Der Schah von Persien, am 2. Juni 1967 in Berlin

Aus einem offenen Brief an Farah Diba, die damalige Gattin des Schahs von Persien, Der Brief wurde in „konkret“ vom Juni 1967 abgedruckt:

Guten Tag, Frau Pahlawi, die Idee, Ihnen zu Schreiben, kam uns bei der Lektüre der »Neuen Revue« vorn 7. und 14. Mai [1967, Hinw. Bersarin], wo Sie Ihr Leben als Kaiserin beschreiben. Wir gewannen dabei den Eindruck, daß Sie, was Persien angeht, nur unzulänglich informiert sind. Infolgedessen informieren Sie auch die deutsche Öffentlichkeit falsch. Sie erzählen da: »Der Sommer ist im Iran sehr heiß, und wie die meisten Perser reiste auch ich mit meiner Familie an die persische Riviera am Kaspischen Meer.«

»Wie die meisten Perser« – ist das nicht übertrieben? In Balutschestan und Mehran z. B. leiden »die meisten Perser« – 80 Prozent – an erblicher Syphilis. Und die meisten Perser sind Bauern mit einem Jahreseinkommen von weniger als 100 Dollar. Und den meisten persischen Frauen stirbt jedes zweite Kind – 50 von 100 – vor Hunger, Armut und Krankheit. Und auch die Kinder, die in 14tägigern Tagewerk Teppiche knüpfen – fahren auch die – die meisten? – im Sommer an die Persische Riviera am Kaspischen Meer? Als Sie in jenem Sommer 1959 aus Paris heimkehrend ans Kaspische Meer fuhren, waren Sie »richtig ausgehungert nach persischem Reis und insbesondere nach unseren natursüßen Fruchten, nach unseren Süßigkeiten und all den Dingen, aus denen eine richtige persische Mahlzeit besteht, und die man eben nur im Iran bekommen kann«.

Sehen Sie, die meisten Perser sind nicht nach Süßigkeiten ausgehungert, sondern nach einem Stück Brot. Für die Bauern von Mehdiabad z. B. besteht eine »persische Mahlzeit« aus in Wasser gereichtem Stroh, und nur 150 km von Teheran entfernt haben die Bauern schon Widerstand gegen die Heuschreckenbekämpfung geleistet, weil Heuschrecken ihr Hauptnahrungsmittel sind. Auch von Pflanzenwurzeln und Dattelkernen kann man leben, nicht lange, nicht gut, aber ausgehungerte persische Bauern versuchen es – und sterben mit 30; das ist die durchschnittliche Lebenserwartung eines Persers. Aber Sie sind ja noch jung, erst 28 – da hätten Sie ja noch zwei schöne Jahre vor sich – »die man eben nur im Iran bekommen kann«.

Auch die Stadt Teheran fanden Sie damals verändert: »Gebäude waren wie Pilze aus dem Boden geschossen; die Straßen waren breiter und geräumiger. Auch meine Freundinnen hatten sich verändert, waren schöner geworden, richtige junge Damen.«

Die Behausungen der »unteren Millionen« haben Sie dabei geflissentlich übersehen, jener 200.000 Menschen, die im Süden Teherans »in unterirdischen Höhlen und überfüllten Lehmhütten leben, die Kaninchenställen gleichen«, wie die New York Times schreibt. Dafür sorgt die Polizei des Schah, daß Ihnen sowas nicht unter die Augen kommt. Als 1963 an die tausend Menschen in einer Baugrube in der Nähe der besseren Wohnviertel Unterschlupf gesucht hatten, prügelte eine Hundertschaft von Polizisten sie da heraus, damit das ästhetische Empfinden derer, die im Sommer ans Kaspische Meer fahren, nicht verletzt würde. Der Schah findet es durchaus erträglich, daß seine Untertanen in solchen Behausungen leben, unerträglich findet er lediglich ihren Anblick für sich und Sie etc. Dabei soll es den Städtern noch vergleichsweise gut gehen. »Ich kenne Kinder – heißt es in einem Reisebericht aus Südiran -, die sich jahrelang wie Würmer im Dreck wälzen und sich von Unkraut und faulen Fischen ernähren.« Wenn diese Kinder auch nicht die Ihren sind, worüber Sie mit Recht heilfroh sein werden – so sind es doch Kinder.

Sie schreiben: »In Kunst und Wissenschaft nimmt Deutschland – ebenso wie Frankreich, England, Italien und die anderen großen Kulturvölker – eine führende Stellung ein, und das wird auch in Zukunft so bleiben.« Das walte der Schah. Was die Bundesrepublik angeht, so sollten Sie solche Prognosen vielleicht lieber den deutschen Kulturpolitikern überlassen, die verstehen mehr davon. Aber warum nicht rundheraus gesagt, daß 85 Prozent der persischen Bevölkerung Analphabeten sind, von der Landbevölkerung sogar 96 Prozent, oder: Von 15 Millionen persischen Bauern können nur 514.480 lesen. Aber die 2 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe, die Persien seit dem Putsch gegen Mossadegh 1953 bekommen hat, haben sich nach den Feststellungen amerikanischer Untersuchungsausschüsse »in Luft verwandelt«, die Schulen und Krankenhäuser, die davon u. a. gebaut werden sollten, bleiben unauffindbar. Aber der Schah schickt jetzt Wehrpflichtige auf die Dörfer, um die Armen zu unterrichten, eine »Armee des Wissens«, wie man sie selbstentlarvend nennt. Die Leute werden sich freuen, die Soldaten werden sie Hunger und Durst, Krankheit und Tod vergessen lassen. Sie kennen den Satz des Schahs, den Hubert Humphrey taktloserweise verbreitet hat: »Die Armee sei dank der US-Hilfe gut in Form, sie sei in der Lage, mit der Zivilbevölkerung fertig zu werden. Die Armee bereitet sich nicht darauf vor, gegen die Russen zu kämpfen, sie bereitet sich vor, gegen das iranische Volk zu kämpfen.«

Sie sagen, der Schah sei eine »einfache, hervorragende und gewissenhafte Persönlichkeit, einfach wie ein ganz normaler Bürger.«

Das klingt ein wenig euphemistisch, wenn man bedenkt, daß allein sein Monopol an Opium-Plantagen jährlich Millionen einbringt, daß er der Hauptlieferant der in die USA geschmuggelten Narkotika ist und daß noch 1953 das Rauschgift Heroin in Persien unbekannt war, indes durch kaiserliche Initiative heute 20 Prozent der Iraner heroinsüchtig sind. Leute, die solche Geschäfte machen, nennt man bei uns eigentlich nicht gewissenhaft, eher kriminell und sperrt sie ein, im Unterschied zu den »ganz normalen Bürgern«.

Sie schreiben: »Der einzige Unterschied ist, daß mein Mann nicht irgendwer ist, sondern daß er größere und schwerere Verantwortung als andere Männer tragen muß.«

Was heißt hier »muß«? Das persische Volk hat ihn doch nicht gebeten, in Persien zu regieren, sondern der amerikanische Geheimdienst – Sie wissen: der CIA – und hat sich das was kosten lassen. 19 Millionen Dollar soll
allein der Sturz Mossadeghs den CIA gekostet haben. Über den Verbleib der Entwicklungshilfe können nur Mutmaßungen angestellt werden, denn mit dem bißchen Schmuck, den er Ihnen geschenkt hat – ein Diadem für 1,2 Millionen DM, eine Brosche für 1,1 Millionen DM, Diamantohrringe für 210.000 DM, ein Brillantarmband, eine goldene Handtasche -, sind 2 Milliarden ja noch nicht durchgebracht.

Aber seien Sie unbesorgt, das westliche Ausland wird nicht kleinlich sein, den Schah wegen ein paar Milliarden Unterschlagungen, Opiumhandel, Schmiergeldern für Geschäftsleute, Verwandtschaft und Geheimdienstler, dem bißchen Schmuck für Sie zu desavouieren. Ist er doch der Garant dafür, daß kein persisches Öl je wieder verstaatlicht wird, wie einst unter Mossadegh, nicht bevor die Quellen erschöpft sind, gegen Ende des Jahrhunderts, wenn die vom Schah unterzeichneten Verträge auslaufen. Ist er doch der Garant dafür, daß kein Dollar in Schulen fließt, die das persische Volk lehren könnten, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen; sein Öl für den Aufbau einer Industrie zu verwenden und Devisen für landwirtschaftliche Maschinen auszugeben, um das Land zu bewässern, des Hungers Herr zu werden. Ist er doch der Garant dafür, daß rebellische Studenten und Schüler jederzeit zusammengeschossen werden und Parlamentsabgeordnete, die das Wohl des Landes im Auge haben, verhaftet, gefoltert, ermordet werden. Ist er doch der Garant dafür, daß eine 200.000-Mann-Armee, 60.000 Mann Geheimdienst und 33.000 Mann Polizei, mit US-Geldern gut bewaffnet und wohl genährt und von 12.000 amerikanischen Armee-Beratern angeleitet, das Land in Schach halten. Damit nie wieder passiert, was die einzige Rettung des Landes wäre: die Verstaatlichung des Öls, wie damals am 1. Mai 1951 durch Mossadegh. Man soll dem Ochsen, der drischt, nicht das Maul verbinden.

