1. Mai – Marxjahr

„Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Proletariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist. Der Proletarier befindet sich dann in bezug auf die werdende Welt in demselben Recht, in welchem der deutsche König in bezug auf die gewordene Welt sich befindet, wenn er das Volk sein Volk wie das Pferd sein Pferd nennt. Der König, indem er das Volk für sein Privateigentum erklärt, spricht es nur aus, daß der Privateigentümer König ist.

Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehn.

Resümieren wir das Resultat:

Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt. In Deutschland ist die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich als die Emanzipation zugleich von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters. In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.

Wenn alle innern Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.“
(Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung)

Wieweit man hier aus diesen Passagen des frühen Marx wiederum die sehr viel prägnanter formulierte 11. Feuerbachthese schon herauslesen kann – zeitlich liegen beide Text dicht beieinander – und inwiefern diese These wieder revoziert werden muß zugunsten einer Theorie der Gesellschaft, ist eine Frage, die für die westeuropäischen Gesellschaften relevant sein mag. Adorno formulierte nicht nur zum Beginn seiner „Negativen Dialektik“ jene Arbeit der Theorie, die nötig ist, da eine Philosophie, die nach Marx einmal überholt schien, sich am Leben erhält, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Sondern auch in seiner „Vorlesung über negative Dialektik“ aus dem Semester 1965/66 gibt es jene Überlegungen zur Feuerbachthese:

„Dieses Zurückgeworfensein auf die Philosophie hat nun in der Situation selbst auch sein reales Äquivalent. Wir befinden uns in einer Art geschichtlicher Atempause. Wir sind in einer Lage, in der im Ernst nachzudenken uns den materiellen Voraussetzungen und auch einer gewissen Friedlichkeit der Zustände nach, jedenfalls soweit es sich um die Bundesrepublik handelt, wieder möglich ist. Und die Versuche, einen darin irre zu machen und unterbrochen: Wolf, Wolf! zu rufen, sind wohl im Augenblick gerade deshalb eine Ideologie, weil auf Grund einer gesellschaftlichen Analyse à la longue nicht damit zu rechnen ist, daß dieser Zustand, in dem man überhaupt nachdenken kann, sich erhält, – so daß man diesen Zustand nicht versäumen darf.“ (Adorno, Vorlesungen Negative Dialektik)

Nicht nur ein Satz gegen den Alarmismus bestimmter Kreise. Aber: Für solche Gesellschaften jedoch, in denen Armutsverhältnisse herrschen wie im Deutschland des 19. Jahrhundert, für Länder, wo Menschen in Slums, gebaut aus Scheiße, wohnen ist diese Frage zur Revolution immer noch virulent. Während hohe Herren im Palast und im Prunk hausen. Haben hier in der BRD die Arbeiter alles erreicht? Ja. Und nein zugleich. Ich müßte nochmal bei Wolfgang Pohrt nachlesen, wo gerade in der Edition Tiamat eine Ausgabe seiner Werke erscheint, im Design schön wie die gute, alte feine MEW-Ausgabe gehalten. Ein Schatz. „Kapitalismus forever“ und „Das allerletzte Gefecht“. Aber eine proletarische Revolution hier in der BRD ist weiter entfernt denn je. Ein letztes Flackern mochte es 1968 während des Pariser Mai gegeben haben und allenfalls in der italienischen Arbeiterbewegung im Operaismus, dessen Geschichte uns nahegebracht werden sollte. Denn nur mit den entsprechenden Narrativen, kann man Theorie und kann man Waffen machen.

