Engelseis. Im Trakt, 18. Oktober

Hier nun die im letzten Blogbeitrag angekündigte Lovestory.

Vorbemerkung: Die folgende Geschichte vom Liebespaar Gudrun Ensslin und Bernward Vespers geht auf ein Schreibprojekt zurück, das Gunnar Kaiser 2018 ins Leben rief, und zwar eine Kurzgeschichte über bekannte Liebespaare der Literatur zu schreiben. Leider zerschlug sich das Projekt und so wurde dieser Text nie gedruckt. Gunnar Kaiser ist im Oktober 2023 an einem Krebsleiden verstorben. Ich habe über eines der interessantesten Liebespaare der bundesrepublikanischen Geschichte eine kleine Skizze gefertigt.

Engelseis. Im Trakt, 18. Oktober

Das Leben spult im Augenblick des Todes noch einmal in Bildern ab, so sagt man, und das ist kein Gerücht oder die Legende von Mystikern, die es den Wissenschaftlern und den Theologen zeigen wollen, und das ist auch kein idealistisches oder materialistisches Manifest vom Vorrang des Geistes vorm Hirn oder umgekehrt, daß da im Augenblick des Todes nur noch Hirn nachlebt und Neuronenzauber veranstaltet. Denn ich muß das wissen. Ich weiß das jetzt. Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Es passiert der Reigen an Bildern, wenn man an diesem Punkt steht, wo nichts mehr geht, weil ein Leben endet: daß es sich fügt. Beim Paniktod in der Zelle auf dem engen Raum. In der Angst, vor dem, was nun kommt, wenn du weißt, was geschieht, laufen diese Bilder kurz davor an. Alles sprang noch ein einziges letztes Mal zurück, bevor wie hier aufhören. Rückblenden und all der Furor meiner Zeit und Epoche, was wir taten und waren, unsere Kämpfe und unser Lieben, mein Bernward, wie das Private politisch wurde. Sie schießen auf uns! Wie damals. Wir drehten die dicken Dinger, so dachten wir, und am Rad der Geschichte. Wir trugen den Kampf in die Städte. Wir fuhren ein. Manches von der Zeit mit dir liegt inzwischen im Nebel. Manches von den Tagen in Tübingen mit dir in den frühen 1960er Jahren. Geh endlich fort, Bernward! Aber du bist es ja längst. Hier im Trakt. Eppendorfer Schlaf mit Tabletten. Bücherpläne, Projekte, Anthologien, die wir in Tübingen planten, das weiß ich noch. Diese Literatur, von deinem Ich her geschrieben und die des Nazi-Vaters. „Letzte Ernte“. Gehetzt, gewütet, gedichtet. Bernward Irrsinnsreise, wie ich dich nannte. Ich habe in Paris im Hotelbett gelegen und dein Buch gelesen, deine Reise, unser gemeinsames Kind. Nein, es stimmt nicht, da war ich bereits weg und ein paar Monate später tot, als Jörg das Buch auftat. Ich habe all das gelebt, ich habe es nicht gelesen. Ich habe in Paris gelegen und ein neues Leben angefangen. Mit ihm, mit Andreas, mit diesem Schalk im Nacken. Grete und Hans, der fürchterliche Ahab und sein schmalgliedriger Smutje mit den kleinen und schön festen Brüsten. Nun geht das Zeichen, es ist weit nach zwölf und Mitternacht vorüber, aus der Wüste heraus im afrikanischen Staub, Mogadischu klingt wie ein Traumland, weit weg, das Radio, im Versteck, im Plattenspieler, Feuerzauber los; die Nachricht, die Nachrichten bloß. Es ist Nulluhrvierzig, gleich dreiviertel nach Mitternacht. Ich nehme den Stuhl, ich knote und knote es fest, wir knoten es haltbar, sie knoten, sie knoten ein Tuch, da hängt man gut und eng, sie werden gleich knoten kommen. Ich höre die Schritte im Gang, im siebten Stock. Sie sehen mich. Die ganze Zeit, sie hören uns. Nur wir. Reglos bleiben ist besser und weil sich nun die Tür öffnet. Und lose baumelnde Beine am Strick, am Zellenfenster. Ein weißes Auge gleich.

Dieses Arrogante in deinem Auftritt und doch ganz verdruckster Junge, das paßte ganz und gar nicht zueinander. Ich mochte das aber, deine Widersprüche, deine Verklemmtheit und deine Aggressivität, mit der du die Thesen zur Literatur vortrugst oder Literatur in Thesen hämmertest – ach was, deklamiertest, im Weinsuff, der Poser aus Tübingen, der um die Frauen buhlte, nicht nur um mich, um Ricke auch. Im Dreierpack. Dein Schwadronieren im Park, am Necker, die Häuser spiegeln im Fluß und Frost an den Schuhen von der Wiese im Abend, wie du täppisch den Arm um mich legtest und die Überlegenheit zu spielen versuchtest. Hölderlintage, die deutsche Misere, die sich durchzieht, und bleierne Zeit nun, durchzechte Nacht, Liebster, du konntest schön davon sprechen, als wir so endlos im Park gingen und uns in unsere Worte und in unser Sehnen verloren. Ein unendliches Gespräch wie wir glaubten. Männerding, das Frauending war zuhören und lauschen. Ich tat es nicht, ich sprach. Deine Haltung, deine Schüchternheit und deine Anmaßungen zogen mich. Intellektuelle Überheblichkeit stelltest du zu Schau. Ein lächerliches Anzugjackett trugst du beim ersten Mal, als wir uns beim Brunnen trafen, der nur in deiner Erinnerung ein Brunnen war und in Wahrheit doch nur eine Bank auf dem Marktplatz, Eitelkeit, in der du dich spreiztest, dein so unvorteilhaft dir stehender Nadelstreifenanzug mit Weste, Uhrkette samt einer Uhr, die sich als schäbig erwies. In der Hose staksten verbeulte Cordhosenbeine und dazu ein weißes Nyltest-Hemd. Abends das Hemd auswaschen und auf den Bügel hängen, morgens wieder das gleiche Hemd anziehen. Darüber ein Pullunder manchmal. Eine ausgeleierte Baumwollunterhose, wenn ich Dir den Cord abstreifte. Deine Zimmer-Buchte in den Tübinger Tagen, die wir heimlich aufsuchten, Damenbesuch verboten, eng im Roigelhaus, nichtschlagende Verbindung. Nicht ganz so links, wie wir das später anklingen ließen. Aber Leben sind veränderbar. Was liegt zwischen diesen 15 Jahren? Ein beschauliches Tübingen, die neue Bibliothek im Hegelbau, wo wir lasen und studierten, Walter Jens‘ Kolloquium am Donnerstag, wo alles, was Namen hatte, zuhörte, Berlin, das Kind und der Computer von Horst Herold – ein Name wie von Nabokov. Oder von Disney. Ein Leben im Stift. Deine Schreibübungen, dein Übervater, dessen Vermächtnis du vollstrecken wolltest, aber das kam alles anders, als du es dachtest. Wie viel Wut und Gewalt ist für einen Ausbruch aus dem Käfig nötig, wie viel Stemmkraft, wie viel Denkkraft? Die Ideen müßten ästhetisch werden, die Revolution sinnlich spürbar machen. Vielleicht. Anschaulich zumindest haben Andreas und ich diese Ideen gemacht, die im Vorfrühling in Köpfen keimten, tickten und anschlugen – das fing in Tübingen an, 62, 63, daß da ein Geist wehte. „Praxis, du sagst es, Baby!“ Frei, ungebändigt tobten wir los. Optimismus der Tathandlungen war die Parole, die wir riefen, was wir auch lebten in dieser Keimzeit, die am Ende, Hölderlinturm, so bleiern wurde und nichts Offenes mehr hatte. Ungastlich. Und auch die gestundete Zeit, was wir da lasen. Das schießt jetzt alles zusammen in diesen Sekunden im Trakt, die lyrischen Verdichtungen der braven Germanistikstudentin von einst, die ich mal war. Studienstiftungswesen im dritten Anlauf immerhin. Anders als ich das damals dachte, geht das jetzt in der Praxis hier. Big raushole. Aber anders als geglaubt. Eine Art metaphysischer Flug. Ohne Funken. Ein Abgang. Ohne dich.

Aber es mußte sein. Ich bin die Aktive, ich habe einen Sprung getan. Du nicht. Los, sag es mir jetzt und gib es zu, kneif mich, beiß mich in die Brustwarze, in meine kleinen Brüste, fasse sie, umfasse die Hüfte! Saug sie und beiß mich, sag es einfach, das Wort, sag es mir! Küsse. Ich bin dabei gelähmt. Nimm mich. Aber das ist lange her. Als du dich nicht trautest und als du in der Besucherritze des Pensionsbettes verschwandst, weil das dumme Bett auseinanderglitt, als du endlich zur Sache kommen wolltest. Du warst sturzbetrunken. Wie so oft. Und lagst auf dem Boden. Ich glaube, du wolltest nicht. Nein, du konntest nicht. Physisch. Geistig. Worte.

Wir wollten das offenhalten, was sich Beziehung nennt, im Bürgerlichen, dieses Tübinger Nest und Pfarrerskram bei mir, darauf rotzten wir schließlich, und unter dem Kuppelparagraphen war es nie leicht, für die Nacht gemeinsam eine Unterkunft zu ergattern, uns miteinander zu paaren. Ich mochte es, wenn du mir deine Finger reinschobst. Oder die Zunge und später dein pralles Glied. Da gab es alle diese Buchprojekte, die er im Kopf hatte. Mein du. Mein unbeholfenes, freches, selbstgefälliges du. Er hat russische Lippen, dachte ich mir. Wußte er das? Die Deutsche Geschichte punkt Null ist gerade sechzehn Jahre her und wir fangen jetzt an, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Auch mit Gewalt. Wem die Fragen nicht brennen, bei dem zünden vielleicht die Antworten. So geht das, nicht anders. Heidelberg, Frankfurt, Kommando Petra Schelm. Zieht den Trennungsstrich, jede Minute!

Fast ein Medeaspiel dann. Das Felixkind ist fort und ich bin auf meiner eigenen Reise. Für ein Kind ist kein Platz, nicht hier und nicht anderswo. Primat der Praxis. Ich blicke mit Haß und Verachtung auf jene Zeit zurück, ich reise nun in dieser Zeit, nichts anderes mehr. Wir lösten unser Verhältnis, ich löste mein Verhältnis zu Welt. Ich bin nun Schauspielerin, war Schauspielerin bereits im Schultheater in Cannstadt, damals, und später in Frankfurt haben wir uns verkleidet, haben uns Perücken aufgesetzt, auf Andreas‘ Kopf, auf meinen Kopf, und auch auf den von Thorwald, im Frankfurter Kaufhaus nachts. Das Warenfetischding. Die ganze alte Scheiße. Es geschahen die unerwarteten Dinge, doch das Erwartete blieb aus. Knapp war die Zeit, knapp war unsere Zeit. Sie schießen wieder auf uns. Auf Ohnesorg damals, auf Dutschke. Osterunruhen. Wir hätten nichts von Bedeutung falsch gemacht, schriebst du mir in den Arrest. Und dabei haben wir uns geändert, schriebst du, und dabei ginge unsere Geschichte zuende, schriebst du. Wie du dich nun nach meinem Geschlecht sehnst, jetzt wo ich nicht mehr bei dir bin. Wie du wartetest, wie du mir die Briefe nach Preungesheim in den Knast schriebst und die Bücherpakete dazu und die Kosmetik, die ich wollte, weil es im Knast häßlich ist, wie du mit Felix in Berlin mit Liebe umgingst, unser Kind, und wie du hofftest.

Ich habe dich geliebt. Über jedes Maß, und das erinnere ich noch. Bis zum letzten Zug, jetzt am Knoten, Reisende, wir im Herbst 1962, Spanien, Europa, in die Estramadura, Cervantesspuren. „Er lebt in Texten“, sagte ich mir – sogar auf den Reisen. Großer Walfang dann später. In Chiffren schreiben, big raushole und Kassiber. Zweite Feuerbachthese, die bürgerlichen Fotzen wollten von ihrem Leben nicht lassen. Das geht durch den klaren Kopf, das Leben mit dir, jetzt hier, letzte Sekunden ohne Kairos. Dreiviertel nach Mitternacht nun. Feuerzauber vorbei. Mühlhausen. Aber da war ich schon nicht mehr dabei. Man sagt, der Mensch könne etwa zwei Minuten ohne Luft aushalten. Das kommt in etwa hin. In weniger als drei Minuten werde ich fort sein. So wie du es lange schon bist, mein Bernward, mein Andreas, nach Tübingen, nach Berlin, nach Eppendorf, 1971 nach den Tabletten. Wir bringen unsere Reise zu ihrem Ende, mein Geliebter, wir haben ein Kind. Call me!

„immer finde ich die altdeutsche Weisheit bestätigt, daß alle schwüre der liebe falsch werden, sobald sich etwas besseres findet, in unserm fall ist das weib der skruppellosere teil, aber das ist auch egal.“ (Bernward Vesper im Februar/März 1968 in einem Brief ins Gefängnis nach Frankfurt-Preungesheim an Gudrun Ensslin)

„‚Unsere‘ Geschichte mag zehnmal zuende sein, die Geschichte ist es nicht.“ (Gudrun Ensslin am 19. April 1968 in einem Brief aus dem Gefängnis Frankfurt-Preungesheim an Bernward Vesper)

Rezipierte Hintergrundliteratur:

Gudrun Ensslin/Bernward Vesper: „Notstandsgesetze aus Deiner Hand“. Briefe 1968/1969

Ingeborg Gleichauf: Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin

Michael Kapellen. Doppelt leben. Bernward Vesper und Gudrun Ensslin. Die Tübinger Jahre

Das RAF-Ding oder wie die Kindheit dieses in ein Miniaturwunderland brachte

Nun ist durch die Festnahme von Daniela Klette die RAF also wieder einmal im Gespräch. Ich weiß bis heute nicht, was ich von diesem RAF-Ding halten soll – gerade auch im Blick auf einen Facebook-Beitrag von Birgit Kelle anläßlich des nun in einer Neuauflage wieder erschienen Buches der Meinhof-Tochter Bettina Röhl: „Die RAF hat euch lieb“. Die Bundesrepublik im Rausch von 68 – Eine Familie im Zentrum der Bewegung. Ich kann die Apodiktik gegen Meinhof ganz nicht teilen, weil ich diese entsetzliche Entwicklung aus der Zeit heraus verstehe. (Den journalistischen und auch politischen Fanatismus von Meinhof teile ich nicht, sehr wohl aber manche ihrer Anliegen in den frühen Jahren als konkret-Autorin.) Ich halte es am Ende mit Rudi Dutschke – sanft war er, sanft wie alle echten Radikalen, wie Wolf Biermann 1979 in einem Nachruf damals sang. Und ich kann zugleich diese Aussagen von Meinhof zum Olympia-Massaker 1972 nicht im Ansatz goutieren. Das ist nicht nur Haß auf Israel, das ist dezidiert antisemitisch.

Zum Phänomen RAF etwas zu schreiben, ergäbe ein Buch – auch in biographischer Hinsicht als einer, der die 1980er Jahre mit einigen Sympathien für eine zutiefst radikale Linke der Autonomen erlebte und als Zaungast verfolgte. Ich kann die Kritik an der RAF und an Meinhof verstehen, was deren widerlichen Antisemitismus betrifft (und auch Meinhofs Umgang mit ihren Kindern) – das ging mir schon in den 1980er Jahren so, nachdem „Der Baader-Meinhof-Komplex“ von Stefan Aust erschien, und doch sehe ich zugleich die Verzweiflung dieser Leute nach dem 2. Juni 1967 und nach den Schüssen auf Rudi Dutschke dann knapp ein Jahr später.