Was sind die Millionen, die der Schah in St. Moritz verpraßt, auf Schweizer Banken überweist, gegen die Milliarden, die sein Öl der British Petroleum Oil Corp. (BP), der Standard Oil, der Caltex, der Royal Dutch Shell und weiteren englischen, amerikanischen und französischen Gesellschaften einbringt? Weiß Gott, es ist eine »größere und schwerere Verantwortung«, die der Schah für die Profite der westlichen Welt tragen muß, als andere Männer.

Aber vielleicht dachten Sie gar nicht an das leidige Geld, vielleicht mehr an die Bodenreform. 6 Millionen Dollar pro Jahr gibt der Schah dafür aus, durch Public-Relation-Büros in der Welt als Wohltäter bekanntgemacht zu werden. Tatsächlich waren vor der Bodenreform 85 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Großgrundbesitz, jetzt sind es nur noch 75 Prozent. Ein Viertel des Bodens gehört nun den Bauern, das sie zu einem Zinssatz von 10 Prozent im Laufe von 15 Jahren abbezahlen müssen. Nun ist der persische Bauer »frei«, nun bekommt er nicht mehr nur ein Fünftel nein zwei Fünftel (eins für seine Arbeitskraft, eins für den Boden, der ihm gehört), die verbleibenden drei Fünftel bekommt auch in Zukunft der Großgrundbesitzer, der nur den Boden verkaufte, nicht aber die Bewässerungsanlagen, kein Saatgut, nicht das Zugvieh. So gelang es, die Bauern noch ärmer, noch tiefer verschuldet, noch abhängiger zu machen, noch hilfloser, gefügiger. Fürwahr, ein »intelligenter, geistvoller« Mann, der Schah, wie Sie sehr richtig bemerkten.

Sie schreiben über die Sorgen des Schahs um einen Thronfolger: »In diesem Punkt ist das iranische Grundgesetz sehr strikt. Der Schah von Persien muß einen Sohn haben, der eines Tages den Thron besteigt, in dessen Hände der Schah später die Geschicke des Iran legen kann … In diesem Punkt ist das Grundgesetz äußerst streng und unbeugsam.«

Merkwürdig, daß dem Schah ansonsten die Verfassung so gleichgültig ist, daß er z. B. – verfassungswidrig – die Zusammensetzung des Parlaments bestimmt und alle Abgeordneten vor ihrem Eintritt in das Parlament ein undatiertes Rücktrittsgesuch unterzeichnen müssen. Daß keine unzensierte Zeile in Persien veröffentlicht werden darf, daß nicht mehr als drei Studenten auf dem Universitätsgelände von Teheran zusammenstellen dürfen, daß Mossadeghs Justizminister die Augen ausgerissen wurden, daß Gerichtsprozesse unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden, daß die Folter zum Alltag der persischen Justiz gehört. Ist in diesen Dingen vielleicht das »Grundgesetz doch nicht so strikt und unbeugsam? Der Anschauung halber ein Beispiel für Folter in Persien: »Um Mitternacht des 19. Dezember 1963 begann der Untersuchungsrichter mit seiner Vernehmung. Zunächst befragte er mich und schrieb meine Antworten nieder. Später fragte er dann nach Dingen, die mich entweder nichts angingen oder von denen ich nichts wußte. Ich konnte also nur antworten, daß ich nichts wisse. Der Untersuchungsrichter schlug mir ins Gesicht und dann mit einem Gummiknüppel zunächst auf die rechte, dann auf die linke Hand. Er verletzte beide Hände. Mit jeder Frage schlug er erneut zu. Dann zwang er mich, nackt auf einer heißen Kochplatte zu sitzen. Schließlich nahm er die Kochplatte in die Hand und hielt sie an meinen Körper, bis ich bewußtlos wurde. Als ich wieder zu mir kam, stellte er erneut seine Fragen. Er holte eine Flasche mit Säure aus einem anderen Zimmer, schüttete den Inhalt in ein Meßglas und tunkte den Knüppel ins Gefäß … «

Sie wundern sich, daß der Präsident der Bundesrepublik Sie und Ihren Mann, in Kenntnis all diesen Grauens, hierher eingeladen hat? Wir nicht. Fragen Sie ihn doch einmal nach seinen Kenntnissen auf dem Gebiet von KZ-Anlagen und Bauten. Er ist ein Fachmann auf diesem Gebiet.

Sie möchten mehr über Persien wissen? In Hamburg ist kürzlich ein Buch erschienen, von einem Landsmann von Ihnen, der sich wie Sie für deutsche Wissenschaft und Kultur interessiert, wie Sie Kant, Hegel, die Brüder Grimm und die Brüder Mann gelesen hat: Bahman Nirumand: »Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder die Diktatur der Freien Welt«, mit einem Nachwort von Hans Magnus Enzensberger, rororo-aktuell Band 945, März 1967. Ihm sind die Fakten und Zitate entnommen, mit denen wir Sie oberflächlich bekanntgemacht haben. Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die nach der Lektüre dieses Buches noch nachts gut schlafen können, ohne sich zu schämen.

Wir wollten Sie nicht beleidigen. Wir wünschen aber auch nicht, daß die deutsche Öffentlichkeit durch Beiträge, wie Ihren in der »Neuen Revue«, beleidigt wird.

Hochachtungsvoll,
Ulrike Marie Meinhof

Journalismus der Extraklasse, der zudem den Betrug einer bestimmten Art von bundesdeutscher Berichterstattung enlarvt: das Lobhudeln. Für diesen Brief muß man Ulrike Meinhof, geboren am 7. Oktober 1934 in Oldenburg, immer noch danken, es ist ein Grundlagentext, und man kann aus solchen Texten auch herauslesen, was das implizit mit dem 14. Mai 1970 zu tun hat, und auch hier gibt es Motive, weshalb vor 50 Jahren die RAF entstand. Das muß man nicht gut finden und solche Motive rechtfertigen keine solchen Taten, schon gar nicht Morde, aber es zeigt dieser emphatische und kluge Text den Geist dieser Jahre und das große Mißtrauen nicht nur gegenüber den USA, die seit Jahren mit Agent Orange, Menschenerschießungen und Massakern in Vietnam einen blutigen Krieg führen – im Namen von Freiheit und Democracy.

Am 14. Mai 1970 fand in Berlin-Dahlem in dem „Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen“ in der Miquelstraße 83 die Befreiung von Andreas Baader statt, der wegen des Kaufhausbrandes 1968 in Frankfurt seit April 1970 in Tegel im Gefängnis saß. Geplant wurde die Befreiungsaktion von Gudrun Ensslin und Horst Mahler und an der beteiligt  waren neben Ensslin, Irene Goergens, Ingrid Schubert, Astrid Proll, ein bisher unbekannter Mann und eben jene Journalistin Ulrike Meinhof. Eine hohe Frauenquote, um einen Mann zu befreien. Meinhof diente als Lockvogel und als Vorwand fürs Offizielle, immerhin war sie Journalistin. Sie sollte Baader in jenem Institut das Quellenstudium und die Einsicht in einige Zeitschriften ermöglichen, die nicht in die JVA Tegel verbracht werden konnten. Baader und Meinhof arbeiteten zu dieser Zeit gemeinsam an einem Buch „Organisation randständiger Jugendlicher“, so ging die Legende. Beide saßen zusammen mit zwei Wächtern im Leseraum des Instituts. Und plötzlich traten zwei maskierte Bewaffnete in den Raum. Es gab ein Handgemenge mit den Wächtern, es fielen Schüsse. Beide Wächter waren verletzt.

Baader konnte befreit werden und die Eindringlinge sprangen zusammen mit Ulrike Meinhof aus dem Fenster: Jener seltsame Sprung in ein anderes Leben, ein Sprung, der eine Existenz mit einem einzigen Schritt, in einer einzigen Sekunde, von der einen Seite auf die andere Seite einer Trennlinie beförderte. Denn ohne Probleme wäre es Meinhof möglich gewesen, sitzen zu bleiben. Ihr die Tat nachzuweisen, wäre schwierig gewesen. Ein einziger Schritt, der am Ende und sechs Jahre später ins Aus führte. Was diesen Leben bis zu jenem Einschnitt publizistisch bewegt hat, kann man in ihren Artikeln nachlesen. Der offene Brief an Farah Diba gehört mit zu ihren stärksten Texten.

Mit Gründungsmythen bin ich vorsichtig. Es gab zu viele Ereignisse und nicht das eine und einzige, aus der heraus plötzlich die RAF entstand, so daß nun plötzlich aus emotional und politisch bewegten und auch radikalisierten Studenten Menschen wurden, die keine andere Chance sahen, als in Deutschland zur Waffe zu greifen. Insofern ist der 14. Mai kein Geschichtszeichen. Das sind eher schon der Mord an Benno Ohnesorg, erschossen am 2. Juni von einem West-Berliner Polizisten, Karl-Heinz Kurras, der für diese Tat niemals zur Rechenschaft gezogen wurde, und dann am 14. April 1968 das Attentat auf Rudi Dutschke am Kurfürstendamm 142.

