Auch heute empfehle ich zwei Bücher, die ich noch gar nicht gelesen habe, nur den Autor kenne ich, den einen zumindest, nämlich Willi van Hengel. Ich habe ihn im Juli auf dem Sommerfest im Literarischen Colloquium Berlin am herrlichen Wannsee getroffen, zusammen mit Kai Beisswenger, dem ehrenwerten und herrlich trockenhumorig-bissigen Verleger. Ich schätze es, wenn Leute sich in diesen Zeiten mit einem kleinen Verlag selbständig machen und etwas wagen, und ich denke, daß wir solche Projekte unterstützen sollen. Zudem fand das Plaudern und Debattieren mit Willi van Hengel und Kai Beisswenger im LCB (gegründet übrigens von dem umtriebigen Walter Höllerer, der am 19. Dezember seinen 100. Geburtstag hat) angenehm, der schweifende Blick über den Wannsee tat ein übrigens. Insofern sei an dieser Stelle aus einer erinnerten Sommerstimmung heraus auf van Hengels Buch „Dieudedet oder Sowas wie eine Schneeflocke“ verwiesen und es sei hier eine Zusammenfassung gegeben:
„Willi van Hengel hat einen Entdeckungsroman verfasst, in dem das Ich nur anhand einer neuen Sprache zu sich findet. Nennen wir diese Sprache ’neo-romantisch‘. Sein Werk ist zeitlos – die Handlung könnte heute, vor zweihundert Jahren oder in zweihundert Jahren spielen. Gleichwohl ist das Thema des Romans hochaktuell, geht es doch um das, was seit Ewigkeiten die Menschen berührt: das Erleben tiefer Gefühle sowie das Leiden an einer unausgesprochenen und von daher gequälten Seele. Der Protagonist Alban erkennt auf seiner Reise ins eigene Ich den Grund seiner Bindungsängste. Er war das Schlachtfeld, auf dem die Kämpfe seiner Eltern ausgetragen wurden. Seine Eltern sind tot. Sie zur Rede stellen kann er nicht mehr. Dafür seinen besten Freund, der ihm ein abscheuliches Frauenbild eingeimpft hat – und der noch lebt. Also, was tun? Ihn, den besten Freund, töten? Dieser innere Kampf bringt Alban so weit, zu denken, dass er und sein Leben, wie er es lebt, »bloß ein Vorurteil« sei. Er wird sich seiner Vergangenheit und den damit verbundenen Erinnerungen stellen, um ein Stück von sich selbst zu Grabe (oder zu Stein, denn Alban ist Bildhauer) zu tragen. Um zu werden, was er sein könnte: ein Mensch, der aus lauter Zweifeln besteht, der nun aber beginnt, sich selbst anzunehmen – und vielleicht sogar zu lieben.“
Ein existentielles Thema mithin, was ein Stück weit in jenen Bereich fällt, denn wir seit der Literatur der 1970er Jahre „Neue Subjektivität“ nennen und was Helmut Böttiger in seinem Buch „Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur“ beschreibt – nebenbei auch ein schönes Weihnachtsgeschenk für alle, die sich für die Literatur dieser Jahre interessieren.
Auch der Aspekt der Zeitlosigkeit, der für diesen Roman zentral zu sein scheint, klingt spannend und es interessiert mich, wie dies mit den Mitteln des Erzählens eingelöst wird. Nach der Inhaltsangabe vermute ich zwar, daß ich an diesem Roman einiges zu kritisieren haben werde, denn solche existenziellen Themen sind oft heikel, und Pathos kann eben auch manchem Buch zum Schaden gereichen. Andererseits ist es auch wieder so ein seltsames Ding: im Pop, wie Alban Nikolai Herbst es immer wieder schreibt, akzeptieren wir solchen Pathos und einen hohen Ton, doch in der Dichtung verachten wir ihn meist – jenen hohen Ton. Wie dem auch sei, wir werden das im Detail dann nachlesen. Schauen wir also, wie solche Entdeckung des Ichs und jene Zeitlosigkeit im Erzählen und mit den Mitteln der Kunst umgesetzt werden.
Vielleicht ein wenig heiterer und dazu im Kontrast verweise ich zudem auf Fritz Hendrick Melles „Stadt ohne Götter. Eine deutsche Geistergeschichte“. Bereits der Titel des Buches klingt ansprechend, denn ich habe für solche Geister- und Gespenstergeschichten, gleichsam frei nach Derrida: Marx‘ Gespenster, für Widergänger und Unerlöste sicherlich eine Faible. Und was da in der Inhaltsangabe geschildert wird, klingt derart irre und aberwitzig, daß ich vermute, dieses Buch muß einfach gut sein:
„Loki, der germanische Lügengott, kommt nach Jahren der Emigration zurück ins heutige Berlin. Er drängt den Göttervater Wodan, den Speer Gungnir zu werfen. Doch der alte Schlachtengott will nicht mehr. Er hockt auf einer Parkbank im Tiergarten und schaut der Welt beim Vergehen zu. Loki schaltet ihn aus. Rasch findet der Lügengott neue Gefolgsleute. Mit einem blutigen Ritual reißt er den magischen Speer an sich. Aber um Gungnir zu aktivieren, braucht er jemanden aus der Blutlinie Wodans. Der letzte lebende Erbe, Tomas Weißgerber, Betreiber einer Espressobar, ahnt nichts von seinem Schicksal. Er versucht, damit klarzukommen, dass seine Tochter das Haus verlassen hat. Albträume eines Krieges, den er nie erlebt hat, füllen seine Nächte. Er muss erfahren, dass sein Vater ihn sein Leben lang belogen hat. Der war keine Kriegswaise, sondern Sohn eines Nazi-Generals. Dessen Geist, seit Stalingrad verschollen, versucht Kontakt mit Tomas aufzunehmen. Er bittet um Vergebung. Bald steht Tomas zwischen Göttern, Geistern und allen Fronten. Unterwirft er sich dem Willen Lokis, der ein Viertes Reich errichten will? Wirft er den Speer? Die Zukunft steht auf dem Spiel.“
Bücher wie sie unterschiedlicher nicht sein können, und wie man sieht, lassen sich also auch Buchkritiken schreiben, wenn man Bücher nicht gelesen hat – oder wie es der Religionsphilosoph Jacob Taubes einmal sagte: er spüre und bemerke den Inhalt eines Buches bereits dadurch, daß er die Hand darauf lege.
Willi van Hengel: Dieudedet oder Sowas wie eine Schneeflocke
Verlag Zwischen den Stühlen, Juni 2022, 216 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 293 5 – EUR 13,90
Fritz Hendrick Melle: Stadt ohne Götter. Eine deutsche Geistergeschichte
Verlag Zwischen den Stühlen, November 2022, 276 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 307 9 – EUR 18,90