Peter Wawerzinek über den Stadtschreiberposten in Dresden

Selten wird bei AISTHESIS verlinkt. An dieser Stelle mache ich es mal, und zwar auf Peter Wawerzineks Aufruf. Den Hinweis darauf entnehme ich dem guten Perlentaucher, Pflichtlektüre am Morgen wie das Zähneputzen, der erste Kaffee und abends die Gläser Riesling.

Ein großer wie auch guter Text, poetisch und am Puls der Zeit, denn sich wegzuducken und in den Proklamationen zu verlieren „Keine Nazis“ usw. – das reicht mitnichten aus. Die Spaziergänger von Pegida lassen sich durch solche Rufe kaum vertreiben, sondern fühlen sich vielmehr in ihrer Sicht bestätigt. Gegenseitig sich verstärkende Blasenwelten. Ganz zu lesen gibt es diesen Beitrag  Wawerzinek hier. Wawerzinek trifft eine mutige wie richtige Entscheidung. Denn Dresden ist eine schöne und interessante Stadt, wie überhaupt Sachsen ein spannendes Bundesland ist. Trotz Rechtsdrall. Überhaupt wieder – als Fortgereister, als Schriftsteller und damit auch als Beobachter und Protokollant dessen, was der Fall ist – den Glanz wie auch das Trübe einer Stadt zu entdecken. Wawerzinek schreibt:

„Ich werde ein halbes Jahr Stadtschreiber in Dresden sein. Das habe ich so gewollt, die Herausforderung eingefordert, und nun will mich endlich zu allem und der Pegida äußern. Ich wurde genommen, weil sich in diesem Jahr deutlich weniger Autoren um das Amt bewarben. Waren es ein Jahr zuvor noch knapp hundert, so ist die Zahl auf den kläglichen Rest von dreiunddreißig Bewerbern geschrumpft. Da frage ich mich, was los ist mit unseren Schriftstellern? Wie kann binnen eines Jahres das Interesse für das Dresdner Amt um volle zwei Drittel sinken? Was hat über sechzig Autoren zum Rückzieher bewegt? Welche Angst, welcher Kleinmut macht sich da unter meinen Kollegen breit? Und welcher von den Autoren, die von ihren sicheren Schreibtischen aus ständig irgendwelche Unterschriftenaktionen anzetteln, Protestpapiere entwerfen, Aufrufe zum Schutz des Federhalter und Radiergummis injizieren, kommt einfach mit mir nach Dresden?“

Ja, eine gute Frage – in der Tat. Die meisten werden zu Hause am Schreibtisch bleiben und über dies und das, über die Welt und zu wenig Geld jammern, klagen, Zähne knirschen.

 

Stillgestellte Schockwelt der Dinge: Wols‘ Photographien in Berlin: „Der gerettete Blick“

Der Riesling fließt beim Schreiben durch die Kehle. Klar, kristallin, mineralisch gestimmt. Eine Welt aus Stein. Befindlichkeitsblog? Nein. Eine Schrift, um das nunc stans in den Blick zu bekommen, genauer gesagt in das Bild: „Der Schamane bannt das Gefährliche durch dessen Bild.“ (Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung) Der gerettete Blick? Nein.

Wie doch die Zeit verstreicht: eben noch, im letzten Sommer des Jahres 2013 bin ich nach Dresden gefahren, nächtigte irgendwo in einem Hotel , Zwinger, Semper-Oper und dann hinüber über die Augustusbrücke, hingeschlendert zur Neustadt, während rechterhand die Kaiser-Mania begann, Brückenschlendern im Regen, nachdem ich mit einer Begleitung die Wols-Ausstellung besuchte. Nein, auf der Augustusbrücke keinen Titten-Selfie bzw. in meinem Falle Freier-Oberkörper- oder Schwanz-Selfie geschossen: „Hier steckte Big Dick Bomber Harris fest“, mit Filzern auf niedlichem Schildchen gemalt, Anne, oh Anne, laß mich rein, laß mich raus, in postrevolutionärer Pose, um die Ware Widerstand preisgünstig, ohne großes Risiko zu verkaufen oder um einfach nur, wie die Seriendarstellerin Anne Helm, in einer Art Guerilla-Marketingaktion Winterbekleidung für oben rum, also für den Kopf, so Mützen und Schals und andere Accessoires, zu bewerben. Jene Photographie von Anne Helm kann ich nur verlinken und nicht abbilden, da ich ansonsten womöglich eine Urheberrechtsverletzung begehe. Too big, too small? Zu groß, zu klein? Er könnte etwas größer sein. Kulturindustriell gefertigte Geworfenheiten des Sexus. Sexus, Nexus Plexus um in Henry-Miller-Titeln zu schreiben. Aber die Zeile „Steck Bratwurst in mein Sauerkraut“ entlockte mir seinerzeit 2009 beim Hören der Rammsteinplatte ein Lachen: da hätte ich auch selber drauf kommen können. Doch zurück zu den Photographien.

tumblr_kwpakqsHN81qztk1wo1_400 Nun gibt es also die Wols-Ausstellung, die mit dem schönen Titel „Der gerettete Blick“ versehen wurde, auch in Berlin zu besuchen. Zeit wird es. Zuvor wurden die Photographien von Wols in Dresden gezeigt. Ich berichtete an dieser Stelle sowie zweitens hier und auch hier in einer dreiteiligen Serie, wie immer viel zu lang, von der Ausstellung. Nun können seine grandiosen, viel zu wenig bekannten Photographien im Martin Gropius Bau betrachtet werden. Wer nach Berlin reist oder hier bereits lebt, sollte diese Ausstellung nicht verpassen, gilt es doch – sofern Wols nicht schon bekannt ist –, einen der bemerkenswertesten Photographen zu entdecken.