Es sind dies alles und auch die Aktionen, Taten und Morde der RAF Ereignisse, die mich in den 1980er Jahren und in meiner politischen Sozialisation, zusammen mit den Texten von Sartre, Camus, Kafka, Brecht, Beckett, Adorno, Freud, Marx, Hegel und Marcuse  bewegt haben. Die Frage nach dem Sinn de RAF und inzwischen auch mit ihrer Geschichte, die ja immerhin zehn Jahre schon währte, stand auch zu dieser Zeit schon auf der Tagesordnung bei mir.

Verstehen heißt nicht billigen. Aber manche Motive bei der RAF z.B. waren durchaus richtig. Nur eben in einer falschen Umsetzung. Schleyer hätte man nach seiner Befragung im „Volksgefängnis“ und als es für alle raus war, was er in Böhmen und Mähren getan hatte, freilassen müssen. DAS wäre sehr viel beschämender gewesen als sein Tod, der nur dumm war. Die RAF insgesamt war sicherlich ein falscher Weg, aber das müssen die noch lebenden Akteure mit sich selbst abmachen, ich kann es nur als Zuschauer und teils als Zeitzeuge betrachten – wenngleich ich für die Offensive 1972 in Heidelberg damals Anfang der 1980er Jahre eine gewisse Sympathie hegte. Daß ein verbrecherischer Krieg, den die USA in Vietnam führte, nun in die Kasernen der USA getragen würde.

Meinhof setzte mit diesem Sprung aus dem Fenster ihre bürgerliche Existenz und ihre Arbeit als Journalistin aufs Spiel. Ob dieser Seitenwechsel sinnvoll und gesellschaftlich wirkungsvoll war, darf man bezweifeln.  Als Publizistin hätte sie vermutlich mehr und besseres erreicht. Aber sie hat an diesem Tag eine Wahl getroffen oder wurde einfach in eine Wahl gezogen. Das ist schwierig zu entscheiden, was die Motive für diesen Sprung aus dem Fenster gewesen sein mögen, der ein Sprung in ein anderes Leben war. Es endete am 9. Mai 1976 in Stuttgart-Stammheim.

Bildquelle: Wikipedia: CC-Lizenz, Urheber des Bildes: Bodo Kubrak

38 Gedanken zu „Der Schah von Persien, am 2. Juni 1967 in Berlin

  1. Pingback: Schahbesuch, Ulrike Meinhof und Andreas Baader, die Gründung der Roten Armee-Fraktion – Traduzione

  2. Großartiger Beitrag. Bin noch am Schaffen, werde also erst später zu einem längeren Kommentar kommen, verlinke aber schon mal.

  3. Du bist ja von der Geschichte der sozialen Bewegungen und in diesen Fragen politischer Aktion eher noch am Ball. Ich gehöre ja eher zu den Zuschauern aus der Ferne.

  4. Die Gründung der RAF stellte nicht nur hinsichtlich der militanten Praxis einen radikalen Bruch mit der bisherigen Geschichte der deutschen Linken dar, sondern auch in theoretischer Hinsicht. Die politische Theorie – oder Ideologie – der RAF, von ihnen selbst als Antiimperialismus bezeichnet, wobei es noch viele andere Antiimperialismen gibt, wir sprechen heute vom klassischen Antiimperialismus, da der Neue Antiimperialismus, aus einem radikalen Bruch mit Guerrillaorganisationen wie der RAF entstanden, völlig andere Inhalte hat, beinhaltet wiederum einen radikalen Bruch mit der Geschichte der Arbeiterbewegung. Nicht Proletariat und Bouergoisie stehen sich mehr in den einzelnen Ländern als Klassenantagonisten gegenüber, sondern der Klassenwiderspruch hat eine geopolitische Dimension angenommen. Die Arbeiterschaft in den Industriestaaten ist kein objektives Proletariat mehr, sondern ein neues Kleinbürgertum, weil es einen hohen materiellen Lebensstandard hat, der von der Ausbeutung der Werktätigen in den drei Kontinenten des Südens subventioniert wird. Selbst der letzte Obdachlose profitiert noch von der Ausbeutung der Dritten Welt. Der Klassenwiderspruch stellt sich dar zwischen der Metropole – USA, Westeuropa, Japan, Australien, Neuseeland – und dem Trikont – Südamerika, Afrika, Asien südlich der Sowjetunion und Chinas.

    Demzufolge kann es die Aufgabe der Revolutionäre in den Metropolen nur sein, die Aufstandsbekämpfungsmaschinerie des Westens zu bekämpfen, um einen vom Trikont ausgehenden Befreiungskampf, der irgendwann zur Weltrevolution führen kann zu ermöglichen. Dieser Kampf kann vom Engagement in der Friedensbewegung bis zum Kampf in der RAF reichen, letzterer wurde von den Antiimperialisten – Antiimps, wie sie im linken Szenejargon gennant wurden und die in den 70ern bis 90ern eine Szene in der Szene bildeten – als höchste Entwicklungsstufe betrachtet, wie eine Einweihung in einer Loge, und als „zur Front kommen“ bezeichnet. Die RAF war in Deutschland nicht die einzige antimperialistische Stadtguerrilla, und sie war regional hauptsächlich in NRW, Baden-Württemberg und Hessen aktiv. Hingegen war die Bewegung 2. Juni, die mit ihrem Namen deutlich machte, dass der Staat mit dem Totschießen angefangen hat, hauptsächlich in Berlin aktiv. Drittens gab es noch die Revolutionären Zellen, auf die aus Platzgründen ich an dieser Stelle nicht eingehen möchte.

    Das Ganze war auch nicht nur auf Deutschland beschränkt. Bei den Antiimperialisten handelte es sich um eine internationale Bewegung, die von den südamerikanischen Tupamaros ihren Ausgang genommen hatte. Als zum ersten Mal ein palästinensisches Kommando einen Kibbuz angriff stand in der Kommandoerklärung: „Meldet Che Guevara, dass wir die dritte Front gegen den Imperialismus eröffnet haben!“

    Bei dieser problematischen Fixierung von Revolution aufs Militärische spielen Faktoren eine Rolle, die nur vor dem Hintergrund jener Zeit, im Spannungsfeld zwischen Vietnamkrieg, Nahostkonflikt und Kaltem Krieg verständlich werden. Die USA legitimierten ihren Vernichtungskrieg in Vietnam mit der „Dominotheorie“: Fällt ein Staat an den Kommunismus, breitet dieser sich in die Nachbarstaaten aus, nach Vietnam, Kambodscha und Laos dann Thailand, Malaysia, Indonesien, Philippinen. Die Weltrevolution schien möglich als eine Art Lauffeuer im Trikont, das irgendwann auf die Metropolen übergreift. Das wurde von den Antiimperialisten genauso gesehen, und Che Guevara forderte: „Schafft drei, vier, viele Vietnams!“. Seinerseits formulierte er die Focustheorie: Außerhalb des Dominoeffekts antikolonialer Befreiungskämpfe könne die Avantgarde, die sich selber schaffe auch in anderen Ländern des Trikonts durch entschlossene Aktionen weitere revolutionäre Brennpunkte schaffen und den weltrevolutionären Flächenbrand vergrößern – ein Irrtum, der ihn das Leben kostete.

    Ich selbst hatte mit den FreundInnen des bewaffneten Kampfes nur sehr peripher zu tun, allerdings zum Teil in prägender Weise. Von den ProtagonistInnen habe ich nur Inge Viett kennengelernt, allerdings hat ein Anhänger des 2. Juni für mich die Rolle des politischen Lehrmeisters gespielt. Das allerdings ist eine Geschichte, die ich wahrscheinlich auf meinem Blog weitererzähle, da sie noch mindestens genauso lang ist wie dieser Kommentar bisher.

  5. Gerade der 2. Juni und im Zusammenhang damit auch die umherschweifenden Haschrebellen sind da wichtig, zu nennen, weil sie noch einmal einen anderen Zweig dieser – international vernetzten – Bewegung bildeten. Nämlich die eher undogmatische Seite. Während man den RAF-Leuten immer wieder ihre kalte Rationalität vorhielt – wobei man bei solchen Erzählungen über andere auch wieder vorsichtig sein und sehen muß, ob da nicht auch ein Narrativ gestiftet wird.

