Es weihnachtet sehr: Willi van Hengel und Fritz Hendrick Melle

Auch heute empfehle ich zwei Bücher, die ich noch gar nicht gelesen habe, nur den Autor kenne ich, den einen zumindest, nämlich Willi van Hengel. Ich habe ihn im Juli auf dem Sommerfest im Literarischen Colloquium Berlin am herrlichen Wannsee getroffen, zusammen mit Kai Beisswenger, dem ehrenwerten und herrlich trockenhumorig-bissigen Verleger. Ich schätze es, wenn Leute sich in diesen Zeiten mit einem kleinen Verlag selbständig machen und etwas wagen, und ich denke, daß wir solche Projekte unterstützen sollen. Zudem fand das Plaudern und Debattieren mit Willi van Hengel und Kai Beisswenger im LCB (gegründet übrigens von dem umtriebigen Walter Höllerer, der am 19. Dezember seinen 100. Geburtstag hat) angenehm, der schweifende Blick über den Wannsee tat ein übrigens. Insofern sei an dieser Stelle aus einer erinnerten Sommerstimmung heraus auf van Hengels Buch „Dieudedet oder Sowas wie eine Schneeflocke“ verwiesen und es sei hier eine Zusammenfassung gegeben:

zds03cover500„Willi van Hengel hat einen Entdeckungsroman verfasst, in dem das Ich nur anhand einer neuen Sprache zu sich findet. Nennen wir diese Sprache ’neo-romantisch‘. Sein Werk ist zeitlos – die Handlung könnte heute, vor zweihundert Jahren oder in zweihundert Jahren spielen. Gleichwohl ist das Thema des Romans hochaktuell, geht es doch um das, was seit Ewigkeiten die Menschen berührt: das Erleben tiefer Gefühle sowie das Leiden an einer unausgesprochenen und von daher gequälten Seele. Der Protagonist Alban erkennt auf seiner Reise ins eigene Ich den Grund seiner Bindungsängste. Er war das Schlachtfeld, auf dem die Kämpfe seiner Eltern ausgetragen wurden. Seine Eltern sind tot. Sie zur Rede stellen kann er nicht mehr. Dafür seinen besten Freund, der ihm ein abscheuliches Frauenbild eingeimpft hat – und der noch lebt. Also, was tun? Ihn, den besten Freund, töten? Dieser innere Kampf bringt Alban so weit, zu denken, dass er und sein Leben, wie er es lebt, »bloß ein Vorurteil« sei. Er wird sich seiner Vergangenheit und den damit verbundenen Erinnerungen stellen, um ein Stück von sich selbst zu Grabe (oder zu Stein, denn Alban ist Bildhauer) zu tragen. Um zu werden, was er sein könnte: ein Mensch, der aus lauter Zweifeln besteht, der nun aber beginnt, sich selbst anzunehmen – und vielleicht sogar zu lieben.“

Ein existentielles Thema mithin, was ein Stück weit in jenen Bereich fällt, denn wir seit der Literatur der 1970er Jahre „Neue Subjektivität“ nennen und was Helmut Böttiger in seinem Buch „Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur“ beschreibt – nebenbei auch ein schönes Weihnachtsgeschenk für alle, die sich für die Literatur dieser Jahre interessieren.

Auch der Aspekt der Zeitlosigkeit, der für diesen Roman zentral zu sein scheint, klingt spannend und es interessiert mich, wie dies mit den Mitteln des Erzählens eingelöst wird. Nach der Inhaltsangabe vermute ich zwar, daß ich an diesem Roman einiges zu kritisieren haben werde, denn solche existenziellen Themen sind oft heikel, und Pathos kann eben auch manchem Buch zum Schaden gereichen. Andererseits ist es auch wieder so ein seltsames Ding: im Pop, wie Alban Nikolai Herbst es immer wieder schreibt, akzeptieren wir solchen Pathos und einen hohen Ton, doch in der Dichtung verachten wir ihn meist – jenen hohen Ton. Wie dem auch sei, wir werden das im Detail dann nachlesen. Schauen wir also, wie solche Entdeckung des Ichs und jene Zeitlosigkeit im Erzählen und mit den Mitteln der Kunst umgesetzt werden.

Vielleicht ein wenig heiterer und dazu im Kontrast verweise ich zudem auf Fritz Hendrick Melles „Stadt ohne Götter. Eine deutsche Geistergeschichte“. Bereits der Titel des Buches klingt ansprechend, denn ich habe für solche Geister- und Gespenstergeschichten, gleichsam frei nach Derrida: Marx‘ Gespenster, für Widergänger und Unerlöste sicherlich eine Faible. Und was da in der Inhaltsangabe geschildert wird, klingt derart irre und aberwitzig, daß ich vermute, dieses Buch muß einfach gut sein:

zds05cover500„Loki, der germanische Lügengott, kommt nach Jahren der Emigration zurück ins heutige Berlin. Er drängt den Göttervater Wodan, den Speer Gungnir zu werfen. Doch der alte Schlachtengott will nicht mehr. Er hockt auf einer Parkbank im Tiergarten und schaut der Welt beim Vergehen zu. Loki schaltet ihn aus. Rasch findet der Lügengott neue Gefolgsleute. Mit einem blutigen Ritual reißt er den magischen Speer an sich. Aber um Gungnir zu aktivieren, braucht er jemanden aus der Blutlinie Wodans. Der letzte lebende Erbe, Tomas Weißgerber, Betreiber einer Espressobar, ahnt nichts von seinem Schicksal. Er versucht, damit klarzukommen, dass seine Tochter das Haus verlassen hat. Albträume eines Krieges, den er nie erlebt hat, füllen seine Nächte. Er muss erfahren, dass sein Vater ihn sein Leben lang belogen hat. Der war keine Kriegswaise, sondern Sohn eines Nazi-Generals. Dessen Geist, seit Stalingrad verschollen, versucht Kontakt mit Tomas aufzunehmen. Er bittet um Vergebung. Bald steht Tomas zwischen Göttern, Geistern und allen Fronten. Unterwirft er sich dem Willen Lokis, der ein Viertes Reich errichten will? Wirft er den Speer? Die Zukunft steht auf dem Spiel.“

Bücher wie sie unterschiedlicher nicht sein können, und wie man sieht, lassen sich also auch Buchkritiken schreiben, wenn man Bücher nicht gelesen hat – oder wie es der Religionsphilosoph Jacob Taubes einmal sagte: er spüre und bemerke den Inhalt eines Buches bereits dadurch, daß er die Hand darauf lege.

Willi van Hengel: Dieudedet oder Sowas wie eine Schneeflocke
Verlag Zwischen den Stühlen, Juni 2022, 216 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 293 5 – EUR 13,90

Fritz Hendrick Melle: Stadt ohne Götter. Eine deutsche Geistergeschichte
Verlag Zwischen den Stühlen, November 2022, 276 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 307 9 – EUR 18,90

Es weihnachtet sehr: Ute Cohens „Falscher Garten“

Am 10. September diesen Jahres besuchte ich die Buchhandlung bookinista in Berlin-Charlottenburg (Meierottostraße 1 am, Fasanenplatz). Dort gab es eine Lesung mit Ute Cohen aus ihrem neuen Roman „Falscher Garten“. Der Titel sagt es bereits: Es geht um Gärten und es ist dieses Buch einerseits ein Krimi und zugleich eine Satire über das gartengrüne Berlin-Grunewald, jenes feinen Viertel, wo allerhand so Leute wohnen. Meist reich, aber eben nicht nur. Und nein, im Grunewald ist nicht nur Holzauktion, sondern es spielt sich dort auch manch Verborgenes, für die meisten Berliner kaum sichtbares Gesellschaftsdrama ab: ein wenig nach dem Motto: die im Dunkeln sieht man nicht, und das ist von diesen Leuten auch so gewollt. Berlin-Grunewald ist eine Welt für sich, abgeschieden und gediegen, allenfalls am 1. Mai verirren sich dorthin die Demonstanten, und zwar seit 2018 mit der Kundgebung „Quartiersmanagement Grunewald“ – eine satirische Demonstration nach dem Motto „Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg“: „Wir haben das Gefühl, dass sich da gefährliche Parallelgesellschaften bilden, Eigentum in unvernünftiger Menge angehäuft ist und die gesellschaftliche Kommunikation durch Zäune versperrt wird.“ Auch diese Demo ist, soweit ich mich richtig erinnere, Thema dieses Romans. Mir gefiel diese Lesung ausnehmend gut, eine witzige, unterhalsame und spannende Geschichte, die ich, wenn ich etwas mehr Zeit habe, dann im neuen Jahr lesen will. Insofern sei hier statt einer Buchkritik zumindest eine Inhaltsangabe dargeboten:

