Ludwig Tieck zum 250. Geburtstag

Geboren 1773 in Berlin, in jener Alterskohorte der legendären Early seventies: Hegel und Hölderlin (1770), Novalis (1772), Friedich Schlegel (1772), Heinrich Wackenroder (1773) und unweit später dann Schelling (1775), E. T. A. Hoffmann (1776) und Heinrich von Kleist (1777).

Er war einer jener Romantiker, die irgendwann in Vergessenheit gerieten. Sein Freund Wackenroder, mit dem er jene legendären Wanderungen durchs Fränkische unternommen hatte und die den Stoff für den Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“ abgaben, starb früh – bereits 1798. Was von dieser wunderbaren Freundschaft blieb, ist deren Gemeinschaftswerk, jene kunsttheoretischen Essays in den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“, darin es um die Malerei, um die Kunst, um Nürnberg und damit auch um Albrecht Dürer und als Gegenpol dazu um Raffael da Urbino ging: das Altdeutsche und das Südländische, Italiens Himmel, Italiens Leichtigkeit und jener deutsche Zug: das fränkische Nürnberg als Gegenmodell und zugleich die Vermittlung beider Bereiche, auf alle Fälle aber, im Sinne der „Querelle des Anciens et des Modernes“, setzte sich diese Ästhetik vom Vorbild der Antike als Maßgabe der Kunst ab. Religion war Kunst und Kunst Religion. Es war die Hochzeit der literarischen Romantik. Diese Zeit aber ist vergangen und von den vergangenen Zeiten, die wir die Frühromantik nennen, heißt es 1844 bei Tieck in seiner Vorrede zum „Phantasus“ an August Wilhelm Schlegel:

„Es war eine schöne Zeit meines Lebens, als ich Dich und Deinen Bruder Friederich zuerst kennen lernte; eine noch schönere als wir und Novalis für Kunst und Wissenschaft vereinigt lebten, und uns in mannichfaltigen Bestrebungen begegneten. Jetzt hat uns das Schicksal schon seit vielen Jahren getrennt. Ich verfehlte Dich in Rom, und eben so später in Wien und München, und fortdauernde Krankheit hielt mich ab, Dich an dem Orte Deines Aufenthaltes aufzusuchen; ich konnte nur im Geist und in der Erinnerung mit Dir leben.“

Da war ein Gären, ein Symphilosophieren, eine neue Form von Gemeinschaft, eine neue und andere Weise von Poesie und Poetik und vor allem auch geriet die Bedeutung des Märchens zentral, wie Novalis es in seinem Bildungsroman „Heinrich von Ofterdingen“ reimte, jener Roman, der zugleich eine Antwort auf sowie eine literarische Kritik an Goethes „Wilhelm Meister“ war:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die so singen, oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die [freye] Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit wieder gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die [alten] wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Eingesponnen in jenen Geschichten, zeigt sich das Wahre und vertilgt jenes verkehrte Wesen, für das wenige Jahre später Hegel den Begriff der Entzweiung prägte. Aufstieg zu den höchsten Höhen, aber auch in die Tiefen, denn hinab geht der Weg und ins Innere, Gnothi seauton, und dies nicht im Medium der Philosophie, sondern mittels Kunst. Und so heißt sinnvoller Weise auch eine der Gemeinschaftsarbeiten von Wackenroder und Tieck „Phantasien über die Kunst“. Im Medium des Begriffs über den Begriff hinaus zugelangen. Das „Literarisch-Absolute“, wie ein Ende der 1970er Jahre von Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy herausgegebener und in Frankreich Furore machender Sammelband hieß, darin jene zentralen Texte der Frühromantiker abgedruckt waren. Doch all das, diese Gemeinschaft hielt nur kurz. Tieck aber lebte noch lange, die Jenaer Frühromantik war schon Geschichte, jene Gemeinschaft im Haus in der Leutragasse aufgelöst und jene Geister in alle Richtungen zerstreut: diese einmalige Gemeinschaft eines gemeinsamen Denkens, Dichtens und Philosophierens und Streitens.