    Die Ausweitung des politischen und dann am Ende auch des bewaffneten Kampfes, gerade auch nach dem Einschlafen und Scheitern der 1968er Bewegung in den westlichen Metropolen, ist ein weiterer wichtiger Aspekt, nachdem sich die linke entweder in dauerdebattierende Splitter-K-Gruppen auffächerte, die darum konkurrierten, den wahren roten Stein der Weisen gefunden zu haben, und dem Ausstieg in Landkommunen und Gemeinschafts- oder alternative Lebensformen. Die Zeit der Zersplitterung also.. Wesentlich vor allem, weil die Arbeiter sich am Ende als eine doch sehr eigene Gruppe nach eigenen Gesetzen erwies. Und wenn die Ketten, die der Proletarier nur zu verlieren hat, nicht mehr als Ketten empfunden werden, dann ist auch die Rede von einer proletarischen Revolution sinnlos, mag man noch so sehr betonen, daß die Ketten aus Gold sind, die Proletarier einem Trug unterliegen und die Toleranz des Westens eine repressive ist. Wohlstand lockt. So sehr, daß die Arbeiter der DDR es zunehmend in den Westen zog. Es mußten also neue Konzepte her. Diese Zersplitterung jedoch, oder man kann es auch Individualisierung nennen, führt am im Gang des Prozesses dazu, daß am Ende, so wie wir es heute vor allem haben, plötzlich die Identitätspolitik der eigenen Gruppe in den Fokus rückt. Das was bei Habermas noch als Konzept der Lebenswelt angedacht war, im Sinne einer Alternativkultur und einer erweiterten Öffentlichkeit auch, die bürgerliche Öffentlichkeit ergänzt, um gegen die Systemwelt zu opponieren, hat sich derart in Einzelteile aufgelöst, daß ein gesellschaftliches Ganzes, zu dem alle diese Teile gehören, kaum noch im Blick ist. Man ist nicht mehr Bürger eines Staates, zoon politicon, sondern man ist primär Schwuler, Lesbe, Schwarzer oder gerne auch ein sogenannter PoC, Intersexueller, Türke etc. pp. und klagt Partialrechte für sich ein. Und je mehr in einer Gesellschaft wie etwa der BRD diese Rechte eigentlich schon zugesichert sind, desto lauter werden diese Stimmen. Einher geht diese Inszenierung mit dem Opfernarrativ. Wir wissen beide, glaube ich, in etwa, welche Leute, auch aus der Bloggosphäre, ich hier meine.

    Das Problem dieser politischen Kämpfe ist das Partiale und daß es durch solche Auflösungen kaum noch möglich ist, breitere Schichten für eine politische Sache zu erreichen – es sei denn irgendwo bricht einmal wieder ein schrecklicher Krieg aus oder ein Atomkraftwerk explodiert. Diese Auflösung jedoch ist ansonsten, im Augenblick zumindest, es gibt in Gesellschaftsdingen keine ontologischen Konstanten, relativ festgezurrt. Was zugleich auch am politischen System selbst liegt – was ich übrigens per se nicht für verkehrt halte, da ich gesellschaftliche Veränderungen doch besser evolutionär als per Revolution einer irren Masse möchte. (Aber das sind dann auch wieder Detailfragen des Austarierens von liberaler Politik, sozialer Marktwirtschaft mit sozialistischen Komponenten und einer parlamentarischen Demokratie, die es vermag, den Kapitalismus sich anzuverwandeln – sofern das überhaupt möglich ist.) Die Revolutionen des 18., 19. und 20. Jhds sind jedoch vielfach problematisch geworden. Wandel geschieht auf andere Weise. Wie sich Umweltstandards in einer Gesellschaft wandeln können, aber auch die Möglichkeiten für Schwule, Lesben, Migranten und sonstige Leute mit sonstigen sexuellen Orientierungen, zeigt der (evolutionäre) Wandel von den 1980er zu den 2000er Jahren. Nur eben: geblieben ist einer: der große Anverwandler Kapitalismus, der Proteusgott, der den einen Wohlstand bringen kann und den anderen Vernichtung. Und insofern ist es für heute wichtig, auch global zu denken und das Elend in vielen Ländern der sogenannten Dritten Welt in den Blick zu nehmen. Ich denke, daß das Wirken von Großkonzernen nur dadurch geändert werden kann, daß in reichen Ländern, wo wesentliche Käuferschichten sitzen, die mit ihrem Konsumverhalten auch über die Produktion mitentscheiden, Leute Protest machen und mit Phantasie und Aktion auf der Straße und im Internet immer wieder auf solche Konzerne aufmerksam machen, die solche Standards verletzen. Und dafür spielt auch die Presse eine Rolle. Öffentlichkeit ist hier immer noch ein zentraler Begriff. Auch für den gesellschaftlichen Wandel, sogar global gesehen.

    All das freilich sind nur Aspekte im Blick auf ein relativ komplexes System an Bezügen.

  6. “ Und wenn die Ketten, die der Proletarier nur zu verlieren hat, nicht mehr als Ketten empfunden werden, dann ist auch die Rede von einer proletarischen Revolution sinnlos“

    Vielleicht haben sie ja gar keine Ketten mehr? Die „Proletarier“ in den westlichen Ländern sind mit ihrem Leben im wesentlichen ganz zufrieden, und die Menschen der III. Welt wollen keine Weltrevolution, sondern auch so ein Leben wie die Menschen im Westen.

    Also sollte man die Weltrevolution vielleicht allmählich zu den Akten legen.

  7. Noch ein paar Monate länger Weltwirtschaftskrise und noch ein paar Katastrophen mehr, und sie könnte wieder an Aktualität gewinnen.Das Leben der Menschen im Westen ist ja nur möglich weil die III. Welt ausgebeutet wird, da liegt der Hund begraben.

  8. Wie sich Gesellschaften verhalten und wie sie sich ändern, ist selten vorherzusagen. Allenfalls kann man Tendenzen benennen, die in der Luft liegen. Hätten der König von Frankreich und der Adel 1788 gewußt, was passieren wird, hätten sie sich vermutlich anders verhalten.

    Die gegenwärtig zu befürchtenden Revolten werden jedoch, so vermute ich, ehe solche von rechts sein. Bei der Linken sind große Teile in die Identitätspolitik abgedriftet und mit Schuldzuweisungen, daß alle anderen Rassisten sind – nur man selbst eben nicht – gewinnt man keine Mehrheiten Politiker wie Wagenknecht sind aus der Linkspartei ausgebootet worden und Leute wie Kipping und Rixinger sind nun am Ruder und da werden dann, wie schon geschehen, die Wahlergebnisse immer ein Stück weiter in den Keller gehen. Ausnahmen mögen Politiker wie Ramelow sein. Abe der macht im Grunde die Politik, wie sie auch Sozialdemokraten machen sollten, wenn sie Wähler gewinnen möchten. Nein, ich fürchte eine lange anhaltende Weltwirtschaftskrise wird zu etwas ziemlich Schlimmen führen, aber kaum zu sozialen Veränderungen in einem guten Sinne. Sofern linke Kräfte den Sinn von Solidarität nicht verständlich und begreifbar machen können, wird das Prinzip der Konkurrenz dominieren.

  9. Mit den aktuellen Verschwörungsirren möchte ich ganz sicher keine Revolte erleben. Aber die Krise hat auch schon zu wunderschönen Akten der Solidarität geführt. Ich denke, dass der Neoliberalismus ausgedient hat und wir einen zweiten Keynesianismus erleben werden, allein schon weil ohne eine hohe Staatsquote die Wirtschaft sich nicht ohne weiteres berappeln wird. Bezogen auf Deutschland könnte das Wiederhochfahren sogar zu einem Boom führen. Das sieht im Weltmaßstab aber anders aus.

    BtW. Das Sein formt das Bewusstsein, und da kann ich mir vorstellen dass die Krise viele Geister „Back to basics“ bringt. Bleibt interessant zu sehen, was sich dann entwickelt.

  10. „Das Leben der Menschen im Westen ist ja nur möglich weil die III. Welt ausgebeutet wird, da liegt der Hund begraben.“

    Das sehe ich ganz anders. Um das zu erklären muss ich ein bischen ausholen.
    Ich war ja Ende letzten Jahres wieder in Kolumbien und habe da interessante Beobachtungen gemacht.

    In Medellín gibt es auch Zebrastreifen für Fußgänger, aber die beachtet niemand. Es ist faszinierend; ich stehe da am Zebrastreifen und will unübersehbar die Straße überqueren. Es ist vor einer Kurve, so dass die Autos eh Gas wegnehmen müssen. Ich schaue den Fahrer an, er schaut mich an – und fährt einfach weiter. Niemand kommt auf die Idee, für Fußgänger zu bremsen. Da stehen vier oder fünf oder sechs Leute am Straßenrand und warten, bis alle Autos vorbei sind, bevor sie rüber gehen.
    Als meine Frau nach Deutschland kam, hatte sie entsprechend Angst, über Zebrastreifen zu gehen. Irgendwann hielt mal ein Autofahrer und machte mit der Hand einZeichen, dass sie doch bitte gehen sollte; seitdem weiß sie, dass es hier anders ist. Umgelehrt wäre ich fast überfahren worden, als ich das erste mal in Südamerika war und bei grün über eine Fußgängerampel gehen wollte.