(Photographien von Bersarin: Maidemo Berlin, 2014)

Wirkungslose Linke: Von der Revolte zur Erbauungspredigt Carolin Emckes – Gedanken zum 1. Mai

Vor einer Woche erschein in der Zeit ein Artikel von Verena Friederike Hasel, weshalb es schwierig ist, heute links zu sein. Eine der Gründe ist die Hypermoralisierung von Diskursen. Moral ersetzt gesellschaftskritisches Denken und komplexe Sprechweisen werden durch einen normierten Code verdrängt. In anderem Kontext und eher auf die politische Krise der Linken bezogen, samt den Gründen dafür, bringt Didier Eribon diesen Widerspruch einer kulturalistisch gefärbten Linken in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ auf den Punkt. Einer Linken, die sich für jegliche Minderheit einsetzt – was per se nicht falsch ist –, aber die ökonomische Situation zunehmend aus dem Blick verliert.

Ich nenne dieses Personal der Echokammern die kulturalistische Linke. Was einst unter dem Zeichen der Aufklärung zum Sprung ansetzte, mutierte zu intellektueller und ignoranter Bräsigkeit. Sinnbild für diesen Verfall ist die Rede Carolin Emckes zum Friedenspreis des Buchhandels. (Mehr zu diesem Kitsch der rechten Gesinnung unten.) Die Meinung dieser Leute ist so vorhersehbar, wie die von Alexander Gauland zum Deutschtum. Ihr Arbeitsplatz sind die Medien: Fernsehen, Zeitungen, Kunst, Kulturmagazin, Kulturjournalist. Ob sie heute in Berlin oder morgen in New York und Rom leben, ist ganz einerlei, denn ihre Produktionsstätten sind Schreibtische und ein mobiles Gerät namens Computer. Leicht ist es, wie der Chef von Apple, jener seinerzeit in den 00ern als Guerilla-Firma gehypten Marke, ein sonores Statement gegen die Diskriminierung von Schwulen abzulegen – was per se nicht falsch ist –, während das Management die Produktionsstätten nach China verlagert, wo unter harten Bedingungen und zumal billiger gearbeitet wird. Ebenso einfach ist es, wie Hillary Clinton es tat, dieser kulturalistischen Mittelschicht Puderzucker in den Arsch zu blasen, um dann umgekehrt in den Leitmedien von den kulturell Arrivierten der USA zurückgepudert zu werden mit Wahlempfehlung. Jene, die vor einem Jahr noch Bernie Sanders ins Abseits bugsierten, beklagen sich nun lautstark darüber, ungerecht behandelt zu werden. Der US-Wahlkampf spiegelt gut diese Geschichte eines linken Verfalls wider.

Gleiches in Frankreich: So verwundert es nicht, daß jene Franzosen, die einst Stammwähler der Sozialisten oder der KPF waren, nicht mehr links, sondern Le Pen wählen. Die Versprechen der kulturalistischen Linken sind nicht die der Angestellten. Whitney Biennial oder Venedig Biennale interessieren in diesem Milieu niemanden und gegen denHaß läßt sich gut predigen, wenn der eigene Arbeitsplatz sowieso ein flexibler ist. Dem deutschen heteronormativen Familienvater aus dem Osten, für den damals VEB nur noch hieß, „Vatis ehemaliger Betrieb“ hat für solche Dinge wenig übrig. Frau Emcke und ihresgleichen werden mit jenem Mann kaum um einen Arbeitsplatz bei einer Security-Firma oder bei der Zeitarbeit konkurrieren. Ähnlich in France: Während Le Pen bejubelt wurde, als sie eine Fabrik besuchte, die von der Schließung bedroht ist, wird der neoliberale und eloquente Macron von diesen Arbeitern ausgebuht und kann das Werk nur unter Polizeischutz betreten.

Weshalb sich im politischen Spektrum die Koordinaten verschoben haben, darüber wäre nachzudenken. Die hier gelieferten Thesen sind lediglich Impressionen und Tupfer einer allgemeinen Tendenz. Die sich in den marktwirtschaftlichen Demokratien im Wahlergebnis niederschlägt. Die Angestellten wollen nicht, wie sie sollen. Ein Problem, mit dem schon die sogenannten 68er zu kämpfen hatten: Die Arbeiter der BRD mögen sich von ihren goldenen Ketten nicht so gerne befreien lassen. Man kann das mit Heiner Müllers kurzem Interludens „Die Befreiung des Prometheus“ aus dem Theatertext „Zement“ gegenlesen.

