18.10.1977 – Gerhard Richters Stammheim-Zyklus

Stuttgart-Stammheim, die Nacht vom 17.10.1977 auf den 18.10. Die Geiseln in der „Landshut“ sind glücklich vom GSG 9 befreit. Über Radio dringt vom Deutschlandfunk die Nachricht schnell auch zu den Gefangenen im legendären 7. Stock des Hochsicherheitstrakts. Im Plattenspieler von Andreas Baader lag die versteckte Waffe. In der Nacht zum 18. Oktobers brachten sich Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in ihren Zellen um ihr Leben. Oder sie wurden um selbiges gebracht – je nachdem welcher mythologischen Erzählung wir zu folgen gewillt sind. Irmgard Möller überlebte. Am 19. Oktober 1977 fand man in Mülhausen im Kofferraum eines Audi 100 die Leiche des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, vormals im Jahre 1943 Sachbearbeiter im Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren, zuständig unter anderem für die Arisierung der tschechischen Wirtschaft und die Beschaffung von Zwangsarbeitern für das Deutsche Reich, später Leiter des Präsidialbüros selbiger Institution und persönlicher Sekretär des Präsidenten Bernhard Adolf.

Begeben wir uns also mitten hinein zu den Dingen: Die Gemälde Gerhard Richters, sein RAF-Zyklus, gemalt 11 Jahre nach den Ereignissen, zwischen März und November 1988. (Komplett zu sehen hier, auf der Homepage des Malers.) Und wieder einmal ist es, wie schon in den Bildern vor diesem Zyklus, der „Kapitalistische Realismus“, der sich bei Richter visualisiert. Aber diesmal in einer ganz anderen Weise realistischer Malkunst. In seinen früheren Phasen arbeitete Richter analog zur Werbung. Diese stellt ihre Objekte aus, preist sie in ihrem Warencharakter, wie auch in ihrer Dinghaftigkeit als eine Art freigestellten Fetisch an. Werbung preßt Dinge, die in keinem logischen oder lebensweltlichen Zusammenhang stehen, in einen konstruierten Kontext oder aber sie stellt, im Sinne einer Ästhetik des Objekts, das Produkt frei, um es in seiner Besonderheit erstrahlen zu lassen. Solche simplen Ausstellungsstücke zeigt uns auch Richter. Man denke an den Stuhl, den Kronleuchter, das dahinradende Motorboot von 1965 oder die zwei rasenden Fiat-Automobile („Zwei Fiat“ 1964), die Richter aus einer Sarotti-Mohr-Werbung herausschnitt und verfremdete.

Gerhard Richter
Zwei Fiat, 1964
Museum Frieder Burda, Baden-Baden
© Gerhard Richter, Köln 2011

Dieses „Verfahren“ Richters, Szenen, Objekte oder Menschen aus ihrem Kontext zu isolieren, ist nicht dem Zufall geschuldet, auch wenn diese Sujets wie zufällig ausgewählt erscheinen, gefunden in Illustrierten als Photographien  – eben jene visualisierten und nun aber gemalten Object trouvé. Und hier liegt zugleich Richters Kritik an Duchamp, wenn er uns Kronleuchter, Stuhl oder Klorolle in fast photorealistischer Manier malt: es gibt noch Bilder; man kann malen, trotz aller Abschieds- und Untergangsgesängen auf die Kunst der Moderne. Das Ende der Kunst ist nicht das Ende, wie schon Ad Reinhardt, der geniale Maler schwarzer Bildflächen, dichte. Doch dieser so genannte Realismus ist zugleich ein Trug: in der Malweise verschliert, die Photographie schwimmt, verschwimmt, löst sich.

Richter ist dabei in seiner Arbeitsweise skrupulös. Auch nach der Fertigstellung prüfte er seine Bilder, überarbeitete sie, wenn ihm daran etwas nicht gefiel und etwas unstimmig war; oder er übermalte die Bilder zu etwas anderem. Diese Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern ging so weit, daß er einzelne Werke vernichtete, wenn sie seiner Beurteilung nicht standhielten. Von seinem frühen Werk aus der DDR etwa und auch von den Anfangsbildern in der BRD blieb nicht viel erhalten.

In seinem Stammheim-Zyklus verändert er diese Weise der künstlerischen Arbeit. Was aber bleibt, ist die De-Kontextualisierung. Durch die Freistellung der Motive – insbesondere bei den politischen Bildern des RAF-Zyklus – ist der Kontext ohne Hintergrundwissen zu den Geschehnissen, die mit den Bildern verbunden sind, teils nur noch zu ahnen. „Frau mit Schirm“, ein Mann in Wehrmachtsuniform („Onkel Rudi“), ein moderner Atomwaffenbomber (XL 513) deuten auf etwas, das einerseits wichtig, aber zugleich genauso  dem Alltäglichen entnommen scheint. Es fehlt im Grunde die Referenz der bildlichen Zeichen. Es ist nicht auszumachen, ob jener Bomber nicht genauso in einem futuristischen Rausch gemalt sein könnte. Doch selbst wenn dabei das Moment der Faszination an der Schnelligkeit und der zerstörerischen Technik durchscheint, so muß diese Faszination doch im Halse steckenbleiben, wenn man um die Auswirkungen der Waffen weiß. Der Futurismus, das ahnt auch Richter, stammt aus einer abgelebten Vorweltkriegsmoderne.

Die (komplexen) biographischen, lebensweltlichen oder politischen Zusammenhänge sind aus den Bildern entfernt, gleichsam herausgetrennt, herausgemalt. So entsteht eine neue Form der Referenz und damit auch eine neue Weise der (ästhetischen) Wirklicheit: die Bilder weisen auf die Malerei als solche. Dieses Überschreiten erhält insbesondere in Richters Zyklus „18. Oktober 1977“ Bedeutung. Auch in diesem Werk läßt sich der zeitgeschichtliche Bezug nur dann vollständig aktualisieren, wenn man die kollektiven Photographien aus den Zeitungen, Magazinen und dem Fernsehen vor Augen hat. Für einen Betrachter ohne diese kulturellen Kontexte zeigen die Bilder gänzlich andere Szene, so wie für die der Bibel Unkundigen ein Madonnengemälde lediglich  eine Frau präsentiert, die einen Knaben hält.

Bevor Richter den Stammheim-Zyklus fertigte, malte er seine Kerzen- und Totenkopfbilder, mithin typische Vanitas-Motive. Es deutet sich hier bereits, allerdings vage nur vermittelt über das Todesmotiv, ein Bezug zu den Bildern von „18. Oktober 1977“ an. Die Anordnung der 15 Bilder dieses Zyklus ist offen, es existiert keine vorgegebene Reihenfolge. Es gibt allerdings zwei Varianten, um diese Bilder zu präsentieren: einmal die, welche diese Gemälde in der historischen Abfolge der Geschehnisse zeigt und dann die Hängung, welche sich an der Zählung des Werksverzeichnisses von Richter orientiert.

Es übt dieser Zyklus, als ich ihn 2011 im Bucerius Forum in Hamburg sah, eine Faszination aus und zugleich hinterläßt er Rätsel, steht als erratischer Block. Ikonenmalerei? Nein. Geschichtsmalerei? Vielleicht. Direkter und pointierter kann man zwar – einerseits – das (medial vermittelte) politische Geschehen nicht verdichten als in diesem so stillen Zyklus. Andererseits wirken diese Bilder der Zeit entrückt und seltsam fern aller tagesaktuellen Politik oder Geschichte. Sie modelieren die Zeit. Erst recht, wenn man sie sich vierzig Jahre nach den Ereignissen anschaut.

Beim ersten Betrachten jenes Bildes von der Beerdigung der Toten von Stammheim auf dem Stuttgarter Friedhof („Beerdigung“) mußten meine Begleiterin und ich, da wir zu dicht vor dem Bild standen, rätseln, was da eigentlich abgebildet ist. Langsam tasteten wir uns an das Geschehen und dieses Verschwommene heran. Bis es dann irgendwann funkte: es sind ja Särge zu sehen, Sargträger und dort stehen viele Menschen. Diese gespenstische Szenerie, in welcher der Staat noch einmal und über den Tod hinaus seine Macht ausspielte. Geschichte gerinnt zum Rätsel.

