„Auf Vernichtung läuft’s hinaus“ – Castorfs „Faust“-Inszenierung an der Volksbühne

Da heute das Berliner Theatertreffen mit Castorfs wunderbarer „Faust“-Inszenierung beginnt, hier noch einmal meine Stückkritik vom März 2017.

Seinen Einstand an der Berliner Volksbühne gab Frank Castorf 1990 mit Schillers Räubern. Seine letzte Inszenierung dort ist der Faust. Ein wunderbares Abschiedsgeschenk, das Castorf uns auf die Bühne wuchtete. Sieben Stunden Höllenfeuer, ein Ideengewimmel, es wird uns heiß zumute. Vom Schillerschen Stürmer und Dränger des postdramatischen Theaters zum saturierten Klassiker gereift. Aber Castorf steht nicht statuarisch da; auch nicht, nachdem er zum Olymp emporschwebte, in Klassikerpose, sondern immer noch frech und wurstig, intellektuell spritzig gebärden sich seine Inszenierungen. Der Zuschauer tritt anders aus dem Theater hinaus als er herein kam, nicht gereinigt oder beruhigt, sondern verstört und angeheitert in einem. Bei aller Brutalität des Castorfschen Theaters sagten wir hinterher trotzdem: Aber irgendwie war es doch geil. Castorf ist nicht bloß postironisch.

Ob der Zuschauer am Ende erlöst ist, wie Heinrich Faust? Schwer zu sagen. Glücklich jedoch auf alle Fälle, einen so außergewöhnlichen Abend erlebt zu haben und zu nachtschlafender Stunde in Euphorie die Institution Volksbühne zu verlassen. Solcher Wahn ist für eine Inszenierung nicht selbstverständlich, und er überträgt sich auf den Zuschauer, wenn der nach einem wilden Theaterabend in die Nacht rauscht oder damals, in früheren Zeiten, als der Theatergänger wilder glühte, im Suff in der Theaterkantine parlierte. Nach den Castorf-Bildern auf der Bühne, so auch beim Faust, sieht die Welt nicht mehr bunt aus, sondern liegt zersprengt und in Teilen da. Faust-Fragmente, wie es der Geister-Chor rief, sind bei Castorf die Condition humaine und ebenso die Conditio seines Theaters:

Weh! weh!
Du hast sie zerstört
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
Wir tragen
Die Trümmern ins Nichts hinüber,
Und klagen
Über die verlorne Schöne.

Beim Faust lagern die Zitate fein eingeschliffen und gut abgehangen im kollektiven Nationalgedächtnis. Das bildungsbürgerliche Ohr lechzt, ob der Regisseur Castorf sie bringt. Und er bringt’s. Aber anders, als das im üblichen Faustkontext funktioniert und erwartet wird. Die interessante Frage, die sich also stellt, lautet vielmehr: Wie und in welcher Art wird Castorf es diesmal deichseln? In welcher Weise sind die Zitate angeordnet, die Szenen gesplittet und über den Abend verteilt? Um bei den Textsprüngen und dem Gestaltenwandel der Figuren den Überblick zu behalten, wer hier wer ist, scheint es gut, den Faust vorher noch einmal gelesen zu haben. Oder aber man läßt sich von vornherein treiben und setzte sich dem Irrsinn aus, um zu schauen, ob es gefällt und was vom Abend am Schluß hängenbleibt.

Daß Castorf den Theatertext dekontextualisiert und dann rekombiniert, dürfte zu erwarten gewesen sein und ist eine unspektakuläre Sache. In dieser Form kennen wir Castorfs Theater, und so mögen wir es, sofern wir Castorf-Fans sind. Verstreute Klassiker-Zitate also en masse im Faust. Bei der Spieldauer ist für solche Digression genug Platz vorhanden. Das junge Pärchen neben mir hat sich einen Weintrunk in eine Plastikflasche gefüllt. Ich hatte mir vorgenommen, ins Theater Leberwurststullen mitzubringen und zu verspeisen, auf Vorrat. Wie zu den Proben der olle Brecht im Berliner Ensemble.

Aber bei diesem Reigen an Assoziationen, bei den Szenen aus Castorf-Klamauk und Menschen-Drama kam keinen Moment Hunger oder Durst auf. Es zog die Drehbühne als eine Art Trutzburg in den Bann. Eine Mischung aus Pariser Straßenszenen, Feuertreppenstiegen wie im Film noir, Kinoplakate hängen an der Wand: „Tabu“, Josefine Baker“, eine Reklametafel für eine Kolonialschau, wie sie zur Jahrhundertwende üblich waren, um fremde Völker auszustellen, vielleicht ein wenig plakativ, aber doch paßt es. Groß prangt da oben am Gerüst in roten Leuchtbuchstaben „L’ENFER“ und wie zum Hohn flackern daneben in luftigen Höhen ein paar elektrische Kunst-Fackeln in Rotlicht, als Hölleneingang dient ein Monstermundes aus der Geisterbahnen.

Alles also nur Theater? Nein, beileibe nicht. Castorf baut kein Theater als Illusionsmaschine auf, auch in seiner Abschiedsinszenierung nicht. Politik schlägt in der bekannten Castorfschen Art ins Stück ein, wie ein Meteorit und zertrümmert den Text in Splitter. „Faust nach Goethe“, so wird das Stück angekündigt. Die Präposition „nach“ ist einerseits zwar personal zu verstehen, andererseits aber zeitlich zu lesen. Ein Faust nach der Goethischen Vormoderne. Und wie zum Hohn thront über der Hölle teutonisch eine mittelalterliche Burg. Ein Nebeneingang zur Hölle ist die Metrostation mit dem Namen Stalingrad. Abdoul Kader Traoré spricht dort auf französisch Celan Todesfuge, an anderer Stelle spielt er einen schwarzen Rapper, einen jener schwarzen Bewohner von Paris, die Zigaretten oder allesmögliche vertickern. Migrantenschicksale. Wir sehen ein Paris, wie wir es aus den düsteren Krimis kennen. Wir werden versetzt ins Paris des Algerienkriegs. Reisen ins Paris aus den Zeiten von Gounods Faust und Zolas Nana. Castorf mischt Zeit und Raum, wie üblich, eine vielfältige Kombination von Elementen und Ebenen, allein für das Absuchen der Bühne bedarf es einiges an Zeit und Aufmerksamkeit. Plötzlich entdeckt man da Knochen und Schädel wie vom Voodoo-Priester drapiert. Und tragen nicht auch Faust und Mephisto in einigen Szenen genau solche Zylinder? Was war das noch mit Haiti und Frankreich? Und Hegel, der sehr genau die Sklavenaufstände dort verfolgte? Weltgeist hoch zu Roß. All diese Assoziationen und Ketten, die sich an den Faust-Stoff binden, bekommt kein Geist sinnlich je gefaßt.