    Bleiben wir beim Verkehr, da wird vieles deutlich. Wenn in Medellín auf eine Hauptstraße ein Stau ist, und von rechts aus den Seitenstraßen kommen Autos und wollen sich einordnen, dann lässt die niemand vor (es sei denn es ist eine hübsche Frau am Steuer). Sie müssen sich Stück für Stück nach vorne schieben, so lange bis die anderen nicht mehr an ihnen vorbei kommen. Von Reisverschlussverfahren (einen vor lassen und weiter fahren) wie ich es in der Fahhrschule gelernt habe, das dazu führt, dass sich der Stau schnell auflöst, keine Rede.

    Noch ein Beispiel: Hauptverkehrsmittel in den Städten sind Busse. Die fahren nicht wie bei uns von Haltestelle zu Hatestelle nach Fahrplan, sondern sie fahren los am Busbahnhof, nicht nach Fahrplan, sondern wenn der Bus voll ist. Und sie halten nicht an Haltestellen, sondern immer da, wo jemand auf einen Knopf drückt und seinen Wunsch mitteilt, auszusteigen. Bzw. Wenn jemand am Straßenrand dem Fahrer zuwinkt und zeigt, dass er einsteigen will. Auf die Art und Weise dauert es ewig, bis man irgendwo hinkommt, weil die Busse alle hundert meter halten. Dafür ist es natürlich höchst bequem, du kannst vor deiner Haustür ein- und auch wieder aussteigen.
    Und dieses Verhalten durchzieht die ganze Gesellschaft, man wählt immer den einfachen, schnellen Weg, auch wenn er Nachteile hat, anstatt Umwege in kauf zu nehmen, die langfristig zu besseren Ergebnissen führen.

    Ich könnte da noch eine Menge Geschichten erzählen. Vor einigen Jahren ist der Beauftragte der Staatsanwaltschaft für die Korruptionsbekmpfung verhaftet worden, weil er gegen Geld Ermittlungen behindert hat.

    https://www.publico.es/internacional/corrupcion-detenido-fiscal-jefe-anticorrupcion-colombia-chantajista-corrupto.html

    Was soll man denn da noch machen, wenn die Korruptionsbekämpfer selber korrupt sind?
    Man kann sich vorstellen, welche Auswirkungen das auf die Wirtschaft hat, wenn alle nur kooperieren unter Zwang und versuchen, sich gegenseitig übers Ohr zu hauen, sowie sich eine Möglichkeit ergiebt. Wenn man niemandem trauen kann (außer der eigenen Familie) und sich immer rückversichern muss, bevor man eine Entscheidung trifft.

    In Afrika war ich nicht, aber Leute die dort gelebt und bearbeitet haben, versichern mir, dass es genauso ist und noch schlimmer, noch mehr Korruption und Gewalt.

    Deshalb sind die arm, nicht wegen des „Imperialismus“ oder sonstwas. Und europäische Anti-Imperialisten werden daran nichts ändern.

  11. Ja, das sind in der Tat interessante Beispiele und sie liefern sicherlich auch einen Blick auf Strukturen. Aber das eine sind unterschiedliche Mentalitäten, das andere sind grundsätzliche wirtschaftliche Dispositionen. Wobei Korruption bspw. in einen afrikanischen oder südamerikanischen Land und ein (kapitalistisches) System, das in einem solchen Land Ressourcen billigt kauft, oftmals Hand in Hand gehen und da ist dann Korruption ein willkommener Nebeneffekt. (Und unterschlagen wird, daß es auch in Deutschland erhebliche Korruption gibt, aber die ist hier anders gelagert und auch das Rechtssystem geht damit anders um. Einen Richter oder einen Staatsanwalt zu bestechen, fällt hier deutlich anders und schwerer ins Gewicht, obwohl es solches sicherlich auch gibt, aber eben nicht in dem Ausmaß wie in Kolumbien vermutlich.)

    Ein wesentliches Problem bei solcher Korruption und der Wahrung des eigenen Vorteils ist die Frage nach dem Staat – übrigens in Italien ist das relativ ähnlich: da steht die Familie an erster Stelle, vom Staat erwarten viele Leute nicht viel und sie verlassen sich auch nicht auf ihn. Wenn ein Staat eher als der Feind gesehen wird, wie das in vielen Staaten Afrikas der Fall ist, dann verläßt man sich nicht auf den Staat, sondern man muß andere Solidaritätssysteme entwickeln. Auch bei Corona gut zu beobachten und bei den in Chile gerade stattfindenden Revolten. Anders als in Deutschland nämlich gibt es dort kaum Absicherungssysteme und wenn wegen Shutdown die Arbeit wegfällt, bricht auch das gesamte Leben und die Subsistenz weg.

    In diesem Sinne ist es auch für Länder in Afrika wichtig, einen funktionierenden Rechtsstaat mit Gewaltenteilung aufzubauen, und zugleich wäre es die Aufgabe Europas, koloniales Leid zu mildern, denn die Auswirkungen sind auch heute noch teils erheblich spürbar, auch durch Abhängigkeiten und insofern endlich Terms of Trade zu schaffen, die keine Abhängigkeiten erzeugen. Ansonsten ist all die Entwicklungshilfe nur ein billiger Ablaßhandel. Daß es in diesen Ländern erhebliche Binnenprobleme gibt, von Korruption angefangen bis hin zum Aberglauben und dem Problem der Hexerei und Magie (klingt für manche in Europa lächerlich, ist aber in Afrika ein reales Problem, dazu vielleicht – obgleich ich es nicht gelesen habe von Ibrahima Sow: Le Maraboutage au Sénégal, 2013)

    Deine Beobachtungen und der Satz, daß das Leben im Westen nur möglich ist, weil die Beine unseres relativ gut gedeckten Tisches auf dem Bauch von vielen Ländern in Afrika stehen, schließen sich übrigens nicht aus. Mein Plädoyer, um es eher methodisch zu nehmen, geht dahin, vielfältige Aspekte hier in den Blick zu bekommen, um dieses Problem anzugehen und dafür ein Bewußtsein zu bekommen.

    In diesem Sinne sind übrigens auch Compliance-Richtlinien für globale Wirtschaftsunternehmen eine wichtige Sache. Teils geschieht das auch schon. Und es ist dann eine Frage auch, wie man Unternehmen, die solche Regeln nicht aufstellen (oder sie nicht beachten, weil sie eben rechtlich nicht bindend sind) und insofern trotzdem Kinderarbeit in Bangladesch ausnutzen, mittels Öffentlichkeit unter Druck setzt und auch von politischer Seite aus erheblich sanktioniert.

    Da ich Revolutionen in solchen Fragen ökonomischen Fragen bisher selten erfolgreich waren, denke ich, daß hier eher evolutionäre Aspekte greifen werden, also eine langsame, aber stetige gesellschaftliche Veränderung, wie das auch beim Umweltbewußtsein von den 1970er Jahren bis heute der Fall war. Solcher Wandel im Denken geht von der Öffentlichkeit aus. Firmen werden das in der Regel oft nicht von allein machen. Es sind hier also viele Aspekte und Hinsichten, die bei diesem Problem mitzudenken sind. Ein Aspekt geht sicherlich auch in die Richtung, solcher Ausbeutung etwa in Afrika global entgegenzuwirken. Und dazu eben sind auch die verschiedenen sozialen Bewegungen und ihre Protestformen gut.

  12. Und um in diese Kerbe zu hauen: Die Adler-Bekleidungsmärkte beuteten jahrzehntelang Näherinnen in Asien aus. Im Falle Südkoreas weigerten sie sich, die dortigen Näherinnen nach Tarif zu bezahlen. Sie waren in dem Augenblick dazu bereit, als die Rote Zora, die Frauenorganisation der Revolutionären Zellen, in deutschen Adler-Märkten Feuer legte und dies in ausführlichen Anschlagserklärungen mit den Arbeitsbedingungen in Südkorea und anderen Ländern Asiens begründete. Prompt änderte Adler seinen Kurs. Gutes Zureden hilft;-)

  13. Ich bin zwar bei solchen Gewaltaktionen skeptisch und halte nicht viel davon, zumal man eben immer fragen muß: wo zieht man die Grenze, wie weit geht man und wer ermächtigt die Gewalttäter dazu?, aber wichtig ist auf jeden Fall, bei solchen Verhältnissen wie bei Adler mittels Protest-Aktionen Öffentlichkeit zu erzeugen. Denn nur ein Bericht bei „Monitor“ oder im „Weltspiegel“ bewirkt nicht viel. Kampagnen aber, wo man die Adler-Kunden über die soziale Lage in den Produktionsländern informiert, sind eine zielführende Sache. Und auch Zeitungen können das ihre dazu beitragen. Wobei man bei der Boulevard-Presse wohl nur einen Bericht bekommt, wenn irgendwo in Bangladesch ein paar Inderkinder verbrannt sind.

    Ansonsten: diese Länder sind zunächst mal arm, aus sehr unterschiedlichen Bedingungen, El Mocho. Eine zentrale Bedingung sind die wirtschaftlichen Zusammenhänge, dazu kommen schlechte Staatsstrukturen, in einigen Länden Bürgerkriege, religiöse Fehden.