„Valverde, Ex-Knacki und Serienmörder, versucht sich im Berliner Villenviertel Grunewald eine neue Existenz aufzubauen. Kein einfaches Unterfangen für einen von der Liebe ergriffenen Soziopathen mit einer Passion für Kunst und Gerechtigkeit! Er bemüht sich redlich als Liebhaber der Berliner Journalistin Susa und Schummeldaddy ihrer drei Kids. Seinen Job als Gärtner hat er an den Nagel gehängt, nicht zuletzt, weil er fünf seiner korrupten Auftraggeberinnen ermordet und kunstvoll entsorgt hat. Obwohl ihm die Szene zuwider ist und ein geschundenes Knie ein seriöses Handicap zu werden droht, hält er tapfer durch. Langfristig aber braucht er eine andere Perspektive. Cannabis oder Vanille, das ist hier die Frage!

In die Quere kommt ihm sein leicht bizarrer Drang nach Gerechtigkeit. Als die Frau des benachbarten Schokoladenfabrikanten verschwindet, begibt sich Valverde auf ihre Fährte. Luxusescorts, aztektische Götter, Magic Mushrooms und zugedröhnte Kaninchen kreuzen dabei seinen Weg.

Obwohl sich Valverde an Recht und Gesetz zu halten versucht, obsiegt sein archaisches Verlangen nach Rache. Allerdings macht er sich dieses Mal nicht selbst die Hände schmutzig.“

Die Komik dieses Buches und der bittere Witz kamen in dieser Lesung fein zum Ausdruck und insofern möchte ich dieses Buch von Ute Cohen doch jedem ans Herz legen. Eine Buchkritik folgt im Laufe des nächsten Jahres.

Ganz wunderbar um übrigen, und das möchte ich hier doch hervorheben, gefällt mir das Cover des Buches. Es ist nämlich selten, daß die Photographien, die Buchtitel zieren, ansprechend und gelungen sind und daß man also beim ersten Betrachten nicht einfach flüchtig über sie hinweggleitet, sondern es bleibt das Auge hängen und es rätselt und freut sich an diesem schönen White-Rabit-Motive. Für die Photographie verantwortlich ist Sonja Shenouda. Magic Mushrooms sozusagen.

Ute Cohen: Falscher Garten. Eine schwarze Kapriole
erschienen im Septime Verlag, Wien. 192 Seiten. 22,90 Euro

Es weihnachtet sehr: „An Putins Schuhen“ – von Guido Rohm

„Als Putin das Zimmer betrat, sahen wir, dass etwas an seinem Fuß hing. War das nicht … Das musste er sein. Der ehemalige Kanzler, der nicht von Putin lassen konnte. Der nicht ohne ihn sein wollte. Wir hatten davon gehört. Aber glauben hatten wir es nicht können. Bis heute. Bis zu diesem Tag. Er ließ sich über den Boden schleifen. Hin und wieder warf ihm Putin etwas zu, so wie man einen Hund füttert, der die Reste vom Tisch bekommt. Wir kniffen die Augen zusammen. Unsicher, ob das sein konnte. Es war erschreckend. Widerlich. Aber es ersparte den Reinigungskräften Arbeit. So zog Putin eine Spur der Sauberkeit hinter sich her. Gerade dieser Mann, der so viel Blut und Tod in die Welt brachte. Aber er hatte diesen Kanzler, der an seinen Schuhen hing. Hatten wir nicht ein Foto seiner jetzigen Frau gesehen, auf dem er zu sehen war, wie er einen Weihnachtsbaum entführte? Dann musste dies doch ein anderer Mann sein. Oder agierte auf den Fotos ein Doppelgänger? Wir schwiegen und erwachten. Kollektive Alpträume sind die schlimmsten.“
Aus „An Putins Schuhen“

Und mit diesem Text leite ich meine erste Empfehlung für gelungene Weihnachtsgeschenke ein, nämlich die witzigen und vor allem geistvollen Texte von Guido Rohm. Ein Autor, den man wohl zu recht in die Tradition der Neuen Frankfurter Schule stellen kann – immerhin scheint er auch in dieser Region, nämlich im Hessischen, zu leben –, wenn er in seinen Prosa-Miniaturen nicht nur Leser zum Lachen bringt, sondern in eben diesem Witz sich zugleich das zeigt, was wir Esprit nennen. Und dazu ein surrealer, oft überbordender Humor, der ins Absurde driftet. Die Kraft dieser Prosa liegt in ihrer Kürze. Das, was Rohm schreibt, ist jedoch nicht nur geistreich, sondern vielfach auch politisch treffend und eine Reaktion aufs Zeitgeschehen:

„Jahrelang hasst man die USA, diese Verbrecher.“
„Und dann kommt dieser Putin und macht einem alles kaputt.“
„Das ist doch nicht richtig von dem.“
„Da steckt eine Menge USA in dem, anders kann man sich das nicht erklären.“
„Das hätte ich von dem nie gedacht, dass in dem …“
„Vielleicht hat der CIA den …“
„Das würde es erklären.“
„Schade ist das, dass der uns so in unserem Hass auf die USA behindern muss.“
„Sehr schade. Als Linker hat man es nicht einfach.“
„Nicht einfach.“
(Guido, Rohm: Aus „Nicht einfach“)

„Er hatte diesen Krieg so satt. Gerade erst hatte er einen weiteren offenen Brief unterzeichnet, der die sofortige Kapitulation der Ukraine forderte. Warum hatte sich dieses Land auch unbedingt angreifen lassen müssen? Diese provokante Gegenwehr. Und er? Er würde eine riesige Gasrechnung bekommen. Der Winter könnte kalt werden. Sehr kalt. Ihn fröstelte, wenn er daran dachte. Und das im Hochsommer. Er überprüfte seinen Maileingang. Nichts. Kein offener Brief, den er unterzeichnen konnte. Es war nicht leicht, ein deutscher Philosoph in diesen Tagen zu sein.“
(Rohm, Guido: Kapitel „Ein Mann offener Briefe“, Seite 42)

„Dirk bedroht wieder irgendwelche Leute.“
„Dieser Spinner.“
„Sag nichts, sonst kommt er zu uns. Nicht hinsehen.“
„Ups, der eben wird nie wieder kraftvoll zubeißen können.“
„Leiser.“
„Kommt er?“
„Nö, er ist mit einem Kleinen beschäftigt. Aua. Ob der jemals wieder laufen kann?“
„Nicht unser Kampf. Sieh weg.“
„Er kommt.“
„Ich wusste, dass er dein Schweigen als Provokation auffassen wird.“
„Tut mir leid.“
„Zu spät. Du Vollidiot. Musstest du dauernd hinsehen?“
„Hab ich gar nicht.“
„Haste doch.“
„Ist er da?“
„Er hat sich einen alten Mann vorgeknöpft.“
„Glück gehabt.“
„In Ordnung ist das nicht, was der macht.“
„Du lernst es nicht, du willst, dass er uns schlägt.“
„Er kommt.“
„Danke, das hast du uns eingebrockt. Danke.“
„Wir müssen eben hoffen, dass er abgelenkt wird. Da wird doch wer sein, den er vorher schlagen wird.“
(Guido Rohm: Aus „Trügerische Hoffnung“)