Exzesse der Trunkenheit: diesen fiel Wols anheim, das gefällt mir, der Betrachter sieht es bereits den Selbstportraits an. Prädestination. Ich liebe es theologisch vertrackt und verstrickt. Was zeigen uns diese wunderbaren Photographien von Wols? Vielfach sind Portraits zu sehen, die Wols als Auftragsarbeiten fertigte – das Gesicht in den verschiedenen Ausdrücken sich regender Mimik einfangend. Dann wieder zeigen die Bilder das Paris des 20. Jahrhunderts in einer Art, die weder surreal noch realistisch zu umschreiben ist. Es rückt in den Bildern die Welt der Dinge in den Blick des Objektivs: Insbesondere in seinen wenigen Abstraktionen, den Fotogrammen, sowie in den Detailaufnahmen der südlichen Landschaften, wo Wols nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich im Exil des Exils lebte, zeigen sich bereits die Ungegenständlichkeit und die Verdichtung des Bildes fort vom Dinglichen, direkt in die Dinge hinein; das Dingliche löst sich im Spiel der Strukturen und Formen auf. Glitzernde Oberflächen des Meeres, Spuren der Steine, eine Treppe, die zum Strand führt, dabei liegt eines der Geländer im gleißenden Licht des Südens: konsequenter Weise ist diese Abstraktion des Objekts dann der Ort, wo die Photographie aufhören muß und die Ordnung des Sichtbaren hinein ins andere Medium wechselt. Nun ist es die Malerei, mit der Wols spät begann und die ihm als Ausdruck diente. Hernach photographierte Wols nie mehr. Leider sind in dieser Ausstellung seine Gemälde nicht zu sehen. Eine solche umfassende Schau, die beiden Seiten des Wolschen Werkes gerecht würde, wäre ihm zu wünschen gewesen, indem der Zusammenhang von Malerei und Photographie gezeigt würde.

Versunken sind diese Photographien, in denen sich die Gegenständlichkeit hin zur Struktur formt: wie schon die Plakatfetzen an den Mauern und Holzzäunen in Paris, die Wols ablichtete. Das  stellt nicht mehr nur eine Plakatwand dar, auf der die Fetzen des Papiers abblättern, sondern hier zeigen sich bereits die Strukturen und Spuren der übereinandergeschichteten Ebenen, die Wols dann in seiner Malerei fortsetzte, indem er die Farben geschichtet aufträgt, indem das, was gezeigt wird, wie eine abstrakte, aber komponierte Oberfläche von Fetzen wird: die Welt fragmentiert sich im Bild. Wols forcierte die Subjektivität des Ausdrucks, der am Ende des Photographie-Prozesses ins Gegenstandslose gerinnt: Zeigte sich in den Portraitserien, die er von einer Person fertigte, anfangs noch der Mensch, so verdünnt sich dieser in der weiteren Entwicklung des Bildes zur Puppe: sei es in seinen  surreal-realistischen Dokumentarphotographien vom Pavillon de l’Élegance oder jenen Puppen und toten Tieren in seinen Stilleben: Nature mort, wie es im Französischen so treffend heißt. (Daneben gibt es noch la petite mort, aber der findet sich nicht in Wols‘ Werk.)

Wer sich Photographien betrachten möchte, die anspruchsvoll, ästhetisch auf der Höhe ihrer Zeit sind und die bis heute den Maßstab für das Dingliche in der Photographie setzen, der gehe in diese Ausstellung, die bis zum 22.6.2014 im Martin Gropius Bau zu sehen ist.

Wols‘ Photographien: Im Stilleben und die Zeit gefriert im Bild. Ding und Dinghaftes als Moment und Traumprotokoll (Letzter Teil)

Es geht die Ausstellung im Kupferstichkabinett zu Dresden, wo die Photographien von Wols gezeigt werden, heute zu Ende. Wer an diesem Tag in Dresden weilte, spazierte vermutlich eher auf der am Samstag eröffnete Waldschlößchenbrücke entlang, als daß sie oder er sich diese feine Ausstellung betrachteten. Waldschlößchenbrücke: Ein schöner Name für ein so filigranes Bauwerk, es klingt nach Waldcafé, Gartenlokal, Vogelgesang, ein wenig vergangene Aristokratie, Waldesrauschen, geschwungene Hügellandschaft, und es plätschert ein kühler Bach: eine rundum gelungene Begriffsfindung für eine solch funktionale Konstruktion. Ich als Autofahrer und als blicksüchtiger Flaneur in den Elbwiesen begrüße diesen Brückenbau, denn so wird Dresden endlich mit der Moderne verkoppelt und die Blickachse auf die Puppenstube bricht sich mit dem was ist: dem Autoverkehr. Und über den Begriff der Puppenstube sind wir assoziativ bei der Puppe angelangt und damit bei den Photographien von Wols.