    Vor allem aber kann man nicht von Mentalitäten, die dann eben stark auch wieder von sozialen Bedingungen abhängen – etwa einem funktionierenden Nahverkehr, der wiederum mit einer gut organisierten Stadtverwaltung zusammenhängt -, auf die Herkunft der Armut schließen. Die Leute in diesen Ländern sind arm, weil sie mit ihrer Arbeit niemals reich werden können. Und nicht einmal das: Sie können von den Ausbeuterlöhnen gerade mal ihren Lebensunterhalt davon bezahlen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sind arm, weil sie mit ihrer Arbeit niemals reich werden können, insofern das nämlich unseren Wohlstand erheblich schmälern würde, zahlten die Unternehmen angemessene Preise, und weil Verbraucher dann in Deutschland und anderen reichen Ländern für die Produkte andere Preise zahlen müssen.

    Ähnliches übrigens, wie wir es jetzt in der Fleischindustrie erleben. Wo sich auch hier wieder die vor allem soziale Dimension eines Virus zeigt.

  14. @willy/El Mocho, Kolumbien ist generell kein gutes Beispiel für „Dritte-Welt“-Problematik, weil Kolumbien für nichts signifikant ist – ein Land, das zu den korruptesten überhaupt gehört und Jahrzehnte Drogenkrieg hinter sich hat. Da könnte man auch Afghanistan als Land vom Blick auf den Straßenverkehr her beurteilen. Ich käme nicht auf die Idee, die außerordentliche Gastfreundschaft, generelle Freundlichkeit und das insgesamt im Vergleich zu Europäern viel sozialere Verhalten der Ägypter

    1) als aussagekräftig für die sozioökonomische und politische Situatiion des Landes

    und

    2) das Verhalten von Arabern an sich

    zu machen.

    Das sind Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Es gibt eine Statistik darüber, dass in Gegenden, in denen Störche horsten, mehr Kinder geboren werden als in Großstädten, und eine weitere, dass Leute, die in der Nähe von Starkstromleitungen leben weniger Hirntumore bekommen, dafür umso häufiger Leukämie. Significant for nothing!

    Btw und leider bist Du völlig unfähig, komplexe Dinge überhaupt zu erfassen und an einem Gegenstand mehrere Aspekte zu behandeln.

  15. Die sozioökonomische und politische Situation eines Landes und das Verhalten der dort lebenden Menschen haben sehr wohl miteinander zu tun. Nur in abstrakter (marxistischer?) Denkweise kann man das überhaupt voneinander trennen.

    Die Korruption behindert die Wirtschaft extrem, und alle leiden darunter, aber es ändert sich nichts daran, weil niemand der einzige Dumme sein will, der ehrlich ist. Es wäre Aufgabe der Regierungen, dagegen vorzugehen, aber die Politiker verhalten sich genau so. Warum soll ein Polizist nicht für einen Geldschein ein Auge zudrücken, wenn die Politiker, die viel mehr verdienen als er, das auch machen (In Kolumbien pflegt man übrigens eine Banknote im Führerschein zu haben, falls man mal von der Polizei kontrolliert wird, damit es keine Probleme gibt.)

    Die Mentalität, das „dysfunktionale Sozialmodell“ wie es Paul Collier nennt, ist viel fundamentaler als die sozioökonomischen Verhältnisse, und eine Änderung dieser Verhältnisse verbessert nichts, wie der Fall von Venezuela überdeutlich zeigt. Venezuela war wegen seinen Öls lange Zeit das reichste Land Südamerikas, die haben seit den 1920er Jahren schwunghaft Öl an die USA verkauft, die staatliche Ölgesellschaft PDVSA hatte große Erfahrung im Ölhandel. Dann kamen die Linken und veränderten die Machtverhältnisse, d.h. sie entließen alle Angestellten und ersetzten sie durch treue Angehörige von Chavez` Partei, die aber keine Ahnung vom Ölgeschäft hatten. Die haben nur abkassiert und nicht in die Anlagen investiert oder neue Quellen erschlossen, und heute fördert Venezuela noch 20% des Öls der Vor-Chavez-Zeit.

    Wenn man nicht die Menschen dazu bringen kann, sich anders zu verhalten, nutzen Revolutionen überhaupt nichts.

    Die eigentlich interessante Frage ist, wie die unterschiedlichen Sozialmodelle der reichen und der armen Länder zu erklären sind, und wie man die der armen verändern kann. Ich sehe nicht, wie deine Imperialismustheorien dazu irgendwie hilfreich sein könnten.

    Das hat natürlich alles historische Ursachen und ist nicht durch irgendeine genetische Überlegenheit der weißen Europäer bedingt, aber man muss der Realität in die Augen sehen.

    Und wie gesagt, ich denke, die Antiimperialisten bemächtigen sich völlig illegitimer Weise der Menschen der III. Welt, die nichts lieber wollen, als so leben die die Europäer und denen die Weltrevolution völlig wumpe ist.

    Man könnte das auch als eine Neufassung von „The White Man´s Burden“ sehen, nach der die Europäer nicht mehr ihre Kultur zu aller Welt bringen müssen (die die gar nicht haben will), sondern die Revolution.

    https://de.wikipedia.org/wiki/The_White_Man%E2%80%99s_Burden

  16. Das eherne Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate sorgt aber nun dummerweise dafür, dass sich kapitalistische Produktion im Weltmaßstab stetig verbilligen muss, um überhaupt existieren zu können. Nur deswegen haben wir Auslagerung von Produktion in Billiglohnländer oder den Aufstieg Chinas. Und damit haben dann die Menschen der Dritten Welt, die so leben wollen wie die Europäer folgendes Problem: Entweder, es gelingt ihnen, nach Europa, Nordamerika oder Australien zu kommen und dort individuell aufzusteigen, oder ihrem Land gelingt es, selber soziale Garantien zu schaffen, Preise zu erhöhen, und, will es seinerseits wettbewerbsfähig bleiben, selber Billigproduktion in noch ärmere Länder auszulagern, oder drittens, sie schaffen es einfach nicht. Gerechte Preise, korrekte terms of trade auf Basis fairer Löhne würde unter Beibehaltung der kapitalistischen Produktionsweise bedeuten, dass z.B. die Kleidung, die wir bei C&A kaufen dann etwa so viel kosten würde wie die Produkte von Versace und Armani. D.h., Normalbürger kauft sich 2-3 Anzüge und trägt die sein ganzes Leben oder bis sie auseinanderfallen, wenn es Löcher gibt werden die gestopft.Hatten wir schon mal. Mit dem Lebensstandard der Zeit vor 1955 ginge das. Aber nur so,

    Oder aber es gibt tatsächliche revolutionäre Umwälzungen, die alles auf völlig neue Füße stellen. Quatrum non datum.

  17. @“ die nichts lieber wollen, als so leben die die Europäer und denen die Weltrevolution völlig wumpe ist.“ —- Also, in Gesprächen mit Nigerianern, Ghanaern oder selbst Iranern oder Indern bekomme ich öfter zu hören, dass ich mich schon schämen müsste wenn ich Schuhe trage, weil die unter Sklavenbedingungen genäht werden. Und der Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung sei sehr erstrebenswert.

    Übrigens wollten die Hunnen und Goten auch nur leben wie die Römer, dass ihnen das verweigert wurde war Roms Untergang.

  18. @“Man könnte das auch als eine Neufassung von „The White Man´s Burden“ sehen, nach der die Europäer nicht mehr ihre Kultur zu aller Welt bringen müssen (die die gar nicht haben will), sondern die Revolution.“ —Wie europäisch sind denn solche Antiimperialisten wie Kwame Nkrumah, Frantz Fanon, Eldridge Cleaver, Stokeley Carmichael, Che Guevara, Leila Khaled, Bahman Nirumand oder Arundhati Roi?

  19. Wenn ich mal Henry Kissinger nehme, der sagte, Globalisierung sei nichts Anderes als die Weltherrschaft der USA, was er als positives Ziel meinte, und die Macht von ihm mit der von Antiimperialisten vergleiche, dann sind die Schlussfolgerungen eigentlich sehr eindeutig und naheliegend.

  20. „Die Mentalität, das „dysfunktionale Sozialmodell“ wie es Paul Collier nennt, ist viel fundamentaler als die sozioökonomischen Verhältnisse, und eine Änderung dieser Verhältnisse verbessert nichts, wie der Fall von Venezuela überdeutlich zeigt.“

    Nach Deiner Sicht, El Mocho, müßten dann Deutsche bis heute auch noch Nazis sein. Und Italiener und Griechen faul (die Bild-„Zeitung“ suggeriert diesen Goldman-Sachs-Sprech bis heute und plappert nach.) Sind sie aber nicht. Mentalitäten, die immer auch vielschichtig in einem Land sind – es singen ja auch nicht alle Italiener vom Balkon und es ermorden ja auch nicht alle Deutschen Juden oder zünden Asylheime an.