Lauter Zeichen, lauter Anspielungen. Auch Theaterinternes bietet Castorf auf, manchmal im üblichen Castorf-Klamauk, der doch nie bloß Klamotte um seiner selbst willen ist, knappe Verweise auf alte Inszenierungen: Ein Eimer, der an Kartoffelsalatorgien denken läßt, kleines Zitat aus „Des Teufels General“: „Immer schneller, der Propeller“, auch für den Faust gilt die Logik der Akzeleration. Wie ein Spott aufs Regietheater und gleichzeitig wie die Kritik an der Kritik daran höhnt es, wenn immer wieder und von allen Protagonisten im Durcheinander „Scheiße, Scheiße!“ gerufen wird. „Also, jetzt muß ich doch nochmal Scheiße sagen.“ Bekloppte Dernièren-Späße, an denen jedoch die Theaterenthusiasten ihren Spaß haben. Eine Rede des Faustschen Theaterdirektors. Erkennbar in neoliberalem Akzent, nein, mit belgischer Intonatation vorgetragen.

Deuten lassen sich all diese theatralischen Zeichen, die Requisiten, die aus dem Zusammenhang gerissenen Textpassagen in jede oder in keine Richtung. Aber man kommt bei Castorf nicht gut weiter, wenn man auf Hermeneutik und Sinnkohärenz erpicht ist. Andererseits gehen solche Reigen an Verweisen schnell auf die Nerven, wenn sie nicht zugleich durch einen anderen Aspekt von Geschichte sabotiert oder mit Witz gebrochen werden. Der einem jedoch angesichts von Mord und Folter zugleich im Halse steckenbleibt. Denn als Themen dieses Fausts schwingen die Kolonialpolitik der Franzosen in Algerien mit, wie auch eine quasi- matriarchale Ebene, denn es geht immerhin bei Faust II hinab zu den Müttern, wenn das Bild, der Schatten Helenas aus der Unterwelt befreit wird und jene Schönste reale Gestalt annimmt.

In Castorfs Inszenierung sind es die Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden und auf die nächste Prügel warten, Weiber, die für ihren Luden anschaffen gehen, Frauen, die ans Rampen-Licht wollen. Ebenso aber – Achtung, theaterinterner Witz – der Umgang des Regisseurs mit Frauen. Castorfs Manie dürfte bekannt sein. Sexy, sinnlich und ganz in ihrer Rolle als Gretchen/Helena aufgehend, stolziert Valery Tscheplanowa über die Bühne – trotz Kreuzbandriß spielte sie die Vorstellung, wenn auch an Krücken, was dem Ambiente einen zusätzlichen Reiz verlieh. Wir sehen in dieser Meta-Szene sogar ein kleines Theaterspiel im Spiel. So jongliert Castorf mit einer Vielzahl an Bezügen.

Das Faust-Theater beginnt auf dem Bildschirm, die Geschichte muß ja an irgend einer Stelle anfangen, jedoch keinesfalls in der Himmelssphäre, wo die Sonne nach alter Weise tönt, sondern in einer versifften Kolonial-Bar mit französischem Ambiente. Dort hocken verluderte, verschwitzte Gestalten am Tresen. Ein Famulus Wagner beschwört jenen Homunculus, ein Puppengeschöpf in einem Präparateglas, Gretchen leckt an dessen Stirn: „Hier wird ein Mensch gemacht!“ krächzt es aus des Famulus Mund. Auch so einer dieser zentralen Sätze. Ein lässiger Mephisto hängt am Tresen ab. Am Hut jedoch trägt er keine Hahnenfeder mehr, sondern eine Feder vom Pfau: Marc Hosemann gibt einen dandyesken Mephisto, einen Narziß. Martin Wuttke zeigt einen abgehalfterten Faust, teils greisenhaft verstört, intonierend wie Minetti, der Bernhard-Texte spricht. In seiner grotesken Zerrung erinnert diese Figur ebenso an Alexander Sokurows Faust, die im Film durch spezielle Objektive vor der Kamera gedehnt und verzerrt präsentiert wird. Mephisto agiert an den Stellen abgeklärt und mit dem Schuß Coolness, wo es nötig ist, denn zu oft ist diese Geschichte schon als Bildungsgut abgespielt, und er wirkt in den Szenen dramatisch, wo erforderlich, denn es ist diese alte Geschichte doch immer wieder neu und in verschiedenen Varianten zusammengesetzt. Castorf pointiert das Stück auf einige Stichworte hin.

Für die Castorf-klassischen Video-Einspielungen gab es eine hochthronende Video-Wand, auf der die Theaterszenen liefen, die nicht direkt sichtbar auf der Bühne spielten. Eine Metrofahrt von Stalingrad, über die Seine, im Waggon sitzen Franzosen, Schwarze, Fremde, Weiße. Dieses Szenario war im Parkettgang aufgebaut.

„Was willst du dich denn hier genieren?// Mußt du nicht längst kolonisieren?“

Diese Frage Mephistos an Faust gibt den Grundbaß des Stückes. Jener drastische Satz Faustens nach der Landnahme, daß es auf Vernichtung hinauslaufe, dieser Erkenntnisblitz, nachdem man Philemon und Baucis in ihrer Hütte bei lebendigem Leibe verbrannte, um ihnen ihren kargen Besitz zu nehmen, fällt interessanterweise in diesem Stück nicht. Castorf hat ihn ausgespart. Aus guten Grunde. Denn die Bilder dieser Inszenierung, die Assoziationen und Verbindungen, die Castorf anfährt, sprechen für sich.

Am Ende läuft es auf die Gewaltfrage hinaus, die sich für die Unterdrückten stellt. Ein blutiger Krieg zwischen kolonisierten Algeriern und Franzosen. Auf einer der Theaterleinwände sehen wir eine Spielfilmszene wie eine junge (unverschleierte, moderne) Algerierin in einem von Franzosen besuchten Café eine Bombe deponiert. Zwischen den Faust-Dialog, wo es zu dem Kampf der Kranichen gegen die Pygmäen kommt, finden wir als Texte eingestreut die Plädoyers von Sartre und Frantz Fanon für den gewalttätigen Kampf der Unterdrückten – stammen sie noch aus dieser oder bereits aus einer ganz anderen Zeit, als es noch die ideologischen Blöcke noch gab? Sozialismus oder Barbarei? Goethes Faust stellt implizit auch die Gewaltfrage. Castorf exponiert sie, hält sie offen. Castorfs Theater ist keine moralische Lehranstalt und kein Ergebnistheater.