Diese werden im Kupferstichkabinett unter vier thematischen Aspekten sortiert: Die Portrait, die Photographien von Paris, die Modepuppen in dem von Menschen verlassenen „Pavillon de l’Élegance“ anläßlich der Pariser Weltausstellung 1937, seine (faszinierend-verstörenden) Stilleben sowie die südlichen Landschaften, die nichts Heiter-Mediterranes besitzen, sondern etwas Gleißendes, Hartes zeigt sich in den Bildern. Überspitz geschrieben klingt darin bereits der Mythos des Sisyphos unter südlicher Sonne mit. Leider sind von diesen Bildern der südlichen Landschaften nicht viele erhalten geblieben. Einige der Photos machte Wols in Spanien, wohin er Anno 1933 zusammen mit seiner späteren Frau Gréty Dabija reiste, andere entstanden auf der Flucht vor den Nazis im südfranzösischen Cassis.

Am Anfang von Wols photographischen Arbeiten in Frankreich stehen jedoch seine Portraitphotographien, mit denen er sich finanziell und trotz Berufsverbot als Photograph sein Auskommen zu sichern versuchte. Der herkömmlichen Portraitphotographie kann ich im allgemeinen nur bei wenigen Bildern etwas abgewinnen. Wenn sie nicht, wie in den Photos von August Sander, dazu diente, einen Sozialtypus einzufangen, ein spezielles Moment in einem Gesicht einzufrieren oder wie beim Man Ray das Gesicht zu fragmentieren, indem ein Ausschnitt wie Mund oder Auge hervorgehoben wird, habe ich mit manchem Portrait meine Schwierigkeiten. Was vielleicht daran liegen mag, daß die Portraitphotographie eine komplizierte Angelegenheit ist: das Besondere und Spezifische in einem Gesicht nicht nur zu entdecken, sondern es auch in jenem flüchtigen Moment einer 1/125 Sekunde festzufrieren, gelingt nicht vielen. Häufig bleiben Portraits seltsam leer und es blicken den Betrachter die Gesichter ohne Ausdruck an.

1200.2.SG-3636.1106.WOLS_ Landschaften und Städte interessieren mich selbst dann, wenn sie unbedeutend, häßlich, nichtssagend sind. Die Landschaft eines Gesichts läßt mich in vielen Fällen jedoch kalt. [Der versunkene somnambule (Nicht-)Blick der Frau Dr. Wiener nebenstehend jedoch nicht. Ein herzrasend sinnliches Portrait, das über das bloß Sinnliche hinausgeht. So muß die im Freudschen Sinne erhabendste aller Hysterikerinnen ausgesehen haben, während sie nicht nur die Struktur des Begehrens, sondern das Begehren selber entfacht. Dr. Lacan hilf!] Portraits sprechen mich lediglich dann an, wenn Exzeptionelles abgelichtet wird: sexy Lee Miller zum Beispiel oder ein Blick, der im Bild besticht. Häufig interessieren sie mich als Sozialstudien bzw. unter formal-gestalterischen Aspekten. Wie tief und wie weit jedoch das Portrait als Präsentation, Repräsentation und als eine Weise von Personen-Inszenierung reicht, zeigt gelungen Hans Beltings Buch „Faces“. (Dessen Besprechung hier im Blog immer noch aussteht.) Gesichter sind nie nur Gesichter: sie können Masken sein, sie können – im Bild abgelichtet oder gemalt – Monumente und Momente des Erinnerns sein. Gerade die Portrait-Serien, die Wols anfertigte, in immer verschiedenen Haltungen des Kopfes und mit unterschiedlicher Mimik, wären einen eigenen Text in Beltings Buch wert gewesen. Was Belting herausragend zeigt: Gesichter und ihre Lektüre bzw. der Blick auf sie sind gesellschaftlich vermittelt.

Gesichter in Bildern sind nicht nur die – freilich inszenierte – Präsenz einer Person, sondern immer auch ein Maske: jede Photographie und jedes Portrait verweist auf etwas Abwesendes, das unwiderruflich abwesend und verdeckt bleiben wird.

IMG_20130825_0001 Es faszinieren die Portraits, die Wols fertigte, weil Blicke, die wie spontan wirken, als Bild sich in Szene setzen: Die schnappschußhafte Inszenierung einer Person, aber zugleich stellt sich in dem Moment, wo die Gesichter photographiert werden, darin ein entspannter Ausdruck ein. Für diesen Effekt ließ Wols seine Modelle teilweise sich auf dem Boden ausstrecken, da die liegende Lage die Muskulatur entspannt und dem Ausdruck eines Gesichts das Angestrengte nahm. Meist photographierte Wols Menschen aus seinem Bekanntenkreis. Wobei Wols diese Portraits meist im Geiste seiner Zeit fertigte. Handwerklich gut gemacht, ein wenig verwegen und gezerrt, weil er  teils mit Weitwinkel arbeitete. Durch diese liegende Lage blicken viele der Abgebildeten versonnen oder es sind – ganz in surrealer Weise – die Augen der Portraitierten geschlossen: der Traum und der Schlaf als Wesen des Gesichts. Abgetaucht und in jener anderen Welt: dieses Versunkene, fast ins Dinghafte sich kehrend, dort und an den Ort hin, wo der Blick entgleitet: dieses Motiv wird sich auch in den späteren Photographien von Wols zeigen.