Die Bedeutung Tiecks für die moderne Literatur, von der Romantik bis zum Realismus, von seinem Briefroman „William Lovell“ von 1795/96 bis hin zu dem Historienroman Vittoria „Accorombona“ (1840) ist nicht zu unterschätzen. Arno Schmidt etwa lobte Tieck und widmete ihm einen Radioessay („‚Funfzehn‘. Vom Wunderkind der Sinnlosigkeit“). Lange stand Tieck freilich im Schatten – eher der romantische Märchenonkel denn der gewitzte Erzähler wie auch jener Erzähler von Abgründen und Ichspaltung. Der Schrecken und das zerrissene Ich brachen vielleicht nicht so heftig in seine Dichtung ein wie bei seinem Zeitgenossen E.T.A. Hoffmann. Nimmt man den „Phantasus“ und den darin eingebetteten Reigen von Geschichten und Gedichten, so bleiben nicht nur jene Märchen vom „Blonden Eckbert“ und dem „Runenberg“, sondern die Abfolge von Bildern, Geschichten und Novellen, die an Boccaccios „Decamerone“ erinnert; eine Form von freier Geselligkeit, Erzählen als Lebensform und eine gebildete Gesellschaft, wie wir sie auch in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ finden. Insofern sollte man diese einzelnen Märchen immer im Kontext des „Phantasus“ verstehen, darin sie erzählerisch eingebunden sind. Doch bereits früh schon bringen Tiecks Reise- und Landschaftsbeschreibungen einen anderen Ton in die Literatur:

„die berührigen, muntern Franken, in ihrer romantischen, vielfach wechselnden Umgebung, denen damals ihr Bamberg ein deutsches Rom war; …“ (Tieck, Phantasus)

Und dies auch im Blick auf Nürnberg, jene Dürer-Stadt, die bereits in den zusammen mit seinem Wanderfreund Wackenroder geschriebenen „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ eine zentrale Rolle spielte:

„Es ist gut […], daß die Menschen verschieden denken und sich auf mannigfaltige Weise interessiren, doch war die ganze Welt damals zu einseitig auf ein Interesse hingespannt, das seitdem auch schon mehr und mehr als Irrthum erkannt ist. Dieses Nord-Amerika von Fürth konnte mir freilich wohl neben dem alt-bürgerlichen, germanischen, kunstvollen Nürnberg nicht gefallen, und wie sehnsüchtig eilte ich nach der geliebten Stadt zurück, in der der theure Dürer gearbeitet hatte, wo die Kirchen, das herrliche Rathhaus, so manche Sammlungen, Spuren seiner Thätigkeit, und der Johannis- Kirchhof seinen Leichnam selber bewahrte; …“ (Tieck, Phantasus)

Immer wieder kollidiert die Moderne der Sattelzeit mit einem imaginierten Raum von Unverstelltheit, der in einer anderen Zeit liegt und zugleich die Utopie einer anderen Moderne abgibt: zukünftige Vergangenheit.

In einer umformulierte Widmung des Phantasus an Augst Schlegel heißt es dann, mit Blick auf Jena und jene herrlichen Tage:

„Jene schöne Zeit in Jena ist, obgleich mich bald die Gicht zum erstenmal dort schmerzhaft heimsuchte, eine der glänzendsten und heiteren Perioden meines Lebens. Du und Dein Bruder Friedrich – Schelling mit uns, wir alle jung und aufstrebend, Novalis-Hardenberg, der oft zu uns herüber kam: diese Geister bildeten gleichsam ununterbrochen ein Fest von Witz, Laune und Philosophie.“

Literatur aber arbeitet sich durch die Zeiten. „Ich war elf, und später wurde ich sechzehn. Verdienste erwarb ich mir keine, aber das waren die wunderbaren Jahre.“ So schreibt Truman Capote in seiner „Grasharfe“. Und später mit Eva Strittmatters Altersweisheit:

Bilanz
Wir alle haben viel verloren.
Täusche dich nicht: Auch ich und du.
Weltoffen wurden wir geboren.
Jetzt halten wir die Türen zu
Vor dem und jenem. Zwischen Schränken
Voll Kunststoffzeug und Staubkaffee
Lügen wir, um uns nicht zu kränken.
Und draußen fällt der erste Schnee…
Wir fragen kalt, die wir einst kannten:
Was machst denn du, und was macht der?
Und wie wir in der Jugend brannten….
Jetzt glühn wir anders. So nie mehr.
(Eva Strittmatter)

All diese Dichtungen sind Erbschaften der literarischen Romantik. Am Ende des Lebens bleiben solche Feste als schöne Erinnerungen. Mit ein wenig Glück in einem Altenheim mit Blick auf die Waldeinsamkeit oder auf die Elbe bei Hamburg und hoffentlich nicht Pflegestufe III.

Nach Karl Joseph Stieler – Meyers Konversationslexikon, 1906 (Quelle, Wikipedia)

Israel und Nick Cave – zum 75. Jahrestag

Songs zum Über-die-Landstraße mit 100 in Brandenburg und in Sachsen dann fahren. Mit Gedanken an jene Schöne auf ihrem Zauberberg. The Vortex. Verwirbeltes. Großartige und wunderbare Musik, ein Musiker, den ich seit meiner Jugend, seit meiner Twen-Zeit und bis in die Gegenwart schätze und liebe. Und daß er sich nicht dem Druck und Dreck des antisemitischen BDS beugte und trotz Haß von seiten der Antisemiten in Israel auftritt! Vor allem aber macht Nick Cave Musik, die bis heute gut ist und die gilt!

