Es geht die Ausstellung im Kupferstichkabinett zu Dresden, wo die Photographien von Wols gezeigt werden, heute zu Ende. Wer an diesem Tag in Dresden weilte, spazierte vermutlich eher auf der am Samstag eröffnete Waldschlößchenbrücke entlang, als daß sie oder er sich diese feine Ausstellung betrachteten. Waldschlößchenbrücke: Ein schöner Name für ein so filigranes Bauwerk, es klingt nach Waldcafé, Gartenlokal, Vogelgesang, ein wenig vergangene Aristokratie, Waldesrauschen, geschwungene Hügellandschaft, und es plätschert ein kühler Bach: eine rundum gelungene Begriffsfindung für eine solch funktionale Konstruktion. Ich als Autofahrer und als blicksüchtiger Flaneur in den Elbwiesen begrüße diesen Brückenbau, denn so wird Dresden endlich mit der Moderne verkoppelt und die Blickachse auf die Puppenstube bricht sich mit dem was ist: dem Autoverkehr. Und über den Begriff der Puppenstube sind wir assoziativ bei der Puppe angelangt und damit bei den Photographien von Wols.
Diese werden im Kupferstichkabinett unter vier thematischen Aspekten sortiert: Die Portrait, die Photographien von Paris, die Modepuppen in dem von Menschen verlassenen „Pavillon de l’Élegance“ anläßlich der Pariser Weltausstellung 1937, seine (faszinierend-verstörenden) Stilleben sowie die südlichen Landschaften, die nichts Heiter-Mediterranes besitzen, sondern etwas Gleißendes, Hartes zeigt sich in den Bildern. Überspitz geschrieben klingt darin bereits der Mythos des Sisyphos unter südlicher Sonne mit. Leider sind von diesen Bildern der südlichen Landschaften nicht viele erhalten geblieben. Einige der Photos machte Wols in Spanien, wohin er Anno 1933 zusammen mit seiner späteren Frau Gréty Dabija reiste, andere entstanden auf der Flucht vor den Nazis im südfranzösischen Cassis.
Am Anfang von Wols photographischen Arbeiten in Frankreich stehen jedoch seine Portraitphotographien, mit denen er sich finanziell und trotz Berufsverbot als Photograph sein Auskommen zu sichern versuchte. Der herkömmlichen Portraitphotographie kann ich im allgemeinen nur bei wenigen Bildern etwas abgewinnen. Wenn sie nicht, wie in den Photos von August Sander, dazu diente, einen Sozialtypus einzufangen, ein spezielles Moment in einem Gesicht einzufrieren oder wie beim Man Ray das Gesicht zu fragmentieren, indem ein Ausschnitt wie Mund oder Auge hervorgehoben wird, habe ich mit manchem Portrait meine Schwierigkeiten. Was vielleicht daran liegen mag, daß die Portraitphotographie eine komplizierte Angelegenheit ist: das Besondere und Spezifische in einem Gesicht nicht nur zu entdecken, sondern es auch in jenem flüchtigen Moment einer 1/125 Sekunde festzufrieren, gelingt nicht vielen. Häufig bleiben Portraits seltsam leer und es blicken den Betrachter die Gesichter ohne Ausdruck an.
Landschaften und Städte interessieren mich selbst dann, wenn sie unbedeutend, häßlich, nichtssagend sind. Die Landschaft eines Gesichts läßt mich in vielen Fällen jedoch kalt. [Der versunkene somnambule (Nicht-)Blick der Frau Dr. Wiener nebenstehend jedoch nicht. Ein herzrasend sinnliches Portrait, das über das bloß Sinnliche hinausgeht. So muß die im Freudschen Sinne erhabendste aller Hysterikerinnen ausgesehen haben, während sie nicht nur die Struktur des Begehrens, sondern das Begehren selber entfacht. Dr. Lacan hilf!] Portraits sprechen mich lediglich dann an, wenn Exzeptionelles abgelichtet wird: sexy Lee Miller zum Beispiel oder ein Blick, der im Bild besticht. Häufig interessieren sie mich als Sozialstudien bzw. unter formal-gestalterischen Aspekten. Wie tief und wie weit jedoch das Portrait als Präsentation, Repräsentation und als eine Weise von Personen-Inszenierung reicht, zeigt gelungen Hans Beltings Buch „Faces“. (Dessen Besprechung hier im Blog immer noch aussteht.) Gesichter sind nie nur Gesichter: sie können Masken sein, sie können – im Bild abgelichtet oder gemalt – Monumente und Momente des Erinnerns sein. Gerade die Portrait-Serien, die Wols anfertigte, in immer verschiedenen Haltungen des Kopfes und mit unterschiedlicher Mimik, wären einen eigenen Text in Beltings Buch wert gewesen. Was Belting herausragend zeigt: Gesichter und ihre Lektüre bzw. der Blick auf sie sind gesellschaftlich vermittelt.
Gesichter in Bildern sind nicht nur die – freilich inszenierte – Präsenz einer Person, sondern immer auch ein Maske: jede Photographie und jedes Portrait verweist auf etwas Abwesendes, das unwiderruflich abwesend und verdeckt bleiben wird.