Rohms Prosaminiaturen sind auch deshalb gelungen, weil sie immer einmal wieder auch das Grauen der Zeit aufgreifen, sich in der Satire nicht davor verstecken und trotzdem mit Witz dem Entsetzlichen begegnen: in der guten Tradition von Jean Paul, Heinrich Heine und vor allem der Neuen Frankfurter Schule um Eckhard Henscheid und Robert Gernhardt insbesondere. Aber es gibt in Rohms Prosa auch Fragen zur Ästhetik und den Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten von Gegenwartskunst, die sich in ihrer Fortschrittsspirale sowie den Schockeffekten leer- und totgelaufen hat und zum Ritual erstarrt ist:

– Wann fängt das Stück an?
– Es hat schon angefangen.
– Es hat angefangen?
– Ja. Darum geht es ja.
– Worum geht es?
– Um den Anfang. Der Vorhang hebt sich ein Stück, dann aber hängt er, alles hängt. Es geht nicht weiter.
– Also hat es angefangen?
– Ja.
– Und wann geht es weiter?
– Gar nicht. Darum geht es nicht. Es geht um den Anfang.
– Oh. Aber die Leute flüstern alle.
– Das gehört zum Stück.
– Auch dieser Buhruf!
– Ja. Das Stück interagiert mit uns.
– Ich will gehen.
– Jetzt? Das Stück hat gerade angefangen.
– Aber in zwei Stunden wird es das immer noch.
– Lass uns in der Pause gehen.
– Gibt es denn eine?
– Laut Programmheft nicht, weil es nur den Anfang gibt.
– Und wie lange geht der?
– Drei Stunden.
– Die ersten gehen.
– Vielleicht sind das Schauspieler. Bleiben wir. Die Handlung nimmt Fahrt auf.
Aus „Der Anfang“

Was als Scherz sich liest, hat immer auch eine tiefere Bedeutung und enthält jenen Kern von Wahrheit, weshalb solchem Humor auch eine erkenntnisstiftende Kraft zukommt. Freilich: eine bessere Werbung für seine Texte als jede Rezension es je wird leisten können, ist es, diese Miniaturen selber sprechen zu lassen

„- Jetzt haben sie eine Hitzewelle angekündigt.
– Wir glauben nicht daran. Das wird uns nur erzählt, um uns besser unterdrücken zu können. Ich und meine Frau sind Hitzeleugner.
– Aber das ist doch messbar.
– Da steckt der Bill Gates dahinter. Die reden uns die Hitze ein, weil sie uns zwangskühlen wollen. Es gibt längst riesige Kühlhäuser, in die wir alle gesteckt werden sollen.
– Das habe ich noch nie gehört.
– Daran kann man erkennen, dass es stimmt. Je weniger Leute von einer Verschwörung gehört haben, desto wahrer ist sie.“
Aus „Je weniger“

Schön auch seine Rabbei Steinsalz-Episoden:

Eine Tages sagte ein Mann zu Rabbi Steinsalz: „Rabbi, ich habe fürchterliche Angst vor meinem Tod.“
„Das solltest du nicht“, sagte Rabbi Steinsalz. „Deine Frau war letzte Woche bei mir und wir haben uns zufälligerweise ebenfalls über deinen Tod unterhalten. Und sie hat keinerlei Angst davor. Und wenn sie die nicht hat, solltest du auch keine haben. Im Gegenteil sogar, sie scheint sich darauf zu freuen. Nimm dir ein Beispiel daran.“
Aus „Go Rabbi Go“

Ich rate dringend, Guido Rohm auf Facebook zu folgen, ich rate aber auch jedem und dringender noch seine Bücher zu kaufen: man schenke sie sich selbst zum traurig-schönen Weihnachtsfest, an dem Putin die Menschen in der Ukraine vermutlich auch in diesem Tag bombardiert, oder man schenke sie Verwandten oder Freunden. Im Schräg-Verlag sind von Guido Rohm erschienen: „An und Pfirsich – Texte für alle 117 Tage des Jahres“ und „Tyrannei in Senfsoße – Texte für stille und laute Örtchen“. Darin finden sich viele seiner Texte, die er auch auf Facebook veröffentlichte. Weil das aber dort auf diesem seltsamen Medium im Strom all der Einträge verlorengeht und weil Facebook nichts Bleibendes ist, sei insofern auf die Bücher verwiesen. Man kann sie direkt beim Verlag bestellen oder in jeder guten Buchhandlung. Sein erste Sammlung mit Kurzgeschichten erschien 2009 und trägt den Titel „Keine Spuren“ (erschienen im Jens Seeling Verlag, Frankfurt am Main 2009) und es gibt von diesem Autor auch zwei Krimis, die das herrkömmliche Genre erheblich sprengen, nämlich „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“. (Eine Rezension findet sich an dieser Stelle.) Und weil diese Texte so schön sind, soll es zum Abschluß noch zwei geben:

„Machst du mal bitte die Heizung an!“
„Keine Heizung. Wie du weißt, müssen wir sparen.“
„Aber ich friere.“
„Ich auch. Das verbindet uns. Das eröffnet eine ganz neue Seite unserer Beziehung. Fortan können wir uns daran erinnern, wie wir gemeinsam gefroren haben.“
„Ich werde nur krank.“
„Und dann pflege ich dich. Ich sitze hier und wische dir den Scheiß von der fiebrigen Stirn. Und wenn du dann gehst …“
„Gehe? Ich wohne doch hier.“
„Nach oben.“
„Zu Wischmayers?“
„Höher.“
„Zu Benzens?“
„Viel höher.“
„Auf das Dach steige ich bestimmt nicht.“
„Du missverstehst mich.“
„Das glaube ich auch. Und was ist mit der Heizung?“
„Die bleibt aus. Wir lassen uns von der Kälte nicht unterkriegen. Hier, bitte sehr.“
„Ein Schlafsack?“
„In den legst du dich. Wie in einen Kokon. Und im Frühjahr schlüpfst du.“
„Du spinnst doch …“
„Nein, ich bleibe auch in meinem. Wenn du magst, rollen wir gemeinsam in die Küche.“
Aus „Die Schmetterlinge“

 

Hans Magnus Enzensberger und Johnsons „Jahrestage“

Und im Blick auf Enzensberger und jene seltsam-wilden 1968er Jahre sei noch eine nette Anekdote preisgegeben: In seiner Geschichte zur deutschen Literatur der 1960er und 1970er berichtet Helmut Böttiger über Uwe Johnsons Auseinandersetzungen mit Enzensberger – auch was die literaturästheischen Differenzen anbelangt – und inwieweit Enzensberger in Johnsons großartigem Roman „Jahrestage“ vorkommt. So schreibt Böttiger hinsichtlich Johnsons „Jahrestage“:

„Enzensberger habe ein Stipendium an der US-Universität Wesleyan aufgegeben und mache sich nun auf ins kommunistische Kuba, ‚wo er nach seinen Worten leben will.‘ Wenige Tage später finden sich unter dem Datum des 23. Februar summarisch zusammengefaßte Nachrichten aus der ‚New York Times‘, unter anderem diejenige, dass in Kuba ‚an Personen über 13 Jahre keine Milch mehr ausgegeben‘ werde. Es folgt der Zusatz: ‚Hoffentlich ist dies nicht ein Leibgetränk von Dichter Enzensberger.‘

[…]