Kolonisierung von Land, Kolonisation fremder Räume, Kolonisierung des Frauenkörpers. Der Homunculus, der neue, der kommende Mensch, der gemachte Mensch nach den Regeln aus dem Menschenpark ist am Ende eine zum Leben erweckte Puppe, die von Faust und Mephisto durch die Pariser Metro geschleppt wird. In Plastikfolie geschnürt wie die Leiche bei „Twin Peaks“, unter der Folie erstickt die Frau, schnappt nach Luft, kämpft sich dann frei. Für mich eine der stärksten und eindringlichsten Szenen dieser Inszenierung. Dieser Körper in Plastikfolie. Erschreckend und schön. Dieses Erwachen der Frau zieht sich durch Castorfs gesamte Inszenierung. Am Ende bohrt Gretchen-Helena den beiden erschöpft am Boden liegenden Protagonisten je eine Algerienfahne in den Schädel.

Was für ein Abend! Eigentlich müßte ich nur über diese sieben Stunden schreiben: Wie es sich anfühlt, unbeweglich und doch gebannt auf einem schwarzen Plastikstuhl zu harren. Nach links, nach rechts zu rutschen. Ein eigentlich unmöglicher Theaterabend. Manchmal mit Längen, aber nicht eine Sekunde langweilig.

Wenn dann relativ zum Ende hin, man hat nur noch eine halbe Stunde vor sich, solche Sätze fallen, daß es vorbei sei, kann man sicher sein, daß Castorf die Lacher auf seiner Seite hat. (Erstaunlich wenige übrigens verließen die Inszenierung.):

Mephistopheles: Er fällt, es ist vollbracht.

Chor: Es ist vorbei. –

Mephistopheles: Vorbei! ein dummes Wort.
Warum vorbei?
(…)
‚Da ist’s vorbei!‘ Was ist daran zu lesen?
Es ist so gut, als wär‘ es nicht gewesen,
Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre.
Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.

Vorbei also ist eine Ära. Mutwillig von einem Schnösel in weißem Hemd und Jeans preisgegeben. Für das Theater in Berlin ist es ein entsetzlicher Verlust, daß Castorf gefeuert wurde. Er hätte noch weitere 25 mal 25 Jahre machen müssen. In Faustischem Alter mit mephistophelischer Weisheit. Danke Frank Castorf für dieses Theater und für diesen großen Faust-Abend! Besseres kann und wird es an diesem Ort nicht mehr geben.

Photographien: Bersarin. Die Bilder aus dem Stück sind im Foyer der Volksbühne aufgenommen, es handelt sich um Ausstellungs-Photographien von Just Loomis, einen Photographen aus Los Angeles. Die Photos von der Metro-Bühneninstallation wurden von mir  im Parkettgang geschossen.

Chris Dercon geht, was macht eigentlich Tim Renner?

Freitag, der 13 – eine schöne, eine erfreuliche Nachricht immerhin für diesen Tag, der angeblich Unglück bringt. Aber ein Berliner Kettensägenmassaker ist es dann auch wieder nicht – das fand vorher statt, als Tim Renner die Volksbühne kappte. Insofern ändert all das nichts daran, daß ein Musiktonträgerabspielmanager zusammen mit einem damals wie heute regierenden Bürgermeister namens Müller eine über 25 Jahre gewachsene Institution mutwillig zerstörten!

Mal sehen, was kommt, hoffentlich nicht wieder eine Performance-Abspielstätte, sondern ein Ensemble-Theater, das seine eigene Handschrift ausbildet. Dazu freilich braucht es Zeit, die – das muß man fairerweise sagen – vielleicht auch Dercon verdient hätte. Ob eine Intendanz glückte, sich ein eigenständiges Spiel und ein besonderer Theaterort ausbilden, zeigt sich in der Regel nicht nach ein oder zwei Spielzeiten. Erst im Laufe der Jahre entfaltet ein Ensemble mit all seinen Beteiligten, von den Dramaturgen, über das künstlerische Betriebsbüro, von den Gewerken, den Schneidern, Bühnenbauern und Gewandmeistern bis zu den Regisseuren und der Intendanz, sein Potential. Man denke in Hamburg an Frank Baumbauer oder an Tom Stromberg. Angefeindet am Anfang seiner Intendanz und als Stromberg ging, war selbst beim (oft) konservativ-langweiligen Feuilleton des Hamburger Abendblattes eine gewisse Trauer zu spüren. Nicht anders als bei Baumbauer.

Bei Castorf jedoch war zu Beginn und bereits nach dem Auftakt Anfang der 90er klar: Hier geschieht ästhetisch gerade eine Sensation. Eben das, was in der Gattung der Künste eine Erweiterung der Gattungsgrenzen bedeutet. Wenn eine der Künste, hier das Theater, derart explodiert, daß es auch auf den Allgemeinbegriff der Kunst sich auwirkt und eine Transformation der Kunst zeitigt. Das zumindest war nach zwei Spieljahren schnell klar. Solche Überschreitungen wirken sich ästhetisch nicht nur auf das Theater selbst aus, sondern berühren die Kunst (als Allgemein- und Oberbegriff)  ingesamt und erweitern mit ihr auch die Kunstheorie.  Beim Theater jedoch, und daher rührt vielleicht die latende Melancholie wie auch der Überschwang in dieser Gattung, sind solche Ereignisse nicht fixierbar. Picassos Les Demoiselles d’Avignon oder Goyas Desastres de la Guerra kann man sich immer noch betrachten, Kafkas Der Proceß ist immer als Buch erstehbar. Aber die Aufführung von Schillers Die Räuber bleibt eine Erinnerung. Für die Allgemeinheit nie wieder abrufbar und damit absolut vergangen. Das ist der Reiz des Theaters. Theater ist Mythos, auch deshalb, weil wir unsere Legenden, Erzählungen und Verklärungen – sofern es denn gut war – um einen Theaterabend weben. Castorf war ein solcher Mythos und wirkte mit an dessen Produktion. (Fürs Rationale ist dann die Ästhetik zuständig, könnte man etwas zuspitzen. Oder die Kunstkritik.)

Vergangene Zeiten: Es ändert dieser Rücktritt nichts daran, daß die Volksbühne von zwei Dilettanten wie Renner und Müller ruiniert wurde. Das bleibt irreparabel und deshalb fällt die Freude über Dercons Abgang verhalten aus. Der Wechsel hätte damals mit Castorf stattfinden müssen und nicht gegen ihn. Auch aus Respekt vor seiner künstlerischen Leistung war es verantwortungslos, diese Abwicklung klandestin, verstohlen, am Hintertisch auszuhandeln und vermutlich weil dem CDUler Renner die Volksbühne und deren Politik und Ästhetik nicht gefiel. So wurde ein anregendes, kluges, unbändiges Theater ohne Not und vor allem ohne Verstand dicht gemacht. Auf solche wie Renner bin ich immer noch wütend, und es ist mehr als ärgerlich, daß solche Leute für ein Desaster, das sie anrichten, nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Daß da einer wie Tim Renner mit dem Arsch an einem Bierabend einreißt, was viele unterschiedliche Menschen in 25 Jahren mit Kunst, Kraft, Ausdruck, Zorn und Witz aufgebaut haben. Was für eine elende Pfeife dieser Tim Renner doch ist!

