Clemens Meyer zum 40. Geburtstag

Ein Alter, das nicht Fisch und nicht Fleisch ist. Man steht als Mensch mitten im Leben, in Saft und Kraft, nichts Besonderes, keine Wendemarke wie die 50, zu Gebrechen und Alter hin sich neigend, oder ein Abschied vom süßen Vogel Jugend, wie die 30. Als Schriftsteller ist man mit 40 Jahren mitten in der Produktion. Zeit der Reife. Das beweisen Clemens Meyers Bücher. Von seinem ersten Roman, über die Poetik-Vorlesung „Der Untergang der Äkschn GmbH“ in Frankfurt oder dieses Jahr der Erzählungsband mit dem wunderbaren Titel „Die stillen Trabanten“.

Alles Gute, nachträglich, für einen außerordentlichen Schriftsteller, dessen Schreiben ich schätze. Clemens Meyer wurde am 20. August 40 Jahre. Obwohl mich das Milieu und die Szenerien, von dem er berichtet, von meinen ästhetizistischen Intentionen her nur am Rande interessieren – oder vielleicht gerade deshalb? Beruht darauf die Faszination? Die Unterschichten, das Lumpenproletariat, die derben Gesellen, die Gescheiterten, an Flaschen Goldkorne. Jene, die man kleine Leute nennt und die es doch nicht sind. Und so wunderte es mich, daß ich 2006 sofort auf Clemens Meyers Debütroman „Als wir träumten“ ansprang und das Buch ganz atemlos las. Was für Niederungen. Nein, es ist nicht die Verklärung des Prolls, den Intellektuelle in ihrer warmen Stube und vom heilen Herd aus gerne betrachten, um sich am Ende wohlig zu schaudern, sondern ein ganz anderes Moment reizt an dieser Prosa: Was für Geschichten und wie grandios erzählt und gesponnen. Das war es, was mich an dieser Prosa faszinierte. Mit Verve und Funkenflug erzählt. Es war nicht der Reiz des Fremden und der Hauch des Exotischen, wie wir es heute so gerne von einer Flüchtingsliteratur oder den Stimmen des Migrantischen erwarten, besonders bei der kulturalistischen Linken, die gerne fühlig die Aura des Anderen sich aneignen, meist seicht in der Botschaft. Fremde Welten sind fremde Welten. Wenn darin die Härte nicht mitgesungen wird, dann bleibt es Kitsch. Shumona Sinha erschreibt diesen Wahn in „Erschlagt die Armen“. Dieser Roman zeigt, daß es gelingen kann, fürs Absurde wie für die Härte eine Form zu bereiten.

Bei Clemens Meyer ist diese Fremde unsere eigene Fremde, inneres Afrika, die Fremde unserer eigenen Gesellschaft – unter der genauso die, die auf der Flucht sind und hier in Deutschland strandeten, leiden. Aber Meyer macht keine simple Sozialkritik, er führt seine Protagonisten nicht für irgendwas vor und benutzt sie, sondern er erzählt eine Geschichte. Bei Clemens Meyer finde ich ein Erzählen, das nicht um die ewige Achse Mittelschicht kreist, im „Sommerhaus-später“-Rhabarber sich suhlt oder Zangesche Realitätsgewitter, die pubertastisch sounden oder Otis-Berlinerische Künstlerexistenz als Odyssee, wie dies Distelmeyer vorführt – stellenweise zwar klug und groß, an vielen Stellen aber auch erwartbar. Noch weniger finden wir bei Meyer jene  Knausgardsches oder Mellesches Selbstbespiegeln bis in die tiefen Gründe der Langeweile, sondern bei aller Roheit des Sujets doch ein feines und filigranes Erzählen. Meyer begibt sich in klarer Sprache in die Niederungen. Egal ob das auf die Pferderennbahn Scheibenholz ist (Die Stadt, die Lichter, Kritik hier auf AISTHESIS), mit „Im Stein“ ins Rotlichtmilieu – von der Form her und im Verhältnis zu Meyers übrigen Texten wohl seine avancierteste und technisch durchdachteste Prosa, teils klar aus der weiblichen Perspektive geschildert – oder in Meyers genialem Auftakt „Als wir träumten“ (2006) nach Leipzig zur Zeit der Wende.