Ich habe in den 1980er Jahren die frühe RAF teils mit Sympathie gesehen, was 1972 die Anschläge in Heidelberg und aufs Hauptquartier des V. US-Korps in Frankfurt/M betrifft: das hielt ich noch lange Zeit für richtig: Den entsetzlichen Krieg der USA in Vietnam gegen die Zivilbevölkerung in die USA tragen! Das war zumindest eine sinnvolle Reaktion, glaubte ich. Und zugleich doch auch naiv, ohne dabei auf die Sowjets zu sehen und jenen totalitären Kommunismus damit implizit zu tolerieren, von dem steindummen Vergleich der US-Bombardierungen mit Auschwitz und Endlösung in der RAF-Verlautbarung von 1972 zum Anschlag in Frankfurt ganz zu schweigen. Schleyers Entführung war bestialisch, zumal dabei Menschen erschossen wurden, die nichts mit seinen Verbrechen zu schaffen hatten. Allenfalls ohne Tote hätte diese Aktion einen Sinn ergeben, indem man Schleyer in seinem „Volksgefängnis“ derart verhört hätte, wie es die RAF tat, um ihn dann mit diesem an die Medien und die Bevölkerung weitergegebenen Wissen wieder freizulassen. Es möge die Öffentlichkeit über jenen Mann richten, der sich an Juden bereicherte.

Wenn von der RAF und den Toten aus ihren eigenen Reihen gesprochen wird und wurde, habe ich niemals „unsere Toten“ gedacht, schon damals in den 1980ern nicht. Es waren nicht „meine Leute“ und Rufe wie „Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen“ fand ich schon damals lächerlich, irgendwie saßen sie ja doch zu recht dort im Knast – was erwarteten sie? daß Helmut Kohl die Genossen zu einem Saumagen einlüde? Das ganze Genossentum, bis in die linken Bewegungen hinein, war mir immer suspekt. Aber ich hatte ein politische Interesse an diesem RAF-Ding einerseits. Und es war für mich die RAF zugleich ein Faszinosum.

Als Kinder der frühen 1970er Jahre spielten wir diese Fahndungen und diese Bilder, die wir im Fernsehen sahen, nach. Polizeisperren, Kontrollen, Schüsse. Mit den Matchbox- und Siku-Polizeiautos und sogar einen BMW gab es für die Terroristen, obgleich ich damals nicht wußte, daß BMW im Volksmund eben auch Baader-Meinhof-Wagen hieß. Polizei und Terroristen wurden mit Airfix-Figuren, Maßstab 1:72 nachgestellt. Besonders gut eigneten sich für die Polizei die Airfix-Soldaten der Briten und teils auch der Deutschen aus dem ersten Weltkrieg, weil sie Schirmmützen trugen. Für die Polizei in Demo-Ausrüstung mit Helm kamen die deutschen Soldaten der Wehrmacht und auch des ersten Weltkrieges und für den Bundesgrenzschutz die des Afrikacorps mit dem Mützen in Betracht. Die Panzerwagen der Polizei wurden durch Roco-Modelle der Schützenpanzer abgebildet und auch ein Schützenpanzerfahrzeug von Matchbox, das den BGS-Fahrzeugen, die auf den Flughäfen fuhren, im kindlichen Blick verblüffend ähnlich sah, kam zum Einsatz, wenn es darum ging, ein von Terroristen bewohntes Haus zu umstellen. (Das nur nebenbei für jene, die auch in diesen Zeiten aufgewachsen sind und solches wunderbares Spielzeug von Airfix, Matchbox und Roco gut kennen.)

Vermutlich habe ich die RAF vor allem und bis in die späten Jahre als ein ästhetisches Phänomen immer wahrgenommen und muß aus diesem Grunde nun bald einmal auch Frank Witzels Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ endlich lesen.

Und weil mich dieses Thema RAF seit Jahrzehnten im Bann hat, gibt es morgen oder übermorgen auch eine Liebesgeschichte dazu. Ich verspreche aber, daß diese nicht glücklich ausgeht – frei nach einem Lied von Georges Brassens: „Il n’y a pas d’amour heureux“.

Die Buchphotographie wurde der Facebookseite von Birgit Kelle entnommen

Was, nebenbei, die frühen Jahre der Studentenbewegung betrifft und auch den Weg von der Subversiven Aktion bis hin zu den Kaufhausbrandstiftungen, da sei unbedingt auf das im Hinblick auf die Ästhik instruktive Büchlein von Karl Heinz Bohrer verwiesen: „Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror“. Nämlich im Sinne einer Ästhetik des Schocks, der Überwätigung und eben auch, was dann später Bohrers Thema werden sollte, der Plötzlichkeit. Und auch auf diesen Blogbeitrag von mir::

Vom Kaufhausbrand, vom RAF-Land, von Irrtum und von Wirrwarrsound – Kunst und Praxis

„Eure ‚Ordnung‘ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon ‚rasselnd wieder in die Höh‘ richten‘ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: ich war, ich bin, ich werde sein!“
(Rosa Luxemburg, letzter Artikel in Die Rote Fahne, Nr. 14.
Jahrgang 1919, 14. Januar 1919: „Die Ordnung herrscht in Berlin“)

„Die intellektuelle Verzweiflung mündet weder in Weichlichkeit noch in den Traum, sondern in die Gewalt. (…) Es geht lediglich darum, zu erkennen, wie man seine Wut in die Tat umsetzen kann: ob man sich wie Verrückte, um Gefängnisse bloß im Kreis drehen oder ob man sie niederreißen will.“
(George Bataille, Das finstere Spiel (1929))

„Die Revolution sagt:
ich war
ich bin
ich werde sein“
(RAF-Auflösungserklärung März 1998)

Himmelfahrt schien mir ein guter Tag zu sein, um einen weiteren Text über die RAF zu schreiben bzw. in diesem Fall über eine Art Vorlaufgeschehen. Der Blogger che2001 hatte an dieser Stelle eine kleine Geschichte und einen Abriß der sozialen Bewegung gegeben und auch etwas zur Theorie des Antiimperialismus geschrieben. Diese Fragen haben mich spätestens zum Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts wenig, um nicht zu sagen gar nicht interessiert. Ich kam aus einer anderen Ecke, zwar nicht unbedingt politisch völlig anders, aber ich sah mich und sehe mich bis heute nicht als Teil irgendeiner Bewegungslinken, des Genossentums oder als jemand, der sich in irgendeiner sozialen Bewegung engagiert oder dort mitmacht, und ich weiß nicht einmal, ob ich mich selbst als links bezeichnen würde. Nein, vermutlich nicht.

Ich kam Anfang der 1980er Jahre von der Kunst, der Literatur, von der Ästhetik sowie den Ausläufern von Punk und Krachmusik wie der der Einstürzenden Neubauten, und einer an Marx, Hegel, Adorno, Benjamin und Marcuse orientieren Gesellschaftsanalyse her – das, was man klassischerweise Kritische Theorie nennt, deren Rezeption wesentlich durch einen jugendlichen Blick und damit durch eine politische Brille geprägt war, die sich Texte eben auch passend bog. Wobei mir Adorno in seiner Zurückhaltung gegenüber dem blinden Aktionismus der wilden Bürgerkindchen noch der liebste war. Diese Mischung philosophischer Texte zur Gesellschaft paarte sich – freilich alles rudimentär und kaum in einem systematischen, gründlichen Studium – mit französischem Einschlag: Sartre und auch Foucault; und dazu eine Minimallektüre Martin Heidegger, der ja in einem gewissen Sinne ebenfalls zu den französischen Denkern zählt, war doch Freiburg eine gute Zeit lang nach dem zweiten Weltkrieg in französischer Verwaltung und wurde Heidegger nachdem zweiten Weltkrieg vor allem in Frankreich von so unterschiedlichen – linken – Denkern wie Sartre, Lacan, Lyotard, Foucault, Deleuze und auch Derrida in aufgeschlossener Weise rezipiert.

Das ewige Denken in Oppositionen verstellte in diesen Fragen der Philosophie wie auch denen hinsichtlich der Gesellschaft den Blick und noch viel mehr geschieht hierbei die Einengung des Blickes durch einen vorgeprägten Referenzrahmen. Philosophie geht es nicht in unidirektionalem Zugriff um die unmittelbare Frage, wie mittels Praxis und Aktion Gesellschaft sich wandelt, gar revolutioniert, sondern sie nimmt Bedingungen von Denken in den Blick, fragt nach den Möglichkeiten von Praxis, fragt nach den Möglichkeiten ihrer eigenen Möglichkeit, fragt, wenn man im Feld der politischen Philosophie unterwegs ist, auch danach was Gemeinschaft und Gesellschaft überhaupt sind, unter bestimmten Bedingungen, fragt nach den Formen unseres Denkens, um solche Bestimmungen von Praxis überhaupt erst zu leisten, und dazu gehört zugleich die Besinnung und Bestimmung der Theorie. Ihre Fragen sind die nach dem Guten, dem Gerechten, nach der Freiheit und mit all dem verbunden insbesondere nach der Schönheit auch.

Was mich damals – neben dem Politischen – an der RAF bzw. an deren Anfängen interessierte, war die Verbindung von Kritik, Theorie und Praxis in Fragen der Gesellschaft und aufs Feld des Ästhetischen gewendet die Kombination von Phantasie, Surrealismus und Gewalt, und zwar als ästhetische Praktik, wie sie im Surrealismus angelegt war – aber eben nicht nur ästhetisch und als Kontemplation am Ende, wie sich zeigen wird. Oder um es mit einem kleinen Band von Karl Heinz Bohrer aus dem Jahr 1970 zu sagen: „Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror“. Nicht als Glorifizierung solchen Gewaltprojekts, das mag in den Jahren der Jugend und in einer politischen Naivität damals eine gewisse Rolle gespielt haben: man könne der schlechten Gesellschaft, man könne einer parlamentarischen Demokratie (mit all ihren Tücken freilich) mit einem Aktionismus beikommen – eine Art Verklärungshaltung, weil all die Aufstände gegen das sogenannten „System“ von Erfolglosigkeit gekrönt schienen, statt einmal die Perspektive zu verändern und den Gedanken auch zu wagen, daß all diese Veränderungen in kleinen Schritten geschehen – zumal in einem doch demokratischen System, das viele Spielräume zuläßt und über Öffentlichkeit, soziale Bewegungen und Debattenkultur zumindest Möglichkeiten besitzt. Zudem sind Morde und die Verletzung von Menschen, wie das schon bei der Baader-Befreiung 1970 geschah, keine Kunstaktionen, sondern fallen in die juristische Kategorie. Wie jeder andere Terror in einem Rechtsstaat auch.

In diesem Sinne bezieht sich die Bezeichnung „Surrealismus und Terror“ auf eine frühere Phase des Studentenprotests, im Grunde also eine Form von Widerstand seit Mitte, Ende der 1960erJahre, als es noch keine RAF gab; nämlich wie das in den politischen Happenings und auch den „Subversiven Aktionen“ betrieben wurde. Zu solchem Konzept gehören dann später auch die Aktionen der Kommune I in Berlin, die sich ihre Aktionen und vor allem ihre Provokationen der bürgerlichen, der teils kleinbürgerlichen Gesellschaft sehr genau von der Kunst abgeschaut hatten. Denn diese Aktionen hatten bereits in der Kunst der späten 1950er Jahre ihre Vorläufer, vor allem in der politisch-praktisch-ästhetischen Situationistischen Internationale und in der BRD in der SPUR-Gruppe in München, wo Dieter Kunzelmann mit beteiligt war. (Kunzelmann lebte später auch in der KI und war 1969 mitverantwortlich für einen – zum Glück gescheiterten – Anschlagsversuch auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin.)

Aber ebenso bestanden die Vorläufer solcher ästhetischen Entgrenzung in der Kunstform des Happenings der späten 1950er Jahre sowie beim Fluxus im Rheinland, der Wiener Gruppe, was die Entgrenzung der Literatur betraf, und dem Wiener Aktionismus, wobei der Begriff als solcher erst Ende der 1960er ins Spiel kam, aber die grenzüberschreitenden Kunstaktionen von Herman Nitsch und Günter Brus fanden bereits in den Anfang der 60er statt. Out of the limit.

Was alle diese letztgenannten Bewegungen jedoch im Unterschied zu den Situationisten und der SPUR-Gruppe ausmachte, war der Umstand, daß nicht unmittelbarer Agitprop (oder zumindest Formen desselben) das Ziel war und es floß auch nicht unmittelbar das Soziale als direkte politische Aktion in die Kunst ein, sondern diese Verweise stellten sich – etwa bei Beuys – erst auf vermittelte Weise ein. Das sollte sich vorab schon mit den Situationisten ändern, die wiederum (unter anderem) auf Bretons Surrealismus-Manifeste rekurrierten. Und diese Linie politischer, in die Gesellschaft aktiv eingreifender und ebenso einer entgrenzenden Kunst, die die Trennung von Leben und Kunst aufzuheben gewillt war – das also, was man die Souveränität der Kunst nennen kann-, zog sich bis zu jenen Aktionen der Berliner Kommune I. Dazu sei zunächst jenes von der K1 verbreitete Flugblatt sowie das zum Verständnis des Kontextes wichtige Flugblatt 6 zitiert, darin es einerseits um konkrete Politik, aber auch um eine Art Happening geht:

Flugblatt Nr. 6

Neue Demonstrationsformen in Brüssel erstmals erprobt

In einem Großhappening stellten Vietnamdemonstranten für einen halben Tag kriegsähnliche Zustände in der Brüsseler Innenstadt her.

Diese seit Jahren größte Brandkatastrophe Belgiens hatte ein Vorspiel. Zur Zeit des Brandes fand in dem großen Kaufhaus A l’innovation (Zur Erneuerung) gerade eine Ausstellung amerikanischer Waren statt, die deren Absatz heben sollte. Dies nahmen eine Gruppe Antivietnamdemonstranten zum Anlass, ihren Protesten gegen die amerikanische Vietnampolitik Nachdruck zu verleihen.

[…]

Der Verlauf des Happenings spricht für eine sorgfältige Planung: Tags zuvor fanden kleinere Demonstrationen alten Musters vor dem Kaufhaus mit Plakaten und Sprechchören statt und in dem Kaufhaus wurden Knallkörper zwischen den Verkaufsständen gezündet. Das Personal wurde an derartige Geräusche und Zwischenfälle gewöhnt. Die Bedeutung dieser Vorbereitungen zeigte sich dann bei Ausbruch des Feuers, als das Personal zunächst weder auf die Explosionen noch auf Schreie und Alarmklingeln reagierte. Maurice L. zu dem Brand: ‚Sie werden verstehen, dass ich keine weiteren Angaben über die Auslösung des Brandes machen möchte, weil sie auf unsere Spur führen könnten.‘

Das Feuer griff sehr schnell auf die übrigen Stockwerke über und verbreitete sich dann noch in den anliegenden Kaufhäusern und Geschäften, da die umgebenden Straßen für die anrückende Feuerwehr zu eng waren. Der Effekt, den die Gruppe erreichen wollte, dürfte wohl ihren Erwartungen voll entsprochen haben. Es dürften im Ganzen etwa 4000 Käufer und Angestellte in die Katastrophe verwickelt sein. Das Kaufhaus glich einem Flammen- und Rauchmeer; unter den Menschen brach eine Panik aus, bei der viele zertrampelt wurden; einige fielen wie brennende Fackeln aus den Fenstern; andere sprangen kopflos auf die Straße und schlugen zerschmettert auf; Augenzeugen berichteten: ‚Es war ein Bild der Apokalypse‘; viele erstickend schreiend. Das Riesenaufgebot an Feuerwehr und Polizei war wegen der Neugierigen und der ungünstigen Raumverhältnisse außerordentlich behindert – ihre Fahrzeuge waren mehrmals in Gefahr, in Brand zu geraten.

Maurice L.: „In der vorigen Woche hatten wir eine anonyme Bombendrohung an das Kaufhaus durchgegeben, um festzustellen, welche Maßnahmen die Polizei und welche Sicherungsmaßnahmen das Kaufhaus ergreifen.“ – Da zu erwarten war, daß die Betroffenen die Ursachen des Brandes mißdeuten würden, hatte die Gruppe nach Maurice L. schon Tage zuvor und vor allem am Tag des Großhappenings Flugblätter verteilt, die auf die Zustände in Vietnam hinwiesen und empfahlen, die Ausstellung im Kaufhaus A l’innovation „hochgehen“ zu lassen. Nach sieben Stunden erst war das Großfeuer unter Kontrolle – der Schaden beträgt nach vorsichtigen Schätzungen ca. 180 Mill. DM.