Castorf selbst trifft und tangiert all dies vermutlich nur am Rande. Mit seiner übelgelaunten, muffeligen Art reist er als unbequemer Partisan bequem durch die Theaterrepublik, lacht und macht weiter. Aber wir Berliner stehen doof da und ohne die Volksbühne. Und man muß dazu sagen: Das Konzept von Renner ist leider aufgegangen. Das von Dercon nicht. Irgendwie ist das dann doch bedauerlich. Und zwar für die Volksbühne selbst. Für ihre Mitarbeiter, für all diese fleißigen Hände hinter den Kulissen, die fürs Theater brennen, die jeden Tag tun und machen. Ich weiß, wovon ich spreche, ich arbeitete selber einmal an einer der größten deutschen Sprechbühnen. Wenn auch nur als Bühnenaufbauer (kurz) und als Kartenabreißer (länger).

Die Volksbühne muß bleiben, Chris Dercon muß weg!

Wo aber Gefahr ist, so mutmaßte Hölderin in seiner Hymne „Patmos“, jenem Insel-Ort, auf dem Johannes seine Offenbarung schuf oder aber, je nach Lesart, die Apokalypse ans Licht des Tages brachte, wo also Gefahr ist, da wächst das Rettende auch. Nun gibt es bei change org eine Petition „Zukunft der Volksbühne neu verhandeln„. (Link klicken und unterschreiben!) Es werden zwar vermutlich alle Lieder schon gesungen sein. Aber wie es im Leben so ist: Versuch macht kluch.

Bei rbb-online heißt es:

„Begründet wird die neue Petition mit dem Programm, das der designierte Intendant Chris Dercon im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses vorgestellt hatte. Dabei sei deutlich geworden, dass der im Haushaltsplan 2016/17 definierte Auftrag, die Volksbühne als ein im Ensemble- und Repertoirebetrieb arbeitendes Theater beizubehalten, nicht erfüllt werden könne. Weder sei ein „eigenes Ensemble vorgesehen, noch ein Repertoirespielbetrieb“. Stattdessen werde mit „überproportional vielen Schließtagen gespielt“. Zudem werde mit den eingeladenen Künstlern ein Mehrfachangebot geschaffen, da das Programm über Festivals und andere Produktionshäuser wie etwa das Haus der Berliner Festspiele und das Hebbel am Ufer (HAU) im Ansatz bereits abgedeckt sei.
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Die Petition fordert Kultursenator Lederer auf, ein dauerhaftes Ensemble an der Volksbühne mit einem eigenen Repertoire zu ermöglichen. Dieser Auftrag sei auch vom Regierenden Bürgermeister Müller immer wieder unterstrichenen worden. Zudem solle die Diskussion um die Zukunft der Volksbühne unter Einbeziehung der Berliner Öffentlichkeit neu geführt werden. Damit solle der „Spielbetrieb an einer der wichtigsten Berliner Bühnen“ sichergestellt werden.“

Die Volksbühne wurde von Tim Renner, einem Musikmanager, der eher zufällig in das Amt des Kulturstaatssekretärs hineinrutschte, eiskalt abgewickelt. Die Volksbühne ist einer der wichtigsten und vielschichtigsten Orte Berlins, und ich wie auch viele andere möchten nicht, daß nun ein belgischer Investor diesen besonderen Raum übernimmt und das macht, was man genauso in Paris, London oder Tokio sehen kann. Zwar hat auch das sogananntes „Festivaltheater“ seine Berechtigung, aber nicht an einem so synchron, diachron und zugleich multipel-asymmetrisch gewachsenem Ort, den es seit 25 Jahren gibt. Bis solche seltsamen, wundersamen und phantastischen Gebilde heranwachsen, braucht es Zeit. In diesem Sinne ist die Volksbühne ein organisch gewachsener Körper, wie ein Baum, ein Korallenriff, eine Freundschaft. Mit einem Schlag wurden über zwei Jahrzehnte an Theatererfahrung liquidiert.

Ich habe persönlich nichts gegen Chris Dercon, viel schlimmer als Dercon und sein Konzept von Kunst, über das man debattieren kann, sind kalte Bürokraten wie Tim Renner (SPD). Einer wie Renner weiß genau, was er tut und er weiß auch, warum er es macht. Das ist in meinen Augen der eigentliche Skandal in dieser Sache.

Dennoch ist Chris Dercon nicht der richtige Mann für ein Theater wie die Volksbühne.

Also, auf, auf, Berliner, geht unterschreiben!

Laßt das Räuberrad stehen!

„Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, Tanztheater dieser Stadt.“
(Tocotronic, auf der LP: Digital ist besser, 1995)

Es ragt da, nicht prunkvoll, sondern eisenrostig und inzwischen irgendwie trotzig, wenn ich kämpferisch-böse die Rosa-Luxemburg-Straße zur Volksbühne hin entlang schreite. Das Gaunerzinkenzeichen muß bleiben, auch wenn sich Castorf aus Trotz und aus berechtigter Wut dagegen sträubt. Es muß bleiben, weil es ein Zeichen ist: Zeichen für eine verfehlte Kulturpolitik unter Müllers blassem Adlatus Tim Renner: Weißes Hemdchen ohne Schimmer. Inzwischen zu recht vom Hof gejagt. Bis heute ist vielen schleierhaft wie ein Kapellenmanager es in diese Position bringen konnte. Eine verantwortungslose Entscheidung von einem Bürgermeister, dem Kulturpolitik Nebensache ist. (Andererseits stimmt es schon: Nichts mehr sollte an diesen Mann erinnern. Aber der Gaunerzinken ist eben doch mehr als nur das blasse Hemd.)

Das Räuberrad bleibt, denn es ist ein ewiger Stachel im Fleische von Macron oder Decron oder wie immer der neue Mann heißen mag: Sinnbild der neoliberalen Kulturalisten, die sich mit dem Etikett links schmücken, weil es modisch ist, die Theater oder Kunst oder irgend etwas jenseits der Gattungsgrenzen machen, wie man es genauso in London oder in Brüssel erleben kann. Eine spezifisch in Berlin gewachsene Sache wurde mutwillig vernichtet. Ein Raum, den es nirgends anders geben kann, der mit den Jahren gewachsen ist. Eine besondere Situation. Man kann sagen: Aber das Volksbühnending ist doch Museum! Ja, das mag sein. Es ist Museum, ein Museum, das immer neue Ideen schöpft. Aber andererseits ist auch die übrige Kunst inzwischen Museum und genauso die zum Kultur-Marketing entgrenzte eines Dercons. (Und für die vermeintlich linken Politposen haben wir in Berlin eh andere Spielstätten.) Oder glaubt irgendwer an die subversiven Potentiale einer vermeintlichen Avantgarde? Kunst in Städten ist Standortfaktor. Weshalb wurde nicht das „Haus der Kulturen“ (also die Schwangere Auster, wie der Nichtberliner sagt) umgewidmet? Es taugt für Dercon, es liegt in Regierungsnähe.