Dieses erratische Moment des Zyklus erzeugt sich unter anderem dadurch, weil jene aus Illustrierten und Fernsehen vielfach bekannten, sozusagen ikonographischen Bilder in eine andere Art von Bildlichkeit transponiert werden. Richter zeigt ganz bewußt nicht die (damals) allseits bekannten Bilder: Holger Meins bei seiner Festnahme, der tote Holger Meins auf der Bahre, die Fahndungsportraits auf den Suchplakaten. Und selbst das im „Stern“ publizierte Bild der erhängten Ulrike Meinhof, das Richter als Vorlage diente, verwandelt sich sowohl durch das Abtauchen des Bildes ins Schwarz als auch dadurch, daß es als Triptychon hängt, auf dem dreimal das gleiche Motiv, jedoch in minimaler Variation und in unterschiedlichen Bildgrößen zu sehen ist. Dreimal dieselbe Tote, eine Logik der Reproduktion, während im kleinsten der Bilder die Merkmale der Strangulation verwischt und fast nicht mehr wahrnehmbar sind. Man wird beim Betrachten des Triptychons nicht „Unsterbliche Opfer ihr sanket dahin“ singen, jenes traurige Lied für die gefallenen Revolutionäre. Eingefallen ist mir dieses Lied doch.

Sind die Bilder dieses Zyklus politisch? Im Sinne der Parteinahme für eine der Seiten sicherlich nicht. Aber es spiegelt sich darin dennoch ein Stück jener Geschichte der alten BRD. Doch dieser Zyklus wurde sowohl von der staatstragenden Seite angegriffen – daß eben die Täter als Opfer gezeigt und sie zu Ikonen stilisiert werden, daß die Opfer der RAF nicht vorkommen – wie auch von Teilen der politischen Linken, die es Richter als bürgerlichem Künstler absprachen, Revolutionäres zu malen und fürs bloß Ästhetische auszuschlachten. Was eine sichtlich naiver Blick ist, denn ein Künstler kann malen oder beschreiben, was er für malenswert hält.

Zynisch könnte man hier sagen: Das Private ist politisch, und im Sinne dieses Plattenspielers als Objekt, das sich dazu eignet, auch künstlerisch gelungene Musik abzuspielen, ist das Private auch ästhetisch. Am Ende diente dieses Gerät zur Kommunikation der Häftlinge untereinander und es war darin zudem die Pistole versteckt, mit der Baader sich erschoß oder erschossen wurde – je nachdem, welcher mythologischen Erzählung wir zu folgen gewillt sind. Auch diese verschiedenen Weisen von Erzählung grundieren dieses Bilder-Zyklus, und im Jahr 1988 war es noch keineswegs ausgemacht, daß es die RAF zehn Jahre später nicht mehr geben sollte. Die Mythen wucherten und wuchern in manchen Fragen der Verstrickung von Staat und Terror immer noch – Stichwort Dritte RAF-Generation, Stichwort Verena Becker und der Buback-Mord, aber auch der Mord an dem Bankier Alfred Herrhausen – einer der rätselhaftesten politischen Aktionen. Im Jahre 1988 hatten wir es bereits mit der dritten Generation der RAF zu tun. Hier im Genälde liegt der Plattenspieler derangiert, Kabel ragen heraus, ein abgestelltes Ding, auf dem Teller harrt noch eine Platte, und man wüßte gerne, welche Musik es sein könnte, die Baader zuletzt und als letzten Song des Lebens hörte.

Richters Zyklus übersteigt in solcher Objektwahl zugleich das unmittelbar Politische, weil er die Weise der öffentlichen Wahrnehmung der Ereignisse und vor allem die mediale Vermittlung jener bleiernen Zeit, wie sie im common sense vorherrschte, entflechtete. Im Grunde wird dieser Zyklus, nach all der Hatz, der reißerischen Berichterstattung der meisten Medien sowie der Bestialisierung der RAF, von einem ruhigen Moment getragen, ohne daß es sich, wie die staatstragenden Kritiker meinen, nun um eine Hagiographie oder gar Apotheose der RAF handelt. Diese 15 Gemälde bleiben seltsam neutral. Insbesondere im Hinblick auf all jene RAF-Filme und Bücher, die dann in den 00er Jahren noch einmal auf den Markt kamen und auf den Show-Effekt setzten: Die RAF als Western oder als Beziehungsdrama – dagegen wirkt Richters Zyklus verhalten und still. Er betreibt nicht die Inszenierung der RAF als Pop und zeigt Baader nicht als wilden Popstar. Baader ist nicht Breton. Allenfalls ein toter, am Zellenboden liegend. Abstrakt fast und dahingestreckt. Ins Schwarz abgleitend. Das Bild ist drastisch, und es steht in der Tradition von Goyas „Los Caprichos“ und den „Desastres de la Guerra“. Genauso öffnet sich dabei aber der Raum zu Weegees Pressephotos – schließlich ist ja ein Photo auch die Vorlage für Richters Gemälde gewesen. Unwillkürlich denke ich an Weegees heftigen Bilder aus New York. Genau wie hier bei Baader – der hingestreckte Tote.

 

Ein Jahr später, nachdem Richter diesen Zyklus malte, fiel die Mauer. Insofern ist die Aussage Richters, daß für ihn mit dieser Serie eine persönliche Ära des Malens ende, in einem doppelten Sinne wahr. Einerseits ist hier die Malweise der Verwischungen – daß keine Spuren des Pinselstriches mehr zu sehen sind – zu ihrem Höhepunkt gekommen und endete an diesem Punkt. Richters spätere Bilder gehen nach dieser Phase in andere Richtungen. Hier trifft der Begriff des Photorealismus sehr viel eher zu als in seinem Frühwerk, was sich exemplarisch an dem Bild seiner Tochter „Betty“ (1988) zeigen läßt. (Die abstrakten Bilder, die Richter malte, müßte man hier auch noch gegenüberstellen, aber dies sprengt den Rahmen der Betrachtung.)

Wesentlich handelt es sich bei „18. Oktober 1977“ um eine Auseinandersetzung mit der Erinnerung – wie später dann auch im Zyklus „Birkenau“ –, eine Reflexion auf das Gedächtnis und die Weisen medialer Inszenierung, weshalb dieser Zyklus eine Form von (Selbst-)Reflexivität der Kunst bedeutet, die sich mit dem Draußen (als Gesellschaft) und zugleich mit dem Drinnen befaßt: mit der Frage „Was machen Bilder?“ nämlich. Alle, welche diese Zeit erlebten – und sei es als Kind – haben, sofern sie Fernsehen durften, diese Bilder und vor allem die in Postämtern und öffentlichen Gebäuden ausgestellten Fahndungsplakate vor Augen: „Anarchistische [sic!] Gewalttäter“.

Der Titel „18. Oktober 1977“ ist irreführend, wenn man ihn als bloßes Datum nimmt und um dieses herum den Raum für Assoziationen eröffnet. Es ist dieses Datum zwar Bestandteil der Geschichte und es treten darin bestimmte Momente in Konstellation: von Mogadischu, über die Toten von Stammheim, dem entführten und getöteten Hanns Martin Schleyer samt den Repressionen dieser bleiernen Zeit. Andererseits umgibt dieses Datum in dem Sinne ein verdichtendes Moment und damit auch eine Aura, weil es Momente der Imagination freisetzt. (Auf die Poetik des Datums im Derridaschen Sinne, so wie er dies an Celan in seinem Text „Schibboleth“ festmacht, wird auf „Aisthesis“ demnächst ein Text erscheinen.) Weshalb heißt ein Zyklus mit Bildern, die nicht nur in Zusammenhang mit den Ereignissen in Stammheim stehen, so und ist mit diesem Datum versehen und darin verdichtet? Über jene Datierung besteht malerisch ein Bezug zu On Kawaras Date Paintings bzw. zu dem konzeptionellen Moment. Allerdings funktionieren die Bilder – anders als bei On Kawara – wie eine geöffnete Blackbox. Was bei On Kawara als konzeptuelle Kunst eingebunden und reduziert ist auf eine Box und darin sich befindliche Zeitungsmeldungen, wird bei Richter freigesetzt. Richters Gegenständlichkeit steht jedoch immer wieder kurz davor, in jenes Schwarz zurück- oder hinüberzugleiten. Richters Kunst changiert. Kunst, die nur noch von der Grundfarbe schwarz sein kann und dennoch die Gegenständlichkeit beibehält

Aber der Zyklus geht zugleich über den Aspekt des Datum und überhaupt die Datierbarkeit hinaus. Das „Jugendbildnis“ von Ulrike Meinhof verweist auf etwas anderes, das den Themenkomplex RAF übersteigt. Es ist dieses Gemälde klassische Portraitkunst, und es bedient sich dabei dennoch des Politischen. Gleichzeitig handelt es sich bei diesem Portrait um ein Trugbild, denn es zeigt Ulrike Meinhof kurz vor dem Eintritt in die Illegalität. Keineswegs handelt es sich um ein Jugendbild, sondern die von Richter benutzte Vorlage bildet Ulrike Meinhof als 36jährige Frau ab.