Über die Ursachen des Brandes wurden von der Polizei bisher noch keine genauen Angaben gemacht. Obwohl alle Anzeichen für dieses Großhappening sprechen, wie es Maurice K. schilderte, wagen Polizei und Öffentlichkeit bisher nicht, die Antivietnamdemonstranten offen zu beschuldigen, da dies einem Eingeständnis einer erfolgten weitgehenden Radikalisierung der Vietnamgegner gleichkäme. Es könnte zudem bewirken, daß andere Gruppen in anderen Städten wegen der Durchschlagkraft dieses Großhappenings nicht nur in Belgien zu ähnlichen Aktionen ermuntert würden. Und selbst wenn sich durch eine Unvorsichtigkeit der Demonstranten die Urheberschaft dieser oben genannten Gruppe eindeutig herausstellen würde, dürfte dies nicht dazu führen, daß die Polizei das Ergebnis veröffentlicht, da der obige Effekt der Ermunterung anderer Gruppen eine solche Veröffentlichung inopportun erscheinen läßt.

Kommune I (24.5.67)“

Und im Flugblatt 7 heißt es dann provokant-witzig und zugleich doch mit einem ernsten Hintergrund, wenn Tote mit zweierlei Maß gemessen werden:

„Mit einem neuen gag in der vielseitigen Geschichte amerikanischer Werbemethoden wurde jetzt in Brüssel eine amerikanische Woche eröffnet: ein ungewöhnliches Schauspiel bot sich am Montag den Einwohnern der belgischen Metropole:

Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum erstenmal in einer europäischen Grossstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabeizusein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen.“

Flugblatt 8 setzt fort und steigert:

„Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?

Bisher krepierten die Amis in Vietnam für Berlin. Uns gefiel es nicht, dass diese armen Schweine ihr Cocacolablut im vietnamesischen Dschungel verspritzen mussten. Deshalb trottelten wir anfangs mit Schildern durch leere Straßen, warfen ab und zu Eier ans Amerikahaus und zuletzt hätten wir gern HHH in Pudding sterben sehen. Den Schah pissen wir vielleicht an, wenn wir das Hilton stürmen, erfährt er auch einmal, wie wohltuend eine Kastration ist, falls überhaupt noch was dranhängt…es gibt da so böse Gerüchte. Ob leere Fassaden beworfen, Repräsentanten lächerlich gemacht wurden – die Bevölkerung konnte immer nur Stellung nehmen durch die spannenden Presseberichte. Unsere belgischen Freunde haben es endlich den Dreh heraus, die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiligen: sie zünden ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben und Brüssel wird Hanoi. Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk bei der Frühstückszeitung zu vergiessen. Ab heute geht sie in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidekabine an. Dabei ist nicht unbedingt erforderlich, dass das betreffende Kaufhaus eine Werbekampagne für amerikanische Produkte gestartet hat, denn wer glaubt noch an das `made in Germany´? Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, wenn irgendwo eine Kaserne in die Luft geht, wenn irgendwo in einem Stadion die Tribüne einstürzt, seid bitte nicht überrascht. Genausowenig wie beim überschreiten der Demarkationslinie durch die Amis, der Bombardierung des Stadtzentrums von Hanoi, dem Einmarsch der Marines nach China. Brüssel hat uns die einzige Antwort darauf gegeben:
burn ware-house, burn!
Kommune I (24.5.67)“

Man muß freilich dazu sagen: das legendäre Kaufhaus „À l’innovation“ in Brüssel brannte am 22. Mai 1967 wegen eines technischen Defekts ab und nicht wegen eines Anschlages. Ironie der Geschichte: es fand darin zu dieser Zeit eine Sonderausstellung statt, die amerikanische Konsumgüter, Waren also, präsentierte. Auch ein Angriff auf den Fetischcharakter dieser seltsamen Objekte, so ließ es sich von den Studenten deuten. Das eben war die Crux und hier trug sich also, quasi durch eine List der Geschichte, das Feuer über Vietnam gleichsam symbolisch zurück in die Warentempel. Nur eben diesmal auch mit Toten. Es starben in Brüssel 251 Menschen. Keineswegs aber hatten die Studenten eine Brandstiftung als Form des Protests benutzt, um politisch Aufmerksamkeit zu erzielen, so wie sie es vorgaben. Sie spielten jedoch mit dem Reizwert durch scheinbare Inszenierung sowie dem darauf folgenden medialen Echo, das solche Flugblattaufrufe unmittelbar nach sich ziehen würde. Ästhetisch wie auch politisch besaßen diese Flugblätter der K1 einerseits etwas (gewollt) Provokatives, um gegen gesellschaftliche Konventionen und die sogenannten Regeln des Anstandes zu verstoßen, aber auch um auf eine Doppelmoral aufmerksam zu machen, wenn es um Tote ging. Sie borgten zwar von den Situationisten und der Münchener SPUR-Gruppe, aber sie waren eben auch ästhetisch-naiv einerseits und politisch doch zugleich herausfordernd und provokant. Aktionen, die vermutlich heute noch provozieren und verärgern würden. Um so heftiger müssen die Reaktionen damals gewesen sein, zumal von einer Springer-Presse, die hier kräftig anheizte und damit ebenso zur Eskalation beitrug.

Vor allem aber spielte die K1 mit der Grenze zwischen politischer Aktion und ästhetischer Fiktion. Nagelte man man sie gerichtlich, wie dies dann auch geschah, als Anstifter zum Attentat fest, so konnten sie sich damit entschuldigen, daß diese Dinge als eine Kunstform gedacht waren. Entschärfte man es dann als Kunst, wie dies in bestimmten Zirkeln eines linken Establishments inm Kulturbetrieb geschah, so ließ sich frech kontern, daß es hier aber doch mehr noch um Politik ginge. Dabei hatten die Mitglieder der K1 aber in bezug auf die Frage der Gewalt, die ja zunächst in den Augen der Studenten eine gesellschaftliche war, sehr wohl Motive des Surrealismus aufgenommen: man denke vor allem an André Bretons Satz aus dem Zweiten Manifest des Surrealismus von 1930:

„Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen, der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schußhöhe.“

Das ist zwar, wie auch das Bataille-Zitat im Eingang, einerseits als Aktionsprosa zu lesen, als Kunst, als brutale Phantasie im Sinne des Als-ob, denn getan hat es Breton am Ende eben doch nicht, aber es würde seine volle Wirkung nicht entfalten, stellte der Leser sich nicht vor, daß solcher Amok auch in der Wirklichkeit sich zutragen könnte und Breton realiter schösse. Nicht nur mit Worten. Was wäre, wenn Breton zum Revolver griffe und in die Menge schösse? Das ist dann nicht mehr bloß ein ästhetischer Akt. Gewalt zurück auf die Straße zu tragen, wenn auch teils nur symbolisch als eine besondre Form von Protest als/mit Kunst (aber eben nicht nur!), Protest etwa gegen den Krieg und die Toten in Vietnam, war auch das Ziel des Studentenprotest.

Jener Aspekte der Konsumkritik, wie sie die Kommune I im Sinne einer an Marx, Marcuse, Freud und Reich orientierten Gesellschaftskritik übt, findet sich allerdings bereits in einem Text der SPUR-Gruppe, nämlich 1962 in ihrem SPUR-BUCH, Heft 5. Er ist verbunden mit den Fragen künstlerischer Kreativität und einem kreativen Individuum überhaupt, teils auch in böser Ironie und Spott. Übertitelt ist das Kunst-und-Leben-Pamphlet mit der Zeile KANON DER REVOLUTION:

„Warum sind wir die einzigen Revolutionäre? Alle anderen werden durch Nicht-Kreativität von riesigen Kulturkaufhäusern gespeist; unsere Revolution fundamentiert nicht auf der Passivität aller – das Maul des Zivilisationsdrachens kotzt Meere von wohlverpackten Gütern auf die suggerierte Nachfrage der manipulierten Verbraucher.

Jeder muß kreativ werden:

Wer gerne mit Glaskugeln spielt, bekommt einen Park mit Glaskugeln. James Dean bekommt seinen Schamanenbaum, der aussieht wie die Raktenbasis von Cap Canaveral. Wer einen Mythos braucht, erhält spesenfrei und per Nachnahme seine Mutter Gottes ins Haus geliefert, damit er sich im göttlichen Beischlaf befriedige. Wer ‚Panem et Circenses‘ schreit, wird in Schlagsahne versinkend die Holi-Origen feiern, bis sein orgastischer Schrei röchelnd ins Leere fällt.“

Doch gerade die letzten Passagen klingen seltsam aktuell, obwohl sie inzwischen 58 Jahre alt sind – im Raum des Popkulturellen und im Angebot der Kulturindustrie, die noch die unterschiedlichsten Gruppen zu bespaßen sich anschickt, hat sich wenig verändert. Und auch hier wieder eine Kritik an Kultur als Ware. [Seit den 2000er Jahren gibt es in Berlin das Kulturkaufhaus Dussmann – und was das Paradoxe ist, wenn man diese Kritik nimmt: es ist in der Auswahl der Waren, also der Bücher, der CDs, der DVDs nicht einmal schlecht, sondern ganz und gar hervorragend. Man möchte es gar nicht missen. Es ist das, was damals für das Kind in Hamburg das herrliche „Spielzeug Rasch“ war: ein Paradies, eine Traumlandschaft. (Dazu müßte man nun Benjamins Passagenwerk gegenlesen und einige Zitate bringen, aber das führte den Text in eine andere Richtung.)]

„Alle diese Produkte sind im Begriff, sich als Ware auf den Markt zu begeben. Aber sie zögern noch auf der Schwelle. Dieser Epoche entstammen die Passagen und Interieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen. Sie sind Rückstände einer Traumwelt. Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt ihr Ende in sich und entfaltet es – wie schon Hegel erkannt hat – mit List. Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind.“ (Benjamin,  Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: Passagen-Werk)

All diese Szenen und Hintergründe sind Vorlaufaspekte, die für die (heterogene) „Studentenbewegung“, aber auch für den RAF-Diskurs zentral sind und die auf das Szenario weisen, wo aus einem politischen Happening und der Verquickung von Kunst und Praxis am 2. April 1968 eine dezidiert politische Aktion getätigt wurde, die nicht mehr unmittelbar im Zusammenhang mit Kunst und ästhetischen Entgrenzungstheorien stand, sondern bewußt eine politische Entscheidung bedeute: nämlich der durch Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein beim Kaufhausbrand in Frankfurt. Gewalt gegen Sachen zunächst, um dann in Gewalt gegen Menschen überzugehen. Wie dann am 9. November auch der Anschlagsversuch auf das Jüdische Gemeindehaus Berlin durch die linksterroristische Gruppe Tupamaros Westberlin, an deren Planung wesentlich Dieter Kunzelmann beteiligt war, aber ebenso ein V-Mann namens Peter Urbach, der den Sprengstoff lieferte.

Demnächst mehr.

[Die Photographien wurden 1982 von Bersarin in Hamburg bei einer Solidaritätsdemonstration für El Salvador aufgenommen.]

Der Schah von Persien, am 2. Juni 1967 in Berlin

Aus einem offenen Brief an Farah Diba, die damalige Gattin des Schahs von Persien, Der Brief wurde in „konkret“ vom Juni 1967 abgedruckt:

Guten Tag, Frau Pahlawi, die Idee, Ihnen zu Schreiben, kam uns bei der Lektüre der »Neuen Revue« vorn 7. und 14. Mai [1967, Hinw. Bersarin], wo Sie Ihr Leben als Kaiserin beschreiben. Wir gewannen dabei den Eindruck, daß Sie, was Persien angeht, nur unzulänglich informiert sind. Infolgedessen informieren Sie auch die deutsche Öffentlichkeit falsch. Sie erzählen da: »Der Sommer ist im Iran sehr heiß, und wie die meisten Perser reiste auch ich mit meiner Familie an die persische Riviera am Kaspischen Meer.«

»Wie die meisten Perser« – ist das nicht übertrieben? In Balutschestan und Mehran z. B. leiden »die meisten Perser« – 80 Prozent – an erblicher Syphilis. Und die meisten Perser sind Bauern mit einem Jahreseinkommen von weniger als 100 Dollar. Und den meisten persischen Frauen stirbt jedes zweite Kind – 50 von 100 – vor Hunger, Armut und Krankheit. Und auch die Kinder, die in 14tägigern Tagewerk Teppiche knüpfen – fahren auch die – die meisten? – im Sommer an die Persische Riviera am Kaspischen Meer? Als Sie in jenem Sommer 1959 aus Paris heimkehrend ans Kaspische Meer fuhren, waren Sie »richtig ausgehungert nach persischem Reis und insbesondere nach unseren natursüßen Fruchten, nach unseren Süßigkeiten und all den Dingen, aus denen eine richtige persische Mahlzeit besteht, und die man eben nur im Iran bekommen kann«.

Sehen Sie, die meisten Perser sind nicht nach Süßigkeiten ausgehungert, sondern nach einem Stück Brot. Für die Bauern von Mehdiabad z. B. besteht eine »persische Mahlzeit« aus in Wasser gereichtem Stroh, und nur 150 km von Teheran entfernt haben die Bauern schon Widerstand gegen die Heuschreckenbekämpfung geleistet, weil Heuschrecken ihr Hauptnahrungsmittel sind. Auch von Pflanzenwurzeln und Dattelkernen kann man leben, nicht lange, nicht gut, aber ausgehungerte persische Bauern versuchen es – und sterben mit 30; das ist die durchschnittliche Lebenserwartung eines Persers. Aber Sie sind ja noch jung, erst 28 – da hätten Sie ja noch zwei schöne Jahre vor sich – »die man eben nur im Iran bekommen kann«.

Auch die Stadt Teheran fanden Sie damals verändert: »Gebäude waren wie Pilze aus dem Boden geschossen; die Straßen waren breiter und geräumiger. Auch meine Freundinnen hatten sich verändert, waren schöner geworden, richtige junge Damen.«

Die Behausungen der »unteren Millionen« haben Sie dabei geflissentlich übersehen, jener 200.000 Menschen, die im Süden Teherans »in unterirdischen Höhlen und überfüllten Lehmhütten leben, die Kaninchenställen gleichen«, wie die New York Times schreibt. Dafür sorgt die Polizei des Schah, daß Ihnen sowas nicht unter die Augen kommt. Als 1963 an die tausend Menschen in einer Baugrube in der Nähe der besseren Wohnviertel Unterschlupf gesucht hatten, prügelte eine Hundertschaft von Polizisten sie da heraus, damit das ästhetische Empfinden derer, die im Sommer ans Kaspische Meer fahren, nicht verletzt würde. Der Schah findet es durchaus erträglich, daß seine Untertanen in solchen Behausungen leben, unerträglich findet er lediglich ihren Anblick für sich und Sie etc. Dabei soll es den Städtern noch vergleichsweise gut gehen. »Ich kenne Kinder – heißt es in einem Reisebericht aus Südiran -, die sich jahrelang wie Würmer im Dreck wälzen und sich von Unkraut und faulen Fischen ernähren.« Wenn diese Kinder auch nicht die Ihren sind, worüber Sie mit Recht heilfroh sein werden – so sind es doch Kinder.

Sie schreiben: »In Kunst und Wissenschaft nimmt Deutschland – ebenso wie Frankreich, England, Italien und die anderen großen Kulturvölker – eine führende Stellung ein, und das wird auch in Zukunft so bleiben.« Das walte der Schah. Was die Bundesrepublik angeht, so sollten Sie solche Prognosen vielleicht lieber den deutschen Kulturpolitikern überlassen, die verstehen mehr davon. Aber warum nicht rundheraus gesagt, daß 85 Prozent der persischen Bevölkerung Analphabeten sind, von der Landbevölkerung sogar 96 Prozent, oder: Von 15 Millionen persischen Bauern können nur 514.480 lesen. Aber die 2 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe, die Persien seit dem Putsch gegen Mossadegh 1953 bekommen hat, haben sich nach den Feststellungen amerikanischer Untersuchungsausschüsse »in Luft verwandelt«, die Schulen und Krankenhäuser, die davon u. a. gebaut werden sollten, bleiben unauffindbar. Aber der Schah schickt jetzt Wehrpflichtige auf die Dörfer, um die Armen zu unterrichten, eine »Armee des Wissens«, wie man sie selbstentlarvend nennt. Die Leute werden sich freuen, die Soldaten werden sie Hunger und Durst, Krankheit und Tod vergessen lassen. Sie kennen den Satz des Schahs, den Hubert Humphrey taktloserweise verbreitet hat: »Die Armee sei dank der US-Hilfe gut in Form, sie sei in der Lage, mit der Zivilbevölkerung fertig zu werden. Die Armee bereitet sich nicht darauf vor, gegen die Russen zu kämpfen, sie bereitet sich vor, gegen das iranische Volk zu kämpfen.«

Sie sagen, der Schah sei eine »einfache, hervorragende und gewissenhafte Persönlichkeit, einfach wie ein ganz normaler Bürger.«

Das klingt ein wenig euphemistisch, wenn man bedenkt, daß allein sein Monopol an Opium-Plantagen jährlich Millionen einbringt, daß er der Hauptlieferant der in die USA geschmuggelten Narkotika ist und daß noch 1953 das Rauschgift Heroin in Persien unbekannt war, indes durch kaiserliche Initiative heute 20 Prozent der Iraner heroinsüchtig sind. Leute, die solche Geschäfte machen, nennt man bei uns eigentlich nicht gewissenhaft, eher kriminell und sperrt sie ein, im Unterschied zu den »ganz normalen Bürgern«.