Stadtlandschaften, die nicht mehr das unmittelbar sichtbare Paris darstellen und in einer Photographie inszenieren, sondern die Mauern und Straßen, Rinnsteine, abgerissene Plakatwände, die bereits wie schwarz/weiße Bilder des Tachismus oder des abstrakten Expressionismus wirken, ein weggeworfener Gegenstand wie z.B. eine Flasche, ein Schattenspiel aus dem Asphalt, das die untere Lattenreihe eines Zaunes wirft; die Details einer Stadt treten hervor: ihre Mauern und Pflastersteine, ihre Schaufensterauslagen oder bloß irgendein Rinnstein, mit einer Puppe und einer Austernschale darin plaziert, photographiert Wols und macht das sichtbar, was am Wegesrand liegt, das Weggeworfene, das was nicht das offizielle und approbierte Bild von Paris ausmacht. Ein verlassenes Ruderboot auf der Seine, ein Blick durchs Fenster auf den Friedhof Montparnasse. Oder aber er zeigt eine Café-Szene, die hinter einem Vorhang aufgenommen wurde, der Vordergrund, da wo die Kamera positioniert ist, ragt schwarz ins Bild, düster die Silhouette eines Kopfes: Wie aus dem Traumauge und dem Traumblick heraus auf jene Welt geschaut, die für die reale gehalten wird. Das Paris von Wols ist ein Verfremdetes, teils aus extremen Unter- oder Obersichten aufgenommen, mal kontrastreich präsentiert, dann wieder in zarten, weichen Grautönen.

IMG_20130825_0003 Schade ist es, daß sich Walter Benjamin und Wols nicht gekannt bzw. ihre Werke sich gegenseitig nicht berührt haben. Es besteht zwischen Benjamins Texten und Wols‘ Bildern eine mehr als untergründige und eine mehr als nur geheime Korrespondenz. Wols Stadtlandschaften, die man nicht unbedingt dialektische Bilder, aber vielleicht Traumprotokolle wird nennen können, sind formal auf der Höhe ihrer Zeit, verarbeiten die Einflüsse von Neuem Sehen und Straight Photography: der Kamerablick imitiert nicht mehr das Gemälde, sondern schafft eine Welt ganz eigener Ordnung. Wie auch in den Photographien aus dem „Pavillon de l’Élegance“ zeigen sich durchaus die Einflüsse von Surrealismus und dem sehr strukturierten und formalen Sehen des Bauhaus: Die Puppen aus dem Pavillon wirken eigentümlich verdreht, das Künstliche dieser leblosen Figuren und ihr Fragmentarisches werden dadurch betont, daß insbesondere die Schnittstellen,da wo die Arme abgetrennt sind, ins Bild gebracht werden. Oder es ragen auf einer anderen Photographie die abgetrennten Arme mit den exponierten Händen düster in den Raum hinein. Verstümmelte Körper von Puppen. Lebloses mit fließenden Kleidern bedeckt. Ausgeleuchtet werden diese Puppen mit einem selbstgebauten Handscheinwerfer, so daß der Hintergrund teilweise ins Dunkle abgleitet. Die Inszenierung des Körpers erfolgt als (Mode-)Puppe und als Hülle.

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[Herbert Bayer, Selbstportrait]

Damit liegt Wols ganz im Geist der Zeit des Surrealismus. Man denke an die Puppenbilder von Hans Bellmer (die Puppe als Fetisch-Objekt) oder an das Selbstportrait von Herbert Bayer als Puppe sowie Bayers hart ausgeleuchteten Puppenarme aus den frühen 30er Jahren. Aber Wols Photostrecke verfremdet nicht bloß und trägt in die Traumwelt hinein, sondern ebenso wie in seinen Paris-Bildern dokumentiert Wols einen Ort: bringt ihn in seinem Dasein und seiner Dinghaftigkeit als Bild und ins Bild. Insofern verbleiben seine Photographien nicht im Geiste des Surrealismus. Dort, wo sie einerseits als Traumprotokoll sich in die Szene setzten, sind sie eben nicht nur der Traum, sondern auch das Protokoll von dieser Welt.

Daß es sich bei Wols Photographien um solche Bilder handelt, die die Dingheit in Szene setzen und das Dinghaften eines Objekts exponieren, zeigen insbesondere seine Stilleben: ein hölzerner Kanarienvogel mit einer Feder danebengelegt; Nägel; oder ein Tisch mit schmutzigem Geschirr, darauf ein Weinglas, darin ein Rest Wein steht und eine fast geleerten Weinflasche. Ein Stück Käse vor einem grob strukturierten Stoff. Gemüse und Obst: einerseits angeordnet wie die Sach- und Produktphotographie des Bauhaus, aber nicht einschmeichelnd wie ein Werbebild, sondern in der Härte des Kontrastes präsentieren sich Zitronen, Bohnen oder Zwiebeln: Anders als bei den Portraits, wo der Hintergrund kaum eine Rolle spielt, der Ausschnitt meist auf dem Gesicht liegt (das oben gezeigte Bild stellt eine Ausnahme dar) und die Kamera auf das Gesicht fokussiert, bleiben in den Stilleben jedoch nicht nur die Objekte in ihrer Beschaffenheit zentral, sondern auch der Hintergrund auf dem sie drapiert werden, strukturiert die Photographie und wirkt auf das Objekt ein. So zum Beispiel jenes zerstoßene, durchlöcherte und zerkratzte Backblech, auf dem drei Knoblauchknollen liegen. Seitlich fällt das Licht: Die Marmorierung eines Stück Fleisches vor dem Hintergrund eines Packpapiers. Wollte man eine Linie ziehen zwischen den späteren Gemälden von Wols und den Photos, ließen sich hier gut Verbindungen schlagen.