Eretz Israel!

Jacques Dutronc: Die Tonspur zum 80. Geburtstag

Kurz vor Mitternacht, aber es geht noch zum Gratulieren: Jacques Dutronc wird heute 80 und es ist Musik, die mich mit Frankreich verbindet. Und mit einer besonderen Lebensweise. Und mit einem jener Stadtteile von Paris, der auf den Namen Saint-Germain-des-Prés hört.

Und wenn Paris um vier oder um fünf erwacht, dann ist es in der Tat besonders und schön und das habe ich erfahren, als ich nachts von einer Frau nach Hause ging. Die mich allerdings rausgeschmissen hat, und so mußte ich vom Montparnasse zurück zum Montmatre, wo mein Hotel war, zu Fuß spazieren. Aber das war mir egal. Ich lasse mir nicht Emanzipation von Frauen erklären, die nicht emanzipert sind. Ich bin da störrisch. Am Ende sind es dumme Streitereien von dummen jungen Menschen. Die Stadt zur Nacht und zum erwachenden Morgen hin jedoch bleibt schön. Unvergänglich. Und an Paris sind für mich immer noch verzückend all die Namen der Straßen und der Métros, frei nach Peter Handkes „Métro Balard-Charenton“: Port de la Chapelle, Odéon, Maubert Mutualité, Place Monge, Anvers, Porte de Clignancourt, Ségur, Place Dauphine, Trocadéro, Liège (wir sagen Lüttich) – da wo der Nachtzug von Köln nach Paris irgendwann Mitte der 1980er Jahre durchfuhr: gelbes, belgisches Licht nachts an Bahnhöfen und Kohlereviere: Bonjour Tristesse. Arts et Métiers. All diese Namen, gereiht wie ein Gedicht, bis heute Erinnerungen an Orte und Straßen. Paris eben, oft profan. Alles Gute zum Geburtstag für ein besonderes Lebensgefühl. Paris en nuit.

Bertolt Brecht – geboren am 10. Februar 1898 in Augsburg

Vom armen B.B.

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern. 
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein 
Als ich in ihrem Leib lag. Und die Kälte der Wälder 
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein. 

In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang 
Versehen mit jedem Sterbsakrament: 
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein. 
Mißtrauisch und faul und zufrieden am End. 

Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich setze 
Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch. 
Ich sage: es sind ganz besonders riechende Tiere 
Und ich sage: Es macht nichts, ich bin es auch. 

In meine leeren Schaukelstühle vormittags 
setze ich mir mitunter ein paar Frauen 
Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen: 
In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen. 

Gegen Abend versammle ich um mich Männer 
Wir reden uns da mit „Gentlemen“ an. 
Sie haben ihre Füße auf meinen Tischen 
Und sagen: Es wird besser mit uns. Und ich 
Frage nicht: Wann? 

Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen 
Und ihr Ungeziefer, die Vögel fängt an zu schrein. 
Um die Stunde trink ich mein Glas in der Stadt aus 
Und schmeiße 
Den Tabakstummel weg und schlafe beunruhigt ein. 

Wir sind gesessen, ein leichtes Geschlechte 
In Häusern, die für unzerstörbare galten 
(So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan 
Und die dünnen Antennen, die das atlantische Meer unterhalten). 

Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie 
Hindurchging, der Wind! 
Fröhlich machet das Haus den Esser: Er leert es. 
Wir wissen, daß wir Vorläufige sind 
Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes. 

Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich 
Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit 
Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen 
Aus den schwarzen Wäldern in meiner Mutter in früher Zeit. 

Günter Wallraff zum 80. Geburtstag

Heute wird Günter Wallraff 80 Jahre. Seine Industrie- und Betriebs-Reportagen, etwa zum Gerling-Konzern in Hamburg, seine Bundeswehr-Reportagen, seine Blicke ins Dunkeldeutschland und seine BILD-Bücher waren das erste, was ich las, als meine politische Sozialisation 1979, 1980 begann: die Bücher erschienen damals beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch: Ich halte solche Blicke – gleichsam in den Maschinenraum der Gesellschaft, in ihre Heizkeller und zu solchem Heiz- und Hetzmilieu gehörte auch BILD – nach wie vor für wichtig, und neben einer Theorie als Gesellschaftskritik stehen solche Berichte in der Tradition von Engels früher Studie zur Qualitativen Sozialforschung, nämlich „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“.