Sie schreiben: »Der einzige Unterschied ist, daß mein Mann nicht irgendwer ist, sondern daß er größere und schwerere Verantwortung als andere Männer tragen muß.«

Was heißt hier »muß«? Das persische Volk hat ihn doch nicht gebeten, in Persien zu regieren, sondern der amerikanische Geheimdienst – Sie wissen: der CIA – und hat sich das was kosten lassen. 19 Millionen Dollar soll
allein der Sturz Mossadeghs den CIA gekostet haben. Über den Verbleib der Entwicklungshilfe können nur Mutmaßungen angestellt werden, denn mit dem bißchen Schmuck, den er Ihnen geschenkt hat – ein Diadem für 1,2 Millionen DM, eine Brosche für 1,1 Millionen DM, Diamantohrringe für 210.000 DM, ein Brillantarmband, eine goldene Handtasche -, sind 2 Milliarden ja noch nicht durchgebracht.

Aber seien Sie unbesorgt, das westliche Ausland wird nicht kleinlich sein, den Schah wegen ein paar Milliarden Unterschlagungen, Opiumhandel, Schmiergeldern für Geschäftsleute, Verwandtschaft und Geheimdienstler, dem bißchen Schmuck für Sie zu desavouieren. Ist er doch der Garant dafür, daß kein persisches Öl je wieder verstaatlicht wird, wie einst unter Mossadegh, nicht bevor die Quellen erschöpft sind, gegen Ende des Jahrhunderts, wenn die vom Schah unterzeichneten Verträge auslaufen. Ist er doch der Garant dafür, daß kein Dollar in Schulen fließt, die das persische Volk lehren könnten, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen; sein Öl für den Aufbau einer Industrie zu verwenden und Devisen für landwirtschaftliche Maschinen auszugeben, um das Land zu bewässern, des Hungers Herr zu werden. Ist er doch der Garant dafür, daß rebellische Studenten und Schüler jederzeit zusammengeschossen werden und Parlamentsabgeordnete, die das Wohl des Landes im Auge haben, verhaftet, gefoltert, ermordet werden. Ist er doch der Garant dafür, daß eine 200.000-Mann-Armee, 60.000 Mann Geheimdienst und 33.000 Mann Polizei, mit US-Geldern gut bewaffnet und wohl genährt und von 12.000 amerikanischen Armee-Beratern angeleitet, das Land in Schach halten. Damit nie wieder passiert, was die einzige Rettung des Landes wäre: die Verstaatlichung des Öls, wie damals am 1. Mai 1951 durch Mossadegh. Man soll dem Ochsen, der drischt, nicht das Maul verbinden.

Was sind die Millionen, die der Schah in St. Moritz verpraßt, auf Schweizer Banken überweist, gegen die Milliarden, die sein Öl der British Petroleum Oil Corp. (BP), der Standard Oil, der Caltex, der Royal Dutch Shell und weiteren englischen, amerikanischen und französischen Gesellschaften einbringt? Weiß Gott, es ist eine »größere und schwerere Verantwortung«, die der Schah für die Profite der westlichen Welt tragen muß, als andere Männer.

Aber vielleicht dachten Sie gar nicht an das leidige Geld, vielleicht mehr an die Bodenreform. 6 Millionen Dollar pro Jahr gibt der Schah dafür aus, durch Public-Relation-Büros in der Welt als Wohltäter bekanntgemacht zu werden. Tatsächlich waren vor der Bodenreform 85 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Großgrundbesitz, jetzt sind es nur noch 75 Prozent. Ein Viertel des Bodens gehört nun den Bauern, das sie zu einem Zinssatz von 10 Prozent im Laufe von 15 Jahren abbezahlen müssen. Nun ist der persische Bauer »frei«, nun bekommt er nicht mehr nur ein Fünftel nein zwei Fünftel (eins für seine Arbeitskraft, eins für den Boden, der ihm gehört), die verbleibenden drei Fünftel bekommt auch in Zukunft der Großgrundbesitzer, der nur den Boden verkaufte, nicht aber die Bewässerungsanlagen, kein Saatgut, nicht das Zugvieh. So gelang es, die Bauern noch ärmer, noch tiefer verschuldet, noch abhängiger zu machen, noch hilfloser, gefügiger. Fürwahr, ein »intelligenter, geistvoller« Mann, der Schah, wie Sie sehr richtig bemerkten.

Sie schreiben über die Sorgen des Schahs um einen Thronfolger: »In diesem Punkt ist das iranische Grundgesetz sehr strikt. Der Schah von Persien muß einen Sohn haben, der eines Tages den Thron besteigt, in dessen Hände der Schah später die Geschicke des Iran legen kann … In diesem Punkt ist das Grundgesetz äußerst streng und unbeugsam.«

Merkwürdig, daß dem Schah ansonsten die Verfassung so gleichgültig ist, daß er z. B. – verfassungswidrig – die Zusammensetzung des Parlaments bestimmt und alle Abgeordneten vor ihrem Eintritt in das Parlament ein undatiertes Rücktrittsgesuch unterzeichnen müssen. Daß keine unzensierte Zeile in Persien veröffentlicht werden darf, daß nicht mehr als drei Studenten auf dem Universitätsgelände von Teheran zusammenstellen dürfen, daß Mossadeghs Justizminister die Augen ausgerissen wurden, daß Gerichtsprozesse unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden, daß die Folter zum Alltag der persischen Justiz gehört. Ist in diesen Dingen vielleicht das »Grundgesetz doch nicht so strikt und unbeugsam? Der Anschauung halber ein Beispiel für Folter in Persien: »Um Mitternacht des 19. Dezember 1963 begann der Untersuchungsrichter mit seiner Vernehmung. Zunächst befragte er mich und schrieb meine Antworten nieder. Später fragte er dann nach Dingen, die mich entweder nichts angingen oder von denen ich nichts wußte. Ich konnte also nur antworten, daß ich nichts wisse. Der Untersuchungsrichter schlug mir ins Gesicht und dann mit einem Gummiknüppel zunächst auf die rechte, dann auf die linke Hand. Er verletzte beide Hände. Mit jeder Frage schlug er erneut zu. Dann zwang er mich, nackt auf einer heißen Kochplatte zu sitzen. Schließlich nahm er die Kochplatte in die Hand und hielt sie an meinen Körper, bis ich bewußtlos wurde. Als ich wieder zu mir kam, stellte er erneut seine Fragen. Er holte eine Flasche mit Säure aus einem anderen Zimmer, schüttete den Inhalt in ein Meßglas und tunkte den Knüppel ins Gefäß … «

Sie wundern sich, daß der Präsident der Bundesrepublik Sie und Ihren Mann, in Kenntnis all diesen Grauens, hierher eingeladen hat? Wir nicht. Fragen Sie ihn doch einmal nach seinen Kenntnissen auf dem Gebiet von KZ-Anlagen und Bauten. Er ist ein Fachmann auf diesem Gebiet.

Sie möchten mehr über Persien wissen? In Hamburg ist kürzlich ein Buch erschienen, von einem Landsmann von Ihnen, der sich wie Sie für deutsche Wissenschaft und Kultur interessiert, wie Sie Kant, Hegel, die Brüder Grimm und die Brüder Mann gelesen hat: Bahman Nirumand: »Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder die Diktatur der Freien Welt«, mit einem Nachwort von Hans Magnus Enzensberger, rororo-aktuell Band 945, März 1967. Ihm sind die Fakten und Zitate entnommen, mit denen wir Sie oberflächlich bekanntgemacht haben. Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die nach der Lektüre dieses Buches noch nachts gut schlafen können, ohne sich zu schämen.

Wir wollten Sie nicht beleidigen. Wir wünschen aber auch nicht, daß die deutsche Öffentlichkeit durch Beiträge, wie Ihren in der »Neuen Revue«, beleidigt wird.

Hochachtungsvoll,
Ulrike Marie Meinhof

Journalismus der Extraklasse, der zudem den Betrug einer bestimmten Art von bundesdeutscher Berichterstattung enlarvt: das Lobhudeln. Für diesen Brief muß man Ulrike Meinhof, geboren am 7. Oktober 1934 in Oldenburg, immer noch danken, es ist ein Grundlagentext, und man kann aus solchen Texten auch herauslesen, was das implizit mit dem 14. Mai 1970 zu tun hat, und auch hier gibt es Motive, weshalb vor 50 Jahren die RAF entstand. Das muß man nicht gut finden und solche Motive rechtfertigen keine solchen Taten, schon gar nicht Morde, aber es zeigt dieser emphatische und kluge Text den Geist dieser Jahre und das große Mißtrauen nicht nur gegenüber den USA, die seit Jahren mit Agent Orange, Menschenerschießungen und Massakern in Vietnam einen blutigen Krieg führen – im Namen von Freiheit und Democracy.

Am 14. Mai 1970 fand in Berlin-Dahlem in dem „Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen“ in der Miquelstraße 83 die Befreiung von Andreas Baader statt, der wegen des Kaufhausbrandes 1968 in Frankfurt seit April 1970 in Tegel im Gefängnis saß. Geplant wurde die Befreiungsaktion von Gudrun Ensslin und Horst Mahler und an der beteiligt  waren neben Ensslin, Irene Goergens, Ingrid Schubert, Astrid Proll, ein bisher unbekannter Mann und eben jene Journalistin Ulrike Meinhof. Eine hohe Frauenquote, um einen Mann zu befreien. Meinhof diente als Lockvogel und als Vorwand fürs Offizielle, immerhin war sie Journalistin. Sie sollte Baader in jenem Institut das Quellenstudium und die Einsicht in einige Zeitschriften ermöglichen, die nicht in die JVA Tegel verbracht werden konnten. Baader und Meinhof arbeiteten zu dieser Zeit gemeinsam an einem Buch „Organisation randständiger Jugendlicher“, so ging die Legende. Beide saßen zusammen mit zwei Wächtern im Leseraum des Instituts. Und plötzlich traten zwei maskierte Bewaffnete in den Raum. Es gab ein Handgemenge mit den Wächtern, es fielen Schüsse. Beide Wächter waren verletzt.

Baader konnte befreit werden und die Eindringlinge sprangen zusammen mit Ulrike Meinhof aus dem Fenster: Jener seltsame Sprung in ein anderes Leben, ein Sprung, der eine Existenz mit einem einzigen Schritt, in einer einzigen Sekunde, von der einen Seite auf die andere Seite einer Trennlinie beförderte. Denn ohne Probleme wäre es Meinhof möglich gewesen, sitzen zu bleiben. Ihr die Tat nachzuweisen, wäre schwierig gewesen. Ein einziger Schritt, der am Ende und sechs Jahre später ins Aus führte. Was diesen Leben bis zu jenem Einschnitt publizistisch bewegt hat, kann man in ihren Artikeln nachlesen. Der offene Brief an Farah Diba gehört mit zu ihren stärksten Texten.

Mit Gründungsmythen bin ich vorsichtig. Es gab zu viele Ereignisse und nicht das eine und einzige, aus der heraus plötzlich die RAF entstand, so daß nun plötzlich aus emotional und politisch bewegten und auch radikalisierten Studenten Menschen wurden, die keine andere Chance sahen, als in Deutschland zur Waffe zu greifen. Insofern ist der 14. Mai kein Geschichtszeichen. Das sind eher schon der Mord an Benno Ohnesorg, erschossen am 2. Juni von einem West-Berliner Polizisten, Karl-Heinz Kurras, der für diese Tat niemals zur Rechenschaft gezogen wurde, und dann am 14. April 1968 das Attentat auf Rudi Dutschke am Kurfürstendamm 142.

Es sind dies alles und auch die Aktionen, Taten und Morde der RAF Ereignisse, die mich in den 1980er Jahren und in meiner politischen Sozialisation, zusammen mit den Texten von Sartre, Camus, Kafka, Brecht, Beckett, Adorno, Freud, Marx, Hegel und Marcuse  bewegt haben. Die Frage nach dem Sinn de RAF und inzwischen auch mit ihrer Geschichte, die ja immerhin zehn Jahre schon währte, stand auch zu dieser Zeit schon auf der Tagesordnung bei mir.

Verstehen heißt nicht billigen. Aber manche Motive bei der RAF z.B. waren durchaus richtig. Nur eben in einer falschen Umsetzung. Schleyer hätte man nach seiner Befragung im „Volksgefängnis“ und als es für alle raus war, was er in Böhmen und Mähren getan hatte, freilassen müssen. DAS wäre sehr viel beschämender gewesen als sein Tod, der nur dumm war. Die RAF insgesamt war sicherlich ein falscher Weg, aber das müssen die noch lebenden Akteure mit sich selbst abmachen, ich kann es nur als Zuschauer und teils als Zeitzeuge betrachten – wenngleich ich für die Offensive 1972 in Heidelberg damals Anfang der 1980er Jahre eine gewisse Sympathie hegte. Daß ein verbrecherischer Krieg, den die USA in Vietnam führte, nun in die Kasernen der USA getragen würde.

Meinhof setzte mit diesem Sprung aus dem Fenster ihre bürgerliche Existenz und ihre Arbeit als Journalistin aufs Spiel. Ob dieser Seitenwechsel sinnvoll und gesellschaftlich wirkungsvoll war, darf man bezweifeln.  Als Publizistin hätte sie vermutlich mehr und besseres erreicht. Aber sie hat an diesem Tag eine Wahl getroffen oder wurde einfach in eine Wahl gezogen. Das ist schwierig zu entscheiden, was die Motive für diesen Sprung aus dem Fenster gewesen sein mögen, der ein Sprung in ein anderes Leben war. Es endete am 9. Mai 1976 in Stuttgart-Stammheim.

Bildquelle: Wikipedia: CC-Lizenz, Urheber des Bildes: Bodo Kubrak

Menschen in der Revolte: Burn, Warehouse burn!

Söhnlein, Ensslin, Baader, Proll: Subversion und Protest

„Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs.“
(Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts)

„Illusionär ist, Schreiben als etwas anderes anzusehen als den Versuch zur extremen Individualisierung. Das gilt unabhängig vom Thema, es gilt also auch für das politische Thema, an dem sich der Autor – scheinbar über sich hinausgehend – ‚engagiert‘.“
(Karl Heinz Bohrer, Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror)

Bohrer schrieb diesen Part im März 1968 unter dem Titel „Revolution als Metapher“. Was also von der Überschrift her ganz unmittelbar bereits auf einen Akt der Sprache wie auch der Kunst deutete und zugleich eine Provokation für die Engagierten bedeutete, denn die Revolutionäre verstanden ihre Aktionen keineswegs als Metaphern, sondern ganz real sollte der Kampf in die Metropolen des Westens getragen werden.

Allerdings kommen nicht nur in der Kunst Metaphern zum Einsatz, diese Gewißheit zumindest werden all jene in sich tragen, die ein wenig sich mit politischer Ikonographie befassen. Carl Schmitts Seeschäumer und Landtreter im Kampf um Räume sind da ein Beispiel. Metaphern können insofern genauso politisch sich gestalten, sogar bis in die Bildtheorie hinein. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. 1972 – das Mädchen aus dem vietnamesischen Dorf, das auf der Illustrierten-Seite nackt vor einem Napalm-Angriff floh, keiner wußte ihren Namen: Phan Thi Kim Phuc, alle aber kannten dieses eine Bild, das exemplarisch für den Krieg in Vietnam und seine Unbarmherzigkeit stand, mit der ihn die USA führte. Nackt, weinend, rennend, die Furcht ihr ins Gesicht geschrieben und mit nichts als ihrer Haut bedeckt, der Blick auf die Scheide des Kindes. Unschuldig, unbehaust, voller Angst. Trostloser kann eine Nation keinen Krieg verlieren. Die einstigen Befreier von Nazideutschland erwiesen sich als doch irgendwie auch problematisch. Ein Bild, pars pro toto.