Nein, nein, keine alten Debatten sollen neu entfacht werden. Das ist ganz sinnlos. Es ist vorbei. Was nun ist, das ist. Aber dieses Räuberrad wird auf Dauer daran erinnern, was an diesem Ort einmal Besonderes gewesen ist, und es wird sich einer wie Dercon das rostige Rad nicht als Markenzeichen aneignen können. Er weiß das, und er weiß auch, daß er sich damit lächerlich machen würde. Aber jedesmal wenn Dercon aus London oder aus Tokio anreist, um einmal kurz im Theater vorbeizusehen, wird er in seiner Limousine oder wie es unter den Kulturalisten neuerdings Mode ist, auf seinem Fahrrad an diesem Rad aus Rost vorbeimüssen.

Das Räuberrad ist ein Zeichen von Widerstand, ein böses Bild, das bleibt. Es erhält vor allem unsere Wut und sicherlich bei vielen auch ihre Trauer. Ein Erinnerungsmal daran, wie leichtfertig mit einem Theater der besonderen Art umgegangen wurde. Andererseits kann ich diese heterogene, wilde, dreiste Theatertruppe um Frank Castorf herum gut verstehen, daß sie „ihr“ Rad wiederhaben will. Ulrich Seidler schrieb in der „Berliner Zeitung“:

„Angemessen wäre es, für diese kulturpolitische Meisterleistung eine Statue des inzwischen abgewählten Kurzzeitkulturstaatssekretärs, der Castorfs Vertrag nicht verlängert hat, aufzustellen: Am besten in einer solarbetriebenen Winke-Winke-Version.

Ist es nicht verständlich, dass die verjagte Truppe ihr Zeichen mitnehmen möchte, wenn sie am 31. Juli ihre Höhle besenrein übergeben muss? Wer hätte das Recht, ihr das zu verwehren? Soll das Ding doch selbst entscheiden: Es hat ein Rad, es hat Beine, und es hat Wurzeln.“

Aber andererseits dieser Gedanke: Ist das laufende Räuberrad nicht längst schon in Volkseigentum übergegangen? Im Grunde ein letzter Rest DDR. Deren tatsächlich noch subversive Kultur, die die Theaterlandschaft Berlins bereicherte: Ob Einar Schleef, der große Geschichts- und Geschichtenerzähler Heiner Müller oder eben Frank Castorf.

„Auf Vernichtung läuft’s hinaus“ – Castorfs „Faust“-Inszenierung an der Volksbühne

Seinen Einstand an der Berliner Volksbühne gab Frank Castorf 1990 mit Schillers Räubern. Seine letzte Inszenierung dort ist der Faust. Ein wunderbares Abschiedsgeschenk, das Castorf uns auf die Bühne wuchtete. Sieben Stunden Höllenfeuer, ein Ideengewimmel, es wird uns heiß zumute. Vom Schillerschen Stürmer und Dränger des postdramatischen Theaters zum saturierten Klassiker gereift. Aber Castorf steht nicht statuarisch da; auch nicht, nachdem er zum Olymp emporschwebte, in Klassikerpose, sondern immer noch frech und wurstig, intellektuell spritzig gebärden sich seine Inszenierungen. Der Zuschauer tritt anders aus dem Theater hinaus als er herein kam, nicht gereinigt oder beruhigt, sondern verstört und angeheitert in einem. Bei aller Brutalität des Castorfschen Theaters sagten wir hinterher trotzdem: Aber irgendwie war es doch geil. Castorf ist nicht bloß postironisch.

Ob der Zuschauer am Ende erlöst ist, wie Heinrich Faust? Schwer zu sagen. Glücklich jedoch auf alle Fälle, einen so außergewöhnlichen Abend erlebt zu haben und zu nachtschlafender Stunde in Euphorie die Institution Volksbühne zu verlassen. Solcher Wahn ist für eine Inszenierung nicht selbstverständlich, und er überträgt sich auf den Zuschauer, wenn der nach einem wilden Theaterabend in die Nacht rauscht oder damals, in früheren Zeiten, als der Theatergänger wilder glühte, im Suff in der Theaterkantine parlierte. Nach den Castorf-Bildern auf der Bühne, so auch beim Faust, sieht die Welt nicht mehr bunt aus, sondern liegt zersprengt und in Teilen da. Faust-Fragmente, wie es der Geister-Chor rief, sind bei Castorf die Condition humaine und ebenso die Conditio seines Theaters:

Weh! weh!
Du hast sie zerstört
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
Wir tragen
Die Trümmern ins Nichts hinüber,
Und klagen
Über die verlorne Schöne.

Beim Faust lagern die Zitate fein eingeschliffen und gut abgehangen im kollektiven Nationalgedächtnis. Das bildungsbürgerliche Ohr lechzt, ob der Regisseur Castorf sie bringt. Und er bringt’s. Aber anders, als das im üblichen Faustkontext funktioniert und erwartet wird. Die interessante Frage, die sich also stellt, lautet vielmehr: Wie und in welcher Art wird Castorf es diesmal deichseln? In welcher Weise sind die Zitate angeordnet, die Szenen gesplittet und über den Abend verteilt? Um bei den Textsprüngen und dem Gestaltenwandel der Figuren den Überblick zu behalten, wer hier wer ist, scheint es gut, den Faust vorher noch einmal gelesen zu haben. Oder aber man läßt sich von vornherein treiben und setzte sich dem Irrsinn aus, um zu schauen, ob es gefällt und was vom Abend am Schluß hängenbleibt.

Daß Castorf den Theatertext dekontextualisiert und dann rekombiniert, dürfte zu erwarten gewesen sein und ist eine unspektakuläre Sache. In dieser Form kennen wir Castorfs Theater, und so mögen wir es, sofern wir Castorf-Fans sind. Verstreute Klassiker-Zitate also en masse im Faust. Bei der Spieldauer ist für solche Digression genug Platz vorhanden. Das junge Pärchen neben mir hat sich einen Weintrunk in eine Plastikflasche gefüllt. Ich hatte mir vorgenommen, ins Theater Leberwurststullen mitzubringen und zu verspeisen, auf Vorrat. Wie zu den Proben der olle Brecht im Berliner Ensemble.