Dass Enzensberger recht bald danach Kuba enttäuscht den Rücken kehrte, wohl weil er wirklich als Zuckerarbeiter eingesetzt wurde und nicht in akademischer Weise an der Seite Fidel Castros brillieren konnte – das bedarf keiner ausführlichen Erörterung mehr. Weitaus entscheidender ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung. Johnson startete in der Ästhetik der ‚Jahrestage‘ eine Gegenoffensive zu Enzensbergers parallel veröffentlichten Thesen über die Möglichkeit gegenwärtiger Literatur. Im ‚Kursbuch‘ Nr. 20 erschien 1970 Enzensbergers  ‚Baukasten zu einer Theorie der Medien‘, und in diesem Essay radikalisierte er noch einmal seine Verachtung der ‚bürgerlichen‘ fiktionalen Literatur, die er bereits 1968 in derselben Zeitschrift zum Ausdruck gebracht hatte. [Gemeint ist jener Kursbuch-Text „Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend“, darin das Ende der bürgerlichen Literatur verkündet wurde, Hinw. Bersarin.] Die neuen technischen Möglichkeiten der Medien, so führte er aus, böten viele Gelegenheiten, an Stelle der Fiktion Neues auszuprobieren: crossmediale Überschneidungen, Collagen, diverse Arrangements von Fakten und Dokumenten. Wenn Johnson die Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen seiner Gesine Cressphal [sic!] jetzt häufiger auf Tonband sprechen lässt, setzt er damit ein kräftiges Ausrufezeichen: Anstatt ein Instrument dafür zu sein, das belletristische Erzählen abzuschaffen, erhält das technische Medium eine entgegengesetzte ästhetische Funktion und birgt ungeahnte fiktionale Möglichkeiten.“ (Helmut Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur)

„Oasis“, eine Dichterlesung von Ute Cohen und die Buchhandlung Bookinista samt einer Tonspur zum Sonntag

„Oasis“ und „Wonderwall“: Es ist und bleibt für mich eine der schönsten Zeiten im Leben: jene 1990er Jahre, als ich an den Lippen von Susanne hing, aber es waren nur die im oberen Bereich, jene Tage, als diese herrliche Musik von „Oasis“ erklang und alles nach Susanne, nach Hegel und nach Derrida schmeckte und wie wir tanzten und lebten und uns diese herrliche Welt ganz allein gehörte. „Oasis“ ist und bleibt für mich eine der größten Bands. Ich wollte immer so werden wie ihr Sänger. Ich wurde dann aber schlimmer. Gestern durfte ich dieses Lied einmal wieder in der schönen Buchhandlung Bookinista in Berlin-Wilmersdorf (Meierottostraße 1 am, Fasanenplatz) hören, und zwar gab es dort eine wunderbare Lesung mit Ute Cohen aus ihrem Roman“ Falscher Garten“ – einem Krimi und zugleich einer Satire über den Berliner Stadtteil Grunewald, herrlich und lebendig vorgetragen – und dazu die Moderation von Matthias Hufnagl, der anschließend auch den hervorragenden DJ abgab. Musik, zu der sehr junge Menschen und ebenso Menschen im Erwachsenenalter der Mittvierziger und Fünfziger tanzen. Und sogar dann von den Passanten, die die letzten Tage eines milden Spätsommerabends genossen, ein älterer Herr mit seiner Begleitung, der ein Tänzchen einlegte.

Und da eben erklang, als es schon dunkelte und der Vollmond am Himmel stand, auch dieser Song „Wonderwall“ und obwohl ich kein Tanzbodenkönig bin, zog es mich auf jene schöne Tanzfläche draußen vor der Buchhandlung in BerlinWilmersdorf, wo schon andere sich bewegten. Leider ohne Susanne.

Aber das ist ja nun schon dreißig Jahre her. Oder wie Wolfgang Welt es als Widmung vor seinen Roman „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ schrieb: „Für Barbara Römer, wie immer sie jetzt heißen mag.“ Oder eben: As time goes by. Wir sind endliche Wesen und deshalb sollten wir an solchen wunderbaren Abenden von Zeit zu Zeit tanzen.

E.T.A. Hoffmann – Vom Fall ins Kristall. Zum 200. Todestag des großen Dichters

Gestern hat einer der von mir sehr geschätzten Autoren seinen, ich hätte beinahe geschrieben: Jubeltag. Aber es ist ja der Todestag. Doch Tod, Verhängnis, Spaltung und vor allem die Angst vor Wahnsinn und Selbstentfremdung spielen gerade bei Hoffmann eine große Rolle. Die „Kunst der Entzweiung“ sozusagen, in der Kunst durchgespielt, am Protagonisten ausgeführt und dem Leser erzählt. Man denke nur an jenen Wahnsinn im „Sandmann“, der den Studenten Nathanael befällt und auch der in „Die Elixiere des Teufels“. Eine Schauergeschichte und eine Geschichte von der Angst des Ichs. Gestern wurde zu recht viel gelobt und geschrieben: so in der FAZ ein Arikel von Tilman Spreckelsen sowie von Jürgen Kaube über Hoffmann als Jurist. Warum es aber in solchen Artikeln wie dem gestrigen im „Tagesspiegel“ immer wieder solche Mißverständnisse und Sätze wie diesen gibt, das mögen die Götter wissen: „wobei der Romantik-Begriff seinerzeit erst geprägt und das rationalistisch-mechanistische Zeitalter der Aufklärung gründlich verabschiedet werden musste.“

Nein, dies stimmt nicht, das macht die Frühromantik nicht, auch jene „Romantik“ des E.T.A. Hoffmann kann man als eine Dialektik der Aufklärung beschreiben, darin die Nacht-, Schatten und Trübsalsseiten zum Vorschein gelangen; und die Frühromantik ist Aufklärung im besten Sinne – man lese nur Novalisʼ leider viel zu wenig rezipierte „Fichte-Studien“. Solche Fehler unterlaufen leider immer dann, wenn ein Autor irgendwas aufschnappt, was er irgendwo gehört hat, ohne die Texte zu lesen. Markige Formulierungen und Zuschreibungen können etwas anschaulich machen, aber sie verstellen in vielen Fällen auch den Blick auf eine spannende und komplexe Epoche: jenes 18. Jahrhundert, darin sich die Literatur als eigenständiges Medium ausbildetet und ein Bürgertum teils heranwuchs, das diese Werke las – auch weil es ökonomisch dazu in der Lage war und sich so etwas „leisten“ konnte. Und wie sich im ausgehenden 17. Jahrhundert „[d]ie Moderne aus dem Untergrund“ ausbreitete, kann man schön bei Martin Mulsow in „Die radikale Frühaufklärung“ nachlesen. Da wird dann mit manchem Mythos aufgeräumt.

Hinzu kommt, daß in jenem Zeitalter, wenn man denn den Begriff Aufklärung dafür wählen will, auch in der Aufklärung sehr verschiedene Positionen wirkten. Und auch darüber hinaus sind in ihrer Weise selbst noch Jacobi, Schleiermacher, Schlegel und Hegel jener Aufklärung verpflichtet. In diesen Bezirk gehören auch Hoffmanns Romane, von Hegel ganz und gar nicht geschätzt:

„Vorzüglich jedoch ist in neuester Zeit die innere haltlose Zerrissenheit, welche alle widrigsten Dissonanzen durchgeht, Mode geworden und hat einen Humor der Abscheulichkeit und eine Fratzenhaftigkeit der Ironie zuwege gebracht, in der sich [Ernst] Theodor [Amadeus] Hoffmann z.B. wohlgefiel.“ (Hegel, Vorlesungen über Ästhetik I)

Doch Dissonanz und Fragment waren bereits lange schondas Signum der Moderne. Und Hoffmann fügte dieser Dissonanz, die sich, sehr modern, ins Ich verlagerte, eine weitere Facette hinzu. Und daß Schauergeschichten mehr sind als nur Schauergeschichten zeigte unweit später der 1809 in Boston, Massachusetts, geborene Edgar Allen Poe und auch bei Baudelaire finden wir jenes Abscheuliche: dort aber angebetet und gepriesen, wie etwa in „Une Charogne“. Von solcher Feier war Hoffmann weit entfernt, es war eher eine Faszination am Abrund und zugleich eine Angst davor. Alkohol mag dabei ebenso eine Rolle gespielt haben. Wer mehr zu Hoffmanns Leben möchte, der greife zu der lesenswerten Biographie von Rüdiger Safranski. Von 1808 bis 1810 lebte Hoffmann in Bamberg und erfand dort jenen Kapellmeisters Johannes Kreisler, Hoffmanns literarisches Alter Ego. Dieser taucht in zahlreichen seiner Geschichten auf.