Es faszinieren die Portraits, die Wols fertigte, weil Blicke, die wie spontan wirken, als Bild sich in Szene setzen: Die schnappschußhafte Inszenierung einer Person, aber zugleich stellt sich in dem Moment, wo die Gesichter photographiert werden, darin ein entspannter Ausdruck ein. Für diesen Effekt ließ Wols seine Modelle teilweise sich auf dem Boden ausstrecken, da die liegende Lage die Muskulatur entspannt und dem Ausdruck eines Gesichts das Angestrengte nahm. Meist photographierte Wols Menschen aus seinem Bekanntenkreis. Wobei Wols diese Portraits meist im Geiste seiner Zeit fertigte. Handwerklich gut gemacht, ein wenig verwegen und gezerrt, weil er teils mit Weitwinkel arbeitete. Durch diese liegende Lage blicken viele der Abgebildeten versonnen oder es sind – ganz in surrealer Weise – die Augen der Portraitierten geschlossen: der Traum und der Schlaf als Wesen des Gesichts. Abgetaucht und in jener anderen Welt: dieses Versunkene, fast ins Dinghafte sich kehrend, dort und an den Ort hin, wo der Blick entgleitet: dieses Motiv wird sich auch in den späteren Photographien von Wols zeigen.
Stadtlandschaften, die nicht mehr das unmittelbar sichtbare Paris darstellen und in einer Photographie inszenieren, sondern die Mauern und Straßen, Rinnsteine, abgerissene Plakatwände, die bereits wie schwarz/weiße Bilder des Tachismus oder des abstrakten Expressionismus wirken, ein weggeworfener Gegenstand wie z.B. eine Flasche, ein Schattenspiel aus dem Asphalt, das die untere Lattenreihe eines Zaunes wirft; die Details einer Stadt treten hervor: ihre Mauern und Pflastersteine, ihre Schaufensterauslagen oder bloß irgendein Rinnstein, mit einer Puppe und einer Austernschale darin plaziert, photographiert Wols und macht das sichtbar, was am Wegesrand liegt, das Weggeworfene, das was nicht das offizielle und approbierte Bild von Paris ausmacht. Ein verlassenes Ruderboot auf der Seine, ein Blick durchs Fenster auf den Friedhof Montparnasse. Oder aber er zeigt eine Café-Szene, die hinter einem Vorhang aufgenommen wurde, der Vordergrund, da wo die Kamera positioniert ist, ragt schwarz ins Bild, düster die Silhouette eines Kopfes: Wie aus dem Traumauge und dem Traumblick heraus auf jene Welt geschaut, die für die reale gehalten wird. Das Paris von Wols ist ein Verfremdetes, teils aus extremen Unter- oder Obersichten aufgenommen, mal kontrastreich präsentiert, dann wieder in zarten, weichen Grautönen.
Schade ist es, daß sich Walter Benjamin und Wols nicht gekannt bzw. ihre Werke sich gegenseitig nicht berührt haben. Es besteht zwischen Benjamins Texten und Wols‘ Bildern eine mehr als untergründige und eine mehr als nur geheime Korrespondenz. Wols Stadtlandschaften, die man nicht unbedingt dialektische Bilder, aber vielleicht Traumprotokolle wird nennen können, sind formal auf der Höhe ihrer Zeit, verarbeiten die Einflüsse von Neuem Sehen und Straight Photography: der Kamerablick imitiert nicht mehr das Gemälde, sondern schafft eine Welt ganz eigener Ordnung. Wie auch in den Photographien aus dem „Pavillon de l’Élegance“ zeigen sich durchaus die Einflüsse von Surrealismus und dem sehr strukturierten und formalen Sehen des Bauhaus: Die Puppen aus dem Pavillon wirken eigentümlich verdreht, das Künstliche dieser leblosen Figuren und ihr Fragmentarisches werden dadurch betont, daß insbesondere die Schnittstellen,da wo die Arme abgetrennt sind, ins Bild gebracht werden. Oder es ragen auf einer anderen Photographie die abgetrennten Arme mit den exponierten Händen düster in den Raum hinein. Verstümmelte Körper von Puppen. Lebloses mit fließenden Kleidern bedeckt. Ausgeleuchtet werden diese Puppen mit einem selbstgebauten Handscheinwerfer, so daß der Hintergrund teilweise ins Dunkle abgleitet. Die Inszenierung des Körpers erfolgt als (Mode-)Puppe und als Hülle.

[Herbert Bayer, Selbstportrait]
Damit liegt Wols ganz im Geist der Zeit des Surrealismus. Man denke an die Puppenbilder von Hans Bellmer (die Puppe als Fetisch-Objekt) oder an das Selbstportrait von Herbert Bayer als Puppe sowie Bayers hart ausgeleuchteten Puppenarme aus den frühen 30er Jahren. Aber Wols Photostrecke verfremdet nicht bloß und trägt in die Traumwelt hinein, sondern ebenso wie in seinen Paris-Bildern dokumentiert Wols einen Ort: bringt ihn in seinem Dasein und seiner Dinghaftigkeit als Bild und ins Bild. Insofern verbleiben seine Photographien nicht im Geiste des Surrealismus. Dort, wo sie einerseits als Traumprotokoll sich in die Szene setzten, sind sie eben nicht nur der Traum, sondern auch das Protokoll von dieser Welt.