    Und auch hier zeigte sich, wie sozialer Wandel zu einem Wandel von Einstellungen und Verhaltensweisen führt. Wie schrittweise Verbesserungen zu einem Wandel führen, kann man z.B. in Ruanda, einem aufstrebenden afrikanischen Land beobachten. Dein Problem, El Mocho und auch das von Collier, so wie Du ihn wiedergibst, liegt darin, daß Du Gesellschaft als statisch denkst. Wäre dies der Fall, würden wir wohl heute noch leben wie zu prähistorischen Zeiten. Tun wir aber nicht. Mittels Technik und Innovation und auch durch einen relativen Wohlstand wandeln sich auch Mentalitäten. Und in diesem Sinne sind Individuum und Gesellschaft, Psyche und Soziales aufeinander bezogen.

    Es kursierten im Internet einmal Photographien von einem völlig verdreckten und vermüllten Flüchtlingslager. Und nun dachte man, das wären mal wieder Syrier oder das wäre irgendwo tief bei den tierischen Russen. War es aber nicht: es waren Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Menschen sind nicht dreckig oder kriminell oder unordentlich, weil sie es von ihrem Wesen her sind, sondern ein wesentlicher Faktor hier ist die Armut. Oder wie es Enzensberger in bezug auf Rassismus schreibt:

    „Je höher die Qualifikation der Einwanderer, desto weniger Vorbehalte begegnen ihnen. Der indische Astrophysiker, der chinesische Stararchitekt, der schwarzafrikanische Nobelpreisträger – sie sind überall auf der Welt willkommen. […] Dem Sultan von Brunei hat noch niemand seine Hautfarbe übelgenommen. Wo die Konten stimmen, versiegt wie durch ein Wunder der Fremdenhaß.
    Den Vogel schießen in dieser Hinsicht die Drogen- und Waffenhändler ab, zusammen mit den Bankiers, die ihr Geld waschen. Sie kennen keine Rassen mehr und sind über jeden Nationalismus erhaben. Vermutlich sind sie die einzigen auf der Welt, denen jedes Vorurteil fernliegt. Fremde sind um so fremder, je ärmer sie sind.“ (Enzensberger, Die Große Wanderung, in: Versuch über den Unfrieden)

    Was Du zu Venezuela schreibst, ist leider ziemlicher Quatsch. Von dem Geld aus den Öleinnahmen hatten die Venezolaner vielfach nämlich nichts, das ging alles schön in die USA und es hatte Gründe, daß die Vorgängerregierung von Chavez abgewählt wurde. Der Fehler, den Chavez machte (der übrigens vom Volk gewählt wurde), war der radikale Schnitt der Verstaatlichung, was zur Folge hatte, daß damit auch die ausländischen Experten und Techniker abzogen oder ausgewiesen wurden. Das hat aber nichts mit Mentalitäten zu tun, sondern mir wirtschaftlichen Fehlentscheidungen. Davon abgesehen, daß demokratisches Prozedere in einem Land eine Angelegenheit ist, die jahrzehntelange Kontinuität und ein gewisses Maß an Wohlstand in der Bevölkerung voraussetzt. Die Bürger der BRD sind nicht plötzlich zu lupenreinen Demokraten geworden, sondern hier halfen Marshallplan und der von den USA geförderte Wiederaufbau und dazu das Eingebettetsein in ein (relativ) demokratisches Europa. Ansonsten zeigt che es schön in seinem ersten Kommentar auf.

    Henry Kissinger und Zbigniew Brzeziński bezeichneten Rußland einmal als das Herzland der Welt. Wegen der Rohstoffe und aus geopolitischen Gründen. Diese Information entnehme ich einem Interview gestern in der BLZ mit Alexander Kluge, worin es um sein neues Buch „Russland-Kontainer“ geht, das vor drei Tagen erschien.

  21. „Das eherne Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate sorgt aber nun dummerweise dafür, dass sich kapitalistische Produktion im Weltmaßstab stetig verbilligen muss, um überhaupt existieren zu können. „

    Mal ganz abgesehen davon, ob es dieses famose Gesetz den wirklich gibt (Öknomen snd da bekanntich sehr unterschiedlicher Meinung), ist überhaupt nicht einzusehen, wieso die Länder der III. Welt ihre Situation nicht aus eigener Kraft verbessern können sollten.

    Kolumbien z.B. ist vier mal so groß wie Deutschland und hat nur 42 Millionen Einwohner. Zudem jede Menge Bodenschätze, Öl, Eisenerz, Kohle, Smaragde, und ein Klima, dass ganzjährige Landwirtschaft ermöglicht, Häfen an zwei Ozeanen usw.

    Natürlich würden viele Produkte teurer werden, Tequila z.B. ist in den letzten Jahren deutlich teurer geworden, weil Chinesen und Japaner das Zeug entdeckt haben und kaufen, und Tequila kommt nur aus Mexico. Aber andere Dinge würden auch billiger werden. Ich bin vor einiger Zeit mal nach Paris geflogen, mit Air France. Das Flugzeug war eine EMBRAER 190, hergestellt in Brasilien.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Embraer

    Embraer ist der viertgrößte Flugzeugbauer der Weltund komplett brasilianisch; der Imperialismus hat offenbar zugelassen, dass die Brasilianer Flugzeuge herstellen, die in der Welt konkurrenzfähig sind. Und Konkurrenz führt bekanntlich zu sinkenden Preisen.

    Alles in allem ist das eine ziemlich erschreckende Position, finde ich. Wenn es keine Perspektive auf Verbesserung der Situation in absehbarer Zeit gibt, wenn die Fluchtursachen grundsätzlich nicht beseitigt werden können außer durch die Revolution (und letzten Endes durch die Weltrevolution) die irgendwann kommen mag oder auch nicht), dann kann ein junger Afrikaner oder Afghane natürlich nichts anderes machen, als sich nach Europa zu begeben und am Wohlstand der Europäer zu partizipieren, ganz klar. Und die Folgen sowohl für das Herkunftsland wie für Europa sind auch gleichgültig, da ohnehn irgendwann alle Probleme im großen Aufwasch gelöst werden.

    Ich weigere mich, einen solchen Pessimismus zu akzeptieren, wir können es besser.

  22. „Wie europäisch sind denn solche Antiimperialisten wie Kwame Nkrumah, Frantz Fanon, Eldridge Cleaver, Stokeley Carmichael, Che Guevara, Leila Khaled, Bahman Nirumand oder Arundhati Roi?“

    Meinst du ernsthaft die sind repräsentativ für die Menschen ihrer Länder? Sie sind das so wenig wie die RAF fürdie deutschen Arbeiter repräsentativ war. Ich misstraue grundsätzlich linksradikalen aus Ländern der III. Welt; fast immer kommen sie aus der Oberschicht, die von den herrschenden Bedingungen profitiert und kein ernsthaftes Interesse an einer Änderung hat. Im Ausland studieren können nur die Kinder der Reichen, und wenn diese Leute dann an westlichen Universitten sitzen und uns über Rassismus oder Imperialismus belehren wollen, ist das unglaubwürdig. Hans Christoph Buch beschreibt diesen Typ sehr gut:

    „Der Diskurs der lateinamerikanischen Linken, der mir bei meinen Vorträgen immer wieder begegnet – meist ist es ein Kettenraucher mit Kordhose und randloser Brille, der sich in der Diskussion als erster zu Wort meldet – , ist redundant, repetitiv und zu achtzig Prozent vorhersehbar: Der US-Imperialismus, die Weltbank und die Multis sind an allem schuld, weil sie die Völker und Staaten Lateinamerikas ausbeuten und auf den Status von Bananenrepubliken reduzieren; die Verantwortung der einheimischen Oberschicht, zu der auch der Redner gehört, bleibt in diesem Diskurs außen vor. Dem stereotypen Feindbild, das schon deshalb nicht stimmen kann, weil es alle Übel der Welt auf eine einzige Ursache zurück führt, entspricht ein ebenso monokausales Denken auf der anderen Seite: die präkolumbianischen Indianer, mit deren untergegangener Kultur die modernen Lateinamerikaner nicht mehr gemein haben, als die heutigen Bewohner Ägyptens mit den Erbauern der Pyramiden, nämlich außer dem geographischen Ort fast nichts, werden romantisch verklärt im Sinne einer rückwärts gewandten Utopie, mit der man sich der eigenen Identität zu versichern sucht. … so als ließe sich ein Übel durch den Hinweis auf ein anderes Übel rechtfertigen oder aus der Welt schaffen. Das beide Massaker verurteilt werden müssen, die Ritualmorde der Azteken ebenso wie der Völkermord der Spanier, kommt einem solchen eindimensionalen Denken nicht in den Sinn, da dies die Preisgabe jenes moralischen Relativismus nach sich zöge, aus dessen Perspektive alle Völker und alle Kulturen gleich sind vor Gott oder der Geschichte. Der Unterschied zwischen Demokratie oder Despotie schrumpft aus dieser Sicht zu einer akademischen Spitzfindigkeit. … Die Projektion des Übels auf den äußeren Feind, Yankee oder Gringo, der als Sündenbock für alles herhalten muss, was in Lateinamerika schief läuft, lenkt ab von den hausgemachten Ursachen des Elends, von der Korruption der einheimischen Eliten, die ihre Meinungsverschiedenheiten immer noch mit Gewalt austragen, und ihrem Mangel an politischer Kultur. Auf diesem Feld spielen Links-und Rechtextremisten sich gegenseitig die Bälle zu.“