Wer durch das herrliche Bamberg streift, der wird immer wieder, sofern der Spaziergänger genügend Phantasie besitzt, in Hoffmann-Szenarien hineingezogen: die engen Gassen hin zum Stephansberg oder auch hinunter zur Regnitz laden dazu ein, sich in Gedanken in jene Welt des Schauers, des Abenteuerlichen und auch des Rausches zu begeben. Was ist „Der goldene Topf“, jenes phantastische Märchen in zwölf Vigilien, anders als eine grandiose Alkoholrauschphantasie, darin immer wieder gernedem Punsch zugeprochen wird? Und als der brave Student Anselmus beim seltsamen Advokaten Geheimen Archivarius Lindhorst seinen ersten Arbeitstag beginnt, da erscheint ihm am Türknauf jenes Apfelweib, welches Anselmus in Dresden umrannte, so daß die Äpfel fielen und kullerten. Und es schimpfte jenes alte Weiblein:

„Nun öffnete sich der festgeschlossene Kreis, aber indem der junge Mensch hinausschoß, rief ihm die Alte nach: »Ja renne – renne nur zu, Satanskind – ins Kristall bald dein Fall – ins Kristall!« – Die gellende, krächzende Stimme des Weibes hatte etwas Entsetzliches, so daß die Spaziergänger verwundert stillstanden, und das Lachen, das sich erst verbreitet, mit einemmal verstummte.“

Und da ist sie dann plötzlich, wie im Absinthrausch – das kühle Bamberger Kellerbier vermag solche Bilder nur bedingt zu evozieren –, als der Student diese Tür öffen wollte: jenes seltsame Apfelweibla bzw. jener Türgriff in der Eisgrube 14, darin es flimmert und wie sich die Gestalt des Knaufs metamorphosiert. Rausch und schlechtes Gewissen und eine seltsame Angst-Scham. Leider ist es, wenn wir an der Eisgrube entlangschlendern, eine Kopie, das Original liegt im Bamberger Museum. Es ist eine Geschichte über den Rausch von Drogen, eine lucht aus dem tristen Alltag, jugendliches Ungestüm, ein Rausch der Bilder, der Phantasie und auch des Rausches der Poesie, wenn jene Bilder in eine Geschichte verwandelt werden. Und so endet dieses Märchen in einem Erwachen und, nun ja, mit einem Kater:

„Die Vision, in der ich nun den Anselmus leibhaftig auf seinem Rittergute in Atlantis gesehen, verdankte ich wohl den Künsten des Salamanders, und herrlich war es, daß ich sie, als alles wie im Nebel verloschen, auf dem Papier, das auf dem violetten Tische lag, recht sauber und augenscheinlich von mir selbst aufgeschrieben fand. – Aber nun fühlte ich mich von jähem Schmerz durchbohrt und zerrissen. »Ach, glücklicher Anselmus, der du die Bürde des alltäglichen Lebens abgeworfen, der du in der Liebe zu der holden Serpentina die Schwingen rüstig rührtest und nun lebst in Wonne und Freude auf deinem Rittergut in Atlantis! – Aber ich Armer! – bald – ja in wenigen Minuten bin ich selbst aus diesem schönen Saal, der noch lange kein Rittergut in Atlantis ist, versetzt in mein Dachstübchen, und die Armseligkeiten des bedürftigen Lebens befangen meinen Sinn, und mein Blick ist von tausend Unheil wie von dickem Nebel umhüllt, daß ich wohl niemals die Lilie schauen werde.« – Da klopfte mir der Archivarius Lindhorst leise auf die Achsel und sprach: »Still, still, Verehrter! Klagen Sie nicht so! – Waren Sie nicht soeben selbst in Atlantis, und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum Ihres innern Sinns? – Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbarer?«“

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren. Die Natur, als Kulturlandschaft freilich, hat man dann beim Spazieren im Bamberger Hain, wo einem mit ein wenig Glück sogar der sprechende Hund Berganza begegnet. Das Denkmal zumindest befindet sich dort. Ich könnte hier im Hoffmann-Sinne noch lange fabulieren, vermutlich eher schwelgerisch ans schöne Bamberg denkend. Und wer dann nach solch einem Hoffmann-Spaziergang ganz im Sinne von Hoffmann pokulieren und auch gut essen möchte, der kehre in Eckerts Wirtshaus ein. Es liegt an der Regnitz und bietet einen herrlichen Blick auf Fluß und Wehr. Nein, das ist keine Werbung. Das Restaurant ist einfach gut. Und Hoffmanns Prosa ist es sowieso. Angst essen Seele auf.

Pier Paolo Pasolini zum 100. Geburtstag

Bei all dem Schrecklichen, was den Menschen in der Ukraine widerfährt, will ich den 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini nicht vergessen. Und vielleicht gerade deshalb, wegen dieser Kraft zum Widerstand gegen Unrecht und Diktatur und seinem Plädoyer für Freiheit ist an Pasolini zu erinnern. Ich habe seine Filme in den 1980er Jahren mit Lust und mit Begeisterung gesehen, den rätselhaften Film „Teorema – Geometrie der Liebe“ und auch seine Dramen aus der borgate: „Accattone “ und „Mamma Roma“ und ich habe mir auch sogleich damals die Romane gekauft – in dem hellkaffeesahnebraunen Einbänden, wie es zu dieser Zeit Mode war. Pasoline machte das, was jemand wie Adorno perhorreszierte: eine Mischung aus Dokumentation und Kunst. Aber er tat es so, daß es ob der Kraft der Bilder, der Darstellung und der Dialoge Adorno vielleicht doch ästhetisch gefallen hätte, so wie in „Gastmahl der Liebe“: jener Befragung der Menschen zu Liebe und Sex.

Wie der Tagesspiegel-Artikel richtig schrieb, schätzte ich Pasolini zunächst und primär als Künstler und dann erst als Intellektuellen. „Pasolini war in erster Linie Dichter und Erzähler, in zweiter Filmregisseur und in dritter Intellektueller und Publizist.“ Über die 1968er und an die Studenten gerichtet, schrieb er ganz richtig (sinngemäß und aus dem Kopf zitiert): „Was protestiert ihr für die Befreiung der Arbeiter? Die Arbeiter, die ihr befreien wollt, stehen euch gegenüber, wenn ihr auf die Polizisten Steine werft.“ Dieses Unkonventionelle schätze ich an Pasolini. Aber dennoch blieb er trotz unkonventionellem Denken, linker Politik treu, schrieb für den Klassenkampf und konnte doch keine Arbeiterklasse mehr finden. Die Vorstadtjugend in den borgate machte ein anderes Ding. Mit Marx gesprochen war dies eher das Lumpenproletatiat oder wie man heute sagt: Abgehängte. Klassenkampf ohne Klasse gleichsam.

Und wie zu jedem Osterfest muß man, so auch bald wieder, „Das 1. Evangelium – Matthäus“ sich anschauen. Wie da eine biblische Landschaft und Geschichte mitten nach Italien verlegt war und in was für gewaltigen, teils stillen Bildern in Schwarzweiß: eine reduzierte Ästhetik, die zugleich überwältigte – auch durch die Gesichter und die Züge der Schauspieler. Die Rollen – gespielt von Laien. Das ist wahrlich eine große Regiekunst.

