Im Malstrom – Zu Edgar Allan Poes 225. Geburtstag

Poe war einer jener Autoren, die ich schon in der Jugend las, vieles von seinen Texten habe ich damals überhaupt nicht verstanden, aber der analytisch-scharfe Verstand des französischen Detektivs Auguste Dupins gefiel mir, diese Art zu kombinieren und induktiv abzuleiten. Poe, der Begründer des klassischen Detektivromans und jener Autor, der das Grauen im Inneren eines Menschen auslotete. Das verräterische Herz des Gemordeten, das unter den Dielen im Fußboden pochte und pochte und doch nur das eigene Gewissen des Mörders war, Klaustrophobisches, diese Angst davor, lebendig begraben zu werden und eine Reise in den Malstrom. Der schwarze Tod mit der Maske. Fallbeil und Pendel, Alpträume, die nicht nur Schüler gerne lesen, weil es sich aus dem Abstand und vom Sofa oder Lesesessel aus herrlich erschaudern läßt und in diesem Beschriebenen zugeich so etwas wie die Conditio humana aufblitzt.

Während des Studiums begegnete mir Poe dann im Kontext mit Walter Benjamin und vor allem in Jacques Lacans Seminar von 1956 zu Poes entwendetem Brief, das wir in Germanistik lasen. Im Französischen heißt der Titel von Poes Geschichte fein doppelsinnig La Lettre volée. Lacan liefert eine an der strukturalistischen Psychoanalyse orientierte Deutung dieser Prosa. Eine Analyse der drei verschiedenen Blicke findet sich dort, ähnlich wie Foucault sie dann zehn Jahre später in Die Ordnung der Dinge vornahm und die Blickachsen sowie die Subjektpositionen anhand von Diego Velázquez‘ Las Meninas untersuchte. Bei Lacan ist es anhand von Poes Detektivgeschichte ein Spiel von Sehen und Nicht-Sehen(-können) anhand eines eigentlich offen daliegenden Briefes. Denn das Offene ist das beste Versteck – woran sich auch die Frage anknüpft, inwiefern man in der Wahrheit lügen kann.

„Dieser Ort ist nichts anderes als der Ort der signifikanten Konvention, wie offenbar wird in jener bitteren Klage eines Juden an seinen Bruder: ‚Wenn du sagst, du fahrst nach Krakau, willst du doch, daß ich glauben soll, du fährst nach Lemberg. Nun weiß ich aber, daß du in Wirklichkeit fahren willst nach Krakau. Also warum lügst du?‘“ (Jacques Lacan, Das Seminar über E.A. Poes ‚Der entwendete Brief‘, in: Schriften I)

Solche Form von Wahrheit als Oberflächenphänomen hatte Poe bereits in seiner Detektivgeschichte Die Morde in der Rue Morgue formuliert. Der Erzähler dieser Geschichte berichtet:

„Die Wahrheit liegt nicht immer tief auf dem Grunde des Brunnens. Im Betracht der weit wichtigeren Kenntnis glaube ich vielmehr, daß sie sich tatsächlich schlechthin an der Oberfläche befindet.“

Das ganze Wahrheits-, Verbergungs- und Entbergungsgeschehen, von Heidegger und Freud her aufs Subjekt gemünzt, das nicht mehr ganz Herr oder Frau im eignene Hause ist, mündet bei Lacan am Schluß des Seminartextes in eine Spiegelsituation:

„und zwar nach der Formel der intersubjektiven Kommunikation, mit der wir Sie schon seit langem vertraut gemacht haben: Ihr zufolge, sagen wir, empfängt der Sender seine Botschaft vom Empfänger in umgekehrter Form wieder. Somit will ‚entwendeter‘, eben ‚unzustellbarer Brief‘ besagen, ein Brief (eine Letter) erreicht immer seinen (ihren) Bestimmungsort.“

Für jemanden wie Jacques Derrida ein willkommener Anlaß zur Intervention. Er widersprach diesem Satz scharf und heftig. In seiner Postkarte, sowohl in der ersten Sendung eher literarisch und in der zweiten Sendung auf eine theoretische Weise, und insbesondere in seinem Aufsatz Der Facteur der Wahrheit zeigte Derrida, daß ein Brief (une lettre, eine Letter, auch in der Logik des Signifikanten) seinen Bestimmungsort verfehlen kann und daß dieses Verfehlen sogar konstitutiv ist. Sozusagen im Kontext von Derridas Denkansatz eine Theorie des Verschwindens, der Einschreibung und Schrift als Spur, die genausogut wieder verlöschen kann, so daß nichts als ein Rest und weniger als das bleibt – was ästhetisch genommen ein spannender, weil durchdenkenswerter Ansatz ist. Womit wir zugleich, wenn es um solches Vergegenwärtigen bei den Medien der Erinnerung und der Aufzeichnung sind, nämlich der Photographie, aber genauso der Schrift. Wie können wir aufbewahren, welche Behältnisse haben wir dafür? Und ist jenes Aufbewahren, Aufheben (Derrida ist in diesen Begrifflichkeiten immer auch der Hegelianer der Aufhebung) nicht immer auch ein Aufbaren des bereits Verlorenen? Es gibt Asche, wie  Derrida schrieb.

Aber wir kommen von Poe weg und bewegen uns über die Psychoanalyse hinein ins Postgeheimnis und in die Tiefen poststrukturalistischer Literaturtheorie. Dennoch sind die beide Texte von Lacan und Derrida im Blick auf Poes Story lesenswert und zeigen, in welch ungewohnter Weise sich Literatur lesen und interpretieren läßt. Was – nebenbei – die Photographien betrifft, so gibt es nur wenige Bilder von Poe, genauer gesagt: es gibt Daguerreotypien. Charles Baudelaire, für den Poe die Zentralgestalt einer neuen und anderen Kunst war, schreibt über Poe:

„Über Poes Leben, seinem sittlichen Betragen, seinen Umgangsformen, seiner leiblichen Erscheinung, über allem, was seine Gesamtpersönlichkeit ausmacht, liegt für uns etwas zugleich Düsteres und Strahlendes. Seine Person war seltsam, verführerisch und, wie seine Werke, von einer unbestimmten Schwermut geprägt.“

Das trifft wohl auch auf jenen seltsamen Blick auf den Daguerreotypien zu, den wir von Poe kennen und der unser Bild über ihn (mit)prägt, wenn wir nicht nur die Texte als Texte nehmen. Ein Blick, den Poe nicht etwa uns, also den so fernen Betrachtern entgegenwirft, sondern der als Blick ins Nirgendwo zu gleiten scheint, sich versenkt, verdüstert und sich verschluckt, jenseits des Bildes, des Lebens und aus diesem hinaus. Als sähe einer dort hinten die Gespenster. Aber das mag eine Interpretation sein. Die Menschen auf den meisten Daguerreotypien schauten deshalb so ernst, weil sie aufgrund der langen Belichtungszeiten keine Miene verziehen durfen. Insofern sind Photographien ein trügerisches Medium. Aus ihnen läßt sich oft nur das herauslesen, was wir in sie hineininterpretieren. Der gravitätische Ernst ist ein von uns vorgestellter und dem Zwang des Mediums geschuldet. Deutlich konnte man das seinerzeit vor einigen Jahren in einer Photoausstellung sehen, wo eine Familie sich in klassischer Gruppenpose, gravitätisch streng, ablichten ließ. Und dann gibt es eine Photographie vom Hinterher, nach der Photosession, weil inzwischen auch bessere Kameras auf dem Markt waren, die mit kürzeren Verschlußzeiten arbeiteten: da lachte und scherzte die so gravitätische und bürgerliche Familie auf eine anmutige Weise miteinander.