Aber bei diesem Reigen an Assoziationen, bei den Szenen aus Castorf-Klamauk und Menschen-Drama kam keinen Moment Hunger oder Durst auf. Es zog die Drehbühne als eine Art Trutzburg in den Bann. Eine Mischung aus Pariser Straßenszenen, Feuertreppenstiegen wie im Film noir, Kinoplakate hängen an der Wand: „Tabu“, Josefine Baker“, eine Reklametafel für eine Kolonialschau, wie sie zur Jahrhundertwende üblich waren, um fremde Völker auszustellen, vielleicht ein wenig plakativ, aber doch paßt es. Groß prangt da oben am Gerüst in roten Leuchtbuchstaben „L’ENFER“ und wie zum Hohn flackern daneben in luftigen Höhen ein paar elektrische Kunst-Fackeln in Rotlicht, als Hölleneingang dient ein Monstermundes aus der Geisterbahnen.

Alles also nur Theater? Nein, beileibe nicht. Castorf baut kein Theater als Illusionsmaschine auf, auch in seiner Abschiedsinszenierung nicht. Politik schlägt in der bekannten Castorfschen Art ins Stück ein, wie ein Meteorit und zertrümmert den Text in Splitter. „Faust nach Goethe“, so wird das Stück angekündigt. Die Präposition „nach“ ist einerseits zwar personal zu verstehen, andererseits aber zeitlich zu lesen. Ein Faust nach der Goethischen Vormoderne. Und wie zum Hohn thront über der Hölle teutonisch eine mittelalterliche Burg. Ein Nebeneingang zur Hölle ist die Metrostation mit dem Namen Stalingrad. Abdoul Kader Traoré spricht dort auf französisch Celan Todesfuge, an anderer Stelle spielt er einen schwarzen Rapper, einen jener schwarzen Bewohner von Paris, die Zigaretten oder allesmögliche vertickern. Migrantenschicksale. Wir sehen ein Paris, wie wir es aus den düsteren Krimis kennen. Wir werden versetzt ins Paris des Algerienkriegs. Reisen ins Paris aus den Zeiten von Gounods Faust und Zolas Nana. Castorf mischt Zeit und Raum, wie üblich, eine vielfältige Kombination von Elementen und Ebenen, allein für das Absuchen der Bühne bedarf es einiges an Zeit und Aufmerksamkeit. Plötzlich entdeckt man da Knochen und Schädel wie vom Voodoo-Priester drapiert. Und tragen nicht auch Faust und Mephisto in einigen Szenen genau solche Zylinder? Was war das noch mit Haiti und Frankreich? Und Hegel, der sehr genau die Sklavenaufstände dort verfolgte? Weltgeist hoch zu Roß. All diese Assoziationen und Ketten, die sich an den Faust-Stoff binden, bekommt kein Geist sinnlich je gefaßt.

Lauter Zeichen, lauter Anspielungen. Auch Theaterinternes bietet Castorf auf, manchmal im üblichen Castorf-Klamauk, der doch nie bloß Klamotte um seiner selbst willen ist, knappe Verweise auf alte Inszenierungen: Ein Eimer, der an Kartoffelsalatorgien denken läßt, kleines Zitat aus „Des Teufels General“: „Immer schneller, der Propeller“, auch für den Faust gilt die Logik der Akzeleration. Wie ein Spott aufs Regietheater und gleichzeitig wie die Kritik an der Kritik daran höhnt es, wenn immer wieder und von allen Protagonisten im Durcheinander „Scheiße, Scheiße!“ gerufen wird. „Also, jetzt muß ich doch nochmal Scheiße sagen.“ Bekloppte Dernièren-Späße, an denen jedoch die Theaterenthusiasten ihren Spaß haben. Eine Rede des Faustschen Theaterdirektors. Erkennbar in neoliberalem Akzent, nein, mit belgischer Intonatation vorgetragen.

Deuten lassen sich all diese theatralischen Zeichen, die Requisiten, die aus dem Zusammenhang gerissenen Textpassagen in jede oder in keine Richtung. Aber man kommt bei Castorf nicht gut weiter, wenn man auf Hermeneutik und Sinnkohärenz erpicht ist. Andererseits gehen solche Reigen an Verweisen schnell auf die Nerven, wenn sie nicht zugleich durch einen anderen Aspekt von Geschichte sabotiert oder mit Witz gebrochen werden. Der einem jedoch angesichts von Mord und Folter zugleich im Halse steckenbleibt. Denn als Themen dieses Fausts schwingen die Kolonialpolitik der Franzosen in Algerien mit, wie auch eine quasi- matriarchale Ebene, denn es geht immerhin bei Faust II hinab zu den Müttern, wenn das Bild, der Schatten Helenas aus der Unterwelt befreit wird und jene Schönste reale Gestalt annimmt.

In Castorfs Inszenierung sind es die Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden und auf die nächste Prügel warten, Weiber, die für ihren Luden anschaffen gehen, Frauen, die ans Rampen-Licht wollen. Ebenso aber – Achtung, theaterinterner Witz – der Umgang des Regisseurs mit Frauen. Castorfs Manie dürfte bekannt sein. Sexy, sinnlich und ganz in ihrer Rolle als Gretchen/Helena aufgehend, stolziert Valery Tscheplanowa über die Bühne – trotz Kreuzbandriß spielte sie die Vorstellung, wenn auch an Krücken, was dem Ambiente einen zusätzlichen Reiz verlieh. Wir sehen in dieser Meta-Szene sogar ein kleines Theaterspiel im Spiel. So jongliert Castorf mit einer Vielzahl an Bezügen.

Das Faust-Theater beginnt auf dem Bildschirm, die Geschichte muß ja an irgend einer Stelle anfangen, jedoch keinesfalls in der Himmelssphäre, wo die Sonne nach alter Weise tönt, sondern in einer versifften Kolonial-Bar mit französischem Ambiente. Dort hocken verluderte, verschwitzte Gestalten am Tresen. Ein Famulus Wagner beschwört jenen Homunculus, ein Puppengeschöpf in einem Präparateglas, Gretchen leckt an dessen Stirn: „Hier wird ein Mensch gemacht!“ krächzt es aus des Famulus Mund. Auch so einer dieser zentralen Sätze. Ein lässiger Mephisto hängt am Tresen ab. Am Hut jedoch trägt er keine Hahnenfeder mehr, sondern eine Feder vom Pfau: Marc Hosemann gibt einen dandyesken Mephisto, einen Narziß. Martin Wuttke zeigt einen abgehalfterten Faust, teils greisenhaft verstört, intonierend wie Minetti, der Bernhard-Texte spricht. In seiner grotesken Zerrung erinnert diese Figur ebenso an Alexander Sokurows Faust, die im Film durch spezielle Objektive vor der Kamera gedehnt und verzerrt präsentiert wird. Mephisto agiert an den Stellen abgeklärt und mit dem Schuß Coolness, wo es nötig ist, denn zu oft ist diese Geschichte schon als Bildungsgut abgespielt, und er wirkt in den Szenen dramatisch, wo erforderlich, denn es ist diese alte Geschichte doch immer wieder neu und in verschiedenen Varianten zusammengesetzt. Castorf pointiert das Stück auf einige Stichworte hin.