Es stellt dieser Zyklus zudem – das Politische übersteigend – eine Art umfassendes, in die Moderne gewendetes Vanitasmotiv dar. Zugleich bedeutet der Zyklus eine neue Form der Historienmalerei und kann als eine Reaktion etwa auf Immendorffs neoexpressive „Café Deutschland“-Bilder verstanden werden und genauso auf Kiefers verrätselte Gemälde während seiner Deutschen Phase. Als Stichwort seien die Bilder „Märkischer Sand“ oder „Dein goldenes Haar Margarethe“ aus den frühen 80ern genannt. Richter nimmt das Überbordende und Expressive dieser Gemälde vermittels der Klarheit seiner Form zurück, und das Moment dramatischer Geschichte zeigt sich dann wieder in Richters Bilderzyklus „Birkenau“.

Das Eigentümliche und Faszinierende an diesen Stammheim-RAF-Bildern ist, daß sie ins Schwarz versinken. Ein Jahr später malte Richter – an den Deutschen Herbst anschließend – den nächsten Zyklus: „November“, „Dezember“, „Januar“: schlierenhafte, zufließende Abstraktionen, dreimal in dem riesigen Format 320 x 400 cm; Bilder, die wie blinde oder verschlissene Fenster wirken und zugleich an das abstrakte Bild „Decke“ erinnern, das eine Übermalung einer der Versionen von „Erhängte“ darstellt sowie gleichfalls an das durch Richter übermalte Totenbild von Holger Meins, welches dann lediglich „Abstraktes Bild“ heißt. Allerdings: es fließt, wie man vielfach über Richter schrieb, das Politische im Verschlieren nicht zu und es verschwimmt auch nicht, hierbei wird die Technik mit dem Gehalt verwechselt, eher müssen in diesem Zusammenhang Begriffe wie Transgression und Transponierung verwendet werden. Die Unschärfe heißt nicht, das am Ende, zehn Jahre später als Richter den Zyklus malte, die Erinnerung zerfließt und schemenhaft-unscharf gerät.

Viel Zeit ist vergangen und doch sind mir diese Vanitas-Bilder beim Betrachten immer wieder und aufs neue nahe. Im Grunde ist das solch ein Benjaminscher Moment, nur diesmal in der Kunst selbst: es sprengt sich das Kontinuum der Geschichte auf. Der RAF-Zyklus zeigt die „Dialektik im Stillstand“, eine in Kunst aufgeschlüsselte Jetztzeit, die zur Ewigkeit gerinnt. Die Revolte ist vertagt. Geschichtsschreibendes Subjekt und die reine Tathandlung des Anarchisten haben am Ende immer wieder nur das Zeug dazu, zum Sujet des Historienmalers zu werden. Das ist Richter auch, aber in einem gelungen und für die Spätmoderne adäquaten Sinn.

(Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung vom Juni 2011. Anlaß war die Gerhard Richter-Schau im Bucerius-Kunstforum Bilder einer Epoche. Vom 5. Februar 2011 – 15. Mai 2011)

Gerhard Richter zum 80. Geburtstag – verspätet dargebracht – samt einem Blick auf Sonic Youths „Daydream Nation“

As Pop goes by

Gerhard Richters Bilder, die darin enthaltenen Sujets, kommen zumeist unscheinbar daher – sieht man von dem Zyklus „18. Oktober 1977“ einmal ab. Keine electric chairs, keine dekomponierten oder fahlen Körper, keine (inszenierte) Art brut, keine(sichtbaren) Risse und Brüche in der Leinwand zeigen sich in diesen Bildern, keine direkten Chocks ereignen sich. Doch gerade durch die Abwesenheit jeder Provokation und jeden unmittelbaren (Sinnen-)Reizes provozieren diese Bilder und gehen den Betrachter an, die Schläge, welche diese Bilder erteilen, sind andere. So etwa „Motorboot“ von 1965, wo vergnügte junge Menschen ihrem Hedonismus, dem Leben, dem Rausch der Geschwindigkeit frönen. Es ist dies eines jener dekontextualisierten Motive, die Richter Zeitungen oder darin enthaltener Werbung entnahm, um das Gebrauchsphoto ins Gemälde zu überführen. Indem er das (Alltags-)Motiv dem Zusammenhang entzog, ergab sich – darin ganz Pop Art – eine eigene Bildkonstellation und ein spezifischer Bedeutungsrahmen, der teils sogar etwas Bedrohliches annehmen konnte, wie jenes Bild junger Menschen auf einem Motorboot samt deren unmittelbaren Lachen, das einen schaudern läßt, wenn die Betrachterin oder der Betrachter zweimal hinsehen.

Noch unscheinbarer und beiläufiger für die Betrachterinnen kommen die Photographien aus Richters „Atlas“ daher, die momentan in Dresden zu sehen sind. Kompositorisch wirkt der „Atlas“ zunächst wie ein Garnichts, reine Schnappschüsse wie sie Familienväter mit ihrer ersten Familienkamera abknipsen, Bilder des Augenblicks, eine Reihung von Bildern aus den Photoalben der verschiedenen Zeiten, gegen welche die der Lomographie geradezu vom Willen zur Gestaltung durchsetzt aussehen. Diese photographischen Skizzen dienten Richter als Vorlage für sein Malen. Denn wie es bereits Charles Baudelaire wußte: das Wesen der Malerei in der ästhetischen Moderne ist es, im Bild das Flüchtige festzuhalten, das, was enteilt, was entschwindet und im nächsten Augenblick schon wieder fort ist – Alltagsszenen, Nebenschauplätze abseits der klassischen Sujets, der allegorischen oder der mythologischen Darstellung. (Dies motivierte auch Baudelaires Lob für Manet, nebenbei geschrieben.) Dabei setzt sich das Schöne aus der unveränderlichen Idee und den Falten und Faltungen der Mode und der Zeit zusammen. Es tritt als Doppeltes auf: „Das Schöne besteht aus einem ewigen, unveränderlichen Element, dessen Anteil äußerst schwierig zu bestimmen ist, und einem relativen, von den Umständen abhängenden Element, das, wenn man so will, eins ums andere oder insgesamt, die Epoche, die Mode, die Moral, die Leidenschaft sein wird. Ohne dieses zweite Element, das wie der unterhaltende, den Gaumen kitzelnde und die Speiselust reizende Überzug des göttlichen Kuchens ist, wäre das erste Element unverdaulich, unbestimmbar, der menschlichen Natur unangemessen. Ich bezweifle, daß sich irgendein Probestück des Schönen auffinden läßt, daß nicht diese beiden Elemente enthält.“ (Ch. Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: Sämtl. Werke Bd. 5, S. 215, München 1989)

Was für eine wunderbare Reihung!: „die Epoche, die Mode, die Moral, die Leidenschaft“. Endlich erhält die Moral jenen Platz, der ihr zukommt: im Kontext und vor allem: im selben Atemzug mit der Mode zu stehen, dort, genau dort ist ihr Ort.

Was Baudelaire in dieser Passage postuliert, ist Pop Art noch vor der Pop Art, so könnte man vorwitzig formulieren. Aber solche Gleichungen unterschlagen andererseits die spezifischen Differenzen; insofern haftet an diesen Pauschalsichten etwas Heikles. Dennoch: nach einem ähnlichen Prinzip verfuhren, freilich in unterschiedlicher Weise, Warhol, Rauschenberg, Lichtenstein oder Richter. Wenngleich Richter als ein sehr deutscher Vertreter jener „Verklärung des Gewöhnlichen“ sich erwies. Die Gegenstände des Alltags, jener Stuhl oder der Klopapierhalter, entrücken und befremden als simulierte Photographie in schwarz/weiß in ihrer Alltäglichkeit sehr viel mehr als ein bunt gestaltetes Pendant: da ist bei Richter keine colorierte Pracht und kein serieller Exzeß des Alltäglichen, sondern der Gegenstand reduziert sich, und doch ist dieser Alltagsgegenstand Richters ob dieser Eindampfung zugleich ein entrückter: Bedeutung ohne Bedeutung. Diese (fast metaphysische) Justierung der Bedeutungsdimension unterschiedet Richter grundsätzlich von der Variante Warholscher Pop Art – etwa seinen Schuhbildern, die ebenfalls Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs visualisieren, welche aber zugleich in das Feld der Mode und des chique fallen. Schuhe sind nicht bloß Schuhe, so wie eine Rose nicht nur eine Rose ist. Diese Dimension geht Richter völlig ab: das Wesen der Mode, ihr Glanz, als Flüchtigkeit und Phänomen der Oberfläche, das nun zum Thema der Kunst wird.