In der zehnbändigen Werksaussage zu Edgar Allan Poe, die 1979 im Pawlik Verlag erschien, mit den Übersetzungen von Hans Wollschläger und Arno Schmidt, finden sich neben seinen kosmologischen und eschatologischen Essays auch Texte zur Literatur. Poe war nicht nur Dichter, sondern ebenfalls Literaturkritiker, berühmt-bekannt wohl der Longfellow-Krieg um den damals bedeutenden, heute in Vergessenheit geratenen Dichter Henry Wadsworth Longfellow, den Poe scharf attackierte – Streit kann man diesen harschen Angriff kaum noch nennen. Poe konnte in seinen Urteilen ausnehmend heftig und apodiktisch sein. Und Poe votierte in seinem Essay Das poetische Prinzip bei der Lyrik für (relativ) kurze und knappe Gedichte:

„Ich brauche wohl kaum zu bemerken, daß ein Gedicht seinen Namen nur insofern verdient, als es duch die Erhebung die Seele erregt. Der Wert eines Gedichtes steht im Verhältnis zu dieser erhebenden Erregung. Aber alle Erregungen sind, einer psychischen Notwendigkeit zufolge, kurzfristig. Jener Grad von Erregung, der es überhaupt gestattet, etwas ein Gedicht zu nennen, läßt sich nicht über eine Komposition von großer Länge hin aufrechterhalten. Spätestens nach Ablauf einer halben Stunde klingt sie ab – versiegt – eine Ablenkung erfolgt – und dann ist das Gedicht in seiner Wirkung effektiv keines mehr.“

Wesentliches Prinzip von lyrischer Dichtung ist also der Reiz des Rezipienten, sozusagen ein Gefühl der Lust und Unlust mit Kant gesprochen, dessen Ästhetik das moderne Muster für die Rezeptionsästhetik bzw. für die subjektive Wirkweise von Kunst liefert. Wobei dies auch für Poes Dichtung im ganzen gilt, also auch seine Erzählungen und Romane, die uns immer wieder in solche Zonen von Lust und vor allem aber der Unlust bringen – wer mag schon lebendig begraben werden? Im Modus ästhetischer Erfahrung gelangen wir zu Welt und auch zu uns selbst. Im Ausschweifen jedoch verliert sich diese Bewegung. (Wieweit solcher Sicht, wie Poe sie formuliert, auch kritisch zu begegnen ist, lasse ich beiseite. Über die Qualität eines Gedichtes zumindest sagt die Fähigkeit, sich von ihm die Seele erheben und erregen zu lassen, wenig aus. Wobei man hier zugleich nach dem Begriff der Seele fragen muß.)

Mit Poe beginnt die literarische Moderne, so schrieb es Baudelaire, der dafür sorgte, daß Poe in Europa bekannt wurde, während er in den USA – auch aufgrund seines Lebenswandels – zunächst in Vergessenheit geriet. Poes Ende gestaltete sich trostlos. Literatur und Leben gehen manchmal seltsame Korrespondenzen ein:

„Da er sich bei seiner Ankunft in Baltimore, am 6. abends, immer noch unwohl fühlte, ließ er sein Gepäck an den Hafenplatz bringen, von dem aus er sich nach Philadelphia begeben wollte, und betrat eine Schenke, um etwas Anregendes zu sich zu nehmen. Unglücklicherweise traf der dort alte Bekannte und blieb länger dort. Anderntags, im fahlen Grau der ersten Frühe fand man auf der Straße einen Leichnam, – ob dies das rechte Wort ist? – nein, einen noch lebenden Körper, dem doch der Tod schon sein königliches Siegel aufgeprägt hatte. Auf diesem Körper, dessen Namen niemand kannte, fand man weder Papiere noch Geld, und so brachte man ihn in ein Krankenhaus. Dort starb Edgar Poe, noch am Abend dieses Sonntags, des 7. Oktobers 1849, im Alter von siebenunddreißig Jahren, vom delirium tremens besiegt, jenem Schreckensgast, der sein Gehirn schon ein- oder zweimal heimgesucht hatte. So ging einer der größten Helden der Literatur aus der Welt, der geniale Mensch, der seinem Schwarzen Kater die schicksalshaften Worte geschrieben hatte: Welche Krankheit ist dem Alkohol vergleichbar!

Dieser Tods ist beinahe ein Selbstmord, – ein seit langem vorbereiteter Selbstmord. Zumindest verursachte er einen dementsprechenden Skandal. Es gab einen Sturm der Entrüstung, und die Tugend genoß es, ihren hochtrabenden cant freien Lauf zu lassen. Selbst die nachsichtigsten Leichenprediger konnten nicht umhin, der unvermeidlichen bürgerlichen Moral Raum zu geben, die sich eine so wunderbare Gelegenheit wohlweislich nicht entgehen ließ.“ (Ch. Baudelaire, Edgar Poe, sein Leben und seine Werke)

Ingeborg Bachmann zum 50. Todestag

Schade, daß inmitten all der anderen Ereignisse der 50. Todestag von Ingeborg Bachmann weitgehend ins Hintertreffen gerät. Ich habe damals in Hamburg, vor genau 30 Jahren im Sommersemester, bei Ulrich Wergin ein Seminar zum Thema „Dichtung nach Auschwitz“ belegt – natürlich nicht nur, weil die schöne und so blonde Susanne dabei war und ich mit ihr ein Referat über Adornos „Versuch das Endspiel zu verstehen“ und zur „Dialektik der Aufklärung“ halten durfte -, sondern vor allem wollte ich Bachmanns Todesarten-Zyklus kennenlernen, „Malina“ hatte ich bereits gelesen und ich mochte diesen Sound ganz gerne, fand diese verschiedenen Perspektiven, zwischen dem Entsetzen, der Liebe, dem Ungargassenland, den Märchen, gut montiert und auch bereits viele ihrer Gedichte und Erzählungen waren mir aus den 1980er Jahren bekannt, als ich mich durch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur las. Daß Bachmann als Lyrikerin wohl recht begabt, aber als Prosaautorin wenig tauge, wie es, so ich es richtig in Erinnerung habe, Marcel Reich-Ranicki einmal sagte, halte ich allerdings für Mumpitz.

Realistische Traumzeit und die Bedeutung der Photographien:

„Ich habe den sibirischen Judenmantel an, wie alle anderen. Es ist tiefer Winter, es kommt immer mehr Schnee auf uns nieder, und unter dem Schnee stürzen meine Bücherregale ein, der Schnee begräbt sie langsam, während wir alle auf den Abtransport warten, auch die Fotografien, die auf dem Regel stehen, werden feucht, es sind die Bilder aller Menschen, die ich geliebt habe, und ich wische den Schnee ab, schüttle die Fotografien, aber es fällt weiter Schnee, meine Finger sind schon klamm, ich muß die Fotos vom Schnee begraben lassen.“ (Bachmann, Malina)

Am Ende verschwand das weibliche Ich in der Wand. Es war Mord – in mehrfacher Hinsicht.

Daß nun härtere Tage kämen, ist eine gerade in diesen Wochen vielzitierte Sequenz gewesen, aus dem Gedichtband „Die gestundete Zeit“, und so heißt es in dem gleichnamigen Gedicht:

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

Des Literaturrätsels Lösung: Olga Tokarczuk

Es ist „Ur und andere Zeiten“ nicht nur ein Märchen, ein Wunderbuch, ein Buch von Polen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zum polnischen Kommunismus, ein Buch von Juden, ein Buch auch über Deutsche und Rotarmisten, ein Buch von Wurzeln und Rhizomen, die diese Menschen ausbildern und wie sie sich im Laufe der geschichtlichen Zeiten verändern, ein Buch von lauter Dorfgeschichten, auch grausamen, und ebenso und vor allem von Märchen und vom Mystischem: eine Muttergottes, die die Menschen in der Kirche anblickt und Engel, die da über Dinge, Land und Menschen wachen. Was nach Kitsch klingen mag, das ist von Olga Tokarczuk ganz wunderbar märchenhaft und doch mit einem harten Realismus erzählt, der immer wieder ins Phantastische und Magische ausgreift: klar und schön, selbst in seiner Härte, wenn das Leben mit den Menschen nicht in der Weise mitspielt, wie sie es vielleicht verdient hätten. Und es ist „Ur“ vor allem ein philosophisches Buch:

„Misia nahm die Kaffeemühle oft mit hinaus auf die Bank vor dem Haus und drehte die Kurbel. Dann ging die Mühle so leicht, als spielte sie mit ihr. Misia betrachtete von der Bank aus die Welt, und die Mühle drehte sich und malte den leeren Raum.
[…]
Wenn man die Gegenstände aufmerksam betrachtet, mit geschlossenen Augen, um sich nicht von dem Schein trügen zu lassen, den sie um sich verbreiten, wenn man sich dieses Misstrauen einmal leistet, dann bekomm man zumindest einen Augenblick lang ihr wahres Gesicht zu sehen.

Die Dinge sind Wesen, die tief in einer anderen Wirklichkeit stecken, in der es weder Zeit noch Bewegung gibt. Man sieht nur ihre Oberfläche. Der Rest, der tief verborgen ist, verleiht jedem materiellen Gegenstand seine eigentliche Bedeutung. Das gilt auch für die Kaffemühle.