    Hans Christoph Buch, Tropische Früchte, Frankfurt 1993, S. 165/66

    Die Bücher dieses Autors kann ich übrigens wärmstens empfehlen.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Christoph_Buch

  23. Nkrumah: Sohn eines Goldschmieds und einer Kleinhändlerin aus einem ghanaischen Dorf, Cleaver: Im Ghetto aufgewachsen
    Carmichael: Sohn von Armutsmigranten, die von Trinidad in die USA einwanderten
    Fanon: Stammte aus einer kinderreichen schwarzen Mittelschichtsfamilie aus Martinique
    Guevara: Sohn einer argentinischen MIttelschichtsfamilie
    Khaled: Eines von 13 Kindern einer kleinen Kaufmannsfamilie aus Haifa, die während des ersten Nahostkriegs vertrieben wurde, kam mit 4 Jahren in ein Flüchtlingslager im Libanon, ab 15 politisch aktiv
    Nirumand: Sohn einer wohlhabenden Beamtenfamilie aus Teheran
    Roi: Tochter eines Plantagenbesitzers, lebte aber selber lange in Armut in einer Wellblechhütte als Flaschensammlerin in Delhi. Soviel zum Thema „Meist gehören sie der Oberschicht an.“

    Dass die RAF für irgendetwas repräsentativ sein sollte hat hier niemand behauptet.

  24. El Mocho, es ist nicht Entweder-oder, sondern Sowohl-als-auch. Es gibt in vielen Ländern interne Probleme und andere Probleme wiederum hängen mit globalen Aspekten und Konzernen zusammen. Hinzu kommt, daß Länder wie Brasilien lange Zeit Militärdiktaturen waren – unter Billigung der USA – und also kaum die Möglichkeit hatten, demokratische Strukturen und insbesondere in bezug auf Vermögens- und Landverteilung gerechte Strukturen auszubilden. Hier liegen erhebliche Ursachen für die gegenwärtigen Probleme. Schau Dir die Vermögensverteilung in Brasilien an. In diesem Fall ist sie ein Problem. Vor allem, weil der Wohlstand eben nicht ausreichend nach unten durchsickert. Und wo kein hinreichender Reichtum in einer Gesellschaft ist, blüht dann ganz einfach auch die Korruption, Weil sie eine ökonomische Möglichkeit ist, an mehr Geld zu kommen. Insofern ist ein zentraler Aspekt, um Korruption zu bekämpfen, daß in diesen Ländern sich ein Vertrauen in den Rechtsstaat entwickelt, wie das auch bei uns und in anderem Sinne in Spanien, das bis 1976 eine Diktatur war, geschehen konnte.

  25. @El Mocho: „„Das eherne Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate sorgt aber nun dummerweise dafür, dass sich kapitalistische Produktion im Weltmaßstab stetig verbilligen muss, um überhaupt existieren zu können. „

    Mal ganz abgesehen davon, ob es dieses famose Gesetz den wirklich gibt (Öknomen snd da bekanntich sehr unterschiedlicher Meinung)“ — um darüber mit mir oder Bersarin oder dem Noergler diskutieren zu können müsstest Du erstmal das Kapital gelesen haben,. Tu das, dann reden wir weiter.

  26. Brights wie Pinker, Dennett, Dawkins und so weiter referieren ja auf einen Diskurs, den es in Europa überhaupt nicht gibt: Evolutionsskeptiker, Kreationisten usw., die in den USA eine Rolle spielen, hier hingegen überhaupt nicht. Insofern ist ihre Kritik auf außeramerikanische Verhältnisse angewandt ein Schuss ins Leere.

  27. Auf den Punkt, che. Und um über etwas zu diskutieren, muß man wie Du zu recht anmerkst, es überhaupt erstmal gelesen und dann auch: verstanden haben, was da steht.

  28. Im Übrigen, El Mocho, wiederholst Du immer und immer, wieder „Die“ Menschen in der Dritten Welt wollten allesamt keine revolutionären Veränderungen, sondern so leben wie in Deutschland. Kannst Du das eigentlich mit irgendwas belegen? Ich bin seit 1982 in der Fküchtlingssolidarität aktiv, und so über den Daumen die Hälfte der Geflüchteten, die ich da kennengelernt habe, vertritt in der Tat in irgendeiner Form antiimperialistisches oder sozialrevolutionäres Gedankengut.

  29. In dem Zusammenhang ist es ganz interessant sich mit Peter Strasser auseinanderzusetzen, einem österreichischen Philosophen, der an den Brights kritisiert, dass sie an ihre Gegner, die Leute, die an Übernatürliches Glauben, Maßstäbe anlegen, die nicht hochaufgeklärt und liberal sind, sondern selber fundamentalistisch, zum Bleistift die Bibel wörtlich auslegen, wie fundamentalistische Evangelikale es tun. Was Ches Aussage noch einmal bestätigt: Ein Inner-US-Diskurs, der in Europa, oder jedenfalls Westeuropa, keine Rolle spielt.

  30. Das ist, wie Du ganz zu recht anmerkst, netbitch, ein erhebliches Problem dieser Leute, daß sie einen Fundamentalismus kritisieren, den diese Leute dann in ihrem biologistischen oder behavioristischen Weltbild teils selbst an den Tag legen, indem etwa alles Handeln des Menschen als Biologie ausgelegt wird, ohne die Differenz von Natur und Kultur in die Reflexion zu bekommen, oder wenn die Willensfreiheit zugunsten neurophysiologischer Vorgänge bestritten und der Mensch auf Biologie reduziert wird, ohne dabei in den Blick zu bekommen, daß bereits all diese Bestimmungen das in Anspruch nehmen müssen, was angeblich erst der Biologie entsprungen sein soll: nämlich die Kultur. Diese Leute verhalten sich in etwa so als wollten sie mit einem Fernrohr ins Weltall blicken, um dort Gott oder grundlegende Gesetze der Astrophysik zu entdecken. Und weil sie es mit einem Fernrohr nicht finden können, nun glauben, sie existierten nicht. Mithin ein Fundamentalismus der Biologie, der sich selbst verabsolutiert und damit das Spiegelbild jener Kreationisten darstellt.

  31. Zugleich muß man für das Wirken des Kapitalismus und einer durchökonomisierten Welt, in der das Recht auf Eigentum und Profit an höchster Stelle steht, gar nicht so weit in den globalen Süden „reisen“. Es reicht der Blick über den Atlantik oder auf Zeit-Online vom 25. Mai 2020:

    Zwangsräumungen in den USA: „Dann werde ich wohl auf dem Rücksitz meines Autos schlafen müssen“
    Millionen Amerikaner können in der Corona-Krise ihre Miete nicht zahlen. Es drohen massenhaft Räumungen. Etwa im armen Oklahoma, wo die Gerichte jetzt wieder öffnen.
    Eine Reportage von Jörg Wimalasena, Tulsa
    https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-05/zwangsraeumungen-usa-corona-wirtschaftskrise-obdachlosigkeit/komplettansicht

  32. Während es zu den Forderungen der Antifa Braunschweig gehört, allen Mietern ihre Miete zu stunden und die ungenutzten Hotels Obachlosen zur Verfügung zu stellen.

  33. Bin mal gespannt, wann es in den US and A zu sozialen Unruhen im Kontext der Zwangsräumungen kommt.

  34. Na ja, allen Mietern ihre Miete zu stunden, ist nun nicht gerade eine sinnvolle Forderung, wenn mit „alle“ wirklich „alle“ gemeint sein sollten und nicht nur die bedürftigen. Wobei man auch bei den Vermietern unterscheiden muß: eine Wohnungsbaugesellschaft oder ein Konzern ist noch was anderes als ein Privatvermieter, der aus seinen 2 Eigentumswohnungen am Ende ebenfalls seine Existenz bestreitet und Rücklagen für die Arbeit an den Wohnungen bilden muß. Richtig ist aber, daß man Leute, die bedürftig sind und denen der Job gekündigt wurde, helfen muß.

    Daß es in den USA zu Revolten geben wird, glaube ich kaum. Und wenn es dazu kommt, werden die niedergeschossen, wie in China oder in der Türkei. Und ich glaube nicht einmal, daß die Leute in den USA im November diesen Mann dort abwählen. Sofern es Protest gibt, bleibt der lose und unverbunden. Wäre schön, wenn es anders wäre. Aber ich bin in diesen Dingen nicht sehr optimistisch. Es müßte dort übergreifend ein neues Civil rights movement geben.

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