Bis heute ist Wallraff investigativ tätig und berät Rechercheteams. Wallraff arbeitete nie vom Schreibtischstuhl aus. Er war vor Ort, er war bei der BILD-„Zeitung“ Hannover der Mann, der Hans Esser war, er war mit „Ganz unten“ der Türke Ali. Man kann mit Fug und Recht sagen, daß dieses Buch Mitte der 1980er Jahre wohl zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik einer Vielzahl von Menschen, die nicht unbedingt politisch waren oder die sich kaum für solche gesellschaftlichen Zusammenhänge interessierten, die Lage der sogenannten Gastarbeiter anschaulich machte. Lange Zeit kamen jene Gastarbeiter allenfalls als Objekte von Türkenwitzen vor und nicht als Menschen, die hier lebten und vor allem jene Drecksarbeit taten, für die wir uns zu schade waren, ansonsten aber waren sie unsichtbar für uns. „Ganz unten“ leistet zu solcher Aufklärung einen erheblichen Beitrag. Aber Wallraff tat mehr noch. Er begab sich auch politisch in Gefahr. So schrieb „Tagesspiegel“ heute über Wallraff:

„In Solidarität mit griechischen Freunden, die vom Regime der Obristen verfolgt wurden, kettete sich Wallraff im Mai 1974 in Athen an einen Laternenpfahl und verteilte Flugblätter. Er wurde inhaftiert, gefoltert, verurteilt, und kam nach dem Sturz der Militärdiktatur im Juli darauf frei. Unbeirrt nahm er es im Jahr danach mit Portugals 1974 gestürztem Diktator Spinola auf, gab sich bei dessen Besuch in Deutschland als Unterhändler von Franz-Josef Strauß aus, mit Waffen im Angebot. Wallraff erfuhr von Spinolas Putschplänen und vereitelte sie, indem er sie öffentlich machte. 1983 schlüpfte Wallraff für zwei Jahre in die Rolle des türkischen „Gastarbeiters Ali“, unter anderem bei McDonald’s und im Thyssen-Konzern. Er erlebte mangelnden Arbeitsschutz, Rassismus, Schikanen – und schrieb darüber.

Sein Buch „Ganz unten“ kam ganz nach oben auf den Bestsellerlisten, übersetzt wurde es in 38 Sprachen, verehrt wurde der Autor in der Türkei. Doch der Erfolg weckte auch Neid und Ärger. Von ganz links warf man Wallraff vor, sich für Reformen zu stark auf das System, die Gewerkschaften einzulassen. Von rechts wurden die Undercover-Recherchen kriminalisiert – schon der Name „Wallraff“ versetzte Konzerne in Angst und Schrecken.

Besonders viele Anwälte mobilisierte der Springer-Verlag, nachdem Wallraff 1977 der Coup geglückt war, unter dem Namen Hans Esser in Hannover beim Boulevardblatt „Bild“ anzuheuern. „Esser wie Messer“, stellte er sich dort gern vor. In seinem Bestseller „Der Aufmacher“ schilderte Wallraff die an Skrupeln armen Methoden des Blattes. Springer heftete mit Wolf Schneider eigens einen Mann „zur besonderen Verwendung“ an seine Fersen, der ihm hinterherreiste, und im Publikum Gegenrede übte, wenn Wallraff das Buch vorstellte. Schneider wurde 1979 Leiter der neu gegründeten Henri-Nannen-Schule für Journalismus, was Wallraff entsetzte.“

Aber das Leben ist ambivalent: Schneider hat zugleich ein gutes Buch geschrieben, das alle Journalisten, besonders die Kindermenschenjournalisten, immer auf dem Nachtisch haben sollten: Nämlich „Deutsch für Profis“.

Inzwischen mögen die Bücher von Wallraff lange zurückliegen und jene Reportagen Vergangenheit sein. Doch lesenswert sind sie bis heute, denn sie liefern ein gutes Stück bundesrepublikanischer Sozialgeschichte.

Harald Schmidt zum 65. Geburtstag

Die beste Würdigung Schmidts ist es vielleicht, ihn einfach selber sprechen zu lassen und eine seiner Shows zu zeigen. Diesmal über Gerhard Schröder: „Die Hausfinanzierung von Gerhard Schröder“. „Der Mann, der nicht einmal weiß, wie man Haarefärben schreibt.“

Jene Phrase „Er fehlt uns“ ist allerdings verkehrt. Denn er ist immer noch da: eben weil er nicht mehr derart präsent ist und wir angesichts dessen, was uns Kanäle wie Youtube oder das Fernsehen bieten, eine bittere Enttäuschung spüren. Und bei all dem Schwachfug und Minderleistern wie Jan Böhmermann oder der Dauergrinsegrindmaschine Aurel Mertz tritt die Disprepanz zwischen Größe und Bedeutungslosigkeit nur um so mehr zutage. Gerade durch Schmidts Abwesenheit wird also der Mangel und das Mindere spürbar. In diesem Sinne fehlt uns Harald Schmidt ganz und gar nicht, sondern er schärft mit seinem Witz immer wieder neu uns die Sinne und den Verstand.