Was also ist links? Eine Frage, die auf Arte einen Fernsehabend füllte. „Mann der Arbeit, aufgewacht!//Und erkenne deine Macht!//Alle Räder stehen still.//Wenn dein starker Arm es will.“? Zumindest in der von Verena Friederike Hasel beschriebenen Variante fällt Linkssein vielen schwer – einmal davon abgesehen, daß Denken und Analyse von Gesellschaft eben etwas anderes sind als bloß eine bequeme Haltung an den Tag zu legen, die sich als Habitus zeigt, um kulturelles Kapitel zu schöpfen, das sich dann auf dem Arbeitsmarkt der kulturalistischen Linken ökonomisch gut zweitverwerten läßt. Was solches Besinnen auf eine vernünftige Praxis betrifft, denke man nur an Adornos hervorragende Reflexionen zum Verhältnis von Theorie und Praxis – zu finden in „Stichworte. Kritische Modelle 2“. Aber solche Zusammenhänge überhaupt noch zu begreifen, scheint heute schwierig. Vielleicht auch, weil dieses Denken in gewissem Sinne eine Radikalopposition zur Gesellschaft voraussetzt – auch zu der der linken Praktiker. Gegenwärtig vertagt sich die Praxis meist ins Klein-Klein, wo dann in der richtigen Haltung und in der richtigen Gesinnung das richtige Leben im falschen sich installieren soll.

„Während Praxis verspricht, die Menschen aus ihrem Verschlossensein in sich hinauszuführen, ist sie eh und je verschlossen; darum sind die Praktischen unansprechbar, die Objektbezogenheit von Praxis a priori unterhöhlt. Wohl ließe sich fragen, ob nicht bis heute alle naturbeherrschende Praxis in ihrer Indifferenz gegens Objekt Scheinpraxis sei. Ihren Scheincharakter erbt sie fort auch an all die Aktionen, die den alten gewalttätigen Gestus von Praxis ungebrochen übernehmen.“

Diese Kritik an Praxis greift ins Grundsätzliche aus, nicht anders als Martin Heideggers Denken des Seyns, das dem Handhabbarmachen sein Unzulängliches attestierte. Freilich aus einer konservativen Position heraus. (Zur Frage der Technik als Geschick allerdings bleibt Heidegger auf eine interessante Weise ambivalent.) Weiter heißt es bei Adorno:

„Was seitdem als Problem der Praxis gilt und heute abermals sich zuspitzt zur Frage nach dem Verhältnis von Praxis und Theorie, koinzidiert mit dem Erfahrungsverlust, den die Rationalität des Immergleichen verursacht. Wo Erfahrung versperrt oder überhaupt nicht mehr ist, wird Praxis beschädigt und deshalb ersehnt, verzerrt, verzweifelt überwertet. So ist, was das Problem der Praxis heißt, mit dem der Erkenntnis verflochten.“

In diesem Sinne bestimmt durchaus auch das Bewußtsein das gesellschaftliche Sein, ohne dabei in jenen schwärmerischen Idealismus zu gleiten. Im Kontexten der Gegenwart freilich eher als Fades. Nur die traurigen Tropen kann der Ethnologe des Eigenen in Fragen links noch konstatieren. Aus diesem Grunde hält sich Theorie am Leben,  weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward, so formuliert Adorno es in der Einleitung zur Negativen Dialektik.