Eine Lanze für die Berliner Zeitung und eine kräftige Watsche für den Tagesspiegel im Blick auf den 100. Geburtstag von Franz Fühmann

Der Dichter Franz Fühmann hatte am 15. Januar seinen 100. Geburtstag. Westberlin und die Potsdamer Straße, wo einstmals Tante Tagesspiegels Redaktion saß, mag ein wenig, wenngleich zu Schöneberg gehörend, dem fiktiven Stadtteil Altmottenburg angehören, wo man im Muff des Westmilieus nüscht mitbekam, als noch selig die Mauer stand. Aber daß einer der bedeutenden ostdeutschen Dichter im Januar ein derart rundes Jubiläum feiert, hätte auch in die verstaubteste Feuilletonstube Askanischer Platz 3 durchdringen müssen, wo inzwischen der Tagesspiegel seinen Sitz hat, und es hätte dazu eine Würdigung geben müssen. Als Verantwortlicher für den Literaturteil täte ich mich da ein bißchen schämen. Es brachte der Tagesspiegel gar nichts. Es brachte die Berliner Zeitung dankenswerter Weise zwei Artikel:

„Franz Fühmanns 100. Geburtstag: Miststücke von Büchern. Franz Fühmann war einer der wichtigsten Autoren der jungen DDR. Weitgehend unbekannt ist sein Scheitern an einem Projekt über Theodor Fontane.“

Und ein zweiter Artikel noch dazu, in der BLZ:

Briefwechsel: Franz Fühmann und Christa Wolf in ihren Briefen: Gemeinsam gegen die Dogmatiker. Ein Stück Literaturgeschichte, ein Stück Lebensgeschichte für viele Leser: „Monsieur – wir finden uns wieder“.“

[Schon der Titel dieses Bandes gefällt ausnehmend gut]

Und auch auf der Literaturseite am Sonntag im Tagesspiegel: gar nichts. Ihr seid schon rechte Schnarchnasen beim Tagesspiegel. Stattdessen findet sich auf der Titelseite am Samstag im Feuilleton: „Wollen wir Masken auch im Fernsehen?“ (hui was für ein Thema!), und am Sonntag dann „Sprühdosenduell in Belgrad“: ist zwar interessant, aber dann hätte wenigstens im Literaturteil eine Fühmann-Würdigung stehen müssen. (Und ja, Tagesspiegel: das ist die erste Anzählung, von wegen Abonnement.) Und genau aus solchem Grunde des Checkerhaften, des Schnellen und Nicht-so-derart-Westberlin-Behäbigen habe ich die Berliner Zeitung gerne gelesen: weil ich als Wessi immer neugierig auf den Osten war. Und das nicht nur, wegen der Klasseostbräute, sondern vor allem wegen der Geschichten von dort. In der BLZ standen Dinge, die man sonst nirgends las, und auch, weil ich nicht belehrt, sondern informiert werden wollte, wie das lange Zeit in dieser Zeitung üblich war: Erzählen, was ist.

Den Briefwechsel zwischen Wolf und Fühmann gibt es im Aufbau-Verlag. Gute Dichterbriefe lese ich gerne – man nehme nur die von Hölderlin, da findet sich eine ganze Poetik darin. Und was dort erzählt wird aus jenem Land, das es nicht mehr gibt, werde ich dann ja sehen.

„Monsieur, wir finden uns wieder“
Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Franz Fühmann 1968 bis 1984
224 Seiten, gebunden, 24 Euro
ISBN 978-3-351-03958-5
Aufbau-Verlag Berlin

Ich denke, dies ist ein schönes Jubiläumsbuch und das möchte ich gerne lesen. Darin auch ein Spottgedicht von Christa Wolf, zu jenen Zeiten, als der Liedermacher und Dichter Wolf Biermann im November 1976 aus der DDR ausgebürgert wurde:

„Im neblichten Monat November war’s,
die Blicke wurden trübe,
da ward eine Affaire zur Staatsaktion –
aus Furcht vor Trauer und Liebe.

Im schönen Monat Dezember war’s,
die Tage wurden kälter,
da küsste mancher manchem den Ars –
wir Kumpels werden halt älter.

Nun kömmt der frostklare Januar –
mit ihm die neuen Lieder.
Die Miserere ist vorbei.
Monsieur – wir finden uns wieder.“

Danke, Berliner Zeitung, daß Ihr an dieses Jubiläum gedacht habt. Der Titel in der FAZ immerhin „Der Eremit von Märkisch-Buchholz“ bringt einen schönen Brandenburg-Sound. Daß auch die ZEIT in der Ausgabe dieser Woche keinen Artikel brachte (den Artikel zu Fühmann und Höllerer Ende Dezember fasse ich nicht als Geburtstagsartikel auf), ist ebenfalls kein Ruhmesblatt und zeigt einmal wieder, welchen Stellenwert die Ostliteratur im Westdeutschen Feuilleton hat. Ihr seid schon arge Brunzen.

„Du liegst im großen Gelausche“. Peter Szondi zum 50. Todestag

Ich habe mir Ende der 1980er und zum Beginn der 1990er Jahre die Germanistik zu einem großen Teil mit den (gedruckten) Vorlesungen von Peter Szondi erschlossen und ebenso mit seinen Aufsätzen, die in den Schriften Band I und II erschienen sind. Seine Celan-Deutung der „Engführung“ habe ich 1993 als Tutor für Erstsemester im germanistischen Seminar begleitet und bin dabei auf die hübsche Susanne gestoßen. Nun ja, die Beziehung zu Szondi war am Ende doch anhaltender, tiefer und weniger von Streit und Kummer geprägt. Szondi hielt, bis heute und um den Sinn für Texte zu schärfen, lese ich ihn immer einmal wieder – sei es seine Vorlesungen zu „Poetik und Geschichtsphilosophie“, darin Hegel, Schelling, Schlegel, die Fragen der Gattungspoetik, Hölderlin, die sogenannte Klassik und die Romantik eine Rolle spielen und daß in solchen Begriffen immer auch eine dialektische Übergängigkeit liegt. Philosophiesche Grundlegung der Germanistik und damit beste Vorbereitung aufs Fach: zu wissen, in welchem geistigen Kontext und in welchem Horizont Dichtungen wie Hölderlin, Rilke, Hofmannsthal, Celan stehen und was jene Querelle des Anciens et des Modernes noch für das ausgehende 18. Jahrhundert bedeutete: Geist der Goethezeit und die Ausfaltung der Ästhetik um 1800. Für einen Einstieg in die Literatur jener Zeit ist diese Lektüre keine schlechte Voraussetzung.

Aber nicht nur binnenästhetisch genommen, sondern ebenso gesellschaftlich-politisch: Wie wichtig Szondi in den 1960er Jahren für die Germanistik in Deutschland war, läßt sich heute vermutlich kaum noch ermessen. Es war ein philologisches Denken, das dem Muff unter den Talaren trotzte. Zu betonen ist vor allem Szondis Offenheit gegenüber den neuen Denkströmungen aus Frankreich, nämlich Jacques Derrida unter anderem, den er nach Berlin einlud. Er verband Dialektik und Hermeneutik und er rutschte, eben weil er ein kluger Dialektiker war, dennoch nie in die triviale Ideoliekritik ab. Dichtung nahm er beim Wort, wie in seiner Lektüre von Celans „Engführung“, Rilkes „Duineser Elegien“ und in vielen anderen Analysen. Und doch ließ er jene Momentaufnahmen, die aus Privatem und Biographischem bestehen und die manchmal in ein Gedicht einfließen, nicht völlig außen vor, wie in seiner Lektüre von Celans „Du liegst im großen Gelausche“ aus dem Band „Schneepart“ (1971 erschienen) (Eine Celan-Würdigung dieses Gedichts mit Bezug auf Peter Szondi findet sich hier auf AISTHESIS)

Am 18. Oktober 1971 beging Peter Szondi in Berlin Selbstmord. Er nahm sich das Leben. Obwohl dies eigentlich – und im Sinne der anderen Lesart von „nehmen“ – nicht stimmt, denn der Tod ist das Ende allen irdischen Lebens.