Die Kaffeemühle ist ein Stück Materie, dem die Idee des Mahlens eingehaucht worden ist.“

Und an einer anderen Stelle, da es um die Welt der Tiere, der Natur und des Menschen geht, gerade jener Leute, die nicht ganz in der Bahn laufen, heißt es:

„In dieser Nacht also lerne Florentynka, sei es durch ihren Verfolger, den Mond, sei es durch ihre Verrücktheit, mit ihren Hunden und Katzen zu sprechen. Diese Gespräche bestanden darin, dass sie Bilder aussandte. Das, was sich die Tiere vorstellten, war nicht so präzise und konkret wie die Sprache der Menschen. Sie reflektierten nicht. Aber dafür wurden die Dinge von innen gesehen ohne diese menschliche Distanziertheit, die das Gefühl der Entfremdung mit sich bringt. Dadurch erschien die Welt freundlicher.“

Tokarczuk erzählt die Geschichte der Dorfbewohner von dem Ort Ur, mitten im Wald und von Flüssen begrenzt, vom kleinen polnischen Dorf Jeszkotle sowie ihren Bewohnern: Dem Müller Michał, seiner Frau Genowefa sowie ihrer Tochter Misia und dem möglicherweise durch die Hebamme Ähre vertauschten Sohn Izydor, der mit einer schweren Behinderung, nämlich einem Wasserkopf zur Welt kommt, der Waldfrau und Hebamme Ähre, die mit der Natur, den Wäldern, den Pilzen, den Tieren und wohl auch mit Engeln und Göttern verbunden ist, ihrer Tochter Ruta, der Freiher Popielski, der jüdische Mühlenknecht Eli, die Muttergottes von Jeszkotle, dem Pfarrer, dessen Wiesen im Sommer regelmäßig überschwemmt werden, die seltsam-irre Florentynka, die ihren Verstand verlor. Ein Dorf bringt Archetypen hervor, wie man sie in einer Stadt wohl nicht findet. Und all diese Menschen haben in diesem Roman ihre Zeit, so daß jedes der – meist kleinen – Kapitel mit solchen Überschriften beginnt: „Die Zeit Genowefas“, „Die Zeit Misias“, „Die Zeit des Bösen Mannes“, „Die Zeit Ähres“, Die Zeit Elis“, „Die Zeit der Muttergottes von Jeszkotle“, „Die Zeit Michałs“, „Die Zeit des Freiherrn Popielski“, „Die Zeit des Pawel Boski“ und auch „Die Zeit des Wassermanns Pluszcz“ – auch die mystischen Wesen bekommen in diesem schönen Roman ihre Zeit. Es gibt aber auch „Die Zeit der Toten“. All diese Zeiten zusammengenommen schaffen am Ende die Zeit Urs und des Dorfes Jeszkotle. Und all diese Szenen ergeben die Zeit dieser Menschen, die Zeiten ihres Lebens und ihrer Jugend, ihres Altwerdens und ihres Sterbens. Am Ende bleibt kaum einer am Leben, da die Zeit über das endliche Wesen Mensch hinwegschreitet.

All das, die Geburten, das Dorfleben, die Kriege, der Unbill das Alltags, das Leben und das Sterben, ist schön erzählt, mit einer tiefen Melancholie und Traurigkeit, die freilich zu unserem Dasein als Mensch gehört. Vor allem aber sind diese Geschichten, die zugleich die Kontinuität eines Romanes bilden, auch solche von Heimat und von einer tiefen Verbundenheit mit dem Land, der Natur und dieser eigenen teils schönen, teils grausamen Lebenswelt – ohne in irgend einer Weise Blut und Boden zu sein. Wie sehr Heimat in ihrer Vielfalt geliebt und gelebt werden kann, zeigt gerade dieses Buch.

Und was den besonderen Reiz dieser Prosa ausmacht: Die Autorin ist mit einer wunderbaren Phantasie begabt. Ich habe lange Zeit keinen Roman gelesen, der mich derart in den Bann gezogen und begeistert hat. Tokarczuk vermag es, konsistent von jenen Mythen, den Menschen und ihrer so eigenen Welt zu erzählen, und in diesem Sinne trifft hier sicherlich jene Redewendung vom authentischen Werk zu: all das Märchenhafte, das Verspielte, jene Szenen, wo Traum und Realität ineinanderspielen, werden überzeugend geschildert. Überzeugend meint hier, daß es nicht irgendein aufgesetzes Mythenzeugs oder Esoterikklimbim ist, sondern die Autorin weiß, worüber sie schreibt und sie vermag solche Bewegungen und diesen Wandel von Menschen und Gesellschaft in Prosa darzustellen – was vielleicht auch dem (biographischen) Umstand geschuldet ist, daß sie aus der Tiefenpsychologie kommt und deren Erkenntnisse kongenial in Prosa übersetzen kann. Archetypen und Grundmuster menschlichen Lebens zu erzählen, in der Weise, wie es auch die Märchen machen, indem sie uns im Erzählen zugleich etwas zeigen. Daß es neben unserer „normalen“ Welt immer auch eine andere Welt, eine, um es mit Alban Nikolai Herbst zu schreiben, Anderswelt gibt. Durch diesen Spalt und in diese andere Welt, diese andere Ordnung des Seins können wir bei Tokarczuk in einigen Fällen vermittels einer kleinen Öffnung oder einem Riß in der Hülle gelangen – sie wie der Freiherrn Popielski, der immer mehr in einem seltsamen Spiel versinkt, darin er von der ersten bis zur achten Welt die verschiedenen, sich immer weiter aufsteigernden Sphären Gottes schaut. Ein therapeutisches Spiel, darin der unglückliche Freiherr in einem Akt der Weltflucht mehr und mehr versinkt, gleichsam ein metaphysisch-theologisches Abseits. Oder jene Florentynka, die, als eine Art Katzenjule, mit den Tieren sprechen kann und sich vom Mond verfolgt fühlt. So haben manche in diesem Buch Kontakt zu jenen anderen Wesen. Manchmal auch in den (Tag)Träumen.

Und oft ist das, was dann gesehen und geschaut wird – aus der deutschen, aus der polnischen Geschichte heraus – schrecklich zu nennen- Die anfangs verzauberte und irgendwie doch geborgene Welt erweist sich als eine brüchige und brutale. So das, was Genowefa in einer Art Wachtraum sieht, jene Genowefa, die als junge Frau des Müllers damals in den jüdischen Knecht Eli verliebt war, als sie auf ihren Mann wartete, der im damals noch russisch besetzten Polen im Ersten Weltkrieg für die Russen kämpften mußte; unter Zwang eingezogen. Nun aber waren 25 Jahre später die Deutschen da und dann wieder von der Roten Armee vertrieben:

„Als sie den Blick auf die Landstraße richtete, sah sie die Toten, die wiederkehrten. Sie zogen über die Landstraße von Czernica nach Jeszkotle wie eine große Prozession, wie der Pilgerzug nach Tschenstochau. Aber ein Pilgerzug kommt immer mit  lautem Stimmengewirr daher, mit eintönigen Lidern, weinerlichen Litaneien, dem Scharren von Sohlen auf Stein. Hier herrschte Stille.

Es waren Tausende. Sie marschierten in ungleichmäßigen, ungeordneten Reihen. Sie gingen in eisiger Stille mit schnellem Schritt. Sie waren grau, als hätten sie alles Blut verloren.

Genowefa suchte Eli unter ihnen und die Tochter der Szenberta mit dem Säugling auf dem Arm, aber die Toten zogen zu schnell vorbei, und sie konnte sie nicht genau sehen. Erst später erkannte sie den Sohn der Serafins, und auch nur deshalb, weil er ganz nah an ihr vorbeikam. Er hatte ein großes braunes Loch in der Stirn.

‚Franek‘, stieß sie flüsternd hervor.