Die Tonspur zu Alexandras 80. Geburtstag

„Der Traum vom Fliegen“, zum Ende der 1960er Jahre und eines dieser Lieder, die einem seit der Kindheit und seit es zum ersten Male gehört ward nicht mehr aus dem Kopf gehen: sozusagen die Kurzfassung von Hans-Christian Andersens Märchen „Der Tannenbaum“. Es mag dieser Alexandra-Text zunächst kleinbürgerlich erscheinen: Der Wunsch, hinaus in die große Welt und wenn man dann, wie der Tannebaum oder wie das kleine schöne Blatt an jenem herrlichen Baum, in die weite Welt trudelt, weg und fort von seinem Platze, so entdecken wir, wie schön und wesentlich jene Augenblicke, jene Routinen, jene dem Anschein nach langweiligen Stunden waren, von denen wir uns wegsehnten. Ein wenig steckt darin auch jenes Blochsche „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Es geht die Reise hinaus und bei Bloch vom Ich zum Wir. Bei Alexandra und bei Andersens schönem Märchen bleibt aber eine Sehnsucht, und im Vergehen erst, im Ende bemerken wir unseren Anfang.

Selige Sehnsucht und Weltkörper. Zu Novalisʼ 250. Geburtstag

„Wenn man aber bisher noch nicht philosophirt hätte? sondern nur
zu philosophieren versucht hätte? – so wäre die bisherige Gesch[ichte] d[er]
Philosophie nichts weniger, als dies sondern nichts weiter, als eine Geschichte
der Entdeckungsversuche des Philosophirens.“
(Novalis, Hemsterhuis- und Kant-Studien)

„Nämlich zu Haus ist der Geist
Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimat“
(Hölderlin, Brod und Wein)

Er ist einer der liebsten Denker mir: ein düsterer freilich, was die Aussichten anbelangt, und ein heiterer zugleich, ein intellektueller Erdinnengänger, wenn wir an seinen Bildungsroman „Heinrich von Ofterdingen“ denken, und ein luftreicher Überschäumer, wenn er in seinen Fragmenten die Philosophie denkt, sprudelnd im Geist: jener Gelehrte und Bergbau-Meister, Salinenassessor und Dichterdenker Georg Philipp Friedrich von Hardenberg. Und deshalb soll gerade in diesen Zeiten jenem Manne gedacht werden, der nicht nur Dichter, sondern zugleich Philosoph war. Symphilosophie, wie sie auch seine Freunde die Gebrüder Schlegel und Tieck andachten, damals 1797 in Jena, gemeinsames Denken, gemeinsames Leben, gemeinsames Wandern und eine unerhörte Philosophie, wie es sie bisher nicht gab:

„Ächtes Gesammtphilosophiren ist also ein gemeinschaftlicher Zug nach einer geliebten Welt – bey welchem man sich wechselseitig im vordersten Posten ablößt, auf dem die meiste Anstrengung gegen das antagonistische Element, worinn man fliegt, vonnöten ist. Man folgt der Sonne, und reißt sich von der Stelle los, die nach Gesetzen der Umschwingung unseres Weltkörpers auf eine Zeitlang in kalte Nacht und Nebel gehüllt wird. / Sterben ist ein ächtphilosphischer Act/ v[on] mir.“ (Novalis, Hemsterhuis- und Kant-Studien)

Dichten und Denken im Fragment, vielleicht auch, frei nach Heine, einer der ersten Posten im Freiheitskampf der Menschheit, und zugleich im Hinauswurf ins All und zu den Sternen, aber nicht immer zum Licht, fast ein wenig Major Tom und einsam in Gemeinschaft im kalten Weltenraum. Aufkommender Nihilismus, wofür Nietzsche rund 90 Jahre später jene Redewendung vom „unheimlichsten aller Gäste“ prägte. Ansatz und Abdrift und um diese kalte Nacht und den Nebel zu ertragen, braucht es einen Gemeinsinn: aber einen anderen sensus communis als Kant ihn sich andachte und weniger im Modell einer herkömmlichen Kommunikation, sondern als Gemeinschaft freier Geister. Darin liegt das Moderne von Novalis. Aber noch ist das All und sind die bestirnten Himmel freundlich gesonnen:

„Das Weltall zerfällt in unendliche, immer von größeren Welten wieder befaßten Welten. Alle Sinne sind am Ende Ein Sinn. Ein Sinn führt wie Eine Welt allmälich zu allen Welten.“ (Novalis, Heinrich von Ofterdingen)

Hen kai pan und all die Bilder für Naturphilosophie, die doch immer auch den Mensch meinen muß. Aus dem Zerfall dennoch das Gemeinsame zu denken, in Erdenstaub und Wanderschaft, in Träumen und Fabelwelten, wie in jenem Novalisschen Bildungsroman, der eine Antwort und zugleich eine Kritik des „Wilhelm Meister“ sein sollte – jenem Ereignis, wie Friedrich Schlegel es in seinen Athenäums-Fragmenten formulierte, das zusammen mit Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95 und der Französischen Revolution dafür stand, die größten Tendenzen des Zeitalters auszumachen.

