bersarin], die nicht zueinander sprechen können, sind einer wie der andere im gleichen Takte eingespannt wie der moderne Arbeiter in der Fabrik, im Kino und im Kollektiv. Die konkreten Arbeitsbedingungen in der Gesellschaft erzwingen den Konformismus und nicht die bewußten Beeinflussungen, welche zusätzlich die unterdrückten Menschen dumm machten und von der Wahrheit abzögen. Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft, in die das antike Fatum unter der Anstrengung, ihm zu entgehen, sich schließlich gewandelt hat.“ (Th.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung)
Auch eine Weise der Unsichtbarkeit: das Wirken der Macht. Michel Foucault, der schrieb, daß ihm die „Dialektik der Aufklärung“ manchen Umweg erspart hätte, wenn er sie denn früher gelesen hätte, knüpft an diesem Punkt an und setzt die strukturierende Macht, deren Dispositive, in den Blick der Philosophie. Wer Augen zu sehen und lesen hat, kann dieser Macht gewahr werden. Die Machtverhältnisse durchziehen noch das Körperinnere. De Sade als Sergeant des Sex, wie Foucault an einer Stelle schrieb.
Die fünf Sinne. Davon wird der taktile Sinn, der Tastsinn eben, häufig verdrängt. Daß es Berührungen sind, Gesten, die nicht nur gesehen werden wollen, sondern die wir spüren, wenn sich die Hand auf die Haut legt. Alles andere bleibt Text.
Im Sinne der Dekonstruktion in den Literaturwissenschaften heißt eines der Hauptwerke Paul de Mans „Blindness and Insight“. Die Einsicht als Begriff, der dem Gesichtssinn entnommen wurde: zu erkennen und zu sehen, und dabei dennoch am Ende den untergründig webenden Strukturen aufzusitzen, die sich dem Blick und damit auch jeglichem Gesichtssinn entziehen. Dem Beobachter erster Ordnung läßt sich einer der zweiten und diesem einer der dritten beiseite stellen. Unendlicher Regreß, in dem das Denken an sich selber irre zu werden droht und dem Hegel eine umfassend gebildete Vernunft entgegenstellte, die die Paradoxie jener schlechten Unendlichkeit im Geist selber aufhob.
Als Odysseus nach langer Irrfahrt in heimatliche Gefilde auf die Insel Ithaka zurückkehrte und mit Athenes Hilfe dort die Gestalt eines Bettlers annahm, um an den Freiern, die Penlope bedrängten und belagerten, Rache zu nehmen und sie zu töten, erkannte ihn bei seiner Heimkunft lediglich sein bereits dem Tode naher Hund Argos. Den Freiern der Penelope erging es schlecht, und erst auf dem Lager, wo Odysseus das Geheimnis offenbarte, daß neben seiner Gemahlin nur er wissen konnte, vereinigten sie sich in Liebe. Beschwerlich, wie es bei älteren Menschen üblich ist.
Nachdem Theseus den Minotauros tötete, fand der griechische Held aus dem dunklen Höhlenlabyrinth des Minotauros lediglich taktil mit Hilfe eines Fadens, welcher von Ariadne stammte. Höhlen besitzen die Eigenschaft, ohne Licht bzw. Feuer relativ dunkel zu sein. Bedauerlicherweise wurde jene helfende, liebende Frau namens Ariadne auf der Fahrt des Theseus von Kreta zurück in seine Heimat Athen auf der Insel Naxos zurückgelassen, so wie manche Männer ihre Frauen auf einer Autobahnraststätte unwillkürlich vergessen und weiterfahren, während die Frau noch im Gaststätten- oder Toiletteninnenraum der Verrichtungen harrt: On the road again.
In den Dionysos-Dithyramben schrieb Nietzsche von der Marter jener Liebe der Ariadne, die in ihrer Qual erst hassen mußte, um lieben zu können und bis jener Gott des Rausches und des Taumels, der Verzückung und des heiligen Weines, dem sie von Anbeginn versprochen war, sich aus seiner Unsichtbarkeit heraus zu erkennen gibt: Brot und Wein. Christus gegen Dionysos, North by Northwest.
„Eine Phänomenologie der ‚anderen Welt‘ als Grenze einer Phänomenologie des Imaginären und des ‚Verborgenen‘ schreiben –“ Dazu gehört auch: Das Begehren, das Phantasma und die Wildheit einer Liebe in einen Text zu bringen, deren Grund ganz und gar im Verborgenen und im Unsichtbaren liegt. Aletheia als dialektische und phänomenologische Analyse. Den Strom der Lethe zu brechen und im Akt potenzierten Begehrens zugleich daraus zu trinken. Mémoire involontaire.