Auch ein Warenhaus ist eine solche Metapher. Oder genauer gesagt ein Gebäude, eine Möglichkeit, ein Ort, der Dinge versammelt, die nicht einfach nur gemachte, schöne oder nützliche Dinge sind, sondern Dinge, die wir uns kaufen. Und damit auch ihre Nützlichkeit, ihre Schönheit, ihr Gemachtsein durch andere. Objekte, die sich durch Geld erwerben lassen. Ich will an dieser Stelle nicht Marxens Wert- und Warentheorie wiederholen. Es geht mir vielmehr um die Bilder und Ideen, die sich ans Warenhaus knüpfen – so wie schon Walter Benjamin die Vorläufer der Warenhäuser, die Pariser Passagen, ins Philosophieren versetzten.

Der Weg von der Warenwelt bis zu ihrem Inferno ist so vertrackt wie steinig. Der Weg von der Imago der Ware insbesondere im 20. Jahrhundert, ihrem Fetischcharakter, den Phantasmagorien der Warenwelt, die Walter Benjamin fürs 19. Jahrhundert nicht nur in seinem Fragment gebliebenen Passagenwerk illuminierte, den Revolutionstheorien, den Traumtänzen und den subversiven Aktionen, die mit dem Kaufhausbrand im April 1968 als eine Art gesteigerter Kunst begannen und im Terror mit unzähligen Toten und in der Nacht in Stammheim endeten: waren das mit Notwendigkeit zu gehende Wege, den die vier beschritten? Hatte es in dieser Geschichte genau so kommen müssen oder wären auch andere Möglichkeiten denkbar? Horst Söhnlein und Thorwald Proll gingen andere Wege, das Liebespaar Ensslin und Baader entschied sich für den Kampf. Aus Zwang heraus, weil nichts anderes blieb, oder aus freien Stücken. Schwer zu sagen. Der Möglichkeitssinn ist in solchen Fragen eher ein ästhetisches Spiel mit der Revolte sowie der Politik. Mich hat diese Haltung damals mit 16 beeindruckt. Daß dieser Staat niemals durch Wahlen verschwinden würde, war mir früh klar. Nicht ganz klar war dem jungen Mann, daß sich gesellschaftliche Veränderungen eher evolutionär ergaben, sofern keine revolutionäre Klasse oder kein Subjekt der Revolution zur Verfügung stand. Und selbst da wurde es problematisch, wenn man an Länder wie Kuba, Vietnam, Nicaragua dachte: Revolutionen fressen bekanntlich ihre Kinder.

Die am Ende bewaffnete deutsche proletarische Revolution aus dem Geist der Studentenbewegung begann mit einem Happening, einem bisher so nicht dagewesenen Zeichen, kein Geschichtszeichen zwar, aber doch ein deutliches Statement zur politischen Lage. Eine Aktion, eine Reaktion – konkret eben. In Vietnam brannten die Kinder, die Frauen, die Dörfer, die Männer, die Palmen, den Dschungel entlaubten sie mit Agent Orange, wir erinnern uns ans Massaker von My Lai am 16. März 1968, knapp drei Wochen vor dem Kaufhausbrand. Hier in Frankfurt brannten nur die Waren, keine Menschen. Doch Aufregung wie Überraschung waren groß. Die Studentenunruhen schienen zu eskalieren. Um wieviel erträglicher und entspannter nahmen die Bundesbürger vor ihren frisch erworbenen Fernsehgeräten die Opfer in Vietnam. Das ist heute nicht anders als damals. Aber all das, diese Stufen der Gewalt und ihre Eskalation rechtfertigen nichts. Sie zeigen aber, wie Geschichte läuft und das manche Begebenheit und manches Leben, wie schon Kleist 1801 in einem Brief an Brief an Karoline von Schlieben wußte, am Schrei eines Esels hängt. In der Bundesrepublik wurde das Farbfernsehen am 25. August 1967 um 10:57 Uhr auf der 25. Großen Deutschen Funk-Ausstellung in West-Berlin eingeführt – vom damaligen Vizekanzler und ehemaligem Bürgermeister von Berlin Willy Brandt. Man konnte also die Haut wie auch die Tarnfarben der Jeeps, Uniformen und Hubschrauber und genauso das Jacket von Peter Frankenfeld nun auch in Farbe sehen.

Ja, ja, nein, nein – bei jener Aktion von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein ist einerseits nichts zu beschönigen. Profis jedoch waren sie ganz sicher nicht und geniale Dilettanten ebensowenig. Aber dennoch speiste sich – andererseits – diese revoltierende Tathandlung wesentlich auch aus jenem Kunstgeist von „Spur“ und „Subversiver Aktion“ in den frühen 60er Jahren in München; und ebenso im Sinne der Situationistischen Internationale. Überspitzt gesagt: Die Revolution begann als ein Kunsthappening, vielleicht ein wenig auch als Spiel aus Übermut und Wut: Etwas mußte nun geschehen. Nur das hier eine Grenze überschritten wurde, die keine Kunst bisher überschritt. Das Als-ob, der Illusions- und Spielcharakter der Kunst nämlich. Dennoch war auch diese Brandstiftung, zumindest für mich damals in den frühen 80er Jahren, als ich mich mit der RAF befaßte, ein Akt der Phantasie, ein Form der Kunst. Allein vom Dilettantismus, mit dem die Akteure das ausführten. Läppische Perücken und Verkleidungen, so daß die Täter einen Tag später schon festgenommen werden konnten. Nach einem anonymen Hinweis. Dieses Unbeholfene bei gleichzeitigem Aufruhr und Widerstand gegen dieses System hatte mich an diesem wilden und vollkommen unorganisierten, dilettantischen Anfang interessiert. Als sozusagen ästhetisches Projekt.

Allein die Bilder von Baader und Ensslin nach ihrer Flucht aus Paris: Sahen die nicht eher aus, wie ein französischer Film mit Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg – nur daß die Seberg diesmal auf der Seite der Wilden stand? Das waren Gedanken, die ich Mitte der 80er Jahre hegte, lange bevor es modisch wurde, irgendwie einem Prada-Meinhof-Schick in Ausstellungen zu huldigen und diese Revolte der Wenigen als Photokunst zu sehen. Natürlich – Mythos RAF: er lebt von den Bildern und von den Geschichten. Das war mir schon damals Anfang der 80er klar, als die Lage in der BRD noch sehr viel ernster war. Mein Photographieren auf Demos war nicht nur ein politischer, sondern auch ein ästhetischer Akt.

Die vier Brandstifter bezogen sich auf ein konkretes Objekt, an dem sie ihre Theorie ausprobierten und praktisch werden ließen. Diesen Bezug zur Realität besaßen auch die Surrealisten. André Breton meinte es nicht bloß als Spaß, wenn er in Anlehnung an die russischen Anarcho-Nihilisten im zweiten Surrealistischen Manifest postulierte:

„Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen, der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schußhöhe.“

Die RAF ging nie so weit, blind in die Menge zu feuern. Sie wollte keinen Krieg gegen das Volk. Anders als die islamischen Attentäter, die wahrscheinlich niemals dieses zweite Surrealistische Manifest aus dem Jahr 1930 gelesen hatten, aber doch insgeheim und ohne jedes Bewußtsein in dessen Geist des Aufruhrs handelten. Nur daß diese Antibürgerlichkeit, der Haß auf diese okzidentale Gesellschaft die Kunst inzwischen restlos verlassen hatte und an die Peripherie des Westens gewandert war, wo sie dann mit den Migrantenströmen aus ehemaligen Kolonialgebieten wieder ins Herz des Westens stieß, bis nach Paris, Nizza oder Marseille.

Der Abgesang der RAF war freilich ein anderer, eine Art (revolutions)metaphysische Ewigkeitserklärung, durch und durch, fast im Geist hegelscher Wesenslogik konzipiert, einerseits, und von der Sprecherposition Fichtes Tathandlung andererseits, denn wie es in der letzten Erklärung der RAF vom März 1998 hieß:

„Die Revolution sagt:
ich war
ich bin
ich werde sein“

Ein sich perpetuierendes Prinzip. Das kann man als (benjaminschen) „Traumkitsch“ nehmen oder aber als Möglichkeitssinn. Das ist, trotz des Charakters eines politischen Flugblattes eine durchaus poetische Sprache, eine Form des ästhetischen Ausdrucks, die sich zum Teil auch in der Härte der Gefängniskassiber und der RAF-Erklärungen findet. Die sprachpoetischen Parallelen zu dem Manifest „Der kommende Aufstand“ wären interessant zu untersuchen. Mich interessieren diese RAF-Schriften aus dem Geist der Kunst, dem Geist des Surrealismus heraus, der im Unterschied zum Dadaismus sehr viel politischer in einem ganz unmittelbar genommenen Sinne revolutionär gesonnen war, um eine bestehende Gesellschaft zu kippen. Ob solcher Aufruhr real allerdings zum Gewünschten führt: auch daran zweifelte der Ästhetiker im Grandhotel Abgrund schon damals und wußte sich eher auf der Seite Adornos und Horkheimers.

Vor 50 Jahren brannte als eine Art Fanal, als Zeichen, als Bild und Metapher ein Kaufhaus in Frankfurt. Eines von diesen inzwischen altmodischen Gebäuden, mit Rolltreppen und Aufzügen vermutlich, worin noch ein Fahrstuhlführer die Etagen und die Waren ansagte. Alles automatisch: Rollentreppen und Aufzüge die die Besucher, nein, Käufer anfangs staunend befuhren und irgendwann dann, nach dem verlorenen Krieg doch wieder wie selbstverständlich und als ob es nie anders gewesen wäre.

„Alle diese Produkte sind im Begriff, sich als Ware auf den Markt zu begeben. Aber sie zögern noch auf der Schwelle. Dieser Epoche entstammen die Passagen und Interieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen. Sie sind Rückstände einer Traumwelt. Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt ihr Ende in sich und entfaltet es – wie schon Hegel erkannt hat – mit List. Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind.“ (Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: Passagen-Werk)

Warehouse – das kann man passend zum Krieg in Vietnam mit den verbrannten Menschen, mit Körpern, die im Napalm verglühten, eben auch als War-House, als das Schlachthaus lesen. Kurt Vonneguts Roman Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug kommt mir in den Kopf. Auch im Sinne des Fiktionsmodus einer surrealen Phantasie, die im Kontext RAF dann – also nicht der Dresden bombardierenden Royal Airforce diesmal, sondern der Roten Armee Fraktion – als Aufbruch und Ausbruch plötzlich losging. Das Verhängnis ging immer weiter, auch wenn die Ursachen und die Gründe ganz und gar unterschiedliche waren. US-Amerikaner oder Europäer, die so sehr auf die westlichen Wert pochen, wenn sie mit erhobenem Finger auf Diktatoren oder auf autoritäre Regierungen wie in China oder in Rußland zeigen, sollten sich ihrer eigenen Geschichte gut besinnen. [Und beim Tonkin-Zwischenfall denke ich auch ein wenig an Großbritannien und das britische oder russische oder das von sonstwo her stammende Gift. Aber das ist wieder ein anderes Thema.]

Das, was vor 50 Jahren in Frankfurt begann, endete zwar nicht in Stuttgart-Stammheim, aber dort hatten zwei der vier Protagonisten ihr Finale. Man fand sie am 18. Oktober tot in ihren Zellen. Man betrachte sich zu diesen Stammheim-Szenen im Knast – die RAF bezog übrigens ein wesentliches Potential und viele ihrer Mitstreiter aus dem Gefangenenmythos, aus Aktionen rund um die Gefangenen: von Hungerstreik bis Befreiung – man besehe sich also jene Stammheim-Bilder des Photographen Andreas Magdanz in dem Bildband Stuttgart Stammheim. Und sie weben am Mythos, allerdings mit dem Sezierbesteck des photographischen Blickes. Mit all den Spielen in Gedanken, die Bilder auslösen können, wenn ich die Kälte des Traktes mir anschaue, der genauso woanders sein könnte.

„Chaque epoque rêve la suivante.“
(Michelet: Avenir! Avenir!, zit nach: Walter Benjamin, Passagenwerk)

Die erste und die dritte Photographie stammen aus dem Bild Stuttgart Stammheim von Andreas Magdanz, erschienen bei Hatje Cantz.

Achtundsechziger Geschichtszeichen (1). Von den Chiffre-Rätseln und von brennender Ware

Ein Jubeljahr ist es nicht oder zumindest nur bedingt, denn mit dem Einschnitt 1968 lösten sich nicht bloß klammheimlich viele der Ideale auf, die die Protestler, die Liebenden, die Studenten, die Theoretiker und die Empathievollen in die Welt tragen wollten, sondern es begann zugleich eine Welle der Gewalt und es gab die ersten Toten. Kann man das so erzählen? Nein, eigentlich nicht. 68 ist eine komplexe Zahl, sie steht für mehr als nur sozialen Protest und eine Rebellion gegen das Establishment. Sie steht für etwas, das man geschichtliches Ereignis nennen kann, wenn man Geschichte auf Jahreszahlen verdichtet. Mit Heidegger, wie auch mit Marx und Slavoj Žižek bleibt zu fragen, was das Ereignis, was überhaupt ein Ereignis sei: Geschieht es, geschieht es jetzt? Selbst noch die französischen Poststrukturalisten, etwa in Gestalt von Lyotard oder von Derrida, wiederholen diese berechtigte Frage und verschaffen ihr zugleich einen völlig anderen Dreh. Aber das ist wieder eine andere Geschichte, die zwar mit 68 einiges zu schaffen hat, aber uns doch in eine andere Zeit führt.

Diese Zahl steht für diverse Biographien, noch bis in meine Generation hinein, denn jene, die damals Lehrer werden wollten, unterrichteten uns später und das prägte. Aber richtig erzählt und geschildert werden kann nur in einem Modus, der sich nicht bloß auf eine Zahl als Metapher oder als Chiffre kapriziert. In anderem Bezug wußte das schon Novalis: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren …“ Diese Zahl, dieser Einschnitt, diese Chiffre verknüpft unterschiedlicher Aspekte und Geschichten und dieser Vielfalt an Bezügen wird man nur gerecht, indem man keine Abstraktionen darüber stülpt. Solches Erzählen fängt – notwendigerweise kontingent gesetzt bzw. willkürlich gewählt – bei der Kritischen Theorie Adornos an, die man gerne etwas voreilig den 68ern zuschlägt, und reicht bis hin zu Design, Pop und Lebensentwürfen. Doch so einfach ist das bei Adorno nicht, ihn umstandslos den 68er zuzuschlagen, wenn man sich mit Genauigkeit in seinen Texten bewegt und auch Adornos praktische Vorbehalte kennt. Adorno wollte seine Theorie nicht als Wandparole verstanden wissen und Theorie sowie denkerisches Durchdringen von Gesellschaft wollte er zu recht nicht mit unmittelbarer Praxis verwechselt wissen, darin ganz dem marxschen Reflexionsniveau folgend. Weshalb Adorno und Horkheimer auch die Wiederpublikation der Dialektik der Aufklärung im Jahr 1969 einige Bauchschmerzen machte.

Bis dahin kursierte das legendäre Buch nur als Raubdruck, oder man mußte es sich antiquarisch besorgen, in der alten Version von 1947 aus dem Amsterdamer Querido Verlag. In der Tat trieb dieses Buch wie eine Flaschenpost, aus einer anderen Zeit stammend, zu den Studenten der 60er Jahre herüber. Und es lieferte dieses Werk ihnen zugleich die Munition, diese Gesellschaft nicht nur mittels ökonomischer Begriffe zu kritisieren.

Aber Bücher haben zugleich einen Zeitkern, und sie sind nicht einfach Handlungsanweisung. Das wurde bei der Dialektik der Aufklärung oft übersehen. Geschrieben wurde sie in der Zeit äußerster Bedrohung: Faschismus auf der einen, Stalinismus auf der anderen Seite und dazu  ein liberaler Kapitalismus angloamerikanischer Prägung, der in den Augen der Kritischen Theorie nicht ganz unschuldig am aufkommenden Faschismus war.