Für die Castorf-klassischen Video-Einspielungen gab es eine hochthronende Video-Wand, auf der die Theaterszenen liefen, die nicht direkt sichtbar auf der Bühne spielten. Eine Metrofahrt von Stalingrad, über die Seine, im Waggon sitzen Franzosen, Schwarze, Fremde, Weiße. Dieses Szenario war im Parkettgang aufgebaut.

„Was willst du dich denn hier genieren?// Mußt du nicht längst kolonisieren?“

Diese Frage Mephistos an Faust gibt den Grundbaß des Stückes. Jener drastische Satz Faustens nach der Landnahme, daß es auf Vernichtung hinauslaufe, dieser Erkenntnisblitz, nachdem man Philemon und Baucis in ihrer Hütte bei lebendigem Leibe verbrannte, um ihnen ihren kargen Besitz zu nehmen, fällt interessanterweise in diesem Stück nicht. Castorf hat ihn ausgespart. Aus guten Grunde. Denn die Bilder dieser Inszenierung, die Assoziationen und Verbindungen, die Castorf anfährt, sprechen für sich.

Am Ende läuft es auf die Gewaltfrage hinaus, die sich für die Unterdrückten stellt. Ein blutiger Krieg zwischen kolonisierten Algeriern und Franzosen. Auf einer der Theaterleinwände sehen wir eine Spielfilmszene wie eine junge (unverschleierte, moderne) Algerierin in einem von Franzosen besuchten Café eine Bombe deponiert. Zwischen den Faust-Dialog, wo es zu dem Kampf der Kranichen gegen die Pygmäen kommt, finden wir als Texte eingestreut die Plädoyers von Sartre und Frantz Fanon für den gewalttätigen Kampf der Unterdrückten – stammen sie noch aus dieser oder bereits aus einer ganz anderen Zeit, als es noch die ideologischen Blöcke noch gab? Sozialismus oder Barbarei? Goethes Faust stellt implizit auch die Gewaltfrage. Castorf exponiert sie, hält sie offen. Castorfs Theater ist keine moralische Lehranstalt und kein Ergebnistheater.

Kolonisierung von Land, Kolonisation fremder Räume, Kolonisierung des Frauenkörpers. Der Homunculus, der neue, der kommende Mensch, der gemachte Mensch nach den Regeln aus dem Menschenpark ist am Ende eine zum Leben erweckte Puppe, die von Faust und Mephisto durch die Pariser Metro geschleppt wird. In Plastikfolie geschnürt wie die Leiche bei „Twin Peaks“, unter der Folie erstickt die Frau, schnappt nach Luft, kämpft sich dann frei. Für mich eine der stärksten und eindringlichsten Szenen dieser Inszenierung. Dieser Körper in Plastikfolie. Erschreckend und schön. Dieses Erwachen der Frau zieht sich durch Castorfs gesamte Inszenierung. Am Ende bohrt Gretchen-Helena den beiden erschöpft am Boden liegenden Protagonisten je eine Algerienfahne in den Schädel.

Was für ein Abend! Eigentlich müßte ich nur über diese sieben Stunden schreiben: Wie es sich anfühlt, unbeweglich und doch gebannt auf einem schwarzen Plastikstuhl zu harren. Nach links, nach rechts zu rutschen. Ein eigentlich unmöglicher Theaterabend. Manchmal mit Längen, aber nicht eine Sekunde langweilig.

Wenn dann relativ zum Ende hin, man hat nur noch eine halbe Stunde vor sich, solche Sätze fallen, daß es vorbei sei, kann man sicher sein, daß Castorf die Lacher auf seiner Seite hat. (Erstaunlich wenige übrigens verließen die Inszenierung.):

Mephistopheles: Er fällt, es ist vollbracht.

Chor: Es ist vorbei. –

Mephistopheles: Vorbei! ein dummes Wort.
Warum vorbei?
(…)
‚Da ist’s vorbei!‘ Was ist daran zu lesen?
Es ist so gut, als wär‘ es nicht gewesen,
Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre.
Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.

Vorbei also ist eine Ära. Mutwillig von einem Schnösel in weißem Hemd und Jeans preisgegeben. Für das Theater in Berlin ist es ein entsetzlicher Verlust, daß Castorf gefeuert wurde. Er hätte noch weitere 25 mal 25 Jahre machen müssen. In Faustischem Alter mit mephistophelischer Weisheit. Danke Frank Castorf für dieses Theater und für diesen großen Faust-Abend! Besseres kann und wird es an diesem Ort nicht mehr geben.

Photographien: Bersarin. Die Bilder aus dem Stück sind im Foyer der Volksbühne aufgenommen, es handelt sich um Ausstellungs-Photographien von Just Loomis, einen Photographen aus Los Angeles. Die Photos von der Metro-Bühneninstallation wurden von mir  im Parkettgang geschossen.

Oculi mei semper ad Dominum – das Besinnungsbild zum 3. Fastensonntag

Noch ganz benommen und begeistert, ganz aufgesteigert und geläutert, gestimmt und der Welt wohlgesonnen, wird nun das Tageswerk begonnen. Hingerissen von Castorfs Faust-Inszenierung mit knapp sieben Stunden Spieldauer, was naturgemäß wenig Schlaf bedeutet, da ich grundsätzlich gegen sieben Uhr erwache, lasse ich diese Inszenierung einwirken, setze mich morgens an den Schreibtisch, skizziere die ersten Entwürfe für eine Kritik, trainiere später dann für den Osterspaziergang im trüben Berlin. Überlege schon einmal, welcher Wein gut zum Abendessen passen könnte. Ich finde, man sollte zum Lammcurry Rotwein reichen. Goethes Farbenlehre. [Wer heute Nacht Zeit hat, sollte ab 23 Uhr in der Volksbühne  auftauchen. Es wird gespielt, nachdem die wunderbare Valery Tscheplanowa – sie gibt das Gretchen und die Helena – den Kunstpreis der Akademie erhalten hat. Tscheplanowa trat gestern trotz eines Kreuzbandrisses auf, was also das Rennen, Retten, Flüchten schwieriger machte und für ein wenig weniger Akzeleration sorgte. Gelungen aber war das Gaukelspiel Theater in  Castorfs Manier allemal. Ein Hoch schon mal auf den Meister und auf einen gelungen Abend im Theater.]