Einer der gelungenen Roman dieser Zeit, das gab es in dieser Form und Weise so nicht – insofern trifft es in diesem speziellen Falle jugendlichen Aufbruchs und Anarchie (im Sinne des Wortes) das eigentlich unsinnige Etikett „Wenderroman“ gut. Es wird eine Phase des Umbruchs beschrieben, in der alles möglich war, als die alten Strukturen wegbrachen und die Autoritäten sich der Lächerlichkeit überantworteten. Selbst die eigenen Eltern, die in diesem DDR-System irgendwie mitgemacht hatten: sie wirkten fern, fremd und vor allem hatten sie nichts mehr zu sagen.

Es war der „Tanz auf den Trümmern“, wie Meyer in einem Interview sagt. Alles war möglich, alles war offen, so dachten diese Jungs und niemand wußte am Anfang dieses Falls der DDR auf welcher Seite er am Ende stehen würde oder ob er da heil herauskäme. Leipzig Anger-Crottendorf. Und in dieser Weise erzählt Meyer, poetisch einerseits, im Ton sogar melancholisch und doch in harten Bildern, diese Zeit des Umbruchs. Wie Jugendliche stehlen, lieben, einander stechen und schlagen. Wie sie Autos knacken, über den Zaun der Brauerei die Bierkästen klauen, sich mit den Nazis anlegen. Das ist nicht nur lustig und für den lesenden Mittelschichtler irgendwie ein Szene-Gag, um die Abwechslung in der Leselust zu generieren, sondern immer hart an der Grenze.

Jenen in der Literatur immer wieder vermißten Realismus – wir finden ihn bei Meyer. Und zwar in einem gelungenen Sinne. Welten voll Härte und doch glimmt in der Liebesgeschichte dieses Romans etwas auf. Von dem wir wissen, daß es am Ende nicht halten wird. Insofern ist Meyers Literatur auch eine Form von Desillusionierung. Ohne freilich dabei seinen Gegenstand je zu denunzieren. Dani, Rico, Marc und die andern – Roman einer Jugend, Coming of age in Ost.

Meyers Romane, seine Erzählungen sind nicht metaphysisch in dem Sinne, daß sie unter der menschlichen Tragik nochmal einen zweiten Boden ausmachen oder Tricks, Drehs und Windungen hineinschrauben, etwas im Fragemodus suchen, was nicht da ist, um die Geschichte zum Menschheitsdrama im Ganzen umwenden. Sondern sie sagen, wie es ist und vor allem, sie zeigen anschaulich, was ist: Der Dreck einer Wohnung, das heruntergekommene Wohnvierte, der Alkohol und das letzte verzockte Geld, eine Liebe, die niemals gelingen kann, die Flucht vor einer drohenden Prügelei: einer gegen sechs. Kein fröhlicher, sondern  ein trauriger Positivismus. Es ist, wie es ist. Die Tragik ist genau das, was sie scheint. Meyer findet dafür und speziell für solche Szenen seine ihm eigene, oft karge Sprache. Vermittels dieses Ausdrucks entsteht eine ganz eigene Atmosphäre: Man meint plötzlich sich an jene Orte versetzt, von denen er berichtet, sieht plastisch die Figuren vor sich. Eine Tankstelle im Abendlicht, die Kneipe im Leipziger Hauptbahnhof.