Geboren wurde Szondi 1929 in Budapest. Er überlebte das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die „Jüdische Allgemeine“ schreibt über sein Leben und Überleben nach dem Dritten Reich:

„Doch er blieb zeitlebens ein Heimatloser, der von sich selbst einmal sagte, er hätte es verlernt, irgendwo zu Hause zu sein. An Gershom Scholem, der ihn nach Jerusalem holen wollte, schrieb er: ‚Dass sich das ändern könnte und sollte, weiß ich, aber dieses Wissen ist nicht stark genug, um den Widerstand in mir jetzt – und das heißt: solange ich es in Deutschland aushalte – zu brechen.‘ Szondi hielt es nicht lange aus: Im Alter von 42 Jahren ertränkte er sich 1971 im Halensee.

Mit diesem tragischen Ende war er unter den prominenten deutschsprachigen jüdischen Überlebenden nicht alleine. Paul Celan stürzte sich 1970 in die Seine, Jean Améry starb 1978 an einer Überdosis Schlaftabletten. Sie hatten zwar überlebt, konnten aber nicht weiterleben. Auch waren sie enttäuscht über die mangelnde Sensibilität der deutschen Gesellschaft. Am deutlichsten brachte dies der Historiker Joseph Wulf zum Ausdruck, bevor er am 10. Oktober 1974 aus dem Fenster seiner Berliner Wohnung sprang: ‚Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.'“

Doch will ich Szondi gar nicht so sehr auf jene deutsche Zeitgeschichte festnageln. Er war und ist bis heute ein bedeutender deutsch-ungarischer Literaturwissenschaftler, und er steht in der Tradition von Gelehrten und Denkern wie Georg Lukács, Walter Benjamin, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.

„Unterschiedenes ist
gut.“ (Hölderlin)

Mit diesem Zitat leitet Szondi seine Hölderlin-Studien ein. Und unterscheiden heißt eben auch und vor allem: Kritik, krínein. Gut wäre es, wenn auch die sogenannten Literaturkritik sich wieder mehr an solchen wie Szondi orientierte. Denn das, was Szondi in seinen Schriften macht, ist Literaturkritik im besten Sinne.

Eine schöne Hinführung zu Szondi – wenngleich die beste Hinführung und der Königsweg immer noch über das Lesen der Originaltexte geht – scheint mir von Hans-Christian Riechers „Peter Szondi. Eine intellektuelle Biographie“ zu sein. Mir ist im Augenblick keine andere aktuelle biographische Monographie bekannt. Und um sich, zumindest wenn einer neu in der Germanistik bzw. in der vergleichenden Literaturwissenschaft ist, einen Überblick über das geistige Szenario, jene Denkbewegungen und das, was man den Geist der Zeiten heißt, zu verschaffen, scheinen mir solche Bücher ganz gut geeignet.

Szondi betrieb eine kritische Theorie der Literaturwissenschaften und obgleich er selten unter den Namen der Kritischen Theoretiker genannt wird, würde ich ihn doch zu jenen zählen. Adorno widmete Szondi seinen Hölderlin-Essay „Parataxis“. Ich bin kein Freund von Merksätzen, aber jene Einsicht von Szondi aus seinem Essay „Über philologische Erkenntnis“ trifft es:

„Das philologische Wissen darf […] gerade um seines Gegenstandes willen nicht zum Wissen gerinnen. Auch für die Literaturwissenschaft trifft merkwürdigerweise zu, was Ludwig Wittgenstein zur Kennzeichnung der Philosophie gegenüber den Naturwissenschaften sagte: ‚Die Philosophie‘, heißt es im Tractatus logico-philosophicus, ‚ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Ein philosophisches Werk besteht wesentlich aus Erläuterungen.‘ Davon scheinen die englischen und französischen Bezeichnungen für die Literaturwissenschaft ein Bewußtsein zu haben. Sie betonen nicht das Moment des Wissens, sondern das der kritischen Tätigkeit, des Scheidens und Entscheidens. In der Kritik wird nicht bloß über die Qualität eines Kunstwerks entschieden, sondern auch über falsch und richtig; ja, es wird nicht bloß über etwas entschieden, sondern Kritik entscheidet sich selbst, indem sie Erkenntnis ist.“

Copyright: Suhrkamp Verlag (Facebookseite)

Im Besonderen das Allgemeine. Eckhard Henscheid zum 80. Geburtstag

Heute hat einer der großen und ganz und gar großartigen Autoren der deutschen Literatur Geburtstag, nämlich Eckhard Henscheid. Bereits die Titel seiner Bücher waren, so fand ich es in den 1980er und 1990er Jahren, umwerfend komisch: „Beim Fressen beim Fernsehen fällt der Vater dem Kartoffel aus dem Maul“ war einer meiner liebsten Buchtitel. Aber auch „Verdi ist der Mozart Wagners – Eine Art Opernführer“ und jenes legendäre Anekdotenbuch „Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte. Anekdoten über Fußball, Kritische Theorie, Hegel und Schach“ bleiben Bücher, die nicht nur vom Titel her umvergessen sind. Doch ist dieses Anekdotenbuch zur Kritischen Theorie nicht etwa mit Spott, sondern vielmehr mit Witz geschrieben, denn da liebte und schätzte jemand den Gegenstand, über den er schrieb. Denn Witz ist bekanntlich das Ingenium des Geistes. Die Anekdote vom Postponieren des Reflexivum „sich“ dürfte den meisten bekannt sein. Und für die, die nicht, so sei es hier gegeben:

„Um die verzweifelte Stimmung, welche die „Frankfurter Schule“ um das Jahr 1933 herum befallen hatte, etwas aufzulockern, veranstaltete Max Horkheimer eines schönen Tages einen kleinen Wettstreit. Derjenige sollte Sieger und der beste Kritische Theoretiker sein, der das Reflexivum „sich“ am weitesten postponieren (nachstellen) konnte.

„Das hört sich gut an!“ rief Erich Fromm und schied sofort aus.
„Jetzt wird sich mal zeigen“, schrie begeistert Herbert Marcuse, „wer was drauf hat im Kopf!“ – und natürlich sah damit auch Marcuse kein Land.

Etwas geschickter stellte sich Walter („Benjamin“) Benjamin an, der mit einem „Der Marxismus muß mit dem Judentumn sich verbrüdern!“ zum Erfolg kommen hoffte.

Habermas hatte offensichtlich die Regel mißverstanden oder was, jedenfalls schien er mit seinem Beitrag „Sich denken, bringt wahre Selbstreflektion des Geistes“ aus, und auch Pollock brachte es mit einem ‚Gott ist an sich im Himmel‘ nicht weit, ja er wurde sogar mit Schulverweis bedroht (nachher wollte er es ironisch verstanden haben usw., was aber vor allem Marcuse bestritt, während Fromm irgendwie mit der ganzen Welt verkracht war und nur verbissen an seiner Rache bzw. einem Bleistift kaute) – jedenfalls legte nun lächelnd Max Horkheimer mit dem Satz „Die Judenfrage erweist in der Tat als Wendepunkt sich der Geschichte“ einen echten Hammer vor, indessen – nicht zu glauben, daß auch dies noch übertroffen werden konnte: Sieger wurde und sein Meisterstück nämlich machte Adorno mit dem geflügelten Satz: „Das unpersönliche Reflexivum erweist in der Tat noch zu Zeiten der Ohnmacht wie der Barberei als Kulmination und integrales Kriterium Kritischer Theorie sich.“