Denn diesem Moment des Alltäglichen innerhalb von Richters Motiven und der Bildsujets korrespondiert eine fast klassische Weise der Darstellung, welche tief in die Kunstgeschichte greift, ohne daß dabei jedoch das Geklappere von (mittlerweile leerem) Bildungsgut tönt. Das reicht über „Seestück“ (1969, 1970, 1998) und das Portrait seiner Tochter („Betty“, 1969) sowie fast zwanzig Jahre später noch einmal Betty (1988), mit dem Gesicht abgewandt sitzenden, die Bekleidung ein Rausch der Farbe Rot, und es assoziieren sich Pietà-Motive in den verschiedenen Variationen bei „S. mit Kind“. Und genauso gilt dies für jene Bilder, die Gegenstände des Alltags, des Gebrauchs oder Szenen alltäglichen Lebens visualisieren. Richter variiert das Motiv in der Zeit, was eine eigenwillige Statik des Bildes ausmacht. Es ist die Besessenheit vom Moment, welcher in einer Weise exzessiver Visualisierung eingefangen werden muß. Und zwar als Photographie, die keine ist, als Gemälde, welches sich als flüchtige Photographie camoufliert. Die Momente verwischen, verschleifen und verschlieren, und sie geraten gerade in ihrer Ambiguität deutlich. Und keine Photographie bleibt nach den Bildern Richters nur eine flüchtige Photographie. Wer sich seinen schwarz/weiß-Abzug auf ein Großformat entwickelt oder ausdruckt, kann zuweilen ein Gemälde Richters in seinem Wohnraum sein eigen nennen, insofern eine(r) im Leben überhaupt etwas ihr oder sein eigen nennen kann. Der Begriff von Bild und damit von Abbild und Realität erfuhren durch die Malerei Gerhard Richters eine Verschiebung.

Doch möchte ich zu dieser Geburtstagssession nicht bloß eine von vielen theoretischen Würdigungen herunterbeten, sondern zugleich – als Gegenpol – auf etwas anders ausweichen, das mit dem Phänomen des Pop, welches ich im Herzen zutiefst verachte, korreliert. Und zwar auf Sonic Youths Album „Daydream Nation“, wie es da auf der Platte in ausgefranster, verpixelter Schrift steht, als das Verpixeln von Schrift und Bildern sehr modern und neu war: 1988 – gerade im Studium, und neben mir Karen und Kathrin sitzend, auf eine unbestimmte Weise von Assonanz und Wahlverwandtschaft hatten wir und ein paar andere uns gefunden: „Methoden empirischer Sozialforschung“, „Einführung in die Soziologie I“, „Statistik I“; dann noch „Metaphysik“ und eine Vorlesung zur Postmoderne (beides nur Kathrin und ich). Diese Wahl gab dann für Kathrin einen Ausschlag, denn sie besaß jene oberflächliche Tiefe, die ich schätzte, weil mir das Moment des Leichten, Schwerelosen zuweilen abging, sie rief mich „Herr Geist“, ich nannte sie „Frau Körper“, denn diese Bezeichnung stimmte in jedem Detail – ach waren wir jung, ich nur halbverdorben-theoretisch und sie wild, und da kombinierte sich Musik mit dem Leben des Geistes. Und vor allem bestand unser Spiel darin, uns im Ironisieren der Welt zu überbieten. Populäre Musik gehörte zu diesem Habitus und dieser Art spöttischer Weltaneignung junger Menschen, die der Ästhetik verfallen waren, naturgemäß mit dazu. In dieser Zeit gelangte das Album „Daydream Nation“ auf den Markt. Sie hörte Sonic Youth – ich ebenfalls.

Diese geniale, ich möchte fast sagen beste Platte von Sonic Youth zieren zwei Bilder Gerhard Richters: eines steht auf der Front- und das andere auf der Rückseite. Sonic Youth ist eine kunstsinnige Band, und so ist es selbstverständlich, daß ihre Cover von Künstlern gestaltet werden, etwa die Platte „diRty“ (1992), von dem sich kürzlich ums Leben gebrachten Künstler Mike Kelly.

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Diese Bilder Richters auf „Daydream Nation“ zeigen typische Vanitas-Motive der Malerei, abbrennende Kerzen, und sie fallen in die Zeit kurz bevor er den Zyklus „18. Oktober 1977“ fertigte. Vor allem aber korrespondieren diese beiden Bilder gelungen mit dem Titel der Platte: es ist alles eitel und sehr vergänglich in diesen vorwitzigen allmachtsphantasmagorisch gesättigten Tagträumen. Omnipotenzgehabe, aber noch jene „Teen Age Riot“, wie das Eröffnungsstück der Platte heißt, ist im System (als Pop) eingeplant, um zu entschärfen und als Narkotikum der Revolte zu wirken: Punk mit Prunk bei Kaufhof, wie eine Werbeanzeige der 80er lautete. Gleichzeitig aber ist es das Statische dieser Cover-Bilder, diese Totenruhe, die befremdet. Jener tagträumenden Nation, die zugleich im „Schlaf der Vernunft“ sich befindet, wird im Pop ein Requiem gesungen. Passend ist es zudem, daß nicht jener Totenschädel von Richter gewählt wurde, den er ebenfalls im Umfeld dieser Vanitasmotive malte, sondern auf jene Bilder des Lichtes, der sich verzehrenden Flamme – wobei sich das Feld der Bedeutungen vom Symbolgehalt dieses lumen naturale, über die profane Erleuchtung bis hin zur Ausleuchtung noch des finstersten Winkels und dem Verbrennen und Enden in der Flamme erstreckt.

Plattencover und Musik samt dem Titel des Albums erwecken Räume von Assoziation, und insofern schafft es gerade diese Art von populärer Musik, wie Sonic Youth sie betreibt, auch für den Rezipienten eines Pop-Albums einen Raum ästhetischer und zugleich reflektierender Erfahrung zu öffnen. In jenen seltenen und geglückten Momenten des Pop vermag sich die Philosophie, das Denken mit jener Alltäglichkeit, die uns umgibt, gelungen und verwoben zu paaren. Allzu affirmativ sollten die Verherrlicher des Pop diese Korrespondenzen jedoch nicht lesen und affektiv besetzen. Das Reich der Zeichen, insbesondere in popkultureller Hinsicht mag unendlich erscheinen, aber die unendliche Assonanz und das daran gekoppelte Feld der Verweisungen und Zitierungen samt dem Rausch der Sinne wird schal, wenn dieses Procedere zum Selbstzweck gerät, ohne den Blick auf das gesellschaftliche und ökonomische Moment zu tätigen: daß daran eine Industrie hängt, welche verschiedene Sektionen formiert, die vom Bewußtsein und den Erfahrungsräumen, die immer kleiner ausfallen, bis hin zum Gesellschaftlichen und dem Gemachtsein des kulturindustriell gefertigten Produktes reichen.

In der Musik von Sonic Youth fällt naturgemäß selbst einem (pop-)musikalischen Laien wie mir der vielfältige Bezug zu Velvet Underground auf: I can’t stand it any more. Aber das gleichsam postmoderne Verfahren bei Sonic Youth – sie borgen, spielen an, sampeln, die Hörer sollten bei Sonic Youth mit Pop-Musik sich auskennen – trifft sich gut mit den Bildern von Richter, wenngleich beide doch aus ganz anderen Ecken der populären Kultur kommen. Dieses interessante und wie ich meine gelungene Zusammenspiel auf „Daydream Nation“ sollten Hörerin und Hörer auf sich wirken lassen.

Im Zusammenhang mit Gerhard Richter sei zu guter Letzt auf die große Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie hingewiesen, über die hier sicherlich berichtet wird, wenn die Schlange vor dem Museum nicht zu lang ausfällt. Denn dann geht der vom großen Ennui getragene Blogger lieber nach Hause oder in eine Gaststätte. Ausgelassen habe ich in meinen Betrachtungen ebenso die ungegenständlichen Bilder Richters. Diese sind einen gesonderten Essay wert.

Beenden wir diesen Text jedoch mit einem der besten Musikstücke:

Gerhard Richter zum 80. Geburtstag

Es kommt hier heute nichts dazu, weil ich keine Zeit: nein, das stimmt nicht: keine Muße, keine Lust habe. Aber ich bereite für das Wochenende einen Text zu Gerhard Richter vor. Jedoch fest mag ich es nicht versprechen. Ich möchte, will und muß Sie also noch um ein wenig Geduld bitten. Spätestens zur großen Richter-Ausstellung in der „Neuen Nationalgalerie“ gibt es bei „Aisthesis“ jedoch einen längeren Beitrag.

Aber nichtsdestotrotz: eine kleine Gratulation für Richter von einem bescheidenen Blogger gibt es natürlich trotzdem, denn ich schätze sein Werk außerordentlich, was ja für einen Menschen, der photographiert, nicht so sehr verwunderlich scheint. Und da ständig der Suchbegriff „Gerhard Richter“ Menschen auf meinen Blog führt: da verhält Bersarin sich dann serviceorientiert: Fakten, Fakten, Fakten, und immer an die Leserinnen denken!