Er drehte sich um und sah sie an, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Er streckte die Hand nach ihr aus. Seine Lippen bewegten sich, aber Genowefa hörte kein einziges Wort. Den ganzen Tag über sah sie die Toten, es wurde Abend, und der Zug nahm kein Ende. Auch wenn sie die Augen schloss, zogen sie weiter an ihr vorbei. Sie wusste, dass auch Gott zuschaute. Sie sah sein Gesicht, und es war schwarz, schrecklich und voller Narben.“

Zu jenem Entsetzen, das von Menschen gemacht wurde, gehört in Ur zugleich aber die Welt der Natur:

„Das Pilzgeflecht wächst unter dem ganzen Wald, vielleicht sogar unter ganz Ur.
[…]
Das Pilzgeflecht ist weder Pflanze noch Tier. Es schöpft keine Kraft aus der Sonne, weil diese ihm von Natur aus fremd ist. Es fühlt sich nicht nur zu Leben und Wärme hingezogen, weil es von Natur aus weder warm noch lebendig ist. Das Pilzgeflecht lebt davon, dass es die letzten Säfte aus dem zieht, was abstirbt, sich zersetzt und wieder zu Erde wird. Das Pilzgeflecht ist das Leben des Todes, des Zerfalls, des Abgestorbenen.
[…]
Das Pilzgeflecht gibt keinem seiner Kinder den Vorzug, macht keinen Unterschied zwischen ihnen, allen gibt es gleichermaßen die Kraft zu wachsen und die Sporen auszusenden. Den einen gibt es Geruch, den anderen die Fähigkeit, sich vor dem Auge der Menschen zu verbergen, wieder andere haben Formen, die dem Betrachter den Atem verschlagen.
[…]
Einmal hat Ruta das Leben des Pilzgeflechts gehört. Es war ein unterirdisches Raunen, das sich anhörte wie ein dumpfes Seufzen, danach vernahm sie das zarte Knistern kleiner Erdschollen, zwischen die sich ein Faden des Fungus schob. Ruta hörte, wie das Herz des Pilzgeflechts schlug, was einmal in achtzig Menschenjahren geschieht.

Seitdem kommt sie oft an diese feuchte Stelle in Wodenica und legt sich immer auf das nasse Moos. Wenn sie länger dort liegt, beginnt sie, das Pilzgeflecht auch noch auf andere Weise zu spüren, nämlich durch die Verlangsamung der Zeit, die es bewirkt. Ruta versinkt in einen Wachtraum und sieht alles auf ganz andere Weise, Sie sieh jeden Windhauch einzeln, den Flug der Insekten in seiner langsamen Anmut, die fließenden Bewegungen der Ameisen, kleine Lichterpartikel, die sich auf der Oberfläche der Blätter niederlassen. […] Ruta kommt es vor, als habe sie Stunden so gelegen, obwohl nur ein Augenblick vergangen ist. So ergreift das Pilzgeflecht von der Zeit Besitz.“

So und auch in vielfältig anderer Weise ist dieser Roman einer von der Zeit und ihren so unterschiedlichen Modi. Und es ist – auch – ein Roman des Abschieds, eine Welt, die am Ende und zum Ausgang des 20. Jahrhunderts verlassen wird.

Es mag eine Nebensächlichkeit sein, aber es ist doch eine zentrale, wenn es um einen im Gesamt stimmigen Eindruck geht: Auch das Buchcover gefällt mir von der Grafik her ausnehmend gut – was für ein Buch, fürs Haptische und Optische nicht ganz unwesentlich ist. Ursprünglich erschien das Buch in Deutschland 2002 im Berlin Verlag, 2019 dann in einer Neuauflage im Kampa Verlag.

Olga Tokarczuk: Ur und andere Zeiten. Übersetzt von Esther Kinsky
336 Seiten, Gebunden, € 24,– ISBN 978 3 311 10018 8
, Kampa Verlag 2019

Das Buchrätsel hin zum Sonntag

Ich sitze des abends in meinem Grandhotel Abgrund, süffele einen netten Grauburgunder vor mich hin, bin froh, daß mir Menschen am Sonnabend nicht auf die Nerven und damit auf den Sack gehen: daß ich also für mich bin, die polnische Zugehfee aus jenem Märchenreich trägt ein paar Decken auf, denn es wird abends bedenklich herbstlich in Berlin, so imaginiere ich, ich bin traurig, daß die Flasche Grauburgunder bald leer ist, doch ich bin zugleich ganz und gar beglückt, ja beschwingt und metaphysisch nachgerade angefaßt und entrückt: Ich lese, wie lange nicht mehr, in einem Roman, von dem ich restlos begeistert bin [wie lange nicht mehr ich mich durch Literatur begeisterte!] und freue mich, daß ich so viele Ichs schreiben kann, darin keine anderen vorkommen. Wenn ich an die klägliche wie phantasielose und literarische unbegabte Ichsagerin Annie Ernaux denke, die ich letztens las, und deren im Dauermodus herunterzogenen Mundwinkel linksfranzösischer Verbitterung, bin ich so tief und fast religiös dankbar für diesen weiblichen Ausgleich aus dem Osten Europas, nein, das ist falsch: aus Mitteleuropa.

Lesen, ohne aufhören zu wollen, lesen und diese Versinken in eine Dichtung, wie ich es als junger Mann nur kannte, wenn da mit Leidenschaft und jener Lust am Text ein Roman nicht bloß pflichtgemäß gelesen, sondern aufgesogen wurde wie Handauflegen und Wahrsagen überm Buchcover: diese Melange aus Märchen und Welt, daraus sich ein ganz eigenes Gedankenreich entspinnt, wie ich es damals nur bei Kafka und Thomas Mann kannte und wie vielleicht noch Michael Ende eine Zauberwelt erzeugte. Lange ist es her, daß ich eine derartige Dichtung las, wie ich es diesen herrlichen Abend tat. Es ist eine betörende und zugleich weltferne und doch so nahe Prosa, die unsere kleine Welt einfängt, die im Grunde überall sein kann, die aber in diesem Falle doch in Polen spielt, darüber ein mutmaßlicher Gott und einige Engel wachen. Eine verzauberte und doch auch grausame Dorflandschaft.

Demnächst werde ich – vielleicht – verraten, um welches Buch und um welche wunderbare Autorin es sich handelt, die ich an diesem sommerlich-herbstlichen Abend in Verzückung las. Den Literaturnobelpreis hat sie ganz und gar zu recht erhalten.

Lower Engadine Vulpera and Fetan Grisons Switzerland

Es weihnachtet sehr: Willi van Hengel und Fritz Hendrick Melle

Auch heute empfehle ich zwei Bücher, die ich noch gar nicht gelesen habe, nur den Autor kenne ich, den einen zumindest, nämlich Willi van Hengel. Ich habe ihn im Juli auf dem Sommerfest im Literarischen Colloquium Berlin am herrlichen Wannsee getroffen, zusammen mit Kai Beisswenger, dem ehrenwerten und herrlich trockenhumorig-bissigen Verleger. Ich schätze es, wenn Leute sich in diesen Zeiten mit einem kleinen Verlag selbständig machen und etwas wagen, und ich denke, daß wir solche Projekte unterstützen sollen. Zudem fand das Plaudern und Debattieren mit Willi van Hengel und Kai Beisswenger im LCB (gegründet übrigens von dem umtriebigen Walter Höllerer, der am 19. Dezember seinen 100. Geburtstag hat) angenehm, der schweifende Blick über den Wannsee tat ein übrigens. Insofern sei an dieser Stelle aus einer erinnerten Sommerstimmung heraus auf van Hengels Buch „Dieudedet oder Sowas wie eine Schneeflocke“ verwiesen und es sei hier eine Zusammenfassung gegeben:

zds03cover500„Willi van Hengel hat einen Entdeckungsroman verfasst, in dem das Ich nur anhand einer neuen Sprache zu sich findet. Nennen wir diese Sprache ’neo-romantisch‘. Sein Werk ist zeitlos – die Handlung könnte heute, vor zweihundert Jahren oder in zweihundert Jahren spielen. Gleichwohl ist das Thema des Romans hochaktuell, geht es doch um das, was seit Ewigkeiten die Menschen berührt: das Erleben tiefer Gefühle sowie das Leiden an einer unausgesprochenen und von daher gequälten Seele. Der Protagonist Alban erkennt auf seiner Reise ins eigene Ich den Grund seiner Bindungsängste. Er war das Schlachtfeld, auf dem die Kämpfe seiner Eltern ausgetragen wurden. Seine Eltern sind tot. Sie zur Rede stellen kann er nicht mehr. Dafür seinen besten Freund, der ihm ein abscheuliches Frauenbild eingeimpft hat – und der noch lebt. Also, was tun? Ihn, den besten Freund, töten? Dieser innere Kampf bringt Alban so weit, zu denken, dass er und sein Leben, wie er es lebt, »bloß ein Vorurteil« sei. Er wird sich seiner Vergangenheit und den damit verbundenen Erinnerungen stellen, um ein Stück von sich selbst zu Grabe (oder zu Stein, denn Alban ist Bildhauer) zu tragen. Um zu werden, was er sein könnte: ein Mensch, der aus lauter Zweifeln besteht, der nun aber beginnt, sich selbst anzunehmen – und vielleicht sogar zu lieben.“

Ein existentielles Thema mithin, was ein Stück weit in jenen Bereich fällt, denn wir seit der Literatur der 1970er Jahre „Neue Subjektivität“ nennen und was Helmut Böttiger in seinem Buch „Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur“ beschreibt – nebenbei auch ein schönes Weihnachtsgeschenk für alle, die sich für die Literatur dieser Jahre interessieren.