Dazu kam die Aporie, in die sich das Werk argumentativ zu verstricken schien: Prominent geäußert von Jürgen Habermas. Doch trotz seines Vorwurfs des performativen Selbstwiderspruchs, in den sich die Vernunft verstrickt, wenn sie sich mit ihren eigenen Mitteln als totalitär und instrumentell avisierte, verkannte Habermas die selbstreflexiv-aufklärerische Kraft dieser destruktiven „Geste aus Begriffen“, wie Adorno in einem Brief an Horkheimer jenes Werk beschrieb. Die Stärke des Buches lag gerade in ihrer reflexiven Performanz, in ihrem rhetorischen Element, das Paradox der Gesellschaft, die objektiven Widersprüche in Sprache uns vorzuführen. Ein Katastrophenbericht aus einer Zwischenzone. Und dieser in Irrfahrt beschriebene Odysseus der Dialektik der Aufklärung war vielleicht zu einem kleinen Teil auch Adorno selbst, der, List der Vernunft, sich an den Mast fesselte oder mit Klugheit den Widrigkeiten des Exils begegnete. Die endgültige Heimkehr nach Frankfurt am Main geschah 1953. Es war das bessere Deutschland, das da sein, freilich bescheidenes Revier aufrichtete: Gegen den „Jargon der Eigentlichkeit“ und das Besinnen auf „echte Werte“ und gegen das Vokabular der Entschlossenheit. „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“, wie ein Sammelband zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule hieß, geschah zu einem guten Teil auch durch das Institut für Sozialforschung. Durch Horkheimer und Adorno. Nicht allein und ausschließlich, solche Monokausalitäten verkennen die komplexe Lage im Feld des Geistes. (Von der öffnenden Wirkung des Pop ganz zu schweigen und der damit korrespondierenden Öffnung der Lebenswelten.)

1968 als Chiffre steht für Möglichkeiten und für einen wesentlichen Einschnitt in der BRD, auch wenn das viele bezweifeln und in diesem Datum eher ein Verhängnis wittern, so wie mancher Konservative. Doch die Tücken der Zeit auf den Begriff zu bringen, ist nie ganz einfach: Das Gute im Schlechten, das Schlechte im Guten sichtbar zu machen. Und auch wenn manche dieser Freiheiten, die angeblich die 68er „erkämpften“, schon lange in der Luft lagen und also nicht alles, was dann in den 70er kam, als Resultat der Revoltierenden sich erwies. Daß Jungs und Mädchen miteinander ungehemmt fummeln wollten und es irgendwann auch konnten, ist kein Verdienst einzig dieser Generation, sondern das lag schon Ende der 50er Jahre in der Luft, gehörte zum Geist jener Zeit, auch wenn es den Kuppelei-Paragraphen gab und Wirtsleute nicht einfach so ein unverheiratetes Paar bei sich beherbergen durften. Vorehelicher Geschlechtsverkehr galt als nicht so gut, aber wer wollte schon Wälder und Wiesen kontrollieren? Der Kuppelei-Paragraph war noch bis 1973 wirksam und theoretisch machten sich auch Eltern schuldig. Aber wie es bei den Menschen ist: Was verboten ist, das macht uns gerade scharf, wie Wolf Biermann 1964, bei Wolfgang Neuss zu Gast in West-Berlin, sang. Der Mensch ist bekanntlich aus krummem Holze geschnitzt, was wiederum mancher 68er gerne vergaß.

Dieses eigentümliche halbe Jahrhundert, das uns Heutige von der Zeitchiffre 1968 trennt, ließ zahlreiche Interpretationen dieser intensiven Episode der BRD zu. Was war geschehen? Der summer of love verglühte, im Protest gab es die ersten Toten, der 2. Juni 1967 dürfte für die Studentenbewegung ein Fanal gewesen sein, spätestens nach dem Mord an Benno Ohnsorg während des Protests gegen den Schah von Persien, sahen viele: es würde kein Spaziergang; der Rechtsnachfolger des Dritten Reiches hatte nicht nur einen erheblichen Teil des alten Personals übernommen und bei den Auschwitzprozessen Anfang der Sechziger grüßte das Wachpersonal im Gerichtssaal das ehemalige Wachpersonal vom Vernichtungslager, das nun in kleiner Zahl vor besagtem Gericht stand, in militärischer Art und zwinkerte vergnüglich.

Der die Auschwitzprozesse einleitende Staatsanwalt Fritz Bauer wurde vom deutschen Nachrichtendienst bespitzelt. Nun – kein Wunder, die Fremden Heere Ost machten als Organisation Gehlen einfach weiter und irgendwann würden die lustigen Stiefel schon wieder über Polen und gen Moskau marschieren, so dachte sich der dürre Herr, während der feine Herr Karl Carstens von der Reiter-SA vermutlich immer noch von all den schönen Pferden träumte. Und die Protestler bemerkten: Auf uns wird geschossen, und zwar, ohne daß diese Tat für den Mörder irgendwelche Konsequenzen hätte. Nach dem Mord an Ohnsorg trafen sich viele der Demonstranten im Republikanischen Club in Berlin, auch Gudrun Ensslin befand sich unter den jungen Leuten. Die Reaktionen dort sollen heftig gewesen sein, erregte Debatten. Ob sich nach den Schüssen jene oft kolportierte Szene, die als Einschnitt und als Auslöser auch für die RAF gedeutet wurde, tatsächlich so zugetragen hatte, ist allerdings fraglich. Da rief eine junge schlanke Frau, erregt und hemmungslos weinend:

„Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von Auschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren.“

Stefan Aust mutmaßte über diese Szene, als wären die Sätze Fakten, und so verbreitete sich ein Gerücht. Auf die fehlenden Quellen und die unsichere Zeugenlage wies ganz zu recht Ingeborg Gleichauf in ihrer Anfang 2017 erschienenen Biographie Poesie der Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin hin.

Ein Jahr mit Geschichte: Der Prager Frühling und die sowjetischen Panzer, Dissidenten in der DDR, Thomas Brasch, Flori Havemann, Bettina Wegner, eine tschechische Fahne konnte Bautzen bedeuten, im Westen war es etwas milder, eine Fahne vom Vietkong war zwar ein deutliches Zeichen, aber doch auch wieder „nur“ eine Fahne von Vietnam, ohne daß sie, auf dem Balkon angebracht, gleich Knast bedeutete – allenfalls soziale Ächtung bei den Nachbarn. Dann im Februar 68 der internationale Vietnam-Kongreß in Berlin, im Mai 68 die drei Schüsse auf Rudi Dutschke, der Pariser Mai, Foucault und Sartre Arm in Arm, die Arbeiter und Studenten, die in Paris Commune machten, de Gaule zog sich zur Sicherheit oder aus Propaganda auf einen französischen Armeestützpunkt in der BRD nach Baden-Baden zurück, dann General de Gaules Rede in voller Uniform, worin der mit dem Ausnahmezustand drohte, ganz souverän, darauf folgte die Niederlage, der Protest versandete, es gab Gegendemos und ein Traum war einmal wieder ausgeträumt: der verpaßte Augenblick in der Geschichte. In Frankreich hätte es womöglich, anders als in der BRD, mit der Revolution etwas werden können, weil sich am sozialen Protest breite Schichten beteiligten, so heterogen sie ansonsten auch waren. In der BRD die Notstandsgesetze, die Kaufhausbrandstiftung am 2. April 1968 mit den Action-Akteuren Andreas Bader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein: Mehr Belmondo in Godards Außer Atem als politisch gezielte Propaganda der Tat, ohne Organisation, fast dilettantisch zu nennen. Der Staat reagierte heftig.

Der intuitive oder auch in langen Debattennächten ausgeschliffene Reflex dieses Action-Teams war, daß Politik nun praktisch werden müsse, den Kampf in die Städte tragen, Stadtguerilla, Markierungen setzen. Als eine Art Kunst-Zeichen. Wenn Marx vom Fetischcharakter der Ware, von Wert und Mehrwert schrieb und über das System Kapitalismus nachdachte, so reagierten Bader und Ensslin ganz unmittelbar auf jene Waren, nahmen sie beim Wort und setzten das Primat der Praxis. Das brennende Kaufhaus in Brüssel mochte Vorbild gewesen sein. Die Verbrannten von Vietnam auf alle Fälle der Anlaß und vor allem das geduldige Schweigen dazu, das aus der BRD kam. Daß freilich bei Marx vor der Praxis die Theorie kam, hatten die Genossen überlesen. Und sie verwechselten Politik mit Kunst. Denn eigentlich war diese ganze Aktion von ihrer unbeholfenen Ausführung her mehr ein Happening, ein Unternehmen aus dem Bauch, um überhaupt etwas zu tun und ein Zeichen zu setzen. Ästhetisch hätte man diesen Zorn bewältigen, ästhetisch hätte man ihn abmildern können. Kunst ist immer auch eine Variante des Zivilisierens – sei es des Einhegens von Trieben oder aber von Praxis. Nietzsches Geburt der Tragödie lehrte es uns, daß der dionysische Abgrund, die Weisheit des Silen durch apollinische Formung gemeistert würde. Bader und Ensslin wählten einen anderen Weg. „Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen“, so Mao – zumindest wird ihm dieses Zitat zugeschrieben. Die Nähe zu Carl Schmitt ist evident.

All die Varianten des sozialen Protests. Die Bilder, die Legenden, die Toten, die Lebenden, die Überlebenden, die, die weitermachten, die in der einen Weise weitermachten oder auf die andere Weise, die wild-geniale Dichtung von Rolf Dieter Brinkmann, in ihr musikalischer Bau, wie E-Gitarrenmusik vielleicht, als Collage von Text und Bild, Brinkmann, der zum Prolog von Westwärts dieses Weitermachen dann Mitte der 70er in einen Tonlage brachte, sein „Politisches Gedicht“ als Simultanton verschiedener Stimmen, es klang wie Interferenzen beim Radiohören, Politik als Satzfetzen, Peter Handkes Auftritt im April 1966 in Princeton bei der Gruppe 47, und eine Musik, die um die ganze Welt ging, zwischen den Beatles, Bob Dylan, Joan Baez, den Stones, Jefferson Airplane oder Velvet Underground und eine Mode, die nicht nur die 70er Jahre bestimmte, sondern immer einmal wieder eruptiv nachwirkt – bis in die Gegenwart hinein. Politik als Pop. Politik, die demokratisch wurde, könnte man wohlwollend schreiben, oder eine Politik, die sich trivialisierte und Komplexes auf einfache Formeln von Liedermachern herunterrechnete. Insofern auch Adornos Verdikt gegen popular music. Solches Denken ging ganz und gar nicht mit dem „Anliegen“ der Studenten konform.

(Zum Teil 2 geht es hier)

 

18.10.1977 – Gerhard Richters Stammheim-Zyklus

Stuttgart-Stammheim, die Nacht vom 17.10.1977 auf den 18.10. Die Geiseln in der „Landshut“ sind glücklich vom GSG 9 befreit. Über Radio dringt vom Deutschlandfunk die Nachricht schnell auch zu den Gefangenen im legendären 7. Stock des Hochsicherheitstrakts. Im Plattenspieler von Andreas Baader lag die versteckte Waffe. In der Nacht zum 18. Oktobers brachten sich Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in ihren Zellen um ihr Leben. Oder sie wurden um selbiges gebracht – je nachdem welcher mythologischen Erzählung wir zu folgen gewillt sind. Irmgard Möller überlebte. Am 19. Oktober 1977 fand man in Mülhausen im Kofferraum eines Audi 100 die Leiche des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, vormals im Jahre 1943 Sachbearbeiter im Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren, zuständig unter anderem für die Arisierung der tschechischen Wirtschaft und die Beschaffung von Zwangsarbeitern für das Deutsche Reich, später Leiter des Präsidialbüros selbiger Institution und persönlicher Sekretär des Präsidenten Bernhard Adolf.

Begeben wir uns also mitten hinein zu den Dingen: Die Gemälde Gerhard Richters, sein RAF-Zyklus, gemalt 11 Jahre nach den Ereignissen, zwischen März und November 1988. (Komplett zu sehen hier, auf der Homepage des Malers.) Und wieder einmal ist es, wie schon in den Bildern vor diesem Zyklus, der „Kapitalistische Realismus“, der sich bei Richter visualisiert. Aber diesmal in einer ganz anderen Weise realistischer Malkunst. In seinen früheren Phasen arbeitete Richter analog zur Werbung. Diese stellt ihre Objekte aus, preist sie in ihrem Warencharakter, wie auch in ihrer Dinghaftigkeit als eine Art freigestellten Fetisch an. Werbung preßt Dinge, die in keinem logischen oder lebensweltlichen Zusammenhang stehen, in einen konstruierten Kontext oder aber sie stellt, im Sinne einer Ästhetik des Objekts, das Produkt frei, um es in seiner Besonderheit erstrahlen zu lassen. Solche simplen Ausstellungsstücke zeigt uns auch Richter. Man denke an den Stuhl, den Kronleuchter, das dahinradende Motorboot von 1965 oder die zwei rasenden Fiat-Automobile („Zwei Fiat“ 1964), die Richter aus einer Sarotti-Mohr-Werbung herausschnitt und verfremdete.

Gerhard Richter
Zwei Fiat, 1964
Museum Frieder Burda, Baden-Baden
© Gerhard Richter, Köln 2011

Dieses „Verfahren“ Richters, Szenen, Objekte oder Menschen aus ihrem Kontext zu isolieren, ist nicht dem Zufall geschuldet, auch wenn diese Sujets wie zufällig ausgewählt erscheinen, gefunden in Illustrierten als Photographien  – eben jene visualisierten und nun aber gemalten Object trouvé. Und hier liegt zugleich Richters Kritik an Duchamp, wenn er uns Kronleuchter, Stuhl oder Klorolle in fast photorealistischer Manier malt: es gibt noch Bilder; man kann malen, trotz aller Abschieds- und Untergangsgesängen auf die Kunst der Moderne. Das Ende der Kunst ist nicht das Ende, wie schon Ad Reinhardt, der geniale Maler schwarzer Bildflächen, dichte. Doch dieser so genannte Realismus ist zugleich ein Trug: in der Malweise verschliert, die Photographie schwimmt, verschwimmt, löst sich.

Richter ist dabei in seiner Arbeitsweise skrupulös. Auch nach der Fertigstellung prüfte er seine Bilder, überarbeitete sie, wenn ihm daran etwas nicht gefiel und etwas unstimmig war; oder er übermalte die Bilder zu etwas anderem. Diese Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern ging so weit, daß er einzelne Werke vernichtete, wenn sie seiner Beurteilung nicht standhielten. Von seinem frühen Werk aus der DDR etwa und auch von den Anfangsbildern in der BRD blieb nicht viel erhalten.

In seinem Stammheim-Zyklus verändert er diese Weise der künstlerischen Arbeit. Was aber bleibt, ist die De-Kontextualisierung. Durch die Freistellung der Motive – insbesondere bei den politischen Bildern des RAF-Zyklus – ist der Kontext ohne Hintergrundwissen zu den Geschehnissen, die mit den Bildern verbunden sind, teils nur noch zu ahnen. „Frau mit Schirm“, ein Mann in Wehrmachtsuniform („Onkel Rudi“), ein moderner Atomwaffenbomber (XL 513) deuten auf etwas, das einerseits wichtig, aber zugleich genauso  dem Alltäglichen entnommen scheint. Es fehlt im Grunde die Referenz der bildlichen Zeichen. Es ist nicht auszumachen, ob jener Bomber nicht genauso in einem futuristischen Rausch gemalt sein könnte. Doch selbst wenn dabei das Moment der Faszination an der Schnelligkeit und der zerstörerischen Technik durchscheint, so muß diese Faszination doch im Halse steckenbleiben, wenn man um die Auswirkungen der Waffen weiß. Der Futurismus, das ahnt auch Richter, stammt aus einer abgelebten Vorweltkriegsmoderne.

Die (komplexen) biographischen, lebensweltlichen oder politischen Zusammenhänge sind aus den Bildern entfernt, gleichsam herausgetrennt, herausgemalt. So entsteht eine neue Form der Referenz und damit auch eine neue Weise der (ästhetischen) Wirklicheit: die Bilder weisen auf die Malerei als solche. Dieses Überschreiten erhält insbesondere in Richters Zyklus „18. Oktober 1977“ Bedeutung. Auch in diesem Werk läßt sich der zeitgeschichtliche Bezug nur dann vollständig aktualisieren, wenn man die kollektiven Photographien aus den Zeitungen, Magazinen und dem Fernsehen vor Augen hat. Für einen Betrachter ohne diese kulturellen Kontexte zeigen die Bilder gänzlich andere Szene, so wie für die der Bibel Unkundigen ein Madonnengemälde lediglich  eine Frau präsentiert, die einen Knaben hält.