Gerhard Richter (2)

Einen Text in zwei Teile aufzuspalten, ist nicht immer klug. Insbesondere wenn den Schreiber die Lust verläßt und er schon wieder bei ganz anderen Dingen weilt, ist der Zwei- oder Mehrteiler ein Unterfangen, das dann fehlzulaufen droht. Ach, warum bin ich von allem so schnell gelangweilt, gepestet und geödet? Doch sei es drum, der kleine Teil des Kantianers in mir ist vom Gedanken der Pflicht noch durchdrungen.

Begeben wir uns also mitten hinein zu den Dingen: Die Gerhard-Richter-Ausstellung in Hamburg war in 5 Themen-Räume aufgegliedert, deren Motti lauteten: „Das Banale und die neue Malerei“, „Freunde und Familie“, „Illusionen und Sehnsucht“, „Politische Vorfälle“ sowie „Getötete und Verstrickte“. In jedem dieser Themenfelder werden einzelne Motive aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraus- bzw. freigestellt – das Serielle und Experimentelle findet sich dann in den Atlas-Tafeln, die leider in dieser Ausstellung nicht zu sehen waren. Ich beschrieb dieses Freistellen im ersten Teil, etwa anhand jene Klorolle, des Stuhl und der flämischen Krone, Bilder also, die in „Das Banale und die neue Malerei“ eingeordnet waren. Und jene „Zwei Fiat“, die in keinerlei Kontext mehr mit jener Sarotti-Schokoladenwerbung stehen, aus der sie stammen, wirken wie herausgestellt, so als wären sie für sich und als seien sie ein Sinnbild für pure Geschwindigkeit, aber ohne das Versprechen des Schokoladengeschmacks, welches von der Firma Sarotti mit einem Schwarzen in folkloristischem Kostüm kurzgeschlossen wird. Kritik an Sarotti ist bei Richter sicherlich nicht intendiert; es geht ihm um anderes. Wieder einmal ist es der „Kapitalistische Realismus“, der sich visualisiert. Pure Geschwindigkeit in einem Kultobjekt. Aber Vorsicht mit der zu einfachen Kritik: der Gebrauchswert ist nicht gering anzusetzen, sondern wesentlich. Es gibt keinen Grund, schöne, wohlgeformte und schnelle Autos zu meiden. Dieses Bild zeigt zugleich ihr Versprechen und ihre Schönheit in Abstraktion.

Im Grunde arbeitet Richter genauso wie die Werbung selbst, welche Dinge, die in keinem logischen oder lebensweltlichen Zusammenhang stehen, in einen solchen konstruierten Kontext preßt. Nur daß bei Richter die Vorzeichen verkehrt sind. Bei den Automobilen steht mit einem Male der Gebrauchs-, Lust und Rauschwert da und extrahiert sich.

Dieses „Verfahren“ Richters, Szenen, Dinge oder Menschen aus ihrem Kontext zu isolieren, ist nicht dem Zufall geschuldet, auch wenn diese gezeigten, ausgestellten Objekte wie zufällig ausgewählt aussehen – eben jene visualisierten und gemalten Object trouvé. Und hier liegt zugleich die Kritik an Duchamp: es gibt noch Bilder; man kann malen. Richter ist dabei in seiner Arbeitsweise skrupulös. Auch nach der Fertigstellung prüfte er seine Bilder, überarbeitete sie, wenn ihm daran etwas nicht gefiel und in seiner Sicht unstimmig war; oder er übermalte die Bilder zu etwas anderem. Diese Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern ging so weit, daß er einzelne Werke vernichtete, wenn sie seiner Beurteilung am Ende nicht standhielten. Von seinem frühen Werk aus der DDR etwa und auch von den Anfangsbildern in der BRD blieb nicht viel erhalten.

Diese fünf Themenfelder, aus denen Bilder im Bucerius Kunst Forum präsentiert wurden, berühren die Bereiche Privates, Unterhaltung und Politisches gleichermaßen. Durch die Freistellung der Motive – insbesondere bei den politischen Bildern – ist der Kontext jedoch ohne Hintergrundwissen zu den Geschehnissen, die mit den Bildern verbunden sind, teils nur noch zu ahnen. „Frau mit Schirm“, ein Mann in Wehrmachtsuniform („Onkel Rudi“), ein moderner Atomwaffenbomber (XL 513) deuten auf etwas, aber es fehlt im Grunde die Referenz der bildlichen Zeichen. Es ist nicht auszumachen, ob jener Bomber nicht genauso in einem futuristischen Rausch gemalt sein könnte. Doch selbst wenn dabei das Moment der Faszination an der Schnelligkeit und der zerstörerischen Technik durchscheint, so muß diese Faszination doch im Halse steckenbleiben, wenn man um die Auswirkungen der Waffen weiß. Der Futurismus stammt aus einer abgelebten Vorweltkriegsmoderne.

Die (komplexen) biographischen, lebensweltlichen oder politischen Zusammenhänge sind aus den Bildern entfernt, gleichsam herausgetrennt, herausgemalt; und so entsteht eine neue bzw. andere Art der Referenz: die Bilder weisen auf die Malerei als solche und die daran gekoppelten Assoziationen, die, je nachdem wie wissend der vor den Bildern stehende, betrachtende Kopf ist, ergiebig oder eher mager ausfallen. Bei „Frau mit Schirm“ sieht man zwar einerseits, daß es sich um Jackie Kennedy handelt – auch wieder ein Bezug zu Warhol und der Pop Art – andererseits wirkt dieses Bild seltsam fremd und distanziert. Es könnte jede Frau sein, die dort dargestellt ist. Diese Transgression erhält insbesondere bei Richters Zyklus „18. Oktober 1977“ Bedeutung. Und auch in diesem Zyklus läßt sich der zeitgeschichtliche Bezug nur dann vollständig aktualisieren, wenn man die kollektiven Bilder aus den Zeitungen, Magazinen und dem Fernsehen vor Augen hat.

Bevor Richter den Stammheim-Zyklus fertigte, malte er wesentlich die Kerzen- und Totenkopfbilder, mithin die typischen Vanitas-Motive. Es deutet sich hier bereits, allerdings vage nur vermittelt über das Todesmotiv, ein Bezug zu den Bildern von „18. Oktober 1977“ an. Die Anordnung der 15 Bilder dieses Zyklus ist offen, es existiert keine vorgegebene Reihenfolge. Es gibt allerdings zwei Varianten, um diese Bilder zu präsentieren: einmal die, welche diese Gemälde in der historischen Abfolge der Geschehnisse zeigt und dann die Hängung, welche sich an der Zählung des Werksverzeichnisses von Richter orientiert.

Es übt dieser Zyklus auf mich eine Faszination aus und zugleich hinterläßt er einige Rätsel; er steht als erratischer Block, bei jeder Näherung entziehen sich diese Bilder. Direkter und pointierter kann man zwar – einerseits – das (medial vermittelte) politische Geschehen nicht verdichten als in diesem Zyklus. Andererseits wirken diese Bilder entrückt und seltsam fern. Beim ersten Betrachten jenes Bildes von der Beerdigung der Toten von Stammheim auf dem Stuttgarter Friedhof („Beerdigung“) mußten meine Begleiterin und ich, da wir zu dicht vor dem Bild standen, rätseln, was da eigentlich abgebildet ist. Langsam tasteten wir uns an das Geschehen und dieses Verschwommene heran. Bis es dann irgendwann funkte: das sind ja Särge und dort stehen sehr viele Menschen. Diese gespenstische Szenerie, in welcher der Staat noch einmal und über den Tod hinaus seine Macht ausspielte.

In Assoziation zu einer anderen Beerdigung, der von Holger Meins, fällt mir eine Anekdote ein: Als ich etwa sechzehn oder siebzehn junge Lenze zählte, lernte meinen Mutter einen Mann kennen, der Holger hieß. Sie brachte ihn, wie es so bei Müttern ist, irgendwann mit nach Hause und stellte den Mann ihrem Sohn vor. Meine Reaktion beim ersten Sehen fiel eindeutig aus: „Holger, der der Kampf geht weiter!“, begrüßte ich ihn mit der erhobenen linken Faust. Holger lachte, denn er hatte früher die Rote Fahne verteilt und so Sachen gemacht. Und so waren Holger und ich uns auf Anhieb sympathisch.