„Für mich ist Leipzig ein Ort, an dem ich die Welt erzählen kann.“ So Meyer. Es ist verständlich, Leipzig zu lieben, ja dieser Satz gilt eigentlich immer für die eigene Heimat und Herkunft: das eigene als Ausgang fürs Andere, fürs Fremde. Mit Mainz allerdings hatte Meyer als Stadtschreiber ein wenig, nun ja, gefremdelt. Einleuchtend auch, als er vor vier Jahren in einem Interview bei der Leipziger Buchmesse auf die Frage, weshalb er nicht in Berlin lebe, wo es so viel zu entdecken gäbe, antwortete: Dort wohnten doch alle Schriftsteller und das sei langweilig. Eine verständliche Reaktion, zumal wenn ich mir das Aufgeblasene mancher Autoren und Autorinnen hier in dieser Stadt ansehe. Nur weil eine Geschichte in Berlin spielt, mit angeblich irrem Lokalkolorit und dem Charme des Rauhen, ist sie deshalb noch nicht gelungen.

Clemens Meyer erschrieb sich diese Welt von Leipzig aus. Und dennoch ist es so, daß diese Geschichten nur dort, einzig in Leipzig spielen können. Das mag an dieser Stadt liegen, ich denke etwa an Jana Schulz‘ Video „Die blaue Perle“, das unter anderem bei der f/stop-Leipzig 2014 zu sehen war. Es zeigt eine dieser Eckkneipen, in Leipzig-Lindenau, wie man sie immer seltener findet, sowie die Menschen darin mit ihren Blicken, ihren Wünschen und wie sie sich ablenken, selbstvergessen tanzen zur Musik, einander umarmen oder an der Theke hocken. Ein Stück Film in Literatur, eine Literatur als Film. In dieser bildlichen Weise sind auch Clemens Meyer großartige Geschichten gewebt.

Am 20. August wurde Clemens Meyer 40 Jahre.

 

Nachblick Buchmesse sowie ein Vorblick auf Clemens Meyer

Was bleibt? Wie immer viele Manga-Mädchen, Manga-Boys, Fleisch, Haut, Lektüren, ein Freiabo von der Jungen Welt, was mir ein mißbilligendes Kopfschütteln sowie die Ausschimpfe der Frau an meiner Seite eintrug. Jugendliche, die in Scharen sich durch die Hallen schieben. Vermüffelte Luft. Auch Geschäftsmäßiges. Viel Volk und Business treibt in den Hallen und Gängen um. Der Preis der Leipziger Buchmesse, Kategorie Sachbuch, geht an die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine interessante Wahl, wie ich finde. Einige Wochen vor der Nominierung von Stollberg-Rilinger habe ich mich mit jener einen Frau über Maria Theresia unterhalten. Wir sprachen über das weibliche Prinzip im allgemeinen – rede mit Frauen nie übers Weib oder nimm dazu die Peitsche mit, rate ich Dir als mittelalter Mann. Wir debattierten über das Weibliche in der Politik sowie über die Vorzüge dieser weiblichen Regentin gegenüber Friedrich II. Selten, daß wir in der Sache Maria so einhellig und traut beide einer Meinung waren. Haus Habsburg also. Es wird Zeit, daß man dieser Kaiserin und überhaupt Österreich und den Habsburgern einen Blick zuwendet. Dieses Reich vermochte es nämlich über die Jahrhunderte, einen Vielvölkerstaat zu regieren. Mein Favorit: Wien und nicht Berlin!

Der Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung geht an Mathias Enard. Ich habe sein Buch „Der Kompass“ noch nicht gelesen. Wobei mich, nach den Kritiken, dieses Buch nur mäßig interessiert. Sehnsüchtige Blicke wirft der Autor in die Vergangenheit. Das ist romantisch und sicherlich redlich gemeint, literarisch womöglich auch gut gemacht. Aber sind die verklärten orientalischen Nächte und der produktive Einfluß des Orients auf den Okzident im Augenblick tatsächlich das Thema, oder nicht vielmehr die schrecklichen Umbrüche und das Unheil, das im Namen der Religion dräut? Andererseits sollte Literatur im speziellen – zumindest als eines ihrer Momente – das verbindende wie auch trennende Moment herausstellen. Keiner registrierte dieses Verbindende in der Differenz besser als Goethe mit seinem West-östlichen Divan – Literatur als Weltliteratur. Nicht nur auf das Glück im stillen Winkel beschränkt. Das Sinnen des Dichters schweift in andere Welten. Aufgabe der Literatur ist es, diese Streifzüge in eine Geschichte oder eine Stimmung zu bringen, wofür sich hervorragend die lyrische Dichtung eignet. Hegel wußte das Divan-Werk in den höchsten Tönen zu loben:

„Dagegen ist es Goethe selber in einem weit tieferen Geiste gelungen, durch seinen West-östlichen Divan noch in den späteren Jahren seines freien Innern den Orient in unsere heutige Poesie hineinzuziehen und ihn der heutigen Anschauung anzueignen. Bei dieser Aneignung hat er sehr wohl gewußt, daß er ein westlicher Mensch und ein Deutscher sei, und so hat er wohl den morgenländischen Grundton in Rücksicht auf den östlichen Charakter der Situationen und Verhältnisse durchweg angeschlagen, ebensosehr aber unserem heutigen Bewußtsein und seiner eigenen Individualität das vollständigste Recht widerfahren lassen.“

Aber Hegel treibt den Gedanken in seinen Vorlesungen über Geschichte weiter, von der Literatur ins Politische hinein:

„Im Kampfe mit den Sarazenen hatte sich die europäische Tapferkeit zum schönen, edlen Rittertum idealisiert; Wissenschaft und Kenntnisse, insbesondere der Philosophie, sind von den Arabern ins Abendland gekommen; eine edle Poesie und freie Phantasie ist bei den Germanen im Orient angezündet worden, und so hat sich auch Goethe an das Morgenland gewandt und in seinem Divan eine Perlenschnur geliefert, die an Innigkeit und Glückseligkeit der Phantasie alles übertrifft. – Der Orient selbst aber ist, nachdem die Begeisterung allmählich geschwunden war, in die größte Lasterhaftigkeit versunken, die häßlichsten Leidenschaften wurden herrschend, und da der sinnliche Genuß schon in der ersten Gestaltung der mohammedanischen Lehre selbst liegt und als Belohnung im Paradiese aufgestellt wird, so trat nun derselbe an die Stelle des Fanatismus. Gegenwärtig nach Asien und Afrika zurückgedrängt und nur in einem Winkel Europas durch die Eifersucht der christlichen Mächte geduldet, ist der Islam schon längst von dem Boden der Weltgeschichte verschwunden und in orientalische Gemächlichkeit und Ruhe zurückgetreten.“

Einerseits kaum glaublich, daß diese Passage 180 Jahre alt ist. Andererseits bleibt festzuhalten, wie sehr die Lage sich wandelte. Mit der Ruhe ist es nicht so weit her. Vielleicht lese ich Enards Kompass und kontrastiere ihn mit Houellebecqs Unterwerfung. Ich suche nach zwei Perspektiven, sie treten im Verhältnis Schuß/Gegenschuß in Konfrontation, mit Glück durchdringen sie sich und schaffen einen neuen Blick. Andererseits interessiert mich Mathias Énards Der Alkohol und die Wehmut sehr viel mehr. Die Weite Rußlands und eine Reminiszenz an Tschechows Tristesse. Dieser kurze Prosatext handelt von einer Zugfahrt durch Rußland, von Moskau nach Novosibirsk, 3000 Kilometer rollt der Zug übers russische Gleis. Viel Melancholie und Drogen.

Wir begeben uns am Donnerstag auf die Messe, frühstücken vorher in der billigsten und ungemütlichsten Backstube von Lindenau. „Geben Sie Luxus, auf das notwendigste kann ich verzichten!“, so ähnlich scherzte Oskar Wilde, und gut denkt es sich an diesen Satz für die billigen Lage, wo wir Brötchen und Kaffee vertilgen. Das Steigenberger Hotel kostete zur Buchmesse rund 600 Euro pro Tag fürs Doppelzimmer. Immerhin etwas. Wir haben es deshalb nicht gebucht.