Und es gab zugleich einen anderen Nexus, der unter der Oberfläche wirkte: Novalis und Hölderlin. Obwohl sie einander nie begegneten und einander nicht kannten oder gar Briefe wechselten, korrespondierte da ein Denken: Wie auch beim zwei Jahre zuvor geborenen Friedrich Hölderlin existiert in den Gewittern des ausgehenden 18. Jahrhunderts – jene Französische Revolution, der Spinoza-Streit und Goethes „Werther“ wie auch seiner „Lehrjahre“– ebenso bei Novalis eine Form des Denkens und Schreibens, wo sich nicht einfach mehr die strikte Scheidung zwischen Literatur hie und Philosophie da aufrechterhalten ließ. Wobei im Unterschied zu Hölderlin die Textproduktion zu den Fragen der Philosophie bei Novalis erheblich umfangreicher ausfällt: Logologische Fragmente, Fichte-Studien, Hemsterhuis- und Kant-Studien, das Allgemeine Brouillon und Blüthenstaub sowie „Dialogen und Monolog“, viele hundert Seiten und wie sich die Gedanken des Anfang 20-Jährigen in philosphischen Fragmenten, Sentenzen und Skizzen ausbreiten und sich ausprobieren, während bei Hölderlin noch viel stärker als bei Novalis sich jenes Durchdringen von Sprache, Sein, Denken und Welt in seiner Dichtung selbst findet. Etwas zu sagen, was sich mit den Mitteln normaler Sprache und mit den Mitteln diskursiver Philosophie und in ein System gebracht nicht in dieser Weise sagen läßt.

Für dieses neue Denken, diese andere Dichten, diese erweiterte Philosophie bürgerte sich, um solch Neues in einen Begriff zu fassen, die Rede von der Frühromantik ein: bei Schlegel hießt solcher Überschuß Universal- oder Transzendentalpoesie: „Die Poesie die Potenz der Philosophie, die Philosophie die Potenz der Poesie“ (Fr. Schlegel). Ähnlich hätte es auch Novalis schreiben können. Symphilosophieren. Hölderlin wird man im strengen Sinne nicht zu den Frühromantikern zählen können. Doch die Kritik des Systemdenkens einte beide Autoren. Anders als deren Zeitgenossen Hegel und Schelling (zumindest der von „System des transzendentalen Idealismus“) brachten weder Novalis noch Hölderlin Systeme des Denkens hervor, sondern sie unterminierten solches System mit Fragmenten und in einer beständigen Umschrift ihrer Dichtung. Beide Philosophen-Dichter gehören einer Alterskohorte an. Und beiden Dichterphilosophen kam das selbständige Leben um 1801 bzw. 1802 abhanden: dem einen durch Tod, dem anderen durch einen Wahnsinn. Beide zog es in jene Ferne, die wir heute die Südsee nennen:

Nein! Freunde kommt, laßt uns entfliehen
Den Fesseln, die Europa beut,
Zu Unverdorbnen nach Taiti ziehen
Zu ihrer Redlichkeit.

Und laßt uns da das Volk belehren
Wie Orpheus einstens tat;
Das Saitenspiel soll ihrer Wildheit wehren
Errichten einen Staat,

Wo nur Natur den Szepter führet,
Durch weise Künste unterstützt,
Und jeder in dem Stand, der ihm gebühret,
Dem Vaterlande nützt.
(Novalis, An meine Freunde, Gedichte / Die Lehrlinge zu Sais)

Und Hölderlin in seinem berühmten Dezemberbrief von 1801, kurz vor seiner Reise nach Bordeaux als Hauslehrer, an seinen Freund, den Dichter Casimir Ulrich Boehlendorff:

„Ich habe lange nicht geweint. Aber es hat mich bittre Thränen gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jezt zu verlassen, vielleicht auf immer. Denn was hab‘ ich lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen. Deutsch will und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und die Nahrungsnoth nach Otaheiti triebe.“