Dieses erratische Moment in dem Zyklus „18. Oktober 1977“ erzeugt sich unter anderem dadurch, weil jene aus Illustrierten und Fernsehen vielfach bekannte Bilder in eine völlig andere Art von Bildlichkeit transponiert werden. Richter zeigt ganz bewußt nicht die allseits bekannten Bilder: Holger Meins bei seiner Festnahme, der tote Holger Meins auf der Bahre, die Fahndungsportraits auf den Suchplakaten. Und selbst das im „Stern“ publizierte Bild der erhängten Ulrike Meinhof, das Richter als Vorlage diente, verwandelt sich sowohl durch das Abtauchen des Bildes ins Schwarz als auch dadurch, daß es als Triptychon hängt, auf dem dreimal das gleiche Motiv, jedoch in minimaler Variation und in unterschiedlichen Bildgrößen zu sehen ist. Dreimal dieselbe Tote, während im kleinsten der Bilder die Merkmale der Strangulation verwischt und fast nicht mehr wahrnehmbar sind. Man wird beim Betrachten des Triptychons nicht „Unsterbliche Opfer ihr sanket dahin“ singen. Eingefallen ist mir dieses Lied aber doch. (Überlegungen zum Diskurs der Gewalt ergäben noch einmal einen gesonderten Text ab. Ich spare dieses Thema dennoch aus, wenngleich es in vielfältigem Zusammenhang von hoher Bedeutung ist, insbesondere vermittelt über die klassische Moderne und ihre Auseinandersetzung mit Gewalt: Futurismus und Surrealismus seien als erste Schlagworte hierzu genannt.)

 

Sind die Bilder dieses Zyklus politisch? Im Sinne der Parteinahme für eine der Seiten sicherlich nicht. Dieser Zyklus wurde sowohl von der staatstragenden Seite angegriffen: daß eben die Täter als Opfer gezeigt und sie zu Ikonen stilisiert werden, daß die Opfer der RAF nicht vorkommen, als auch von Teilen der politischen Linken, die es Richter als bürgerlichem Künstler absprachen, Revolutionäres zu malen. Richters Zyklus übersteigt jedoch das unmittelbar Politische, weil er die Weise der öffentlichen Wahrnehmung der Geschehnisse und vor allem die mediale Vermittlung jener bleiernen Zeit, wie sie im common sense vorherrscht, entflechtet. Im Grunde wird dieser Zyklus, nach all der Hatz sowie der Bestialisierung der RAF, von einem ruhigen Moment getragen, ohne daß es sich, wie die staatstragenden Kritiker meinen, nun um eine Hagiographie oder gar Apotheose handelt. Insbesondere im Hinblick auf all den RAF-Filme und Bücher, die dann in den 00er Jahren noch einmal aufbrachen und die auf den Show-Effekt setzten: Die RAF als Western oder als Beziehungsdrama, wirkt Richters Zyklus verhalten und still. Er betreibt nicht die Inszenierung der RAF als Pop und zeigt Baader nicht als wilden Popstar. Baader ist nicht Breton. Allenfalls ein toter, am Zellenboden liegend. Abstrakt fast und dahingestreckt. Ins Schwarz abgleitend. Das Bild ist drastisch, und es steht in der Tradition von Goyas „Los Caprichos“ und den „Desastres de la Guerra“. Genauso öffnet sich dabei aber der Raum zu Weegees Pressephotos. (Und schließlich ist ja ein Photo auch die Vorlage für Richters Gemälde gewesen.)

 

Ein Jahr später, nachdem Richter diesen Zyklus malte, fiel die Mauer. Insofern ist die Aussage Richters, daß für ihn mit dieser Serie eine persönliche Ära des Malens ende, in einen doppelten Sinne wahr. Einerseits ist hier die Malweise der Verwischungen – daß keine Spuren des Pinselstriches mehr zu sehen sind – zu ihrem Höhepunkt gekommen und endet an diesem Punkt. Richters spätere Bilder gehen in andere Richtungen. Hier trifft der Begriff des Photorealismus eher noch zu als in seinem Frühwerk, was sich exemplarisch an dem Bild seiner Tochter „Betty“ zeigen läßt. (Die abstrakten Bilder, die Richter malte, müßte man hier auch noch gegenüberstellen, aber dies sprengt den Rahmen der Betrachtung.)

Wesentlich handelt es sich bei „18. Oktober 1977“ um eine Auseinandersetzung mit der Erinnerung, dem Gedächtnis und den Weisen medialer Inszenierung, weshalb dieser Zyklus eine Form von (Selbst-)Reflexivität der Kunst bzw. auf die Kunst ist, die sich mit dem Draußen (als Gesellschaft) und zugleich mit dem Drinnen befaßt: mit der Frage „Was machen Bilder?“ Alle, welche diese Zeit erlebten – und sei es als Kind – haben, sofern sie Fernsehen durften, diese Bilder und vor allem die überall hängenden Fahndungsplakate vor Augen: „Anarchistische [sic!] Gewalttäter“.

Der Titel „18. Oktober 1977“ ist irreführend, wenn man ihn als bloßes Datum nimmt und um dieses herum den Raum für Assoziationen eröffnet. Es ist dieses Datum zwar Bestandteil der Geschichte und es treten darin bestimmte Momente in Konstellation: von Mogadischu, über die Toten von Stammheim, dem entführten und getöteten Hanns Martin Schleyer samt den Repressionen dieser bleiernen Zeit. Andererseits umgibt dieses Datum in dem Sinne ein verdichtendes Moment und damit auch eine Aura, weil es Momente der Imagination freisetzt. (Auf die Poetik des Datums im Derridaschen Sinne, so wie er dies an Celan in seinem Text „Schibboleth“ festmacht, wird auf „Aisthesis“ demnächst ein Text erscheinen.) Weshalb heißt ein Zyklus mit Bildern, die nicht nur in Zusammenhang mit den Ereignissen in Stammheim stehen, so und ist mit diesem Datum versehen und darin verdichtet? Über jene Datierung besteht malerisch ein Bezug zu On Kawaras Date Paintings bzw. zu dem konzeptionellen Moment. Allerdings funktionieren die Bilder – anders als bei On Kawara – wie eine geöffnete Blackbox. Was bei On Kawara als konzeptuelle Kunst eingebunden und reduziert ist auf eine Box und darin sich befindliche Zeitungsmeldungen, wird bei Richter freigesetzt. Richters Gegenständlichkeit steht jedoch immer wieder kurz davor, in jenes Schwarz zurück- oder hinüberzugleiten. Richters Kunst changiert. Kunst, die nur noch von der Grundfarbe schwarz sein kann und dennoch die Gegenständlichkeit beibehält

Aber der Zyklus geht zugleich über den Aspekt des Datum und überhaupt die Datierbarkeit hinaus. Das „Jugendbildnis“ von Ulrike Meinhof verweist auf etwas anderes, das den Themenkomplex RAF übersteigt. Es ist dieses Gemälde klassische Portraitkunst, und es bedient sich dabei dennoch des Politischen. Gleichzeitig handelt es sich bei diesem Portrait um ein Trugbild, denn es zeigt Ulrike Meinhof kurz vor dem Eintritt in die Illegalität. Keineswegs handelt es sich um ein Jugendbild, sondern die von Richter benutzte Vorlage bildet Ulrike Meinhof als 36jährige Frau ab.

Es stellt dieser Zyklus zudem – das Politische übersteigend – eine Art umfassendes, in die Moderne gewendetes Vanitasmotiv dar. Zugleich bedeutet der Zyklus eine neue Form der Historienmalerei und kann als eine Reaktion etwa auf Immendorffs neoexpressive „Café Deutschland“-Bilder verstanden werden und genauso auf Kiefers verrätselte Gemälde während seiner Deutschen Phase. Als Stichwort seien die Bilder „Märkischer Sand“ oder „Dein goldenes Haar Margarethe“ aus den frühen 80ern genannt. Richter nimmt das Überbordende und Expressive dieser Gemälde vermittels der Klarheit seiner Form zurück.

Das Eigentümliche und Faszinierende an diesen Bildern ist, daß sie ins Schwarz versinken. Ein Jahr später malte Richter – an den Deutschen Herbst anschließend – den nächsten Zyklus: „November“, „Dezember“, „Januar“: schlierenhafte, zufließende Abstraktionen, dreimal in dem riesigen Format 320 x 400 cm; Bilder, die wie blinde oder verschlissene Fenster wirken und zugleich an das abstrakte Bild „Decke“ erinnern, das eine Übermalung einer der Versionen von „Erhängte“ darstellt sowie gleichfalls an das durch Richter übermalte Totenbild von Holger Meins, welches dann lediglich „Abstraktes Bild“ heißt. Allerdings: es fließt, wie man vielfach über Richter schrieb, das Poltische nicht zu und es verschwimmt auch nicht, hierbei wird die Technik mit dem Gehalt verwechselt, eher müssen in diesem Zusammenhang Begriffe wie Transgression und Transponierung verwendet werden. Die Unschärfe heißt nicht, das am Ende, zehn Jahre später als Richter den Zyklus malte, die Erinnerung zerfließt und schemenhaft-unscharf gerät.