kaninchen-mit-kamm-und-mundharmonika-1937 Eine der härtesten und am eigenwilligsten auskomponierten Photographien von Wols ist sicherlich das enthäutete Kaninchen, dem ins Gesicht ein Knopf anstelle eines Auges gelegt wurde, und über dem toten Kaninchenkopf angeordnet eine Mundharmonika, unter dem Torso ein Kamm, dem einige Zinken fehlen und darin Haare hängen, darunter dann der Rumpf des Tieres, so drastisch beleuchtet, daß das Fleisch weiß wie aus Kunststoff erscheint. Auf dem Tisch-Untergrund gestreut krümelt vereinzelt Zigarettenasche. Ja, diese Komposition ist in der Anordnung des Verschiedenen durchaus surreal zu nennen und erinnert an jenen Satz Lautréamonts: die „zufällige Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch“, eine Anordnung, die als das Wesen des surrealistischen Bildes gelten mag. Aber bei dieser Konstellation des Unverbundenen bleibt es innerhalb der Wolschen Photographie nicht, weil die Objekte als Objekte heraustreten.

Daß die Photographien zugleich changieren und sich die realistische Form einerseits auflöst, andererseits aber hin zu einem Dinghaften sich transformiert, zeigt sich ebenso in Wols Fotogrammen. Sie abstrahieren und gehen auf Kontur und Umriß, und in der Fortentwicklung der Bilder, von den Fotogrammen hin wieder zum scheinbar realistischen Photo, schält sich dann so etwas wie jene Glühbirne aus dem Dunkeln heraus. Gegenständlichkeit. Licht, Umriß und Form, Schattierungen, Grautöne und sich ins Licht des s/w Auflösendes konstituieren den Gegenstand und sie transformieren ihn vermittels der Kunst der Photographie zugleich. Dieses Changieren des Gegenstandes als Objekt zeigt jene Ausstellung in Dresden auf besondere Weise, indem sie die Photographien von Wols in eine Anordnung bringt, die den Fokus auf den Dingcharakter legt: Fragment und Form. Wols Photographien, insbesondere seine Stilleben, nehmen innerhalb der Geschichte der Photographie einen besonderen Platz ein, weil sie sich in keine Richtung hin auflösen lassen.

Die Photographien von Wols entstanden ganz im Geist und im Rausch dieser eigentümlichen Zeit zwischen Surrealismus, Bauhaus-Photographie, Exil, Krieg und Vernichtung: einer ästhetischen Moderne, die an ihr Ende zu kommen drohte. Und der Einschnitt des Zweiten Weltkrieges bzw. der Bruch sämtlicher Kultur durch Auschwitz, der massenhafte, industrielle Mord an Menschen machten ihr vollends den Garaus. Die Photographien von Wols verstören, insbesondere dort, wo das Lebendig im Stilleben zur toten Form gefriert und das Objekt wie ein Spuk im Raume liegt.

00003605 Unbedingt zuraten möchte ich zum Kauf dieses Kataloges zur Ausstellung „Wols Photograph. Der gerettete Blick“ Er ist im Verlag Hatje Cantz erschienen und kostet 68,- EUR.

Billardkönigin um halb zehn

Jene Frau, die mich irgendwann in einem Streit einmal einen Lackaffenblogger nannte, schrieb mir angesichts eines Textes über Dresden, den ich ihr schickte und den ich mit dem Titel „Billardkönig um halb zehn“ betitelte, daß diesen Text kein einziger Leser und keine Leserin verstehen würden. Alles verkopft und zudem wirr durcheinander gewirbelt, so daß am Ende kein Mensch mehr begreift, wer eigentlich beim Billard gewonnen habe und was dieser Text überhaupt solle. Diese Frau hat ohne Zweifel mehr als recht, nicht nur in diesen Dingen (was ich ihr gegenüber niemals zugeben würde). Zudem wird mein nächster Text zu Wols ihre Einschätzung beweisen, ein Text, in dem sich die Ebenen mischen und verirren. (Er kommt am Sonntag in den Blog.) Alles ist nicht erleuchtet, sondern alles geht durcheinander. Kein Strom des Bewußtseins fließt, mäandert und treibt wie Faulkners wunderbarer Ol’ Man River mal sanft, mal wild dahin oder die Ketten einer hemmungslosen surrealen Assoziation, aus der alles, was nur mit Sinn versehen ist, ausgeschieden wird. Am Ende bliebe dann das Unbewußte als jener unaufhebbare Rest.

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Der Aufstand gegen die Zeit, die Rebellion gegen ihr Vergehen: Diese Auflehnung ist in Prosa, in Lyrik oder überhaupt in der Kunst gut in ein Bild, in eine Anordnung zu bringen. Manchmal auch fixiert diese Auflehnung sich in einer Photographie. Die Achse Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft prägt das Denken des Melancholikers. Die Melancholie ist das Leiden am Vergehen der Zeit: daß es nicht möglich ist, die Zeit angemessen zu denken, geschweige denn zu halten und dabei zu intensivieren: sei es in Bildern, in Prosa oder Tönen. Franz Kafka schrieb in seiner Prosa-Miniatur „Das nächste Dorf“:

„Mein Großvater pflegte zu sagen: ‚Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß – von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.‘“