Bei dem Habitus vieler Linker, den Verena Friederike Hasel uns schildert, nämlich soziale Aspekte in einer politisch korrekten Sprechweise zu moralisieren, handelt es sich um eine Tugendmoral, in der zudem die eigene Position verabsolutiert wird. Vielheiten werden lediglich für die eigene Position akzeptiert, Abweichungen werden sanktioniert und diskreditiert. Toleranz und Offenheit gegenüber anderem Denken schleifen sich zunehmend ab, wird aber für die eigenen Position eingefordert, und wer das verweigert, ist schlimmstenfalls ein Hater, den es unschädlich zu machen gilt.

„Wozu diese narzisstische Selbstüberhöhung führt, bekam ich neulich in Berlin mit. Im Mauerpark im Bezirk Prenzlauer Berg gibt es einen Abschnitt, in dem die Mitglieder des Mauergarten-Vereins ihre Hochbeete haben. Dort, unter vielen zugezogenen Bullerbü-goes-Berlin-Familien gärtnerte auch ein älterer Herr aus der DDR. Es kümmert sich um den Komposthaufen des Vereins. (…) Er macht Führungen für Schüler aus dem Wedding, von denen viele noch nie eine Tomate an einem Strauch gesehen haben. Vor einigen Monaten dann forderte ein anderes Vereinsmitglied per Mail den Ausschluß dieses älteren Herrn, weil er in der AfD ist. ‚Entnazifizierung‘ stand in der Betreff-Zeile. Er ist kein Björn Höcke. Er hat auf seinem Hochbeet auch nie die AfD-Fahne gehisst. Er hat einfach nur Zucchini angebaut.“

So entwickelt sich aus der Moralblase heraus ein restringiertes Verhalten, das vorab schon Bescheid weiß. Aus den eigenen Echokammern gelangt es nicht mehr hinaus. Dieses Milieu ist, wie die Überschrift von Hasels Artikels titelte, selbstgerecht, intolerant und realitätsfern. Harald Martenstein schreibt gegen den Tugendwächterrat seit Jahren an.

In der NZZ vom 29.4., also kurz vor dem Kampftag, gibt es einen feinen Text von Reinhard Mohr, der zum Nachdenken anregt. Er trägt den Titel „Rebellion gegen linke Sonntagspredig“:

„Ein halbes Jahrhundert später hat sich die Situation komplett gedreht: Der Mainstream in Medien und Politik ist im Zweifel deutlich links der Mitte, emanzipiert, ökologisch, nachhaltig, gendergerecht. Die Grünen, im Nachhall des 68er Protests gegen das bürgerliche Establishment gegründet, sind längst zur alternativlosen Staatspartei mit Hang zur Hypermoral geworden, während der rechte Flügel der konservativ-liberalen Wählerschaft zur offenen Rebellion übergegangen ist – teilweise in roher Form bis hin zu eindeutig rechtsradikalen Positionen. Das Ergebnis ist einigermassen grotesk: Die klassische Sonntagspredigt zur Verteidigung des Wahren, Schönen, Guten – vom Windrad bis zur Willkommenskultur – halten nun die einstigen Rebellen von 68 und ihre links-grünen Adepten, während die radikale Gesellschaftskritik jetzt von rechts vorgebracht wird – ein Hauch von Weimar.

Die moralisch-politische Selbstbeschwörung des links-grünen Milieus setzt dem Protest von rechts die bewährten Prinzipien von Demokratie, Toleranz und Rechtsstaat entgegen, ohne sie nach ihrer praktischen Tauglichkeit zu befragen. Doch genau um diesen schmerzhaften Praxistest geht es: um den Euro als Fehlkonstruktion, das Scheitern der EU in der Flüchtlingskrise, um Fehleinschätzungen bei den Themen Einwanderung, Kriminalität, Terror und Integration, Islam und säkularer Staat.