In solcher Erzählung zeigt sich, daß da jemand schreibt und denkt, der seinem Gegenstand nahe ist, der ihm vor allem aber gewachsen ist und ihn deshalb zugleich kritisch sehen kann. Das eben, was auch die Kritische Theorie ausmacht und aus diesem Grunde und wegen des Wirkungsortes Frankfurt am Main hieß jene Gruppe von Satirikern, die 1979 aus der Zeitschrift Pardon hervorging und die 1979 die Titanic gründete, Neue Frankfurter Schule. Deren Mottobild dürfte den meisten ebenfalls bekannt sein: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“

Auch in solcher Sentenz samt der dazugehörigen Zeichnung verbinden sich Witz und Liebe zur Sache. Etwas, das auf Jean Paul und dessen Verfahren in der Literatur verweist: Digressiver Takt sozusagen, der als abschweifende Witz aber die Sache, über die er schreibt, nicht einfach nur verlacht, womit wir wiederum bei Laurence Sterne wären. Aus gutem Grunde verweist Magnus Klaue in seiner schönen Würdigung von Eckhard Henscheid im „Tagesspiegel“ auf jenen Autor, den man wohl nicht ganz der Romantik zurechnen kann und der doch von der Art des Schreibens her in deren Umkreis gehört: jenes herrlich ausschweifende Jean Paulsche Denken, das auch Henscheid beherrscht:

„Im Ernst, der auch Henscheids Klimbim und Kalauern innewohnt, im frühromantischen Impuls, Pointe und Ornament, Oberfläche und Tiefe kurzzuschließen, besteht seine Verwandtschaft mit Jean Paul.

Seine zwischen 1973 und 1978 erschienene Trilogie des laufenden Schwachsinns, bestehend aus den Romanen „Die Vollidioten“, „Geht in Ordnung – sowieso – genau –“ und „Die Mätresse des Bischofs“ ist nicht einfach eine großangelegte Satire auf das bundesrepublikanische Intellektuellenmilieu der Siebziger, obwohl sich dessen Protagonisten von Alice Schwarzer bis Max Horkheimer in Henscheids überbordendem Figurenpanorama begegnen. Zugleich war sie wirklich und ernsthaft so etwas wie die Wiederaufnahme von Jean Pauls im „Siebenkäs“ unternommenem Versuch eines nicht-linearen, dissoziativen Entwicklungsromans, dem barocken Gegenentwurf zum bürgerlichen Bildungsroman.

Wie Henscheid nicht einfach von oben herab die pappnasigen Protagonisten eines korrupten Kulturbetriebs karikiert, sondern sie in einer Vielzahl sprachlicher Nach- und Neuschöpfungen lebendig werden lässt, so hat er die Satire stets strenger genommen als diejenigen, die sie als überlegen-ironische Rechtfertigung der Wirklichkeit missbrauchen. „

„Einer von gestern“, so ist die Überschrift der Würdigung betitelt.

Henscheids Lebenswege kann man in seiner Autobiographie „Denkwürdigkeiten“ nachlesen. Und auch damit bewegt er sich, gleichsam als „Wahrheit und Dichtung“, zwischen Goethescher Zeit und jener Neuen Subjektivität der 1970er Jahre, als das Schreiben des Ich groß im kommen war. Doch über solchen Ton, vom „Tod des Märchenprinzen“ bis hin zu Karin Struck („besinnungsloses Geschmarre“), spottete Henscheid fies-virtuos. Denn anders als jene Innerlichkeitsblicker, die da nur die leere Substanz des Om-om aus der Bauchnabelschau hervorziehen, ließ Henscheid die Sprache los und zeigte, in welcher Weise man lebendig und mit Stil auf sein Leben blicken kann: nicht Befindlichkeitskram, dessen Privates niemanden interessiert, sondern bei Henscheid scheint im Besonderen ein Allgemeines heraus und diese Moment, diese Mischung aus Effekt und schön Erzähltem bildet das, was man in Friedrich Schlegels Diktion der modernen, romantischen Literatur das Interessante nennt. Und freilich ist dabei unter anderem auch die Welt der Literatur wichtig, aber eben nicht als bildungsbürgerliches Leseleben. Die „Genese des Geistes“, den „Big Bang durchs Bücherlesen“ beschreibt Henscheid in einer feinen Geschichte:

„1949, mit acht, war ich im Sommer erstmals Übernachtungsgast auf dem Dachsriegel (827 Meter) bei Furth im Wald, einquartiert nach Art der Zeit und Eisenbahnerkinder in eine sehr spartanische Logishütte. Ein halbes Jahr später sprang mir aus dem Lesebuch der 3. Klasse im Zuge einer Herbstgeschichte der Satz »… schied die Sonne hinterm Dachsriegel« entgegen.

Es war ein Urknall, ein Blitzeinschlag, ein Coup de coïncidence, ein Einschlag direttissima ins wie betäubte, wie überrumpelte Herz. Ein Blitz aus Überraschung, Welterahnung und auch Stolz. Stolz darauf, daß ich diesen Berg ja doch – »wirklich« kannte!

Erstmals wohl waren Primär- und Sekundärwirklichkeit, Erlebnis- und Druckwelt aufeinandergetroffen, hatten sich ineinander verschränkt. Dagegen, gegen diesen Choc d’amour, hatten viel später Goethe und Kafka keine Chance mehr. Nicht einmal ganz die drei jäh herzbrechenden Worte aus dem dritten »Winnetou«-Band: »Er war tot.«

Über sie weinte ich allerdings geschätzte vier Stunden lang. Und immer wieder auf. Aber ich las den Roman einfach viel zu spät, mit etwa 15. Da war die Ur-Druckbuchstaben-Empfindung schon nicht mehr lapidar genug. Der Schmerzerguß rührte da nicht mehr aus einem Wort (»Dachsriegel«), sondern aus dem Entgleiten, dem Vergehen, ja Verschwinden einer ganzen Welt.“

Das ist, mit einem Wort, große Dichtung mit Wahrheitseinschlag, wie Henscheid diese Stunde der Empfindung als Initial zur Literatur beschreibt. Vor allem aber ist es, aus solcher vergrößerten Kleinigkeit heraus, genau beobachtet und zeigt exemplarisch, was alle die, die bis heute viel und mit Lust lesen, von sich berichten können: Oft waren es ganz unscheinbare Erlebnisse und Szenen, die einem Kind mit einem Male den Blick aufgehen ließen und daß sich da im Leben wie im Buche gleichermaßen etwas tat, was dann das Kind ergründen und dessen Erlebnis es wiederholen wollte. Wohl auch darum, aus solcher Lust heraus, können Kinder eine Geschichte, die sie einmal lasen, wieder und immer wieder lesen. Vor allem jedoch zeigt sich in solchen Passagen, wie man auf gute Weise Pathos, Schönheit und gleichzeitig Witz bündeln kann, um daraus Literatur zu machen.

Dieses Werk, dieses Leben, diesen Autor gilt es zu würdigen. Vor allem aber: zu lesen. Auch wenn man sich an manchem bei ihm reiben kann, etwa Henscheids Einschätzung zu Arno Schmidt oder Beckett. Aber Große können groß irren.

Einen gelungenen Schluß für eine angemessene Würdigung liefert Magnus Klaue, wenn er über jenes Anekdotenbuch „Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte“ schreibt:

Anders als heutige Jungakademiker glauben, die diese Satiren als Verspottung eines gedrechselten Jargons goutieren, handelt es sich bei dieser Überzeichnung um eine Würdigung, um die Reverenz an Menschen, die von gestern und eben deshalb dem Heute überlegen sind. Als ein solcher sollte auch Eckhard Henscheid zu seinem Achtzigsten gepriesen werden.

Ich hätte es nicht besser schreiben können. Und jenes Gestern ist nicht besser, weil es „gestern“ ist, sondern weil es diesem Heute an Geist, Witz, Klugheit und Eloquenz allemal überlegen ist. Anders als all die bodentiefen Fenster und das Ich-und-meine-Hautfarbe-Geselche.

Photographie: CCC-Lizenz