Eine gelungene Ausstellung also, im kleine, aber doch gediegenen Hamburger Rahmen. Und wenn es diese Exposition noch gäbe, so führen die Leserinnen und Leser dieses Blogs sicherlich einmal nach Hamburg, um das zu sehen. Nun ist es jedoch zu spät. Abschließend bleibt zu sagen, daß die Reproduktion der Bilder im Katalog mäßig ausfiel; teils wichen die Werke in den Graustufen und in den Farben vom „Original“ erheblich ab. Nun kann man allerdings bei einem Katalogpreis von ca. 25 EUR nicht zu viel im Rahmen der Druckkunst erwarten. Es sollen solche Kataloge ja auch nur in die Bibliothek gebannte Erinnerungen sein. Was bleibt, ist das Original.

Nachsatz: Richter hat sich von der Pop Art bedient und der Pop hat von Richter genommen. So tat dies in den 80ern Sonic Youth mit ihrer schönen Platte „Daydream Nation“, die sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite ein Gemälde von Richter ziert, nämlich zwei Kerzenbilder. Ja, solche Dinge waren damals, als es noch Schallplatten gab, möglich. Es ließen sich gute Cover machen. Gut, weil groß und sichtbar und nicht derart klein wie das Postkartenformat auf den CDs. Aber dies ist eine andere Geschichte.

Gerhard Richter – die frühen Bilder (1)

Die Ausstellung – sie ist seit über einer Woche vorbei. Das Gewesene; das Gewese. Warum – so nebenbei gedacht – macht es einem eigentlich die Heideggersche Philosophie verdammt leicht, eine Parodie derselben zu liefern? Das Döngeln des Dings läßt sich ebenso bedeutungsschwer aufladen wie die ansonsten ernstgemeinten Sätze und Wendungen Heideggers über das Ding. Gleichfalls macht es sich jedoch jener Spott, welcher derart leicht fällt, weil Heidegger so sehr der Jargon ist, zu einfach. Aber dies stellt hier gar nicht das Thema dar, sondern vielmehr geht es um die seit dem 15.5. zuende gegangene Gerhard Richter-Ausstellung in Hamburg im Bucerius Kunst Forum. Sie begann am 5. Februar, und wie es immer im Leben des Schreibers war und ist, macht er es auf den letzten Drücker. Bei der nächsten und wie zu hören ist letzten Abfahrt der Arche Noah oder bei der Pèlerinage à l`île de Cythère werde natürlich ich es sein, der die Ausschiffung fast verfehlt, sie am Ende knapp noch erreicht, während die hölzerne oder metallische Ladeklappe bereits sanft, aber doch bestimmt und abschließend hochgleitet, gelangen ich und mein schöner Münsterländer Jagdhund gerade noch mit jenem Sprung inmitten der Katastrophe in das rettende Schiff.

Das Bucerius Kunst Forum in der Hansestadt Hamburg zeigte von Anfang Februar bis zum 15.5. eine Auswahl der Werke von Gerhard Richter aus den 60er Jahren und – damit in Korrespondenz gebracht – jenen Zyklus „18. Oktober 1977“, mit welchem sein frühes Werk, die photorealistischen Verwischungen und die Auflösung der Formen innerhalb der photorealistischen Malweise abgeschlossen sind. Es stand diese Exposition unter dem Titel „Bilder einer Epoche“ Gemälde mag man bei Richter so recht nicht schreiben, weil dieses Wort gravitätisch klingt; das Leichte und Flüchtige, das diese Bilder zugleich in sich bergen, bricht bei diesem Begriff weg. Gemälde – die malt Anselm Kiefer. Und das ist eine andere Baustelle, welche ich ebenfalls schätze. Andererseits sind es, wenn man genügend auf diese Werke Richters reflektiert, durchaus Gemälde.

Zwar klingt der Titel „Bilder einer Epoche“ für eine solche Ausstellung hochgegriffen, weil der Betrachter in seiner vorauseilenden Unwissenheit zu meinen glaubt, nun eine Vielzahl von Richter-Bildern schauen zu dürfen, während es am Ende nur einige ausgesuchte Bilder sind. Doch diese Reduktion paßt. Hamburger Understatement, so könnte man sagen, das zwar nicht unbedingt im Titel, aber in der Konzeption der Ausstellung stattfindet. Gerade durch diese Reduktion fokussiert sich der Blick, und es gerät Zentrales im Werk Richters in die Perspektive, was bei einem Zuviel, das Ausstellungen zuweilen auch bieten können, verloren geht, die Sicht verfasert, der Blick wird unkonzentriert.

Wer war Gerhard Richter? Er siedelte 1961 in die BRD über, und es zeigt sich bereits in seinen ersten (erhaltenen) Bildern, die er dort malte, seine Prägung durch die US-amerikanische Pop-Art. Alltäglichkeiten sowie Gegenstände und Sujets des Alltags werden aufgegriffen und gemalt. Doch zuerst wurden diese Dinge nicht gemalt, sondern photographiert. Denn am Anfang war das Bild. Aber als Photographie, als Abbild in Filmmaterial gebannt und dann auf Papier gebracht. Das eben ist für Richter zentral. Die Vorlagen für die meisten seiner Bilder sind Photos.

Am Anfang also standen Photographien aus Zeitungen und Illustrierten, teils waren das gesellschaftliche bzw. politische Ereignisse oder ein spektakulärer Kriminalfall, aber genauso die Werbephotographien jener 60er Jahre, die in Illustrierten wie „Quick“ oder „Stern“ eingestreut waren. Später kamen auch von Richter selbst geschossene Photographien hinzu, die als „Vorlage“ für seine Bilder dienten. Eine Sammlung dieser vielfältigen, verschiedenen Photographie stellen im Werk Richters die Atlas-Tafeln dar, welche 1997 auf der documenta X ausgestellt wurden. Neben Schnappschüssen, aus Illustrierten herausgerissenen Bildern ganz banaler Natur, gab es Portraits, Landschaftsbilder, Familienphotographien, wie wir sie aus den Photoalben der 50er, 60er, 70er Jahre her kennen. Dieses Konvolut von Bildern besitzt in seiner Zusammenstellung eine ganz eigene Qualität, indem Unverbundenes nebeneinander gefügt wird zu einer endlosen Reihe. Es handelt sich einerseits zwar um eine bloße Materialsammlung für das malerische Werk Richters, doch gleichzeitig verselbständigen sich diese bereits fertigen, dargebotenen, schnell geschossenen Bilder in ihrer Anordnung und Konstellation. Triebe man diese Sammlung noch größer aus, so hätte man gleichsam ein visuelles Echolot-Projekt produziert. Richters Malerei bzw. seine Darstellungen im Bild muß man insofern von zwei Richtungen her lesen.

Aufzuräumen ist in jedem Falle mit dem Vorurteil: Ach, der Gerhard-Richter-Effekt und der im Anschluß daran folgenden Verschlagwortung ‚Photorealismus mit Verwischungen‘. Denn wer sich Richters Bilder betrachtet, bemerkt schnell die vielfachen Schattierungen und Differenzierungen und insbesondere die Reflexion auf der Medium selbst, das bekanntlich ja die Botschaft ist. Diese verschichteten und das Werk Richters durchdringenden Aspekte lassen sich naturgemäß nur in einer Großausstellung wie 2002 in New York (bzw. 2002/03 in verschiedenen Städten der USA) entfalten. Insofern tat das Bucerius Kunst Form gut daran und machte einen klugen Zug, lediglich das frühe Werk (und damit korrespondierend den Zyklus „18. Oktober 1977“, gemalt 1988) auszustellen, um sich auf wesentliche und prägende Aspekte im Œuvre Richters zu beschränken.

Was sich gerade bei den Bildern Richters zeigt: man ist noch viel mehr als bei anderen Künstlern darauf angewiesen, sich die Bilder im Original anzusehen, denn in der Reproduktion innerhalb eines Kataloges oder auf einer Postkarte nähern sich die Bilder wieder der photographischen Vorlage an. Dadurch daß Richter Photographien als Vorlagen verwendet, löst er seine Bilder zunächst aus der traditionellen Malerei heraus; es sind Bilder von Bildern. Richters frühe Gemälde positionieren sich dabei zwischen den Fronten etablierter Malerei, changieren zwischen Realismus, Abstraktion und Fluxus (den drei großen Richtungen der 60er-Jahre-Moderne); sie sind Realismus, doch sind sie es nicht ganz, wenn etwa in dem Bild „Sargträger“ neben dem realistischen Motiv verwischte (abstrakte) Farbflächen auftauchen, was an Informel erinnert, und aus einem der Münder eine Comicsprechblase mit einer Zahlenanordnung herausragt, was Pop Art oder Dada (bzw. die Entgrenzungen von Fluxus) evozieren mag.