«Sagen, was ist», die ursozialistische Fortschrittsparole von der anbrechenden Morgenröte, ist heute zur Parole «rechtspopulistischer» Bewegungen in Europa geworden, die die einst linke Strategie der permanenten Provokation als Erfolgsrezept entdeckt haben. Verkehrte Welt. Grosse Teile des linken Milieus werden gleichsam auf dem falschen Fuss erwischt.
(…)
Der «Migrant» ist der grosse Andere, «ein Geschenk», wie die Spitzenkandidatin der deutschen Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sagte. Er ist der Antideutsche, der Antispiesser, eine exotische Projektionsfläche für Ideen und Träume, die man selbst eigentlich schon längst beerdigt hat. «Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich sag euch eins: Ich freu mich drauf!», sagte Göring-Eckardt auf dem grünen Parteitag im November 2015. Kriegs- und Armutsflüchtlinge als Präsent für die europäischen Wohlstandsgesellschaften – auf diesen gepflegten Salon-Rassismus muss man erst einmal kommen.“

Der Hauch von Weimar ist freilich der beliebten (Über-)Dramatisierung geschuldet. Selbst wenn wir in der BRD bei den Rechten eine Figur wie Hitler hätten, sind die Verhältnisse, insbesondere die ökonomischen im Augenblick so gut wie selten, auch bei fortschreitendem und gewolltem Pauperismus. Die Leute am rechten Rand rebellieren nicht, weil sie nichts zu essen haben. Doch der Befund, den Mohr liefert, stimmt. Ich kann nur empfehlen, diesen Artikel komplett zu lesen. Es fällt zunehmend schwer, links zu sein. Insbesondere, wenn man sich eine „linke Sonntagspredigt“ wie die unselige, in Kitsch und Betroffenheit sich spreizende Rede Carolin Emckes zum „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ hört. Sie steht als Sinnbild für jeneBigotterie der kulturalistischen Linken:

„In der Paulskirche, dem historischen Ort der gescheiterten deutschen Revolution von 1848, appellierte sie an die Gemeinde: «Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heisst: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt. Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: die Begabung zum Anfangen. Wir können hinausgehen und etwas unterbrechen. Wir können neu geboren werden, indem wir uns einschalten in die Welt.»

Jenseits der ästhetischen Frage, ob es sich hier um Kitsch handelt, ist die Redundanz der unscharfen, fibelhaften Beschwörungsformeln unverkennbar. Konkrete Probleme, Interessenkonflikte und Widersprüche kommen nicht vor, weder Vergangenheit noch Zukunft, und die Gegenwart scheint so weit weg wie der Mond. Eine Ansammlung zeitloser Kalenderweisheiten aus dem Arsenal der Weihnachtsansprache. Es zählt das gute Gefühl – der fortgeschrittene Zustand einer politischen Selbsthypnose. Aus dem Protest ist die Predigt geworden.“

Intellektuelle Kompetenz und die Analyse dessen, was der Fall ist, wurden zugunsten des guten Gewissens vertagt, und es schwingt, klingt und klingelt der Ton evangelikaler Erbauungspredigt. Bestimmt ist er für die eigenen Gemeinde. Die kulturalistische Linke erfreut sich ihrer selbst. Mit solchen Leuten ist weder Staat noch Veränderung zu machen. Heraus zum roten ersten Mai? Ich bleibe zu Hause.

Die beigefügten Maibilder stammen von einer Demo aus dem Jahre 2014 und wurden hier z.T. schon einmal gezeigt.

 

