Geboren 1773 in Berlin, in jener Alterskohorte der legendären Early seventies: Hegel und Hölderlin (1770), Novalis (1772), Friedich Schlegel (1772), Heinrich Wackenroder (1773) und unweit später dann Schelling (1775), E. T. A. Hoffmann (1776) und Heinrich von Kleist (1777).
Er war einer jener Romantiker, die irgendwann in Vergessenheit gerieten. Sein Freund Wackenroder, mit dem er jene legendären Wanderungen durchs Fränkische unternommen hatte und die den Stoff für den Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“ abgaben, starb früh – bereits 1798. Was von dieser wunderbaren Freundschaft blieb, ist deren Gemeinschaftswerk, jene kunsttheoretischen Essays in den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“, darin es um die Malerei, um die Kunst, um Nürnberg und damit auch um Albrecht Dürer und als Gegenpol dazu um Raffael da Urbino ging: das Altdeutsche und das Südländische, Italiens Himmel, Italiens Leichtigkeit und jener deutsche Zug: das fränkische Nürnberg als Gegenmodell und zugleich die Vermittlung beider Bereiche, auf alle Fälle aber, im Sinne der „Querelle des Anciens et des Modernes“, setzte sich diese Ästhetik vom Vorbild der Antike als Maßgabe der Kunst ab. Religion war Kunst und Kunst Religion. Es war die Hochzeit der literarischen Romantik. Diese Zeit aber ist vergangen und von den vergangenen Zeiten, die wir die Frühromantik nennen, heißt es 1844 bei Tieck in seiner Vorrede zum „Phantasus“ an August Wilhelm Schlegel:
„Es war eine schöne Zeit meines Lebens, als ich Dich und Deinen Bruder Friederich zuerst kennen lernte; eine noch schönere als wir und Novalis für Kunst und Wissenschaft vereinigt lebten, und uns in mannichfaltigen Bestrebungen begegneten. Jetzt hat uns das Schicksal schon seit vielen Jahren getrennt. Ich verfehlte Dich in Rom, und eben so später in Wien und München, und fortdauernde Krankheit hielt mich ab, Dich an dem Orte Deines Aufenthaltes aufzusuchen; ich konnte nur im Geist und in der Erinnerung mit Dir leben.“
Da war ein Gären, ein Symphilosophieren, eine neue Form von Gemeinschaft, eine neue und andere Weise von Poesie und Poetik und vor allem auch geriet die Bedeutung des Märchens zentral, wie Novalis es in seinem Bildungsroman „Heinrich von Ofterdingen“ reimte, jener Roman, der zugleich eine Antwort auf sowie eine literarische Kritik an Goethes „Wilhelm Meister“ war:
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die so singen, oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die [freye] Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit wieder gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die [alten] wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Eingesponnen in jenen Geschichten, zeigt sich das Wahre und vertilgt jenes verkehrte Wesen, für das wenige Jahre später Hegel den Begriff der Entzweiung prägte. Aufstieg zu den höchsten Höhen, aber auch in die Tiefen, denn hinab geht der Weg und ins Innere, Gnothi seauton, und dies nicht im Medium der Philosophie, sondern mittels Kunst. Und so heißt sinnvoller Weise auch eine der Gemeinschaftsarbeiten von Wackenroder und Tieck „Phantasien über die Kunst“. Im Medium des Begriffs über den Begriff hinaus zugelangen. Das „Literarisch-Absolute“, wie ein Ende der 1970er Jahre von Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy herausgegebener und in Frankreich Furore machender Sammelband hieß, darin jene zentralen Texte der Frühromantiker abgedruckt waren. Doch all das, diese Gemeinschaft hielt nur kurz. Tieck aber lebte noch lange, die Jenaer Frühromantik war schon Geschichte, jene Gemeinschaft im Haus in der Leutragasse aufgelöst und jene Geister in alle Richtungen zerstreut: diese einmalige Gemeinschaft eines gemeinsamen Denkens, Dichtens und Philosophierens und Streitens.