Auch dieses Bild ist einer Illustriertenphotographie entnommen, wobei der Hintergrund – mithin der Kontext – verwischt und weggemalt wurde, so daß eine Reduktion auf das wesentliche Geschehen bleibt, welches dadurch jedoch um so rätselhafter wirkt. Dieses Verfahren der Reduktion kann man in einigen von Richters Bilder beobachten. Wenn man die Kontexte und Bezüge nicht kennt, so sieht man lediglich Gesichter („Portrait Liz Kertelge“ 1966), vorbeirasende Automobile („Zwei Fiat“, 1965), Menschen („Mutter und Tochter“, 1965) oder ein Kampfflugzeug („XL 513“, 1964).

Aber man muß diese sich hinter den Bildern verbergenden Geschichten, genauer gesagt: diese die Bilder konstituierenden Geschichten oder Ereignisse nicht unbedingt kennen, denn bereits in der Reihung dieser Werke geht dem Betrachter selbst ohne das Hintergrundwissen etwas auf. Meist sind es Szenen des Alltags oder Alltagsgegenstände, die gemalt werden, auch eine Reiseskizze ist zu sehen (und Schloß Neuschwanstein, welches eigenartig aus den übrigen ausgestellten Bildern heraussticht, weil es in einer ganz anderen Art gemalt ist und auf eine andere Linie in Richters Entwicklung deutet) oder ein Jagdbomber, zahlreiche Portraits. Vermittels dieser Isolierung des Motivs stellt sich ein viel größeres Befremden, nein, kein größeres, sondern ein anderes Befremden ein als bei jenen Pop-Art-Bildern aus den USA, die Richter inspirierten. Dort wird die Irritation etwa durch die Reihung ein und desselben elektrischen Stuhls, des immergleichen Autounfalls, einer Atombombenexplosion in Serie, von Elvis oder von Jackie Kennedy hervorgerufen oder schlicht – wie bei Roy Lichtenstein – durch ein Comicbild in Rasterpunkten mit einer Sprechblase. Bei Richter geschieht diese Irritation anders, gleichsam deutschromantisch verrätselter, nie werden wir den deutschen Wald und das kleine und unheimliche Weimar in unserem kollektiven Strom ganz los. Etwas stimmt nicht. Jene Frau mit der Brille, die da von rechts nach links durch das Bild eilt, ist mehr als nur eine Frau mit Brille und Rock und – wie der Titel es sagt – mehr als eine Sekretärin. Und was ist mit Frau Marlow, die ihren Mund eigenwillig verzehrt?

Wenn Richter jenen „Faltbaren Trockner“ malt, so ist das nicht bloß die „Verklärung des Gewöhnlichen“ und eine heitere Spielweise der US-amerikanischen Pop Art auf die Welt der Konsumgüter und des schönen Warenzaubers – allein durch das farblich Reduzierte (nicht rein s/w, wie man bei Richter immer meint, auch den vermeintlichen s/w-Bildern wird Farbe beigemischt), sondern in diesem Bild scheint zugleich eine abgründige Melancholie und Traurigkeit auf. Wenn dieser Trockner das Wesen des kapitalistischen Segens jener 60er Jahre abgibt, so liegt die Frage nahe, wie es um dieses Wesen sozusagen seinem Begriffe nach bestellt ist und wie es sich damit in der kritischen Exposition verhalten mag. Bereits das Versprechen, welches zur maximalen Trockenfläche gegeben wird, ist ein Schlag ins Gesicht. „Kapitalistischer Realismus“ eben, was von Richter, Sigmar Polke und anderen als Begriff für Bilder und Performances eingeführt wurde. Die ironische Anspielung dabei dürfte selbstevident sein.

Mit diesen Alltagsgegenständen, die im Bild zur Darstellung kommen, geschieht bei Richter zugleich die Referenz auf das System Kunst. Sein Bild von einem Stuhl in Seitenansicht wäre ohne Beuys Objekt „Stuhl mit Fett“ so kaum gemalt worden. Bis auf das Fett, welches auf dem Stuhl lagert, ist der Stuhl identisch. Im Ausstellungsbild reduziert sich diese Szenerie dann auf den „Küchenstuhl“ (1965), der mit der Sitzfläche von der Frontseite her zu sehen ist. Ob sich Richter hierbei zugleich auf das legendäre Werk von Joseph Kosuth „One and Three Chairs“, ebenfalls 1965 entstanden, bezieht, bleibt nur eine Vermutung. Trotzdem ist diese Korrespondenz und die Reflexion auf die Bildhaftigkeit sowie das Verhältnis von Bild, Zeichen und Objekt interessant. Selbst wenn beide Werke nicht bewußt korrespondieren, zeigt das um so mehr jenes kollektive Unbewußte. (Die Bezüge zu Magrittes „Ceci n‘est pas une pipe“ wären – sprachphilosophisch und ikonographisch – noch einmal separat zu verfolgen.)

(Unteres Bild: Joseph Kosuth,  One and Three Chairs)

Noch andere photographierte, gemalte Gegenstände des Alltags gesellen sich zu diesem Stuhl: ein Kronleuchter und eine Klopapierrolle. Wenn sich sogar ein Urinoir ausstellen läßt, wie bei Duchamp, und der Rahmen der bildenden Kunst mittels dieses Ready Mades grandios erweitert wurde, weil noch das Gewöhnlichste im abgelebten Kanon der Klassik mittlerweile zum Objekt der Kunst taugt, so läßt sich eben auch eine Klorolle darstellen und verklärend transformieren. Die Transsubstantiation findet bekanntlich im Kleinsten und im Geringsten statt, manchmaal kaum merklich. Aber diese Klorolle ist nicht bloß Objekt und also Ready Made, irgendwo gefunden und herbeigeschafft, sondern die Referenz ist komplexerer Natur, denn es handelt sich um ein Gemälde und nicht um einen bloßen Gegenstand, also ein Objekt. Richters Fundstücke des Alltags sind medial vermittelt. Der rein Gegenständliche des Ready Made kehrt wieder ins Bild zurück, und dies impliziert zugleich die Kritik an Duchamp. Es ist wieder alles malbar, noch das trivialste Subjet. Die Krise der Malerei ist keine, wenn man im Sinne Richters die Parameter um ein winziges anders ausrichtet und die Blick- und Bildachsen (des Trivialen) verschiebt.

Die Nähe sowie die gleichzeitige kritische Distanz zu Duchamp zeigt sich nicht nur darin, daß Richter auf Ready Mades von Duchamp rekurriert und dies malerisch gestaltet, sondern eines seiner bekannteren Bilder „Ema (Akt auf einer Treppe“ (1966) kann als ein direkter und kritischer Bezug zu Duchamps „Nude Descending a Staircase“ gesehen werden – die kritische Differenz zu Duchamp liegt zum einen in der Gegenständlichkeit bzw. der Objekthaftigkeit und zum anderen in der Statik. Was bei Duchamp wie eine Studie zur Bewegung, wie eine Auffächerung der Perspektive sowie des Körpers anmutet und sich ins Nichts aufzulösen scheint, friert bei Richter fest. Eine zurückgenommene Fragmentierung. Die Frage bleibt, ob man das einmal Zerlegte ex post noch in eine Fügung, in eine Einheit bringen kann, ohne daß es reine Proklamation bleibt.

Fast zu schön geriet dieses Bild; anmutig und ein wenig zu verspielt. Darf man das noch? Man darf alles, wenn man es gut macht. Denn durch das Spiel mit der Referenz – Abbild des Abbilds, Trug der Photographie und zudem Abbild eines kunstgeschichtlichen Abbilds – eröffnet sich im Bild ein Mehr, welches über die bloße (schöne) Aktdarstellung der (ersten) Frau von Gerhard Richter hinausweist. Eigentlich ist es unverschämt so etwas noch zu malen, aber es wirkt nicht nur als Bild, sondern ist zudem in sich reflektiert. Normalerweise wäre dieser Rückschritt in der Form, der das Bild von Richter auf den ersten Blick durchaus ist, das Eintauchen ins abgelebte Element des Neo-Realismus, mithin ein Akt der Regression, und in bestimmtem Sinne verhält sich dieses Gemälde – hier trifft der Begriff gut – konservativ. Aber vermittelt über die Referenz einerseits und über die Malweise umschifft das Bild jene Klippen zugleich. Der Katalog erzählt die Anekdote, daß Richters Galerist Ende der 60er Jahre dieses Bild der Neuen Nationalgalerie in Berlin anbot. Von Werner Haftmann, dem damaligen Direktor, erhielt er die Antwort, daß die Nationalgalerie keine Photographien kaufe. Intuitiv hat Haftmanns dieses Gemälde gut verstanden. Dieses Bild hinterläßt in seiner Formschönheit Rätsel.

Im zweiten Teil des Essays geht es weiter zu den politischen Bildern Richters und zum Stammheim-Zyklus.