Die Macht des Saturn: Die Revolution frißt ihre Kinder. Berlin, 1. Mai

Ich werde dieses Jahr vierzig. Oder war es fünfzig? Ich weiß das nicht mehr so genau; ich habe es vergessen. Menschen werden älter, so istʼs nun einmal, Menschen ändern sich, wenn sie älter werden. Manche, so sagt man, werden reifer und sogar weiser. Ich zum Beispiel esse nur noch vegan zubereitete Fleischgerichte. Das habe ich früher nicht gemacht. Jedoch schaue ich, wenn Mutter und Tochter durch die Straßen gehen, immer noch der Tochter hinterher und ignoriere die Mutter, während manchmal eine Mutter scheu nach mir blickt. Ich bin dann sehr traurig, weil ich bemerke: Du mußt die Blickrichtung ändern. Forever young war das Versprechen der Pop-Musik, sie konnte es freilich nicht einlösen – es sei denn, man kurt-cobainisierte sich rechtzeitig. Lese ich deshalb Diedrichsens Buch „Über Pop-Musik“, um mich an den unwiederbringlichen Momenten zu delektieren und an die Zeit zu erinnern, da die Haut der Frauen und auch die meine glatt war und die Illusionen ins Unendliche ausgriffen? Als ich noch ungestraft die Töchter der Mütter anschauen und manchmal sogar berühren durfte? Nach dem Seminar. Abends. Nach dem Wein.

Auch wird meine Laufkondition schwächer, und ich trage nicht mehr gerne 15 kg Ausrüstung mit mir herum: insofern wird dies meine letzte Maidemonstration sein, auf der ich Photographien machte. Oder aber ich muß lange vorher ein Lauf- und Krafttraining absolvieren. Da ich jedoch Fitness-Center verabscheue wie Guttempler den Alkohol, bleibt es beim Lauftraining. Zudem herrscht auf den Demos beim Schwarzen Block ein deutlich rauerer Ton. In den Zeiten von Facebook, Instagram et al. ist das Photographieren nicht mehr so gerne gesehen. Früher war es den meisten egal, heute kann einer, sofern er nicht vorsichtig ist, schon mal was auf die Kamera bekommen. Ich habe mir ebenfalls eine schwarze Freizeitjacke gekauft. Aber keine von North Face, sondern eine von Boss, denn ich mag diese leicht glänzende, wasserabweisende Material nicht leiden.

Glanzstück der Polizei war es, gegen halb zehn den extrem engen U-Bahnhof Hallesches Tor zu stürmen und eine Menschenpanik mit Verletzten auszulösen. Immer wieder schlugen dabei Polizisten wahllos in die Menge, diverse völlig unbeteiligte Menschen bekamen die deeskalierende Wucht der Polizei zu spüren. Wenn der Berliner Innensenator Henkel vom besonnen Verhalten der Polizei spricht, so klingtʼs wie Hohn. Zumindest kann er nicht diese Situation gemeint haben, wo unbeteiligte Menschen sich weinend aus dem U-Bahnhof zu zwängen versuchten und riefen: „Ich will hier doch nur raus!“

Allerdings muß dazu gesagt werden, daß zum Beginn der 18-Uhr-Demo im Zug eine riesige Menge von Dumm- und Hohlköpfen herumlief. Von den sinnleeren absurden Parolen angefangen: Obligatorisch war wieder mein Lieblingsslogan – seit bald 30 Jahren – dabei: „Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen!“ Und was hat es mit linker Politik zu tun, über Autos zu springen? Ist es autonom und antifaschistisch, wenn vor einem vierjährigen Jungen, der von seinem Vater im Arm gehalten wird, eine Flasche aufschlägt?

Photographien dieser Veranstaltung gibt es auf meinem Bilder-Blog Proteus Image zu sehen. Um 22 Uhr ging ich dann nach Hause, weil ich von der Kondition erschöpft war. Sowieso konnte ich die Dauerläufe des Schwarzen Blocks und der Polizei nicht mitmachen. Der Bewohner des Grandhotel Abgrund neigt zu einer gewissen Behäbigkeit, die dem abendlichen Hegel-Wein geschuldet ist.

Prinzipiell richtig übrigens ist der Ruf gegen die Polizei: „Wo, wo, wo wart ihr in Rostock?“ Sachlich korrekt muß man allerdings antworten: Die Polizisten, die gestern in Berlin standen, waren zu dieser Zeit höchstwahrscheinlich in der Grundschule oder im Kindergarten – sofern sie überhaupt schon auf der Welt waren. Sein oder Dasein? Das ist hier die Frage. Aus unserer Serie: Heideggern mit der Polizei. Ihnen einen angenehmen Tag!