Bevor Richter den Stammheim-Zyklus fertigte, malte er seine Kerzen- und Totenkopfbilder, mithin typische Vanitas-Motive. Es deutet sich hier bereits, allerdings vage nur vermittelt über das Todesmotiv, ein Bezug zu den Bildern von „18. Oktober 1977“ an. Die Anordnung der 15 Bilder dieses Zyklus ist offen, es existiert keine vorgegebene Reihenfolge. Es gibt allerdings zwei Varianten, um diese Bilder zu präsentieren: einmal die, welche diese Gemälde in der historischen Abfolge der Geschehnisse zeigt und dann die Hängung, welche sich an der Zählung des Werksverzeichnisses von Richter orientiert.

Es übt dieser Zyklus, als ich ihn 2011 im Bucerius Forum in Hamburg sah, eine Faszination aus und zugleich hinterläßt er Rätsel, steht als erratischer Block. Ikonenmalerei? Nein. Geschichtsmalerei? Vielleicht. Direkter und pointierter kann man zwar – einerseits – das (medial vermittelte) politische Geschehen nicht verdichten als in diesem so stillen Zyklus. Andererseits wirken diese Bilder der Zeit entrückt und seltsam fern aller tagesaktuellen Politik oder Geschichte. Sie modelieren die Zeit. Erst recht, wenn man sie sich vierzig Jahre nach den Ereignissen anschaut.

Beim ersten Betrachten jenes Bildes von der Beerdigung der Toten von Stammheim auf dem Stuttgarter Friedhof („Beerdigung“) mußten meine Begleiterin und ich, da wir zu dicht vor dem Bild standen, rätseln, was da eigentlich abgebildet ist. Langsam tasteten wir uns an das Geschehen und dieses Verschwommene heran. Bis es dann irgendwann funkte: es sind ja Särge zu sehen, Sargträger und dort stehen viele Menschen. Diese gespenstische Szenerie, in welcher der Staat noch einmal und über den Tod hinaus seine Macht ausspielte. Geschichte gerinnt zum Rätsel.

Dieses erratische Moment des Zyklus erzeugt sich unter anderem dadurch, weil jene aus Illustrierten und Fernsehen vielfach bekannten, sozusagen ikonographischen Bilder in eine andere Art von Bildlichkeit transponiert werden. Richter zeigt ganz bewußt nicht die (damals) allseits bekannten Bilder: Holger Meins bei seiner Festnahme, der tote Holger Meins auf der Bahre, die Fahndungsportraits auf den Suchplakaten. Und selbst das im „Stern“ publizierte Bild der erhängten Ulrike Meinhof, das Richter als Vorlage diente, verwandelt sich sowohl durch das Abtauchen des Bildes ins Schwarz als auch dadurch, daß es als Triptychon hängt, auf dem dreimal das gleiche Motiv, jedoch in minimaler Variation und in unterschiedlichen Bildgrößen zu sehen ist. Dreimal dieselbe Tote, eine Logik der Reproduktion, während im kleinsten der Bilder die Merkmale der Strangulation verwischt und fast nicht mehr wahrnehmbar sind. Man wird beim Betrachten des Triptychons nicht „Unsterbliche Opfer ihr sanket dahin“ singen, jenes traurige Lied für die gefallenen Revolutionäre. Eingefallen ist mir dieses Lied doch.

Sind die Bilder dieses Zyklus politisch? Im Sinne der Parteinahme für eine der Seiten sicherlich nicht. Aber es spiegelt sich darin dennoch ein Stück jener Geschichte der alten BRD. Doch dieser Zyklus wurde sowohl von der staatstragenden Seite angegriffen – daß eben die Täter als Opfer gezeigt und sie zu Ikonen stilisiert werden, daß die Opfer der RAF nicht vorkommen – wie auch von Teilen der politischen Linken, die es Richter als bürgerlichem Künstler absprachen, Revolutionäres zu malen und fürs bloß Ästhetische auszuschlachten. Was eine sichtlich naiver Blick ist, denn ein Künstler kann malen oder beschreiben, was er für malenswert hält.

Zynisch könnte man hier sagen: Das Private ist politisch, und im Sinne dieses Plattenspielers als Objekt, das sich dazu eignet, auch künstlerisch gelungene Musik abzuspielen, ist das Private auch ästhetisch. Am Ende diente dieses Gerät zur Kommunikation der Häftlinge untereinander und es war darin zudem die Pistole versteckt, mit der Baader sich erschoß oder erschossen wurde – je nachdem, welcher mythologischen Erzählung wir zu folgen gewillt sind. Auch diese verschiedenen Weisen von Erzählung grundieren dieses Bilder-Zyklus, und im Jahr 1988 war es noch keineswegs ausgemacht, daß es die RAF zehn Jahre später nicht mehr geben sollte. Die Mythen wucherten und wuchern in manchen Fragen der Verstrickung von Staat und Terror immer noch – Stichwort Dritte RAF-Generation, Stichwort Verena Becker und der Buback-Mord, aber auch der Mord an dem Bankier Alfred Herrhausen – einer der rätselhaftesten politischen Aktionen. Im Jahre 1988 hatten wir es bereits mit der dritten Generation der RAF zu tun. Hier im Genälde liegt der Plattenspieler derangiert, Kabel ragen heraus, ein abgestelltes Ding, auf dem Teller harrt noch eine Platte, und man wüßte gerne, welche Musik es sein könnte, die Baader zuletzt und als letzten Song des Lebens hörte.

Richters Zyklus übersteigt in solcher Objektwahl zugleich das unmittelbar Politische, weil er die Weise der öffentlichen Wahrnehmung der Ereignisse und vor allem die mediale Vermittlung jener bleiernen Zeit, wie sie im common sense vorherrschte, entflechtete. Im Grunde wird dieser Zyklus, nach all der Hatz, der reißerischen Berichterstattung der meisten Medien sowie der Bestialisierung der RAF, von einem ruhigen Moment getragen, ohne daß es sich, wie die staatstragenden Kritiker meinen, nun um eine Hagiographie oder gar Apotheose der RAF handelt. Diese 15 Gemälde bleiben seltsam neutral. Insbesondere im Hinblick auf all jene RAF-Filme und Bücher, die dann in den 00er Jahren noch einmal auf den Markt kamen und auf den Show-Effekt setzten: Die RAF als Western oder als Beziehungsdrama – dagegen wirkt Richters Zyklus verhalten und still. Er betreibt nicht die Inszenierung der RAF als Pop und zeigt Baader nicht als wilden Popstar. Baader ist nicht Breton. Allenfalls ein toter, am Zellenboden liegend. Abstrakt fast und dahingestreckt. Ins Schwarz abgleitend. Das Bild ist drastisch, und es steht in der Tradition von Goyas „Los Caprichos“ und den „Desastres de la Guerra“. Genauso öffnet sich dabei aber der Raum zu Weegees Pressephotos – schließlich ist ja ein Photo auch die Vorlage für Richters Gemälde gewesen. Unwillkürlich denke ich an Weegees heftigen Bilder aus New York. Genau wie hier bei Baader – der hingestreckte Tote.

 

Ein Jahr später, nachdem Richter diesen Zyklus malte, fiel die Mauer. Insofern ist die Aussage Richters, daß für ihn mit dieser Serie eine persönliche Ära des Malens ende, in einem doppelten Sinne wahr. Einerseits ist hier die Malweise der Verwischungen – daß keine Spuren des Pinselstriches mehr zu sehen sind – zu ihrem Höhepunkt gekommen und endete an diesem Punkt. Richters spätere Bilder gehen nach dieser Phase in andere Richtungen. Hier trifft der Begriff des Photorealismus sehr viel eher zu als in seinem Frühwerk, was sich exemplarisch an dem Bild seiner Tochter „Betty“ (1988) zeigen läßt. (Die abstrakten Bilder, die Richter malte, müßte man hier auch noch gegenüberstellen, aber dies sprengt den Rahmen der Betrachtung.)

Wesentlich handelt es sich bei „18. Oktober 1977“ um eine Auseinandersetzung mit der Erinnerung – wie später dann auch im Zyklus „Birkenau“ –, eine Reflexion auf das Gedächtnis und die Weisen medialer Inszenierung, weshalb dieser Zyklus eine Form von (Selbst-)Reflexivität der Kunst bedeutet, die sich mit dem Draußen (als Gesellschaft) und zugleich mit dem Drinnen befaßt: mit der Frage „Was machen Bilder?“ nämlich. Alle, welche diese Zeit erlebten – und sei es als Kind – haben, sofern sie Fernsehen durften, diese Bilder und vor allem die in Postämtern und öffentlichen Gebäuden ausgestellten Fahndungsplakate vor Augen: „Anarchistische [sic!] Gewalttäter“.

Der Titel „18. Oktober 1977“ ist irreführend, wenn man ihn als bloßes Datum nimmt und um dieses herum den Raum für Assoziationen eröffnet. Es ist dieses Datum zwar Bestandteil der Geschichte und es treten darin bestimmte Momente in Konstellation: von Mogadischu, über die Toten von Stammheim, dem entführten und getöteten Hanns Martin Schleyer samt den Repressionen dieser bleiernen Zeit. Andererseits umgibt dieses Datum in dem Sinne ein verdichtendes Moment und damit auch eine Aura, weil es Momente der Imagination freisetzt. (Auf die Poetik des Datums im Derridaschen Sinne, so wie er dies an Celan in seinem Text „Schibboleth“ festmacht, wird auf „Aisthesis“ demnächst ein Text erscheinen.) Weshalb heißt ein Zyklus mit Bildern, die nicht nur in Zusammenhang mit den Ereignissen in Stammheim stehen, so und ist mit diesem Datum versehen und darin verdichtet? Über jene Datierung besteht malerisch ein Bezug zu On Kawaras Date Paintings bzw. zu dem konzeptionellen Moment. Allerdings funktionieren die Bilder – anders als bei On Kawara – wie eine geöffnete Blackbox. Was bei On Kawara als konzeptuelle Kunst eingebunden und reduziert ist auf eine Box und darin sich befindliche Zeitungsmeldungen, wird bei Richter freigesetzt. Richters Gegenständlichkeit steht jedoch immer wieder kurz davor, in jenes Schwarz zurück- oder hinüberzugleiten. Richters Kunst changiert. Kunst, die nur noch von der Grundfarbe schwarz sein kann und dennoch die Gegenständlichkeit beibehält

Aber der Zyklus geht zugleich über den Aspekt des Datum und überhaupt die Datierbarkeit hinaus. Das „Jugendbildnis“ von Ulrike Meinhof verweist auf etwas anderes, das den Themenkomplex RAF übersteigt. Es ist dieses Gemälde klassische Portraitkunst, und es bedient sich dabei dennoch des Politischen. Gleichzeitig handelt es sich bei diesem Portrait um ein Trugbild, denn es zeigt Ulrike Meinhof kurz vor dem Eintritt in die Illegalität. Keineswegs handelt es sich um ein Jugendbild, sondern die von Richter benutzte Vorlage bildet Ulrike Meinhof als 36jährige Frau ab.

Es stellt dieser Zyklus zudem – das Politische übersteigend – eine Art umfassendes, in die Moderne gewendetes Vanitasmotiv dar. Zugleich bedeutet der Zyklus eine neue Form der Historienmalerei und kann als eine Reaktion etwa auf Immendorffs neoexpressive „Café Deutschland“-Bilder verstanden werden und genauso auf Kiefers verrätselte Gemälde während seiner Deutschen Phase. Als Stichwort seien die Bilder „Märkischer Sand“ oder „Dein goldenes Haar Margarethe“ aus den frühen 80ern genannt. Richter nimmt das Überbordende und Expressive dieser Gemälde vermittels der Klarheit seiner Form zurück, und das Moment dramatischer Geschichte zeigt sich dann wieder in Richters Bilderzyklus „Birkenau“.

Das Eigentümliche und Faszinierende an diesen Stammheim-RAF-Bildern ist, daß sie ins Schwarz versinken. Ein Jahr später malte Richter – an den Deutschen Herbst anschließend – den nächsten Zyklus: „November“, „Dezember“, „Januar“: schlierenhafte, zufließende Abstraktionen, dreimal in dem riesigen Format 320 x 400 cm; Bilder, die wie blinde oder verschlissene Fenster wirken und zugleich an das abstrakte Bild „Decke“ erinnern, das eine Übermalung einer der Versionen von „Erhängte“ darstellt sowie gleichfalls an das durch Richter übermalte Totenbild von Holger Meins, welches dann lediglich „Abstraktes Bild“ heißt. Allerdings: es fließt, wie man vielfach über Richter schrieb, das Politische im Verschlieren nicht zu und es verschwimmt auch nicht, hierbei wird die Technik mit dem Gehalt verwechselt, eher müssen in diesem Zusammenhang Begriffe wie Transgression und Transponierung verwendet werden. Die Unschärfe heißt nicht, das am Ende, zehn Jahre später als Richter den Zyklus malte, die Erinnerung zerfließt und schemenhaft-unscharf gerät.

Viel Zeit ist vergangen und doch sind mir diese Vanitas-Bilder beim Betrachten immer wieder und aufs neue nahe. Im Grunde ist das solch ein Benjaminscher Moment, nur diesmal in der Kunst selbst: es sprengt sich das Kontinuum der Geschichte auf. Der RAF-Zyklus zeigt die „Dialektik im Stillstand“, eine in Kunst aufgeschlüsselte Jetztzeit, die zur Ewigkeit gerinnt. Die Revolte ist vertagt. Geschichtsschreibendes Subjekt und die reine Tathandlung des Anarchisten haben am Ende immer wieder nur das Zeug dazu, zum Sujet des Historienmalers zu werden. Das ist Richter auch, aber in einem gelungen und für die Spätmoderne adäquaten Sinn.

(Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung vom Juni 2011. Anlaß war die Gerhard Richter-Schau im Bucerius-Kunstforum Bilder einer Epoche. Vom 5. Februar 2011 – 15. Mai 2011)

Gerhard Richter (2)

Einen Text in zwei Teile aufzuspalten, ist nicht immer klug. Insbesondere wenn den Schreiber die Lust verläßt und er schon wieder bei ganz anderen Dingen weilt, ist der Zwei- oder Mehrteiler ein Unterfangen, das dann fehlzulaufen droht. Ach, warum bin ich von allem so schnell gelangweilt, gepestet und geödet? Doch sei es drum, der kleine Teil des Kantianers in mir ist vom Gedanken der Pflicht noch durchdrungen.

Begeben wir uns also mitten hinein zu den Dingen: Die Gerhard-Richter-Ausstellung in Hamburg war in 5 Themen-Räume aufgegliedert, deren Motti lauteten: „Das Banale und die neue Malerei“, „Freunde und Familie“, „Illusionen und Sehnsucht“, „Politische Vorfälle“ sowie „Getötete und Verstrickte“. In jedem dieser Themenfelder werden einzelne Motive aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraus- bzw. freigestellt – das Serielle und Experimentelle findet sich dann in den Atlas-Tafeln, die leider in dieser Ausstellung nicht zu sehen waren. Ich beschrieb dieses Freistellen im ersten Teil, etwa anhand jene Klorolle, des Stuhl und der flämischen Krone, Bilder also, die in „Das Banale und die neue Malerei“ eingeordnet waren. Und jene „Zwei Fiat“, die in keinerlei Kontext mehr mit jener Sarotti-Schokoladenwerbung stehen, aus der sie stammen, wirken wie herausgestellt, so als wären sie für sich und als seien sie ein Sinnbild für pure Geschwindigkeit, aber ohne das Versprechen des Schokoladengeschmacks, welches von der Firma Sarotti mit einem Schwarzen in folkloristischem Kostüm kurzgeschlossen wird. Kritik an Sarotti ist bei Richter sicherlich nicht intendiert; es geht ihm um anderes. Wieder einmal ist es der „Kapitalistische Realismus“, der sich visualisiert. Pure Geschwindigkeit in einem Kultobjekt. Aber Vorsicht mit der zu einfachen Kritik: der Gebrauchswert ist nicht gering anzusetzen, sondern wesentlich. Es gibt keinen Grund, schöne, wohlgeformte und schnelle Autos zu meiden. Dieses Bild zeigt zugleich ihr Versprechen und ihre Schönheit in Abstraktion.