[Nachtrag: Jenes Goethezitat vom Golde aus dem „Faust“ habe ich nicht mit Photoshop da ins Holz geschrieben. Es stand dies so, wie ich es photographierte. Photographien werden von mir grundsätzlich nicht neu montiert. Sie sind Dokumente. Kein So-ist-es. Vielmehr ein So im Moment als er von mir beim Vorbeispazieren festgehalten wurde.]

Wut, Gewalt, Gedanke – Theorie und Praxis

Der Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin wird, sobald Chris Dercon an der Berliner Volksbühne die Intendanz übernimmt, auf Anregung des Kulturbeauftragten Tim Renner und in Abstimmung mit dem Berliner Senat in „Friedrich-August-von-Hayek-Platz“ umbenannt. Sind Sie jetzt wütend? Das ist gut. Denn Wut kann manchmal eine Energie sein. Aber eben nicht immer. Da liegt die Tücke. Emotionen sind leicht in eine falsche Richtung zu kanalisieren. Und Praxis macht sich manchmal blind. „Aber der praktische Zweck, der die Befreiung von allem Bornierten einschließt, ist gegen die Mittel, die ihn erreichen wollen, nicht gleichgültig; …“ (Th. W. Adorno)

kra_portHeute abend gibt es an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ein „Projekt über Adorno und Krahl“ mit dem Titel „Wut und Gedanke“ (von Christian Franke und Vincent Glander). Zu Hans-Jürgen Krahl muß man wissen: Er war einer der begabten Adorno-Schüler. Er promovierte bei Adorno mit einer Arbeit über „Naturgesetze der kapitalistischen Entwicklung bei Marx“. Vor allem aber war Krahl einer der Unbändigen, der das, was er lernte, praktisch werden lassen wollte. Anders als das reine Denken, das im Denken als Theorie verbleibt. Krahl war aktiv im Frankfurter SDS, er beteiligte sich an der Besetzung des Instituts für Sozialforschung, das dann von der Polizei geräumt wurde. Als einer der wenigen wurde er dafür vor ein Gericht gestellt und verurteilt. Die Details zu diesen wilden Jahren linker Theorie und Praxis lassen sich gut in der Adorno-Biographie von Stefan Müller-Doohm nachlesen.

Die Fragen nach dem Praktischwerden von Theorie und damit unfreiwillig auch die nach dem Aktionismus der „Kollektivbewegungen“, trieb Adorno um, nachdem der Traum vom proletarischen Kollektivsubjekt angesichts des Integrationskittes, den die verwaltete Gesellschaft produzierte, ausgeträumt war und das postbürgerliche, postproletarische Individuum so hilflos als wie zuvor dastand – auch dank des Integrationskitts von Kulturindustrie und einem Phänomen namens Pop. Bereits in der 1966 erschienenen „Negativen Dialektik“ schrieb Adorno in der Einleitung:

„Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang. Sie gewährt keinen Ort, von dem aus Theorie als solche des Anachronistischen, dessen sie nach wie vor verdächtig ist, konkret zu überführen wäre. Vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Übergang verhieß. Der Augenblick, an dem die Kritik der Theorie hing, läßt nicht theoretisch sich prolongieren. Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt, ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation, sondern meist der Vorwand, unter dem Exekutiven den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte.“

adornokrahlSätze, über die auch heute noch Worte zu verlieren sind angesichts einer (weitgehend) hoffnungslosen politischen Linken, die sich entweder in absurden Critical Whiteness-Debatten bzw. Genderdada aus dem Reich der Encounter-Theorie verliert, oder aber einer Linken, die blindem Aktionismus folgt – man denke an Occupy oder Attac, die, so schnell sie kamen, ebenso flink wieder in der praktischen Bedeutungslosigkeit verschwanden. Doch trotz aller Kritik an Praxis, bleibt jener Satz von Marx aus der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ zu bedenken: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“ Letzteres ging daneben. Trotz proletarischer Revolution 1917/18, trotz sozialdemokratischer Volksbildung der späten 60er und der 70er Jahre – sowohl in der BRD als auch in der DDR.

Theorie und Praxis der Kritischen Theorie – es lassen sich diese beiden Begriffe, die aufeinander verwiesen sind und doch einen Gegensatz bilden, nicht schöner als an den Namen Adorno und Krahl verhandeln. Insofern bin ich auf dieses Theaterprojekt gespannt. Rest-Karten kaufen kann man noch an der Abendkasse der Volksbühne. Für die Spätveranstaltung um 22 Uhr gibt es noch Karten.

Zu diesem Verhältnis fällt mir der unbedingt lesenswerte Aufsatz von Adorno aus den „Stichworten“ ein: „Marginalien zu Theorie und Praxis“. Es ist einer der späten Texte Adornos, und er wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht. Der Band „Stichworte“ erschien 1969. Der Essay läßt sich als Paralipomenon zur „Negativen Dialektik“ lesen, insbesondere zu jener Einleitung. Voraussetzunglose und blinde Praxis als Aktionismus läuft ins Leere und verfällt am Ende dem Prinzip, das sie zu bekämpfen vorgibt. Die Spaltung von Subjekt und Objekt, von Theorie und Praxis ist nicht durch den großen Sprung aufzuheben oder durch die direkte Aktion. Allerdings sind die Aporien ebensowenig Ausrede fürs Nichtstun oder die Weltflucht. Ob der Volksbühnenabend mit Theatertext diese Fragen dialektisch verschlungen löst oder in den üblichen einseitigen Bildern verharrt, ohne die nötigen Kippfiguren, bleibt abzuwarten. Das Primat der Praxis kann zumindest keinen Selbstzweck bilden.

„Die Scheu von Marx vor theoretischen Rezepten für Praxis war kaum geringer als die, eine klassenlose Gesellschaft positiv zu beschreiben. Das ‚Kapital‘ enthält zahllose Invektiven, meist übrigens gegen Nationalökonomen und Philosophen, aber kein Aktionsprogramm; jeder Sprecher der ApO, der sein Vokabular gelernt hat, müßte das Buch abstrakt schelten.“ (Th. W. Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis)

Es bleibt schwierig. Denken ist insofern eine Praxis, als es auf einen Gegenstand zielt. Dies wußte bereits Aristoteles. Wer über Freiheit und Gerechtigkeit nachdenkt, will nicht im bloßen Raum des Denkens bleiben. „Das Ziel richtiger Praxis wäre ihre eigene Abschaffung.“ (Adorno) Daß eben nicht mehr gefragt und agiert würde in diesen Dualismen und in den Oppositionen. Die zudem daraufhin befragt werden müßten, auf welchem Grunde sie beruhen.

Die erste Photographie ist der Homepage https://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/20Jh/Krahl/kra_intr.html entnommen. Die zweite der Seite https://viewpointmag.com/2014/09/29/hans-jurgen-krahl-from-critical-to-revolutionary-theory/