Die Bedeutung Tiecks für die moderne Literatur, von der Romantik bis zum Realismus, von seinem Briefroman „William Lovell“ von 1795/96 bis hin zu dem Historienroman Vittoria „Accorombona“ (1840) ist nicht zu unterschätzen. Arno Schmidt etwa lobte Tieck und widmete ihm einen Radioessay („‚Funfzehn‘. Vom Wunderkind der Sinnlosigkeit“). Lange stand Tieck freilich im Schatten – eher der romantische Märchenonkel denn der gewitzte Erzähler wie auch jener Erzähler von Abgründen und Ichspaltung. Der Schrecken und das zerrissene Ich brachen vielleicht nicht so heftig in seine Dichtung ein wie bei seinem Zeitgenossen E.T.A. Hoffmann. Nimmt man den „Phantasus“ und den darin eingebetteten Reigen von Geschichten und Gedichten, so bleiben nicht nur jene Märchen vom „Blonden Eckbert“ und dem „Runenberg“, sondern die Abfolge von Bildern, Geschichten und Novellen, die an Boccaccios „Decamerone“ erinnert; eine Form von freier Geselligkeit, Erzählen als Lebensform und eine gebildete Gesellschaft, wie wir sie auch in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ finden. Insofern sollte man diese einzelnen Märchen immer im Kontext des „Phantasus“ verstehen, darin sie erzählerisch eingebunden sind. Doch bereits früh schon bringen Tiecks Reise- und Landschaftsbeschreibungen einen anderen Ton in die Literatur:
„die berührigen, muntern Franken, in ihrer romantischen, vielfach wechselnden Umgebung, denen damals ihr Bamberg ein deutsches Rom war; …“ (Tieck, Phantasus)
Und dies auch im Blick auf Nürnberg, jene Dürer-Stadt, die bereits in den zusammen mit seinem Wanderfreund Wackenroder geschriebenen „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ eine zentrale Rolle spielte:
„Es ist gut […], daß die Menschen verschieden denken und sich auf mannigfaltige Weise interessiren, doch war die ganze Welt damals zu einseitig auf ein Interesse hingespannt, das seitdem auch schon mehr und mehr als Irrthum erkannt ist. Dieses Nord-Amerika von Fürth konnte mir freilich wohl neben dem alt-bürgerlichen, germanischen, kunstvollen Nürnberg nicht gefallen, und wie sehnsüchtig eilte ich nach der geliebten Stadt zurück, in der der theure Dürer gearbeitet hatte, wo die Kirchen, das herrliche Rathhaus, so manche Sammlungen, Spuren seiner Thätigkeit, und der Johannis- Kirchhof seinen Leichnam selber bewahrte; …“ (Tieck, Phantasus)
Immer wieder kollidiert die Moderne der Sattelzeit mit einem imaginierten Raum von Unverstelltheit, der in einer anderen Zeit liegt und zugleich die Utopie einer anderen Moderne abgibt: zukünftige Vergangenheit.
In einer umformulierte Widmung des Phantasus an Augst Schlegel heißt es dann, mit Blick auf Jena und jene herrlichen Tage:
„Jene schöne Zeit in Jena ist, obgleich mich bald die Gicht zum erstenmal dort schmerzhaft heimsuchte, eine der glänzendsten und heiteren Perioden meines Lebens. Du und Dein Bruder Friedrich – Schelling mit uns, wir alle jung und aufstrebend, Novalis-Hardenberg, der oft zu uns herüber kam: diese Geister bildeten gleichsam ununterbrochen ein Fest von Witz, Laune und Philosophie.“
Literatur aber arbeitet sich durch die Zeiten. „Ich war elf, und später wurde ich sechzehn. Verdienste erwarb ich mir keine, aber das waren die wunderbaren Jahre.“ So schreibt Truman Capote in seiner „Grasharfe“. Und später mit Eva Strittmatters Altersweisheit:
Bilanz
Wir alle haben viel verloren.
Täusche dich nicht: Auch ich und du.
Weltoffen wurden wir geboren.
Jetzt halten wir die Türen zu
Vor dem und jenem. Zwischen Schränken
Voll Kunststoffzeug und Staubkaffee
Lügen wir, um uns nicht zu kränken.
Und draußen fällt der erste Schnee…
Wir fragen kalt, die wir einst kannten:
Was machst denn du, und was macht der?
Und wie wir in der Jugend brannten….
Jetzt glühn wir anders. So nie mehr.
(Eva Strittmatter)
All diese Dichtungen sind Erbschaften der literarischen Romantik. Am Ende des Lebens bleiben solche Feste als schöne Erinnerungen. Mit ein wenig Glück in einem Altenheim mit Blick auf die Waldeinsamkeit oder auf die Elbe bei Hamburg und hoffentlich nicht Pflegestufe III.

Nach Karl Joseph Stieler – Meyers Konversationslexikon, 1906 (Quelle, Wikipedia)