Auch der Aspekt der Zeitlosigkeit, der für diesen Roman zentral zu sein scheint, klingt spannend und es interessiert mich, wie dies mit den Mitteln des Erzählens eingelöst wird. Nach der Inhaltsangabe vermute ich zwar, daß ich an diesem Roman einiges zu kritisieren haben werde, denn solche existenziellen Themen sind oft heikel, und Pathos kann eben auch manchem Buch zum Schaden gereichen. Andererseits ist es auch wieder so ein seltsames Ding: im Pop, wie Alban Nikolai Herbst es immer wieder schreibt, akzeptieren wir solchen Pathos und einen hohen Ton, doch in der Dichtung verachten wir ihn meist – jenen hohen Ton. Wie dem auch sei, wir werden das im Detail dann nachlesen. Schauen wir also, wie solche Entdeckung des Ichs und jene Zeitlosigkeit im Erzählen und mit den Mitteln der Kunst umgesetzt werden.

Vielleicht ein wenig heiterer und dazu im Kontrast verweise ich zudem auf Fritz Hendrick Melles „Stadt ohne Götter. Eine deutsche Geistergeschichte“. Bereits der Titel des Buches klingt ansprechend, denn ich habe für solche Geister- und Gespenstergeschichten, gleichsam frei nach Derrida: Marx‘ Gespenster, für Widergänger und Unerlöste sicherlich eine Faible. Und was da in der Inhaltsangabe geschildert wird, klingt derart irre und aberwitzig, daß ich vermute, dieses Buch muß einfach gut sein:

zds05cover500„Loki, der germanische Lügengott, kommt nach Jahren der Emigration zurück ins heutige Berlin. Er drängt den Göttervater Wodan, den Speer Gungnir zu werfen. Doch der alte Schlachtengott will nicht mehr. Er hockt auf einer Parkbank im Tiergarten und schaut der Welt beim Vergehen zu. Loki schaltet ihn aus. Rasch findet der Lügengott neue Gefolgsleute. Mit einem blutigen Ritual reißt er den magischen Speer an sich. Aber um Gungnir zu aktivieren, braucht er jemanden aus der Blutlinie Wodans. Der letzte lebende Erbe, Tomas Weißgerber, Betreiber einer Espressobar, ahnt nichts von seinem Schicksal. Er versucht, damit klarzukommen, dass seine Tochter das Haus verlassen hat. Albträume eines Krieges, den er nie erlebt hat, füllen seine Nächte. Er muss erfahren, dass sein Vater ihn sein Leben lang belogen hat. Der war keine Kriegswaise, sondern Sohn eines Nazi-Generals. Dessen Geist, seit Stalingrad verschollen, versucht Kontakt mit Tomas aufzunehmen. Er bittet um Vergebung. Bald steht Tomas zwischen Göttern, Geistern und allen Fronten. Unterwirft er sich dem Willen Lokis, der ein Viertes Reich errichten will? Wirft er den Speer? Die Zukunft steht auf dem Spiel.“

Bücher wie sie unterschiedlicher nicht sein können, und wie man sieht, lassen sich also auch Buchkritiken schreiben, wenn man Bücher nicht gelesen hat – oder wie es der Religionsphilosoph Jacob Taubes einmal sagte: er spüre und bemerke den Inhalt eines Buches bereits dadurch, daß er die Hand darauf lege.

Willi van Hengel: Dieudedet oder Sowas wie eine Schneeflocke
Verlag Zwischen den Stühlen, Juni 2022, 216 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 293 5 – EUR 13,90

Fritz Hendrick Melle: Stadt ohne Götter. Eine deutsche Geistergeschichte
Verlag Zwischen den Stühlen, November 2022, 276 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 307 9 – EUR 18,90

Es weihnachtet sehr: Ute Cohens „Falscher Garten“

Am 10. September diesen Jahres besuchte ich die Buchhandlung bookinista in Berlin-Charlottenburg (Meierottostraße 1 am, Fasanenplatz). Dort gab es eine Lesung mit Ute Cohen aus ihrem neuen Roman „Falscher Garten“. Der Titel sagt es bereits: Es geht um Gärten und es ist dieses Buch einerseits ein Krimi und zugleich eine Satire über das gartengrüne Berlin-Grunewald, jenes feinen Viertel, wo allerhand so Leute wohnen. Meist reich, aber eben nicht nur. Und nein, im Grunewald ist nicht nur Holzauktion, sondern es spielt sich dort auch manch Verborgenes, für die meisten Berliner kaum sichtbares Gesellschaftsdrama ab: ein wenig nach dem Motto: die im Dunkeln sieht man nicht, und das ist von diesen Leuten auch so gewollt. Berlin-Grunewald ist eine Welt für sich, abgeschieden und gediegen, allenfalls am 1. Mai verirren sich dorthin die Demonstanten, und zwar seit 2018 mit der Kundgebung „Quartiersmanagement Grunewald“ – eine satirische Demonstration nach dem Motto „Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg“: „Wir haben das Gefühl, dass sich da gefährliche Parallelgesellschaften bilden, Eigentum in unvernünftiger Menge angehäuft ist und die gesellschaftliche Kommunikation durch Zäune versperrt wird.“ Auch diese Demo ist, soweit ich mich richtig erinnere, Thema dieses Romans. Mir gefiel diese Lesung ausnehmend gut, eine witzige, unterhalsame und spannende Geschichte, die ich, wenn ich etwas mehr Zeit habe, dann im neuen Jahr lesen will. Insofern sei hier statt einer Buchkritik zumindest eine Inhaltsangabe dargeboten:

„Valverde, Ex-Knacki und Serienmörder, versucht sich im Berliner Villenviertel Grunewald eine neue Existenz aufzubauen. Kein einfaches Unterfangen für einen von der Liebe ergriffenen Soziopathen mit einer Passion für Kunst und Gerechtigkeit! Er bemüht sich redlich als Liebhaber der Berliner Journalistin Susa und Schummeldaddy ihrer drei Kids. Seinen Job als Gärtner hat er an den Nagel gehängt, nicht zuletzt, weil er fünf seiner korrupten Auftraggeberinnen ermordet und kunstvoll entsorgt hat. Obwohl ihm die Szene zuwider ist und ein geschundenes Knie ein seriöses Handicap zu werden droht, hält er tapfer durch. Langfristig aber braucht er eine andere Perspektive. Cannabis oder Vanille, das ist hier die Frage!

In die Quere kommt ihm sein leicht bizarrer Drang nach Gerechtigkeit. Als die Frau des benachbarten Schokoladenfabrikanten verschwindet, begibt sich Valverde auf ihre Fährte. Luxusescorts, aztektische Götter, Magic Mushrooms und zugedröhnte Kaninchen kreuzen dabei seinen Weg.

Obwohl sich Valverde an Recht und Gesetz zu halten versucht, obsiegt sein archaisches Verlangen nach Rache. Allerdings macht er sich dieses Mal nicht selbst die Hände schmutzig.“

Die Komik dieses Buches und der bittere Witz kamen in dieser Lesung fein zum Ausdruck und insofern möchte ich dieses Buch von Ute Cohen doch jedem ans Herz legen. Eine Buchkritik folgt im Laufe des nächsten Jahres.

Ganz wunderbar um übrigen, und das möchte ich hier doch hervorheben, gefällt mir das Cover des Buches. Es ist nämlich selten, daß die Photographien, die Buchtitel zieren, ansprechend und gelungen sind und daß man also beim ersten Betrachten nicht einfach flüchtig über sie hinweggleitet, sondern es bleibt das Auge hängen und es rätselt und freut sich an diesem schönen White-Rabit-Motive. Für die Photographie verantwortlich ist Sonja Shenouda. Magic Mushrooms sozusagen.