„Ein schööööner Tag …“ intonierte der breitschultrige Mann mit dem angegrauten Henriquatre-Bart fröhlich und bestimmt. Er haute die Spielkarten nacheinander auf den Holztisch, eins, zwei, drei, vier und noch eine fünfte Karte dazugehobelt. Er lachte. Die beiden anderen Männer schwiegen. Breitschultrig in seiner Lederweste und dem Holzfällerhemd orderte er ein weiteres Bier für die Skat-Runde und bestellte einen Brotkorb nach. Die vielfältig tätowierten Unterarme lagen ausgebreitet auf dem Tisch, der massive Kopf mit der Glatze schnellte hoch zur Kellnerin, als sie den Korb wegnahm: „Nee, nee, der bleibt hier! Nicht nur immer nehmen, auch mal geben!“ Die Kellnerin stellte den Brotkorb zurück. „Aber die hat es doch nur gut gemeint!“, beschwichtigte der Mann mit der Lederjacke, der gegenüber saß.

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Drei kräftig gebaute Männer, wohl Anfang vierzig, sitzen um den Kneipentisch in einer der Lokalitäten der Dresdener Neustadt herum, verzehren Brot und trinken Bier, dazu stehen, neben ihren drei Biergläsernen, drei Schnäpse. Ihr Skatkartenspiel ist vom Spielblatt altertümlich gemacht, spezielle, geschnörkelte Formen, die mir unbekannt sind, ranken auf dem Blatt. Wir sitzen neben ihnen, wir trinken Wein. Während es draußen ununterbrochen regnet. Dicht, grau, dunkel. Meine Augen ruhen auf ihrem Gesicht, ihre blau-grünen Augen betrachten mein Gesicht. Auf keiner der Photographien wird sie so schauen, wie sie jetzt gerade in diesem Augenblick schaut und blickt. Nicht nur, weil sich ihr Blick, wenn das Auge der Kamera sich auf sie richtet, verschließt, sondern auch deshalb, weil bestimmte Momente durch nichts zu fixieren sind. Es reichen die Worte und die Bilder nicht hin.

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Die Kugeln auf dem Billard mußten nur aufgebaut werden, in der richtigen Anordnung, die war nicht schwierig zu finden. Es erfolgte der Anstoß, und nachdem die Frau die Kugeln durch einen mehr oder weniger gezielten Stoß durcheinander wirbelte, ohne daß eine der vollen oder der halben Kugeln ins Loch sich bewegte, ging es daran, nun einzeln die Kugel einzulochen, die sich in der günstigsten Position befand. Die Stadt Dresden, die Lichter der Nacht in der Neustadt, der Regen, der Wein, eine Photographie-Ausstellung im Kupferstichkabinett reihen sich in der Zeit. Der Gang über die Augustusbrücke hin zur Neustadt. Der Queue lag mir leicht zwischen Daumen und Zeigefinger, ich bewegte ihn, spielte über Bande an, die Kugel schoß oder schob, so wie ich es wollte, berührte die Bande erneut und stieß dann auf die drei. So spielt zwar nicht die Profis, aber doch die, welche ein wenig zumindest dieses Kugelspiel beherrschen, während es ihr lediglich gelang, mit einem Stoß, den ich treffend als unkontrollierten Megastoß oder als hyperbolischen Schlag, vielleicht sogar parabolischen Überwurf bezeichnete, die weiße Kugel aus dem Feld zu hebeln. Das kostete einen Martini auf Eis. Vier Spiele absolvierten wir. Davon drei Gewinne für mich, und das eine Spiel verlor ich lediglich aus dem Grunde, weil es durch unglückliche Fügung außergewöhnlicher Umstände die schwarze Kugel ins falsche Loch verschlug.

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Nachdem ich dies aufgeschrieben hatte, fiel mir ein, daß es genau andersherum sich zutrug. Während der Blogbetreiber nicht eine einzige Kugel, die nicht mindestens drei Zentimeter vorm Loch lag, dort hineinbekam, stieß die Frau doch relativ gekonnt und gelassen, die Kugeln an ihre Zielorte, sogar zum Ende hin die schwarze Kugel, die 8, gelangte in das Loch, das vorgesehen war und wo sie ihren letzten und richtigen Ort fand, um ein Spiel siegreich zum Ende zu führen.

In die Nacht hinein schlenderten wir über die Marienbrücke. Der Regen hatte endlich aufgehört. Oder wir bemerkten nicht, daß es immer noch regnete. Den Schirm mit Raffael da Urbinos Engel auf dem Stoff, den ich im Kupferstichkabinett notgedrungen und unter dem Spott der Frau kaufte, benötigten wir nicht mehr, um uns zu schützen. Auf der Brücke verweilten wir lange, ohne den etwas entfernteren und nun doch eher oberseitig liegenden Canaletto-Blick groß zu würdigen, denn die Nächte sind manchmal zu intensiv, um immerzu der Kunst zu huldigen.

Dresden, mon amour – From Her to Eternity samt Entropie des Zen

Bildnisse fertigen. Abbildungen, Nachbildungen. Skizzen machen, malen, zerschneiden. Einkerben.

Den zweiten und letzten Teil der Photographien von Dresden gibt es hier zu sehen.

Ich habe am heutigen Tage zudem im Blog der Mützenfalterin zwei so derart schöne Kommentare geschrieben, die mich noch beim wiederholten Lesen von dem, was ich formulierte, solchermaßen rührten und affizierten, daß ich diese Texte – Lackaffenblogger und Narzißt, der ich zwanghaft bin – hier bei mir im Blog gerne dem geneigten und zur Leichtigkeit hin geöffneten Publikum wiedergeben möchte und ebenso auf diese Passagen verlinke.