Daß es sich bei Wols Photographien um solche Bilder handelt, die die Dingheit in Szene setzen und das Dinghaften eines Objekts exponieren, zeigen insbesondere seine Stilleben: ein hölzerner Kanarienvogel mit einer Feder danebengelegt; Nägel; oder ein Tisch mit schmutzigem Geschirr, darauf ein Weinglas, darin ein Rest Wein steht und eine fast geleerten Weinflasche. Ein Stück Käse vor einem grob strukturierten Stoff. Gemüse und Obst: einerseits angeordnet wie die Sach- und Produktphotographie des Bauhaus, aber nicht einschmeichelnd wie ein Werbebild, sondern in der Härte des Kontrastes präsentieren sich Zitronen, Bohnen oder Zwiebeln: Anders als bei den Portraits, wo der Hintergrund kaum eine Rolle spielt, der Ausschnitt meist auf dem Gesicht liegt (das oben gezeigte Bild stellt eine Ausnahme dar) und die Kamera auf das Gesicht fokussiert, bleiben in den Stilleben jedoch nicht nur die Objekte in ihrer Beschaffenheit zentral, sondern auch der Hintergrund auf dem sie drapiert werden, strukturiert die Photographie und wirkt auf das Objekt ein. So zum Beispiel jenes zerstoßene, durchlöcherte und zerkratzte Backblech, auf dem drei Knoblauchknollen liegen. Seitlich fällt das Licht: Die Marmorierung eines Stück Fleisches vor dem Hintergrund eines Packpapiers. Wollte man eine Linie ziehen zwischen den späteren Gemälden von Wols und den Photos, ließen sich hier gut Verbindungen schlagen.
Eine der härtesten und am eigenwilligsten auskomponierten Photographien von Wols ist sicherlich das enthäutete Kaninchen, dem ins Gesicht ein Knopf anstelle eines Auges gelegt wurde, und über dem toten Kaninchenkopf angeordnet eine Mundharmonika, unter dem Torso ein Kamm, dem einige Zinken fehlen und darin Haare hängen, darunter dann der Rumpf des Tieres, so drastisch beleuchtet, daß das Fleisch weiß wie aus Kunststoff erscheint. Auf dem Tisch-Untergrund gestreut krümelt vereinzelt Zigarettenasche. Ja, diese Komposition ist in der Anordnung des Verschiedenen durchaus surreal zu nennen und erinnert an jenen Satz Lautréamonts: die „zufällige Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch“, eine Anordnung, die als das Wesen des surrealistischen Bildes gelten mag. Aber bei dieser Konstellation des Unverbundenen bleibt es innerhalb der Wolschen Photographie nicht, weil die Objekte als Objekte heraustreten.
Daß die Photographien zugleich changieren und sich die realistische Form einerseits auflöst, andererseits aber hin zu einem Dinghaften sich transformiert, zeigt sich ebenso in Wols Fotogrammen. Sie abstrahieren und gehen auf Kontur und Umriß, und in der Fortentwicklung der Bilder, von den Fotogrammen hin wieder zum scheinbar realistischen Photo, schält sich dann so etwas wie jene Glühbirne aus dem Dunkeln heraus. Gegenständlichkeit. Licht, Umriß und Form, Schattierungen, Grautöne und sich ins Licht des s/w Auflösendes konstituieren den Gegenstand und sie transformieren ihn vermittels der Kunst der Photographie zugleich. Dieses Changieren des Gegenstandes als Objekt zeigt jene Ausstellung in Dresden auf besondere Weise, indem sie die Photographien von Wols in eine Anordnung bringt, die den Fokus auf den Dingcharakter legt: Fragment und Form. Wols Photographien, insbesondere seine Stilleben, nehmen innerhalb der Geschichte der Photographie einen besonderen Platz ein, weil sie sich in keine Richtung hin auflösen lassen.
Die Photographien von Wols entstanden ganz im Geist und im Rausch dieser eigentümlichen Zeit zwischen Surrealismus, Bauhaus-Photographie, Exil, Krieg und Vernichtung: einer ästhetischen Moderne, die an ihr Ende zu kommen drohte. Und der Einschnitt des Zweiten Weltkrieges bzw. der Bruch sämtlicher Kultur durch Auschwitz, der massenhafte, industrielle Mord an Menschen machten ihr vollends den Garaus. Die Photographien von Wols verstören, insbesondere dort, wo das Lebendig im Stilleben zur toten Form gefriert und das Objekt wie ein Spuk im Raume liegt.
Unbedingt zuraten möchte ich zum Kauf dieses Kataloges zur Ausstellung „Wols Photograph. Der gerettete Blick“ Er ist im Verlag Hatje Cantz erschienen und kostet 68,- EUR.