Ute Cohen: Falscher Garten. Eine schwarze Kapriole
erschienen im Septime Verlag, Wien. 192 Seiten. 22,90 Euro

Es weihnachtet sehr: „An Putins Schuhen“ – von Guido Rohm

„Als Putin das Zimmer betrat, sahen wir, dass etwas an seinem Fuß hing. War das nicht … Das musste er sein. Der ehemalige Kanzler, der nicht von Putin lassen konnte. Der nicht ohne ihn sein wollte. Wir hatten davon gehört. Aber glauben hatten wir es nicht können. Bis heute. Bis zu diesem Tag. Er ließ sich über den Boden schleifen. Hin und wieder warf ihm Putin etwas zu, so wie man einen Hund füttert, der die Reste vom Tisch bekommt. Wir kniffen die Augen zusammen. Unsicher, ob das sein konnte. Es war erschreckend. Widerlich. Aber es ersparte den Reinigungskräften Arbeit. So zog Putin eine Spur der Sauberkeit hinter sich her. Gerade dieser Mann, der so viel Blut und Tod in die Welt brachte. Aber er hatte diesen Kanzler, der an seinen Schuhen hing. Hatten wir nicht ein Foto seiner jetzigen Frau gesehen, auf dem er zu sehen war, wie er einen Weihnachtsbaum entführte? Dann musste dies doch ein anderer Mann sein. Oder agierte auf den Fotos ein Doppelgänger? Wir schwiegen und erwachten. Kollektive Alpträume sind die schlimmsten.“
Aus „An Putins Schuhen“

Und mit diesem Text leite ich meine erste Empfehlung für gelungene Weihnachtsgeschenke ein, nämlich die witzigen und vor allem geistvollen Texte von Guido Rohm. Ein Autor, den man wohl zu recht in die Tradition der Neuen Frankfurter Schule stellen kann – immerhin scheint er auch in dieser Region, nämlich im Hessischen, zu leben –, wenn er in seinen Prosa-Miniaturen nicht nur Leser zum Lachen bringt, sondern in eben diesem Witz sich zugleich das zeigt, was wir Esprit nennen. Und dazu ein surrealer, oft überbordender Humor, der ins Absurde driftet. Die Kraft dieser Prosa liegt in ihrer Kürze. Das, was Rohm schreibt, ist jedoch nicht nur geistreich, sondern vielfach auch politisch treffend und eine Reaktion aufs Zeitgeschehen:

„Jahrelang hasst man die USA, diese Verbrecher.“
„Und dann kommt dieser Putin und macht einem alles kaputt.“
„Das ist doch nicht richtig von dem.“
„Da steckt eine Menge USA in dem, anders kann man sich das nicht erklären.“
„Das hätte ich von dem nie gedacht, dass in dem …“
„Vielleicht hat der CIA den …“
„Das würde es erklären.“
„Schade ist das, dass der uns so in unserem Hass auf die USA behindern muss.“
„Sehr schade. Als Linker hat man es nicht einfach.“
„Nicht einfach.“
(Guido, Rohm: Aus „Nicht einfach“)

„Er hatte diesen Krieg so satt. Gerade erst hatte er einen weiteren offenen Brief unterzeichnet, der die sofortige Kapitulation der Ukraine forderte. Warum hatte sich dieses Land auch unbedingt angreifen lassen müssen? Diese provokante Gegenwehr. Und er? Er würde eine riesige Gasrechnung bekommen. Der Winter könnte kalt werden. Sehr kalt. Ihn fröstelte, wenn er daran dachte. Und das im Hochsommer. Er überprüfte seinen Maileingang. Nichts. Kein offener Brief, den er unterzeichnen konnte. Es war nicht leicht, ein deutscher Philosoph in diesen Tagen zu sein.“
(Rohm, Guido: Kapitel „Ein Mann offener Briefe“, Seite 42)

„Dirk bedroht wieder irgendwelche Leute.“
„Dieser Spinner.“
„Sag nichts, sonst kommt er zu uns. Nicht hinsehen.“
„Ups, der eben wird nie wieder kraftvoll zubeißen können.“
„Leiser.“
„Kommt er?“
„Nö, er ist mit einem Kleinen beschäftigt. Aua. Ob der jemals wieder laufen kann?“
„Nicht unser Kampf. Sieh weg.“
„Er kommt.“
„Ich wusste, dass er dein Schweigen als Provokation auffassen wird.“
„Tut mir leid.“
„Zu spät. Du Vollidiot. Musstest du dauernd hinsehen?“
„Hab ich gar nicht.“
„Haste doch.“
„Ist er da?“
„Er hat sich einen alten Mann vorgeknöpft.“
„Glück gehabt.“
„In Ordnung ist das nicht, was der macht.“
„Du lernst es nicht, du willst, dass er uns schlägt.“
„Er kommt.“
„Danke, das hast du uns eingebrockt. Danke.“
„Wir müssen eben hoffen, dass er abgelenkt wird. Da wird doch wer sein, den er vorher schlagen wird.“
(Guido Rohm: Aus „Trügerische Hoffnung“)

Rohms Prosaminiaturen sind auch deshalb gelungen, weil sie immer einmal wieder auch das Grauen der Zeit aufgreifen, sich in der Satire nicht davor verstecken und trotzdem mit Witz dem Entsetzlichen begegnen: in der guten Tradition von Jean Paul, Heinrich Heine und vor allem der Neuen Frankfurter Schule um Eckhard Henscheid und Robert Gernhardt insbesondere. Aber es gibt in Rohms Prosa auch Fragen zur Ästhetik und den Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten von Gegenwartskunst, die sich in ihrer Fortschrittsspirale sowie den Schockeffekten leer- und totgelaufen hat und zum Ritual erstarrt ist:

– Wann fängt das Stück an?
– Es hat schon angefangen.
– Es hat angefangen?
– Ja. Darum geht es ja.
– Worum geht es?
– Um den Anfang. Der Vorhang hebt sich ein Stück, dann aber hängt er, alles hängt. Es geht nicht weiter.
– Also hat es angefangen?
– Ja.
– Und wann geht es weiter?
– Gar nicht. Darum geht es nicht. Es geht um den Anfang.
– Oh. Aber die Leute flüstern alle.
– Das gehört zum Stück.
– Auch dieser Buhruf!
– Ja. Das Stück interagiert mit uns.
– Ich will gehen.
– Jetzt? Das Stück hat gerade angefangen.
– Aber in zwei Stunden wird es das immer noch.
– Lass uns in der Pause gehen.
– Gibt es denn eine?
– Laut Programmheft nicht, weil es nur den Anfang gibt.
– Und wie lange geht der?
– Drei Stunden.
– Die ersten gehen.
– Vielleicht sind das Schauspieler. Bleiben wir. Die Handlung nimmt Fahrt auf.
Aus „Der Anfang“

Was als Scherz sich liest, hat immer auch eine tiefere Bedeutung und enthält jenen Kern von Wahrheit, weshalb solchem Humor auch eine erkenntnisstiftende Kraft zukommt. Freilich: eine bessere Werbung für seine Texte als jede Rezension es je wird leisten können, ist es, diese Miniaturen selber sprechen zu lassen

„- Jetzt haben sie eine Hitzewelle angekündigt.
– Wir glauben nicht daran. Das wird uns nur erzählt, um uns besser unterdrücken zu können. Ich und meine Frau sind Hitzeleugner.
– Aber das ist doch messbar.
– Da steckt der Bill Gates dahinter. Die reden uns die Hitze ein, weil sie uns zwangskühlen wollen. Es gibt längst riesige Kühlhäuser, in die wir alle gesteckt werden sollen.
– Das habe ich noch nie gehört.
– Daran kann man erkennen, dass es stimmt. Je weniger Leute von einer Verschwörung gehört haben, desto wahrer ist sie.“
Aus „Je weniger“

Schön auch seine Rabbei Steinsalz-Episoden:

Eine Tages sagte ein Mann zu Rabbi Steinsalz: „Rabbi, ich habe fürchterliche Angst vor meinem Tod.“
„Das solltest du nicht“, sagte Rabbi Steinsalz. „Deine Frau war letzte Woche bei mir und wir haben uns zufälligerweise ebenfalls über deinen Tod unterhalten. Und sie hat keinerlei Angst davor. Und wenn sie die nicht hat, solltest du auch keine haben. Im Gegenteil sogar, sie scheint sich darauf zu freuen. Nimm dir ein Beispiel daran.“
Aus „Go Rabbi Go“