Daily Diary (103) Maitage, einstmals – über die Photographie

„Es wird keinen einzigartigen Namen geben …“

„Die Musen der Künste des ‚Scheins‘ verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet.“ (F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik)

Die Depotenzierung der Welt in der Photographie. Text und Dokument, Text und Fiktion. Jegliche Photographie ist eine Spur – und zwar in dem Konzept, wie Derrida es in seinem différance-Aufsatz vermerkte: Präsenz der Abwesenheit. Die Spur verweist auf nichts, das anwesend ist, sondern sie simuliert das Anwesen, nimmt eine Stellvertreterfunktion ein. Wie auch die Photographie. Sie streicht sich zugleich durch. Nichts bleibt.

„Es wird keinen einzigartigen Namen geben und sei es der Name des Seins. Und das muß ohne Nostalgie gedacht werden, will sagen, jenseits des Mythos von reiner Mutter- oder Vatersprache. Oder von der verlorenen Heimat des Denkens. Das muß im Gegenteil bejaht werden, wie Nietzsche die Bejahung ins Spiel bringt, als Lachen und Tanz-“ (J. Derrida, Die différance)

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Daily Diary (28) – 1. Mai in Berlin

Ich sage es gleich vorweg: Mir tun jetzt noch die Arme und die Beine weh, weil ich lief, mich den Tag über in schwüler Hitze bewegte, in Hinterhöfe rannt, über hohe Metallzäune kletterte, um den Polizeieinkesselungen zu entkommen, mir die Hand am tückischen Dornenstrauch verletzte und den Zeh verstauchte. Diese Kletterei über Zäune spielte sich im Gegensatz zu den anderen Menschen, die 20 bis 25 Jahre jünger als ich sind, mit 6 Kilogramm Ausrüstung ab. Gut, gut: das, was ich hier gerade machte, ist ein sehr egozentrischer Auftakt. Aber auch das Private ist bekanntlich politisch. Die Photographien von diesem Tag gibt es wie immer auf Proteus Image zu sehen.

Vor der Demonstranten ging eine Kundgebung gegen Mietsteigerungen durch das Viertel. In der Reichenberger Straße wurde die Straße von beiden Seiten mit Polizei dichtgemacht, so daß niemand mehr herauskonnte.

Die 18 Uhr-Demonstration begann 1 ½ Stunden verspätet am Lausitzer Platz, dort wo vor 25 Jahren die Bolle-Filiale abbrannte und der Druck im Kessel sich entlud. Und so lautete das Motto der diesjährigen 1. Mai-Demo auch: „Der Druck steigt!“ (Nein, Plünderungen sind nicht gut, aber sie zeigen an, wie es um eine Gesellschaft bestellt ist. Wie in London vor einem Jahr: die Menschen besorgen sich die High-Tech-Geräte, welche ihnen jeden Tag in der Werbung vorgeführt werden, auf ihre eigene Weise. Und daran sieht die Industrie doch sehr gut: Werbung funktioniert!)

Zum Auftakt hielt Jutta Dithfurt eine sehr gute Rede, die insbesondere diesen ganzen inszenierten Titanic-Schmonzes, der uns die letzte Zeit dargeboten wurde, in Korrelation mit den getöteten Flüchtlingen im Mittelmeer brachte. Zudem verwies sie darauf, daß in all diesen Filmen und Berichten über das Schiffsunglück kaum einer der ersoffenen Arbeiter aus den Maschinen- und Arbeitsräumen unter Deck vorkam. Sehr gut gefiel mir, daß sie insbesondere dazu riet, die Waffe der Kritik zu schärfen. Veränderungen von Gesellschaft gibt es nicht in einem Jenseits, durch den Guru, durch den Dalai Lama oder Zen-Gequatsche, sondern einzig immanent, hier im irdischen Leben.