Was vom Leben übrig bleibt“, betitelte die Mützenfalterin ihren Text samt zwei Photographien über Friedhöfe. So schrieb sie:

„Mit dem Fotoapparat auf dem Friedhof. Frische Kränze. Eine Trauergesellschaft in der Kapelle. An Beckett und seine Prosa gedacht. Daran, wie es sein wird, unter Erde und Kränzen zu liegen und dass ich mich im Grunde noch immer für unsterblich halte.

Die Unterschiede. Die Beobachtung.

Das, was vom Leben übrig bleibt.“

Eine sehr feine, wichtige und bedeutende Frage bzw. Überlegung: Was vom Leben übrig bleibt. Während ich die neue, gut geglückte Platte von Nick Cave höre und mich im Denken, im Grübeln, im Versinken, in jener Tradition der Acedia und des haltlosen Zweifels übe. „Mit 18 dachte ich noch, daß ich unsterblich sei.“ so schrieb mir eine Frau vor etwas über einem Jahr.

Und so dachte ich bei mir und kommentierte dort im Blog:

„Am Ende – das kann ein Trost sein oder aber auch nicht – bleibt vom Leben nichts übrig. Zumindest nicht für die Toten. Ob sich aus einer solchen Sicht irgendwelche Imperative ableiten lassen? Nein. Eher nicht. Allenfalls eine gewisse Lebenskunst zu pflegen und ästhetisch gepolt an die Dinge heranzugehen, kann Maxime sein: Jeden Augenblick zu intensivieren. Aber auch dies geht im Grunde nicht oder doch nur in den exzeptionellen Momenten – in den, wie Nietzsche es schreib, ‚Verzückungsspitzen des Daseins‘. Das Leben ist einzig als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt, so schrieb er.

Am Ende bleibt nichts, und das ist es, was man mit dem Lachen Becketts und Bernhards beantworten kann. Denn diese Schwärze besitzt extrem komische Momente. Das ‚Endspiel‘, z.B., ist ein virtuos-komisches Stück. Das wird leider vielfach übersehen, und Friedhöfe sind extrem angenehme Ort. Allerdings werden wir das nicht mehr wahrnehmen können, wenn wir dort endgültig liegen.“

Und ein zweiter Kommentar griff diese Überlegung der Mützenfalterin auf, daß es durchaus ein Trost sei, könnte eine/r zweifelsfrei daran glauben, „nach dem Tod wäre alles restlos alles vorbei. Und doch: der Zweifel bleibt.“

„Ich hege daran keinerlei Zweifel, und ich bin darüber sehr froh. Es gibt nur den Körper, das Denken und die Werke, die manche/r hinterläßt. Wer nichts hinterläßt, die oder der lebt in der Erinnerung der anderen weiter. Bis auch diese anderen nicht mehr am Leben sind. Allenfalls existieren Photographien der Toten, des Toten, die ein Sammler auf einem Flohmarkt in einem Album entdeckt. Dieser Sammler imaginiert sich eine Geschichte zu jenen Menschen auf den Bildern, die er nicht kennt. Allerdings ist diese Möglichkeit im Fremden als Bild weiterzu‚leben‘ mittlerweile selten geworden – im Zeitalter digitaler Photographie. Denn Menschen besitzen keine Photoalben mehr.“

Friedhof der digitalen Kuscheltiere.

Familienalben, gefüllt mit Photographien, bedeuten eine besondere Form der Geschichtsschreibung. Weniger im Sinne exakter historischer Wissenschaften oder einer Art Visual History, sondern vielmehr geschieht das als Raum für die Imagination. [Wie auch Roland Barthes in seinem Buch „Die helle Kammer“ dieses besondere Moment jener einen Photographie , die bewußt abwesend bleibt und von ihm im Buch nicht präsentiert wird, am Beispiel eines Jugendbildes seiner Mutter in eine (phänomenologisch-dekonstruktive) Theorie zur Photographie bringt: das Wesen des punctum. Als Moment des Zufalls.] Gesichter in liegengebliebenen, fortgeworfenen, oder weggegebenen Fotoalben, Fotoalben, die auf Dachböden oder in Kellern und Schränken lagerten, ein Gesicht, das im Grunde: nein: an seinem Ende durchgestrichen ist, weil die Person, der es gehörte, nun tot ist. Unwiederbringlich. Was wird mit der Sammlung meiner Photographien geschehen? Ein ungeheures Archiv, das ich angehäuft habe. Womöglich für nichts. Der literarisch-ästhetische Kairos liegt darin, diese Gesichter geglückt wieder zum Leben zu erwecken – sei es als eine Art von Literatur, sei es in einer abbildenden Weise.