Ich rate dringend, Guido Rohm auf Facebook zu folgen, ich rate aber auch jedem und dringender noch seine Bücher zu kaufen: man schenke sie sich selbst zum traurig-schönen Weihnachtsfest, an dem Putin die Menschen in der Ukraine vermutlich auch in diesem Tag bombardiert, oder man schenke sie Verwandten oder Freunden. Im Schräg-Verlag sind von Guido Rohm erschienen: „An und Pfirsich – Texte für alle 117 Tage des Jahres“ und „Tyrannei in Senfsoße – Texte für stille und laute Örtchen“. Darin finden sich viele seiner Texte, die er auch auf Facebook veröffentlichte. Weil das aber dort auf diesem seltsamen Medium im Strom all der Einträge verlorengeht und weil Facebook nichts Bleibendes ist, sei insofern auf die Bücher verwiesen. Man kann sie direkt beim Verlag bestellen oder in jeder guten Buchhandlung. Sein erste Sammlung mit Kurzgeschichten erschien 2009 und trägt den Titel „Keine Spuren“ (erschienen im Jens Seeling Verlag, Frankfurt am Main 2009) und es gibt von diesem Autor auch zwei Krimis, die das herrkömmliche Genre erheblich sprengen, nämlich „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“. (Eine Rezension findet sich an dieser Stelle.) Und weil diese Texte so schön sind, soll es zum Abschluß noch zwei geben:

„Machst du mal bitte die Heizung an!“
„Keine Heizung. Wie du weißt, müssen wir sparen.“
„Aber ich friere.“
„Ich auch. Das verbindet uns. Das eröffnet eine ganz neue Seite unserer Beziehung. Fortan können wir uns daran erinnern, wie wir gemeinsam gefroren haben.“
„Ich werde nur krank.“
„Und dann pflege ich dich. Ich sitze hier und wische dir den Scheiß von der fiebrigen Stirn. Und wenn du dann gehst …“
„Gehe? Ich wohne doch hier.“
„Nach oben.“
„Zu Wischmayers?“
„Höher.“
„Zu Benzens?“
„Viel höher.“
„Auf das Dach steige ich bestimmt nicht.“
„Du missverstehst mich.“
„Das glaube ich auch. Und was ist mit der Heizung?“
„Die bleibt aus. Wir lassen uns von der Kälte nicht unterkriegen. Hier, bitte sehr.“
„Ein Schlafsack?“
„In den legst du dich. Wie in einen Kokon. Und im Frühjahr schlüpfst du.“
„Du spinnst doch …“
„Nein, ich bleibe auch in meinem. Wenn du magst, rollen wir gemeinsam in die Küche.“
Aus „Die Schmetterlinge“

 

Hans Magnus Enzensberger und Johnsons „Jahrestage“

Und im Blick auf Enzensberger und jene seltsam-wilden 1968er Jahre sei noch eine nette Anekdote preisgegeben: In seiner Geschichte zur deutschen Literatur der 1960er und 1970er berichtet Helmut Böttiger über Uwe Johnsons Auseinandersetzungen mit Enzensberger – auch was die literaturästheischen Differenzen anbelangt – und inwieweit Enzensberger in Johnsons großartigem Roman „Jahrestage“ vorkommt. So schreibt Böttiger hinsichtlich Johnsons „Jahrestage“:

„Enzensberger habe ein Stipendium an der US-Universität Wesleyan aufgegeben und mache sich nun auf ins kommunistische Kuba, ‚wo er nach seinen Worten leben will.‘ Wenige Tage später finden sich unter dem Datum des 23. Februar summarisch zusammengefaßte Nachrichten aus der ‚New York Times‘, unter anderem diejenige, dass in Kuba ‚an Personen über 13 Jahre keine Milch mehr ausgegeben‘ werde. Es folgt der Zusatz: ‚Hoffentlich ist dies nicht ein Leibgetränk von Dichter Enzensberger.‘

[…]

Dass Enzensberger recht bald danach Kuba enttäuscht den Rücken kehrte, wohl weil er wirklich als Zuckerarbeiter eingesetzt wurde und nicht in akademischer Weise an der Seite Fidel Castros brillieren konnte – das bedarf keiner ausführlichen Erörterung mehr. Weitaus entscheidender ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung. Johnson startete in der Ästhetik der ‚Jahrestage‘ eine Gegenoffensive zu Enzensbergers parallel veröffentlichten Thesen über die Möglichkeit gegenwärtiger Literatur. Im ‚Kursbuch‘ Nr. 20 erschien 1970 Enzensbergers  ‚Baukasten zu einer Theorie der Medien‘, und in diesem Essay radikalisierte er noch einmal seine Verachtung der ‚bürgerlichen‘ fiktionalen Literatur, die er bereits 1968 in derselben Zeitschrift zum Ausdruck gebracht hatte. [Gemeint ist jener Kursbuch-Text „Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend“, darin das Ende der bürgerlichen Literatur verkündet wurde, Hinw. Bersarin.] Die neuen technischen Möglichkeiten der Medien, so führte er aus, böten viele Gelegenheiten, an Stelle der Fiktion Neues auszuprobieren: crossmediale Überschneidungen, Collagen, diverse Arrangements von Fakten und Dokumenten. Wenn Johnson die Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen seiner Gesine Cressphal [sic!] jetzt häufiger auf Tonband sprechen lässt, setzt er damit ein kräftiges Ausrufezeichen: Anstatt ein Instrument dafür zu sein, das belletristische Erzählen abzuschaffen, erhält das technische Medium eine entgegengesetzte ästhetische Funktion und birgt ungeahnte fiktionale Möglichkeiten.“ (Helmut Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur)

„Oasis“, eine Dichterlesung von Ute Cohen und die Buchhandlung Bookinista samt einer Tonspur zum Sonntag

„Oasis“ und „Wonderwall“: Es ist und bleibt für mich eine der schönsten Zeiten im Leben: jene 1990er Jahre, als ich an den Lippen von Susanne hing, aber es waren nur die im oberen Bereich, jene Tage, als diese herrliche Musik von „Oasis“ erklang und alles nach Susanne, nach Hegel und nach Derrida schmeckte und wie wir tanzten und lebten und uns diese herrliche Welt ganz allein gehörte. „Oasis“ ist und bleibt für mich eine der größten Bands. Ich wollte immer so werden wie ihr Sänger. Ich wurde dann aber schlimmer. Gestern durfte ich dieses Lied einmal wieder in der schönen Buchhandlung Bookinista in Berlin-Wilmersdorf (Meierottostraße 1 am, Fasanenplatz) hören, und zwar gab es dort eine wunderbare Lesung mit Ute Cohen aus ihrem Roman“ Falscher Garten“ – einem Krimi und zugleich einer Satire über den Berliner Stadtteil Grunewald, herrlich und lebendig vorgetragen – und dazu die Moderation von Matthias Hufnagl, der anschließend auch den hervorragenden DJ abgab. Musik, zu der sehr junge Menschen und ebenso Menschen im Erwachsenenalter der Mittvierziger und Fünfziger tanzen. Und sogar dann von den Passanten, die die letzten Tage eines milden Spätsommerabends genossen, ein älterer Herr mit seiner Begleitung, der ein Tänzchen einlegte.

Und da eben erklang, als es schon dunkelte und der Vollmond am Himmel stand, auch dieser Song „Wonderwall“ und obwohl ich kein Tanzbodenkönig bin, zog es mich auf jene schöne Tanzfläche draußen vor der Buchhandlung in BerlinWilmersdorf, wo schon andere sich bewegten. Leider ohne Susanne.

Aber das ist ja nun schon dreißig Jahre her. Oder wie Wolfgang Welt es als Widmung vor seinen Roman „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ schrieb: „Für Barbara Römer, wie immer sie jetzt heißen mag.“ Oder eben: As time goes by. Wir sind endliche Wesen und deshalb sollten wir an solchen wunderbaren Abenden von Zeit zu Zeit tanzen.