Gegen 19:30 Uhr setzte sich der Zug in Bewegung. Aus Solidarität mir dem Glaserhandwerk, da es dem Mittelstand und dem Kleingewerbe wirtschaftlich nicht sonders gut geht, wurden zum Auftakt die Fenster einer Berliner Sparkasse entglast.

Beim Springer-Haus geriet die Veranstaltung aus den Fugen, die Menge wurde in Richtung Jüdisches Museum gedrängt. Davor standen auffällig wenig Polizeiketten. Und da es zum Leidwesen der Springerpresse und auch anderer Medien zur Beschädigung des Jüdischen Museums nicht kam, so mußte in der Berichterstattung wenigsten das Polizei-Wachhäuschen vor dem Museum herhalten: „hatten Demonstranten Steine auf ein Wachhäuschen vor dem Jüdischen Museum geworfen.“ So Morgenpost Online.

Taktik der Polizei war es, in kleinen Zügen inmitten der Menge zu stehen und ggf. von dort aus zu agieren. Hinzu kamen dann bei Bedarf die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit, die sich vereinzelt Menschen herausgriffen. Die Taktik bei dieser Art von Bad in der Menge besteht darin, daß die Polizei nicht mit Gegenständen beworfen werden kann, da solche Würfe womöglich auch die Demonstranten treffen könnten.

Ach ja und übrigens: Die Frau mit der Hamburg-Jacke auf einem der Bilder: das ist genau mein Typ von Frau. (Hier stehe ich und kann nicht anders.)

Nicht unterschlagen werden soll zum Schluß, daß wir der Deutschen Bank für das Sponsoring der Deutschen Polizei danken. Jetzt tragen sie sogar das Logo dieser Anstalt, wenngleich in Polizeigrün.

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Anti-Nazi-Demo – Walpurgisnacht – 1. Mai: Kampftag der Arbeiterklasse (3)

Am besten wäre es, wenn diese Photographien an irgend einem Ort in einem Format von etwa  450 cm x  300 cm hingen. Es käme die schöne Wirkung der Photographien in einer Gursky-Größe sicherlich noch viel besser zur Geltung. Die frühe Düsseldorfer (Fotografie-)Schule hingegen (und nicht nur die)  vertrat die teils berechtigte These, daß ein Format von 24 x 18 cm nicht überschritten werden sollte. Denn noch das Photo von Mittelmaß gewinnt bei hinreichender Größe, entfaltet ungeahnte Wirkung. Häufig nutzte der „Stern“ dieses Prinzip für seine früher einmal sehr guten Bildstrecken, wenn Photos auf Doppelseiten präsentiert wurden. Nun kommt allerdings Gursky genau aus jener Düsseldorfer Schule, und so zeigt sich, wie gut es sein kann, Prinzipien konsequent zu brechen; zumindest aber  nicht starr an ihnen festzuhalten.

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Alle Photographien: © Bersarin 2010

1. Mai – vorab

Wer denkt, daß es einfacher sei, einige Photographien in den Blog zu stellen, als einen Text zu schreiben, der irrt. Die Bearbeitung, die Auswahl, die Komposition und schließlich auch noch die Anordnung der Bilder, über die freilich nicht immer Übereinstimmung existiert und die sich in der Tat schwierig gestaltet, wenn man alles selber machen muß, muten sehr viel mehr Arbeit zu als das bißchen Schreiben.

Insofern gibt es also erst morgen eine Photostrecke zur Anti-Nazi-Demonstration in Oberschweineöde, zur Walpurgisnacht und zum 1. Mai in Berlin. Vorab nur dieses.

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„Haste mal ‘ne Mark?“, wurde keiner der Demonstranten gefragt: Wenn Punks mittlerweile bei der Polizei arbeiten, können wir dann im Umkehrschluß davon ausgehen, daß auch Polizisten bei den Punks und den Autonomen schaffen? Punks und Skins: auf diesem Bild  vereint. Und dazwischen eine fesche Renee.