Wir hören noch hier den Hyperion-Ton. Einer der letzten Briefe Hölderlins vor seiner Abreise. Der „freie Gebrauch des Eigenen“ (Hölderlin), der freie Gebrauch des Nationalen verband beide. Während Hölderlin in schwäbischer Landschaft jenen Atlas griechischer Orte fand und das Deutsche im antiken Griechenland, träumte Novalis einen ästhetischen Staat, in dem die Natur regiert, unterstützt durch die Kunst und damit in einer schönen Utopie vereint, wie er sie auch in „Glauben und Liebe oder Der König und die Königin“ in einer Eloge an das 1798 frisch gekrönte preußische Königspaar Friedrich Wilhelm III. und Luise von Mecklenburg-Strelitz niederschrieb. Gut aufgenommen wurde diese Schrift nicht: die Geburt der Politik aus dem ästhetischen Geist war des Preußens Sache nicht. Die schönen Künste sollten zieren, aber nicht regieren. Was Novalis entwarf und sich erschrieb, war ein Staat, der freilich anders als der Schillers nicht durch die Schönheit ins Reich der Freiheit gelangte, sondern mittel freier Natur, durch den Glauben und die Phantasie des Dichters geschaffen wurde; in gewissem Sinne auch ein Kolonie-Projekt wie in jenem Novalis-Gedicht geschildert, („Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist“, so Hölderlin in „Brod und Wein“); und im Gesang des Orpheus, mit neuen Anfangsbedingungen einer anderen Kolonie, versuchte jener Novalis, der Mühle und der Maschine zu entkommen:

„Im Glauben suchte man den Grund der allgemeinen Stockung, und durch das durchdringende Wissen hoffte man sie zu heben. Ueberall litt der heilige Sinn unter den mannichfachen Verfolgungen seiner bisherigen Art, seiner zeitigen Personalität. Das Resultat der modernen Denkungsart nannte man Philosophie und rechnete alles dazu was dem Alten entgegen war, vorzüglich also jeden Einfall gegen die Religion. Der anfängliche Personalhaß gegen den katholischen Glauben ging allmählig in Haß gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über. Noch mehr – der Religions-Haß, dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Noth oben an, und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey. Ein Enthusiasmus ward großmüthig dem armen Menschengeschlechte übrig gelassen und als Prüfstein der höchsten Bildung jedem Actionair derselben unentbehrlich gemacht. – Der Enthusiasmus für diese herrliche, großartige Philosophie und insbesondere für ihre Priester und ihre Mystagogen. Frankreich war so glücklich der Schooß und der Sitz dieses neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wissen zusammen geklebt war.“ (Novalis, Die Christenheit oder Europa)

Was hier zunächst und aus heutigem Blick wie Katholizismus und Frömmelei sich ausnehmen mag und auch als eine (vermeintlich reaktionäre) Kritik der Französischen Revolution, dürfte die Kirchenoberen dennoch wenig erfreut haben, da sich dieser Glaube ans Wunderbare gerade nicht aus einem Papsttum speiste, sondern aus der Freiheit des Denkens und als Revolution gegen jegliches Maschinelle und damit gegen die verdinglichte Welt auch der offiziellen Kirche. Novalis war eben kein Konvertit, sondern Kritiker des Systems: Die schöpferische Vielfalt der Sphärenklänge („Die Sonne tönt nach alter Weise/ In Brudersphären Wettgesang,/ Und ihre vorgeschriebne Reise/ Vollendet sie mit Donnergang“, so dichtete Goethe zum Himmels-Prolog des „Faust“) regredierte in der aufkeimenden Moderne der Sattelzeit ins Klappern: Wenn nur noch Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen, dann verstumpft der Klang des Lebens.

Allein dieses Bild einer sich selbst mahlenden Mühle wiegt alles auf, was in diesem Text auch und zunächst bedenklich erscheinen mag. Novalis schreibt Verdinglichungskritik aus dem Geist der Dichtung und einer ahnenden Phantasie: nicht in der kalten Präzision eines Marx zwar, wie dieser es vierzig Jahre später in den Frühschriften faßte, aber doch in der Lebendigkeit von dessen Denken. Die Maschinenmetapher steht im Kontext der Aufklärungskritik, und zwar als Aufklärung über den Menschen und sein Verhältnis zur Natur. Dialektik der Aufklärung ante portas, Aufklärung über uns selbst gleichsam, aber zu jenen Zeiten der Jahrhundertwende noch als Überschwang und im Gang der Phantasie. Schönheit des Glaubens, um zum Reich der Freiheit zu gelangen.

Man mag diesen Aspekt der Religion bei Novalis verspotten, zumindest beim naiven Betrachter, aber wenn wir bedenken, daß auch in Hegels Diktion in den Religionen die Völker ihre höchsten und besten Weisen der Vorstellung niederlegten, so mag dieses Religiöse als Moment und Konstitutivum von Sittlichkeit, Gemeinschaft und Gesellschaft doch weniger lachhaft erscheinen als es uns heute ist. Uns fehlt diese religiöse Musikalität, die zugleich auch eine Sache der Kunst ist, ohne daß es in Kunstreligion driftet, sondern wo Kunst und Religion eine Angelegenheit nicht nur des objektiven und absoluten, sondern auch des subjektiven Geistes sind:

„Wenn mich nicht körperliche Unruhe verwirrt, welches doch nicht häufig geschieht, so ist mein Gemüth hell und still. Religion ist der große Orient in uns, der selten getrübt wird. Ohne sie wäre ich unglücklich. So vereinigt sich Alles in Einen großen, friedlichen Gedanken, in Einen stillen, ewigen Glauben.“ (Novalis, Brief an Kreisamtsmann Just, November 1800)

Hen kai pan, zumindest hier, im Gemüt, im Krisenfall des Grübelns und der körperlichen Versehrtheit. Und in der Dichtung allemal.

„Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause.“ (Novalis, Heinrich von Ofterdingen)

Das mag wohl sein, denn das Ende unseres Lebensweges ist die Erde, das Wasser, die Luft oder das Feuer: eines der Urstoffe und Elemente. Dieses Denken eines Wurzelhaften, einer Herkunft als Verflechtung ist dialektisch wie auch die Dichtung Hölderlins.

Die schönsten Verse der Menschen
– nun finden Sie schon einen Reim! –
sind die Hardenbergenschen.

Und so möchte ich, frei nach Rühmkorfs „Lied“ mit einem der schönsten Zeilen der Lyrik des ausgehenden 18. Jahrhunderts enden, weil darin Liebe, Philosophie, Sinnlichkeit, Welt und ein Überborden des Denkens ihre Stätte haben:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Aufhebung der Entfremdung im Akt des Dichtens, des Singens und des Liebens. Doch diese Möglichkeiten sind uns im 20. und im 21. Jahrhundert nur noch bedingt gegeben. Kunst kennt Grenzen. Novalis gemahnt an eine Welt, die verschüttet ist. Sein Ton mag nach Unmittelbarkeit klingen. Anders aber als Hermann Hesse und Konsorten Beatnick geschieht dieser Schwung nicht im Kitsch, sondern in einer Emphase, die für uns Heutige kaum noch verständlich und auch kaum noch durchführbar ist. Es sei denn, wir gingen anders.

(Novalis-Ausgabe aus dem Aufbau-Verlag, DDR-Zeit)

Pier Paolo Pasolini zum 100. Geburtstag

Bei all dem Schrecklichen, was den Menschen in der Ukraine widerfährt, will ich den 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini nicht vergessen. Und vielleicht gerade deshalb, wegen dieser Kraft zum Widerstand gegen Unrecht und Diktatur und seinem Plädoyer für Freiheit ist an Pasolini zu erinnern. Ich habe seine Filme in den 1980er Jahren mit Lust und mit Begeisterung gesehen, den rätselhaften Film „Teorema – Geometrie der Liebe“ und auch seine Dramen aus der borgate: „Accattone “ und „Mamma Roma“ und ich habe mir auch sogleich damals die Romane gekauft – in dem hellkaffeesahnebraunen Einbänden, wie es zu dieser Zeit Mode war. Pasoline machte das, was jemand wie Adorno perhorreszierte: eine Mischung aus Dokumentation und Kunst. Aber er tat es so, daß es ob der Kraft der Bilder, der Darstellung und der Dialoge Adorno vielleicht doch ästhetisch gefallen hätte, so wie in „Gastmahl der Liebe“: jener Befragung der Menschen zu Liebe und Sex.

Wie der Tagesspiegel-Artikel richtig schrieb, schätzte ich Pasolini zunächst und primär als Künstler und dann erst als Intellektuellen. „Pasolini war in erster Linie Dichter und Erzähler, in zweiter Filmregisseur und in dritter Intellektueller und Publizist.“ Über die 1968er und an die Studenten gerichtet, schrieb er ganz richtig (sinngemäß und aus dem Kopf zitiert): „Was protestiert ihr für die Befreiung der Arbeiter? Die Arbeiter, die ihr befreien wollt, stehen euch gegenüber, wenn ihr auf die Polizisten Steine werft.“ Dieses Unkonventionelle schätze ich an Pasolini. Aber dennoch blieb er trotz unkonventionellem Denken, linker Politik treu, schrieb für den Klassenkampf und konnte doch keine Arbeiterklasse mehr finden. Die Vorstadtjugend in den borgate machte ein anderes Ding. Mit Marx gesprochen war dies eher das Lumpenproletatiat oder wie man heute sagt: Abgehängte. Klassenkampf ohne Klasse gleichsam.

Und wie zu jedem Osterfest muß man, so auch bald wieder, „Das 1. Evangelium – Matthäus“ sich anschauen. Wie da eine biblische Landschaft und Geschichte mitten nach Italien verlegt war und in was für gewaltigen, teils stillen Bildern in Schwarzweiß: eine reduzierte Ästhetik, die zugleich überwältigte – auch durch die Gesichter und die Züge der Schauspieler. Die Rollen – gespielt von Laien. Das ist wahrlich eine große Regiekunst.