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Dieses Kunstwerk: eher noch: dieses Dokument kaufte ich mir im Herbst 2012 in einer Berliner Galerie. Nun hängt das Bild großformatig in meinem Wohnzimmer. Ich erfreue mich an dem Gesicht einer mir unbekannten Frau, die ich mir täglich anschaue. Eine Tote. Eine Frau, die vor 130 Jahren gelebt haben mochte: das Tote festzuhalten oder zu bannen, ist die wohl schwierigste Arbeit. Dem Vergangenen einen Ort, einen Platz zu geben, ohne daß es in Nekrophilie oder Idolatrie abdriftet. Einer Frau, die vorüberging, die zur Vergangenheit wurde. Ich sehe zugleich, wie ihr Gesicht, das Abbild ihres Gesichts bleibt und im selben Moment doch unwiederbringlich entschwindet – nicht nachbearbeitet mit den Photoshop eigenen Bordmitteln oder irgendwie konstruiert, sondern ganz einfach durch die Chemie, das Licht, die Luft, durch äußere Einflüsse hervorgerufen. Zufall der Photochemie vor 130 Jahren, die es nicht vermochte, das Angesicht zu fixieren. Anwesenheit, Abwesenheit. Das Gesicht. Vier verschiedene Portraits einer Person, nun auf eine Bildfläche montiert, wie aus einem Photoautomaten. Und die Zeit radiert das Gesicht aus, so wie uns die Gesichter von Menschen entschwinden, die mit unserem Leben nichts mehr zu schaffen haben. Ein oder zwei Jahre behalten wir sie in der Erinnerung, dann verblaßt jenes Gesicht, das einst mit Bedeutung und Leben angefüllt war. Hitze und Leidenschaften entweichen. Entropie des Zen. Diese seltsame Photographie wurde auf einem Flohmarkt in Paris im Jahre 2012 erstanden, abphotographiert und auf Großformat abgezogen.

Dresden Dolls

Es ist, so meine ich, zu Dresden alles geschrieben. Ich könnte allenfalls noch die Notizen eines alternden Flaneurs nachtragen, der durch diese Stadt schlendert. Ein wunderbar kalter Wind zumindest streift die Haut, wie ich es mag. Der Winter läßt frösteln, es weht kalt aus dem Osten von der Elbe her, es stürmte gar. Und nachts fahren Straßenbahnen. Alles modern hier.

Das Interessanteste an Dresden bleibt die im sogenannten real existierenden Sozialismus erbaute und leider nach der Wende aufmodernisierte Architektur sowie die Gläserne Manufaktur von Volkswagen, denn darin wird der VW Phaeton montiert – von Hand versteht sich. Die Böden der Werkshallen sind mit Parkett ausgelegt, in der Kantine gibt es die Original-VW-Currywurst. Was will man mehr?

Hätte ich Tellkamps „Der Turm“ gelesen, tätigte ich eine Lektüre oder parallelisierte oder schriebe etwas zu diesem Buch, von dem ich nicht weiß, ob ich es je lesen werde oder ob es mich nicht vielmehr kaltläßt. Loschwitz ist ein Stadtteil, der mich an Kunstgewerbe erinnert, vielleicht ist es dort aber im Sommer ganz schön. Ich kann es mir allerdings nicht vorstellen. Der Ort sieht aus, als könnte ein guter Serienregisseur (oder für die Quote: eine gute Regisseurin) in den Gassen und Häusern dieses Stadtteils die deutsche Variante von „Walking Dead“ drehen. Wer sich für die Brückenbaukunst interessiert, wird womöglich staunend vor dem „Blauen Wunder“ (Loschwitzer Brücke) stehen. Sie verbindet zwei Villenviertel miteinander, es handelt sich um eine der ersten freitragenden Hängebrücken, erbaut 1893. Vielfach wurde die Brücke aufgrund ihrer Form vom biederen Bürger gescholten: sie verschandele in ihrer Industrieoptik die Landschaft. Heute wird diese Brücke gefeiert, sie gilt als eines der Wahrzeichen von Dresden. Der Waldschlößchenbrücke wird es irgendwann ähnlich gehen.

Den ersten Teil einer Photoserie zu Dresden gibt es auf Proteus Image zum kontemplativen oder assoziativen Betrachten dargebracht.

Steckst den Finger in Arsch und drehst‘n …

Analfixierungen, Assoziationsketten, Anus, Arno, Elbflorenz: Welcher Marktingfritze dachte sich für diese Stadt die Wendung Elbflorenz aus? Florenz hat mit Dresden soviel zu tun wie Sizilien mit Grönland. Hier in Dresden ist es kalt, die Stadt eine karge Puppenstube. Barock ist wonanders besser aufgehoben. Die Frauen sind ostig, die Menschen sprechen einen unausstehlichen Singsang-Dialekt. Abends ist die Stadt ausgestorben. Wahrscheinlich schauen die Eingeborenen hier immer noch Ostfernsehen und warten auf die „Aktuelle Kamera“. Die Elbe in Dresden ist im Vergleich zu Hamburg ein Rinnsal. Zumindest zocken einen die Taxifahrer nicht ab. Und die Bedienung im Lokal war höflich. Ansonsten: Dresden ist eine öde und langweilige Stadt. Wer je in Rom oder Florenz war käme kaum auf die Idee, diese Stadt mit Dresden zu vergleichen. Diese Analogiebildung kann im Grunde nur jemand vorgenommen haben, der niemals Ostdeutschland verlassen hat oder aber ein Florentiner, der Florenz abgrundtief hassen muß. Vielleicht ein verstoßener Medici oder ein Nachkomme von Girolamo Savonarola. Ich hoffe, daß wenigstens die Kunst entschädigt. Ansonsten gehe ich ins militärhistorische Museum.

Wird die Ausstellung „Die Erschütterung der Sinne“, die gestern in einer Art Preview eröffnet wurde, mich milder stimmen? Der Titel klingt verheißungsvoll. Er paßt gut zu Dresden.