E.T.A. Hoffmann – Vom Fall ins Kristall. Zum 200. Todestag des großen Dichters

Gestern hat einer der von mir sehr geschätzten Autoren seinen, ich hätte beinahe geschrieben: Jubeltag. Aber es ist ja der Todestag. Doch Tod, Verhängnis, Spaltung und vor allem die Angst vor Wahnsinn und Selbstentfremdung spielen gerade bei Hoffmann eine große Rolle. Die „Kunst der Entzweiung“ sozusagen, in der Kunst durchgespielt, am Protagonisten ausgeführt und dem Leser erzählt. Man denke nur an jenen Wahnsinn im „Sandmann“, der den Studenten Nathanael befällt und auch der in „Die Elixiere des Teufels“. Eine Schauergeschichte und eine Geschichte von der Angst des Ichs. Gestern wurde zu recht viel gelobt und geschrieben: so in der FAZ ein Arikel von Tilman Spreckelsen sowie von Jürgen Kaube über Hoffmann als Jurist. Warum es aber in solchen Artikeln wie dem gestrigen im „Tagesspiegel“ immer wieder solche Mißverständnisse und Sätze wie diesen gibt, das mögen die Götter wissen: „wobei der Romantik-Begriff seinerzeit erst geprägt und das rationalistisch-mechanistische Zeitalter der Aufklärung gründlich verabschiedet werden musste.“

Nein, dies stimmt nicht, das macht die Frühromantik nicht, auch jene „Romantik“ des E.T.A. Hoffmann kann man als eine Dialektik der Aufklärung beschreiben, darin die Nacht-, Schatten und Trübsalsseiten zum Vorschein gelangen; und die Frühromantik ist Aufklärung im besten Sinne – man lese nur Novalisʼ leider viel zu wenig rezipierte „Fichte-Studien“. Solche Fehler unterlaufen leider immer dann, wenn ein Autor irgendwas aufschnappt, was er irgendwo gehört hat, ohne die Texte zu lesen. Markige Formulierungen und Zuschreibungen können etwas anschaulich machen, aber sie verstellen in vielen Fällen auch den Blick auf eine spannende und komplexe Epoche: jenes 18. Jahrhundert, darin sich die Literatur als eigenständiges Medium ausbildetet und ein Bürgertum teils heranwuchs, das diese Werke las – auch weil es ökonomisch dazu in der Lage war und sich so etwas „leisten“ konnte. Und wie sich im ausgehenden 17. Jahrhundert „[d]ie Moderne aus dem Untergrund“ ausbreitete, kann man schön bei Martin Mulsow in „Die radikale Frühaufklärung“ nachlesen. Da wird dann mit manchem Mythos aufgeräumt.

Hinzu kommt, daß in jenem Zeitalter, wenn man denn den Begriff Aufklärung dafür wählen will, auch in der Aufklärung sehr verschiedene Positionen wirkten. Und auch darüber hinaus sind in ihrer Weise selbst noch Jacobi, Schleiermacher, Schlegel und Hegel jener Aufklärung verpflichtet. In diesen Bezirk gehören auch Hoffmanns Romane, von Hegel ganz und gar nicht geschätzt:

„Vorzüglich jedoch ist in neuester Zeit die innere haltlose Zerrissenheit, welche alle widrigsten Dissonanzen durchgeht, Mode geworden und hat einen Humor der Abscheulichkeit und eine Fratzenhaftigkeit der Ironie zuwege gebracht, in der sich [Ernst] Theodor [Amadeus] Hoffmann z.B. wohlgefiel.“ (Hegel, Vorlesungen über Ästhetik I)

Doch Dissonanz und Fragment waren bereits lange schondas Signum der Moderne. Und Hoffmann fügte dieser Dissonanz, die sich, sehr modern, ins Ich verlagerte, eine weitere Facette hinzu. Und daß Schauergeschichten mehr sind als nur Schauergeschichten zeigte unweit später der 1809 in Boston, Massachusetts, geborene Edgar Allen Poe und auch bei Baudelaire finden wir jenes Abscheuliche: dort aber angebetet und gepriesen, wie etwa in „Une Charogne“. Von solcher Feier war Hoffmann weit entfernt, es war eher eine Faszination am Abrund und zugleich eine Angst davor. Alkohol mag dabei ebenso eine Rolle gespielt haben. Wer mehr zu Hoffmanns Leben möchte, der greife zu der lesenswerten Biographie von Rüdiger Safranski. Von 1808 bis 1810 lebte Hoffmann in Bamberg und erfand dort jenen Kapellmeisters Johannes Kreisler, Hoffmanns literarisches Alter Ego. Dieser taucht in zahlreichen seiner Geschichten auf.

Wer durch das herrliche Bamberg streift, der wird immer wieder, sofern der Spaziergänger genügend Phantasie besitzt, in Hoffmann-Szenarien hineingezogen: die engen Gassen hin zum Stephansberg oder auch hinunter zur Regnitz laden dazu ein, sich in Gedanken in jene Welt des Schauers, des Abenteuerlichen und auch des Rausches zu begeben. Was ist „Der goldene Topf“, jenes phantastische Märchen in zwölf Vigilien, anders als eine grandiose Alkoholrauschphantasie, darin immer wieder gernedem Punsch zugeprochen wird? Und als der brave Student Anselmus beim seltsamen Advokaten Geheimen Archivarius Lindhorst seinen ersten Arbeitstag beginnt, da erscheint ihm am Türknauf jenes Apfelweib, welches Anselmus in Dresden umrannte, so daß die Äpfel fielen und kullerten. Und es schimpfte jenes alte Weiblein:

„Nun öffnete sich der festgeschlossene Kreis, aber indem der junge Mensch hinausschoß, rief ihm die Alte nach: »Ja renne – renne nur zu, Satanskind – ins Kristall bald dein Fall – ins Kristall!« – Die gellende, krächzende Stimme des Weibes hatte etwas Entsetzliches, so daß die Spaziergänger verwundert stillstanden, und das Lachen, das sich erst verbreitet, mit einemmal verstummte.“

Und da ist sie dann plötzlich, wie im Absinthrausch – das kühle Bamberger Kellerbier vermag solche Bilder nur bedingt zu evozieren –, als der Student diese Tür öffen wollte: jenes seltsame Apfelweibla bzw. jener Türgriff in der Eisgrube 14, darin es flimmert und wie sich die Gestalt des Knaufs metamorphosiert. Rausch und schlechtes Gewissen und eine seltsame Angst-Scham. Leider ist es, wenn wir an der Eisgrube entlangschlendern, eine Kopie, das Original liegt im Bamberger Museum. Es ist eine Geschichte über den Rausch von Drogen, eine lucht aus dem tristen Alltag, jugendliches Ungestüm, ein Rausch der Bilder, der Phantasie und auch des Rausches der Poesie, wenn jene Bilder in eine Geschichte verwandelt werden. Und so endet dieses Märchen in einem Erwachen und, nun ja, mit einem Kater:

„Die Vision, in der ich nun den Anselmus leibhaftig auf seinem Rittergute in Atlantis gesehen, verdankte ich wohl den Künsten des Salamanders, und herrlich war es, daß ich sie, als alles wie im Nebel verloschen, auf dem Papier, das auf dem violetten Tische lag, recht sauber und augenscheinlich von mir selbst aufgeschrieben fand. – Aber nun fühlte ich mich von jähem Schmerz durchbohrt und zerrissen. »Ach, glücklicher Anselmus, der du die Bürde des alltäglichen Lebens abgeworfen, der du in der Liebe zu der holden Serpentina die Schwingen rüstig rührtest und nun lebst in Wonne und Freude auf deinem Rittergut in Atlantis! – Aber ich Armer! – bald – ja in wenigen Minuten bin ich selbst aus diesem schönen Saal, der noch lange kein Rittergut in Atlantis ist, versetzt in mein Dachstübchen, und die Armseligkeiten des bedürftigen Lebens befangen meinen Sinn, und mein Blick ist von tausend Unheil wie von dickem Nebel umhüllt, daß ich wohl niemals die Lilie schauen werde.« – Da klopfte mir der Archivarius Lindhorst leise auf die Achsel und sprach: »Still, still, Verehrter! Klagen Sie nicht so! – Waren Sie nicht soeben selbst in Atlantis, und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum Ihres innern Sinns? – Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbarer?«“

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren. Die Natur, als Kulturlandschaft freilich, hat man dann beim Spazieren im Bamberger Hain, wo einem mit ein wenig Glück sogar der sprechende Hund Berganza begegnet. Das Denkmal zumindest befindet sich dort. Ich könnte hier im Hoffmann-Sinne noch lange fabulieren, vermutlich eher schwelgerisch ans schöne Bamberg denkend. Und wer dann nach solch einem Hoffmann-Spaziergang ganz im Sinne von Hoffmann pokulieren und auch gut essen möchte, der kehre in Eckerts Wirtshaus ein. Es liegt an der Regnitz und bietet einen herrlichen Blick auf Fluß und Wehr. Nein, das ist keine Werbung. Das Restaurant ist einfach gut. Und Hoffmanns Prosa ist es sowieso. Angst essen Seele auf.