Im Grunde arbeitet Richter genauso wie die Werbung selbst, welche Dinge, die in keinem logischen oder lebensweltlichen Zusammenhang stehen, in einen solchen konstruierten Kontext preßt. Nur daß bei Richter die Vorzeichen verkehrt sind. Bei den Automobilen steht mit einem Male der Gebrauchs-, Lust und Rauschwert da und extrahiert sich.

Dieses „Verfahren“ Richters, Szenen, Dinge oder Menschen aus ihrem Kontext zu isolieren, ist nicht dem Zufall geschuldet, auch wenn diese gezeigten, ausgestellten Objekte wie zufällig ausgewählt aussehen – eben jene visualisierten und gemalten Object trouvé. Und hier liegt zugleich die Kritik an Duchamp: es gibt noch Bilder; man kann malen. Richter ist dabei in seiner Arbeitsweise skrupulös. Auch nach der Fertigstellung prüfte er seine Bilder, überarbeitete sie, wenn ihm daran etwas nicht gefiel und in seiner Sicht unstimmig war; oder er übermalte die Bilder zu etwas anderem. Diese Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern ging so weit, daß er einzelne Werke vernichtete, wenn sie seiner Beurteilung am Ende nicht standhielten. Von seinem frühen Werk aus der DDR etwa und auch von den Anfangsbildern in der BRD blieb nicht viel erhalten.

Diese fünf Themenfelder, aus denen Bilder im Bucerius Kunst Forum präsentiert wurden, berühren die Bereiche Privates, Unterhaltung und Politisches gleichermaßen. Durch die Freistellung der Motive – insbesondere bei den politischen Bildern – ist der Kontext jedoch ohne Hintergrundwissen zu den Geschehnissen, die mit den Bildern verbunden sind, teils nur noch zu ahnen. „Frau mit Schirm“, ein Mann in Wehrmachtsuniform („Onkel Rudi“), ein moderner Atomwaffenbomber (XL 513) deuten auf etwas, aber es fehlt im Grunde die Referenz der bildlichen Zeichen. Es ist nicht auszumachen, ob jener Bomber nicht genauso in einem futuristischen Rausch gemalt sein könnte. Doch selbst wenn dabei das Moment der Faszination an der Schnelligkeit und der zerstörerischen Technik durchscheint, so muß diese Faszination doch im Halse steckenbleiben, wenn man um die Auswirkungen der Waffen weiß. Der Futurismus stammt aus einer abgelebten Vorweltkriegsmoderne.

Die (komplexen) biographischen, lebensweltlichen oder politischen Zusammenhänge sind aus den Bildern entfernt, gleichsam herausgetrennt, herausgemalt; und so entsteht eine neue bzw. andere Art der Referenz: die Bilder weisen auf die Malerei als solche und die daran gekoppelten Assoziationen, die, je nachdem wie wissend der vor den Bildern stehende, betrachtende Kopf ist, ergiebig oder eher mager ausfallen. Bei „Frau mit Schirm“ sieht man zwar einerseits, daß es sich um Jackie Kennedy handelt – auch wieder ein Bezug zu Warhol und der Pop Art – andererseits wirkt dieses Bild seltsam fremd und distanziert. Es könnte jede Frau sein, die dort dargestellt ist. Diese Transgression erhält insbesondere bei Richters Zyklus „18. Oktober 1977“ Bedeutung. Und auch in diesem Zyklus läßt sich der zeitgeschichtliche Bezug nur dann vollständig aktualisieren, wenn man die kollektiven Bilder aus den Zeitungen, Magazinen und dem Fernsehen vor Augen hat.

Bevor Richter den Stammheim-Zyklus fertigte, malte er wesentlich die Kerzen- und Totenkopfbilder, mithin die typischen Vanitas-Motive. Es deutet sich hier bereits, allerdings vage nur vermittelt über das Todesmotiv, ein Bezug zu den Bildern von „18. Oktober 1977“ an. Die Anordnung der 15 Bilder dieses Zyklus ist offen, es existiert keine vorgegebene Reihenfolge. Es gibt allerdings zwei Varianten, um diese Bilder zu präsentieren: einmal die, welche diese Gemälde in der historischen Abfolge der Geschehnisse zeigt und dann die Hängung, welche sich an der Zählung des Werksverzeichnisses von Richter orientiert.

Es übt dieser Zyklus auf mich eine Faszination aus und zugleich hinterläßt er einige Rätsel; er steht als erratischer Block, bei jeder Näherung entziehen sich diese Bilder. Direkter und pointierter kann man zwar – einerseits – das (medial vermittelte) politische Geschehen nicht verdichten als in diesem Zyklus. Andererseits wirken diese Bilder entrückt und seltsam fern. Beim ersten Betrachten jenes Bildes von der Beerdigung der Toten von Stammheim auf dem Stuttgarter Friedhof („Beerdigung“) mußten meine Begleiterin und ich, da wir zu dicht vor dem Bild standen, rätseln, was da eigentlich abgebildet ist. Langsam tasteten wir uns an das Geschehen und dieses Verschwommene heran. Bis es dann irgendwann funkte: das sind ja Särge und dort stehen sehr viele Menschen. Diese gespenstische Szenerie, in welcher der Staat noch einmal und über den Tod hinaus seine Macht ausspielte.

In Assoziation zu einer anderen Beerdigung, der von Holger Meins, fällt mir eine Anekdote ein: Als ich etwa sechzehn oder siebzehn junge Lenze zählte, lernte meinen Mutter einen Mann kennen, der Holger hieß. Sie brachte ihn, wie es so bei Müttern ist, irgendwann mit nach Hause und stellte den Mann ihrem Sohn vor. Meine Reaktion beim ersten Sehen fiel eindeutig aus: „Holger, der der Kampf geht weiter!“, begrüßte ich ihn mit der erhobenen linken Faust. Holger lachte, denn er hatte früher die Rote Fahne verteilt und so Sachen gemacht. Und so waren Holger und ich uns auf Anhieb sympathisch.

Dieses erratische Moment in dem Zyklus „18. Oktober 1977“ erzeugt sich unter anderem dadurch, weil jene aus Illustrierten und Fernsehen vielfach bekannte Bilder in eine völlig andere Art von Bildlichkeit transponiert werden. Richter zeigt ganz bewußt nicht die allseits bekannten Bilder: Holger Meins bei seiner Festnahme, der tote Holger Meins auf der Bahre, die Fahndungsportraits auf den Suchplakaten. Und selbst das im „Stern“ publizierte Bild der erhängten Ulrike Meinhof, das Richter als Vorlage diente, verwandelt sich sowohl durch das Abtauchen des Bildes ins Schwarz als auch dadurch, daß es als Triptychon hängt, auf dem dreimal das gleiche Motiv, jedoch in minimaler Variation und in unterschiedlichen Bildgrößen zu sehen ist. Dreimal dieselbe Tote, während im kleinsten der Bilder die Merkmale der Strangulation verwischt und fast nicht mehr wahrnehmbar sind. Man wird beim Betrachten des Triptychons nicht „Unsterbliche Opfer ihr sanket dahin“ singen. Eingefallen ist mir dieses Lied aber doch. (Überlegungen zum Diskurs der Gewalt ergäben noch einmal einen gesonderten Text ab. Ich spare dieses Thema dennoch aus, wenngleich es in vielfältigem Zusammenhang von hoher Bedeutung ist, insbesondere vermittelt über die klassische Moderne und ihre Auseinandersetzung mit Gewalt: Futurismus und Surrealismus seien als erste Schlagworte hierzu genannt.)

 

Sind die Bilder dieses Zyklus politisch? Im Sinne der Parteinahme für eine der Seiten sicherlich nicht. Dieser Zyklus wurde sowohl von der staatstragenden Seite angegriffen: daß eben die Täter als Opfer gezeigt und sie zu Ikonen stilisiert werden, daß die Opfer der RAF nicht vorkommen, als auch von Teilen der politischen Linken, die es Richter als bürgerlichem Künstler absprachen, Revolutionäres zu malen. Richters Zyklus übersteigt jedoch das unmittelbar Politische, weil er die Weise der öffentlichen Wahrnehmung der Geschehnisse und vor allem die mediale Vermittlung jener bleiernen Zeit, wie sie im common sense vorherrscht, entflechtet. Im Grunde wird dieser Zyklus, nach all der Hatz sowie der Bestialisierung der RAF, von einem ruhigen Moment getragen, ohne daß es sich, wie die staatstragenden Kritiker meinen, nun um eine Hagiographie oder gar Apotheose handelt. Insbesondere im Hinblick auf all den RAF-Filme und Bücher, die dann in den 00er Jahren noch einmal aufbrachen und die auf den Show-Effekt setzten: Die RAF als Western oder als Beziehungsdrama, wirkt Richters Zyklus verhalten und still. Er betreibt nicht die Inszenierung der RAF als Pop und zeigt Baader nicht als wilden Popstar. Baader ist nicht Breton. Allenfalls ein toter, am Zellenboden liegend. Abstrakt fast und dahingestreckt. Ins Schwarz abgleitend. Das Bild ist drastisch, und es steht in der Tradition von Goyas „Los Caprichos“ und den „Desastres de la Guerra“. Genauso öffnet sich dabei aber der Raum zu Weegees Pressephotos. (Und schließlich ist ja ein Photo auch die Vorlage für Richters Gemälde gewesen.)

 

Ein Jahr später, nachdem Richter diesen Zyklus malte, fiel die Mauer. Insofern ist die Aussage Richters, daß für ihn mit dieser Serie eine persönliche Ära des Malens ende, in einen doppelten Sinne wahr. Einerseits ist hier die Malweise der Verwischungen – daß keine Spuren des Pinselstriches mehr zu sehen sind – zu ihrem Höhepunkt gekommen und endet an diesem Punkt. Richters spätere Bilder gehen in andere Richtungen. Hier trifft der Begriff des Photorealismus eher noch zu als in seinem Frühwerk, was sich exemplarisch an dem Bild seiner Tochter „Betty“ zeigen läßt. (Die abstrakten Bilder, die Richter malte, müßte man hier auch noch gegenüberstellen, aber dies sprengt den Rahmen der Betrachtung.)

Wesentlich handelt es sich bei „18. Oktober 1977“ um eine Auseinandersetzung mit der Erinnerung, dem Gedächtnis und den Weisen medialer Inszenierung, weshalb dieser Zyklus eine Form von (Selbst-)Reflexivität der Kunst bzw. auf die Kunst ist, die sich mit dem Draußen (als Gesellschaft) und zugleich mit dem Drinnen befaßt: mit der Frage „Was machen Bilder?“ Alle, welche diese Zeit erlebten – und sei es als Kind – haben, sofern sie Fernsehen durften, diese Bilder und vor allem die überall hängenden Fahndungsplakate vor Augen: „Anarchistische [sic!] Gewalttäter“.

Der Titel „18. Oktober 1977“ ist irreführend, wenn man ihn als bloßes Datum nimmt und um dieses herum den Raum für Assoziationen eröffnet. Es ist dieses Datum zwar Bestandteil der Geschichte und es treten darin bestimmte Momente in Konstellation: von Mogadischu, über die Toten von Stammheim, dem entführten und getöteten Hanns Martin Schleyer samt den Repressionen dieser bleiernen Zeit. Andererseits umgibt dieses Datum in dem Sinne ein verdichtendes Moment und damit auch eine Aura, weil es Momente der Imagination freisetzt. (Auf die Poetik des Datums im Derridaschen Sinne, so wie er dies an Celan in seinem Text „Schibboleth“ festmacht, wird auf „Aisthesis“ demnächst ein Text erscheinen.) Weshalb heißt ein Zyklus mit Bildern, die nicht nur in Zusammenhang mit den Ereignissen in Stammheim stehen, so und ist mit diesem Datum versehen und darin verdichtet? Über jene Datierung besteht malerisch ein Bezug zu On Kawaras Date Paintings bzw. zu dem konzeptionellen Moment. Allerdings funktionieren die Bilder – anders als bei On Kawara – wie eine geöffnete Blackbox. Was bei On Kawara als konzeptuelle Kunst eingebunden und reduziert ist auf eine Box und darin sich befindliche Zeitungsmeldungen, wird bei Richter freigesetzt. Richters Gegenständlichkeit steht jedoch immer wieder kurz davor, in jenes Schwarz zurück- oder hinüberzugleiten. Richters Kunst changiert. Kunst, die nur noch von der Grundfarbe schwarz sein kann und dennoch die Gegenständlichkeit beibehält

Aber der Zyklus geht zugleich über den Aspekt des Datum und überhaupt die Datierbarkeit hinaus. Das „Jugendbildnis“ von Ulrike Meinhof verweist auf etwas anderes, das den Themenkomplex RAF übersteigt. Es ist dieses Gemälde klassische Portraitkunst, und es bedient sich dabei dennoch des Politischen. Gleichzeitig handelt es sich bei diesem Portrait um ein Trugbild, denn es zeigt Ulrike Meinhof kurz vor dem Eintritt in die Illegalität. Keineswegs handelt es sich um ein Jugendbild, sondern die von Richter benutzte Vorlage bildet Ulrike Meinhof als 36jährige Frau ab.

Es stellt dieser Zyklus zudem – das Politische übersteigend – eine Art umfassendes, in die Moderne gewendetes Vanitasmotiv dar. Zugleich bedeutet der Zyklus eine neue Form der Historienmalerei und kann als eine Reaktion etwa auf Immendorffs neoexpressive „Café Deutschland“-Bilder verstanden werden und genauso auf Kiefers verrätselte Gemälde während seiner Deutschen Phase. Als Stichwort seien die Bilder „Märkischer Sand“ oder „Dein goldenes Haar Margarethe“ aus den frühen 80ern genannt. Richter nimmt das Überbordende und Expressive dieser Gemälde vermittels der Klarheit seiner Form zurück.

Das Eigentümliche und Faszinierende an diesen Bildern ist, daß sie ins Schwarz versinken. Ein Jahr später malte Richter – an den Deutschen Herbst anschließend – den nächsten Zyklus: „November“, „Dezember“, „Januar“: schlierenhafte, zufließende Abstraktionen, dreimal in dem riesigen Format 320 x 400 cm; Bilder, die wie blinde oder verschlissene Fenster wirken und zugleich an das abstrakte Bild „Decke“ erinnern, das eine Übermalung einer der Versionen von „Erhängte“ darstellt sowie gleichfalls an das durch Richter übermalte Totenbild von Holger Meins, welches dann lediglich „Abstraktes Bild“ heißt. Allerdings: es fließt, wie man vielfach über Richter schrieb, das Poltische nicht zu und es verschwimmt auch nicht, hierbei wird die Technik mit dem Gehalt verwechselt, eher müssen in diesem Zusammenhang Begriffe wie Transgression und Transponierung verwendet werden. Die Unschärfe heißt nicht, das am Ende, zehn Jahre später als Richter den Zyklus malte, die Erinnerung zerfließt und schemenhaft-unscharf gerät.

Eine gelungene Ausstellung also, im kleine, aber doch gediegenen Hamburger Rahmen. Und wenn es diese Exposition noch gäbe, so führen die Leserinnen und Leser dieses Blogs sicherlich einmal nach Hamburg, um das zu sehen. Nun ist es jedoch zu spät. Abschließend bleibt zu sagen, daß die Reproduktion der Bilder im Katalog mäßig ausfiel; teils wichen die Werke in den Graustufen und in den Farben vom „Original“ erheblich ab. Nun kann man allerdings bei einem Katalogpreis von ca. 25 EUR nicht zu viel im Rahmen der Druckkunst erwarten. Es sollen solche Kataloge ja auch nur in die Bibliothek gebannte Erinnerungen sein. Was bleibt, ist das Original.

Nachsatz: Richter hat sich von der Pop Art bedient und der Pop hat von Richter genommen. So tat dies in den 80ern Sonic Youth mit ihrer schönen Platte „Daydream Nation“, die sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite ein Gemälde von Richter ziert, nämlich zwei Kerzenbilder. Ja, solche Dinge waren damals, als es noch Schallplatten gab, möglich. Es ließen sich gute Cover machen. Gut, weil groß und sichtbar und nicht derart klein wie das Postkartenformat auf den CDs. Aber dies ist eine andere Geschichte.