Zum Messe-Einlaß werden in einer Art Schleuse rechts und links des Bassins Taschenkontrollen gemacht, noch bevor wir die Halle betreten. Das gab es so bisher nicht. Wildes Treiben dann in den Gängen, aber wie uns scheint, deutlich leerer als die vorherigen Jahre. Am schönsten ist es – wie immer auf der Leipziger Messer – an den Ständen der Kunsthochschulen. Feines gibt es am Stand der Halleschen Burg Giebichenstein zu bestaunen, ebenso bei der HGB Leipzig und frech bis witzig Gezeichnetes und Unkonventionelles an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Ich wußte nicht, daß Braunschweig eine Hochschule für Künste hat. Gerne hätte ich etwas gekauft. Aber kostbare Drucke oder Zeichnungen in einer Tasche aus weichem Material zu transportieren, schien mir nicht ratsam.

Netterweise treffe ich durch Zufall Jochen Kienbaum von Lust auf Lesen. Passend und nicht anders zu erwarten am Stand der Arno-Schmidt-Stiftung. Auch schlendern wir zur Buchbloggerlauch. Sie liegt ein wenig abseits und im Verborgenen. Sozusagen ein Ruhebereich. Einlaß bekomme ich nicht, da ich bei der Messe nicht als Blogger akkreditiert bin, sondern wir mit Freikarten das Areal betreten. Da wir jedoch nur einen Tag die Messe besuchen, bleibt nicht viel Zeit. Weder für Literatur, noch für die Politik oder die Kunst. Die wesentlichen Ereignisse verpassen wir, weshalb diese Nachlese keine echte Nachlese ist, sondern ein Fake-News-Nachblick. Aber im Titel klingt „Nachblick“ schwungvoller als ein Bekenntnis zur nachlässigen Recherche: Wir waren niemals richtig da. Ronja Rönne läuft uns über den Weg. Ist der Schlafzimmerblick Attitüde oder ist sie wirklich verschnarcht? Ich habe ihre Bücher nicht gelesen. Wie ich hörte, soll schon wieder eines erschienen sein.

Statt Lesemarathon und Bloggerszene zog es uns abends in ein feines Restaurant in Plagwitz, wo wir uns mit Riesling zuschütteten und Leckeres in uns hineinschaufelten, um uns für Clemens Meyer zu stärken. Eine Lesung in der alten Baumwollspinnerei, aus seinem neuen Erzählungsband Die stillen Trabanten. Anklänge an Die Nacht, die Lichter, nun sind es jedoch keine Storys mehr, sondern die Prosa der Wirklichkeit ist zur Erzählungen gereift, im Ton gediegener. Meyer sei ruhiger geworden, meinte die Frau an meiner Seite. Wir hören, wir lauschen. Ich bin eingefleischter Fan von Clemens Meyers Prosa, hier jedoch, bei der Lesung, blieb ich verhalten, fragte mich, ob sich in diesen Texten nicht vielmehr der Ton und die Erzähllage wie auch das Sujet wiederholten. Während Meyer mit seinem Roman Im Stein eine neue fragmentierte Form erfand, scheint es, als springe dieses Erzählen wieder zurück, gleichsam ein Schritt in die Anfänge.

Andererseits geht es in der Literatur bzw. im Oeuvre eines Schriftstellers, denke ich mir, um eine sich entfaltende Kontinuität: Wie bildet die prosaische Dichtung Realitäten ab, auf welche spezifische Weise macht es der Autor; vor allem aber: wie schlägt sich diese Arbeit der Form als Text nieder? Das ist die dicke Frage, die seit dieser unseligen Knausgard-Eiferei des neuen Realismus und dem Hype um Melles Die Welt im Rücken den Ton der Debatten bestimmt. Meyers Realismus ist ungeschminkt und doch findet sich darin ein poetischer Ton. Ich bemerke, anders als bei Knausgards Abbildungs-Exzessen, die Arbeit der Konstruktion. Diese Prosa ist Fiktion. Oder auch nicht. Das spielt in diesen Texten zum Glück keine Rolle. Meyer erzählt und bildet Miniaturen von dieser Welt. Wobei Meyers Debüt-Roman Als wir träumten alles andere als eine solche Abbreviatur ist, sondern ein Wenderoman besonderer Art, der anhand einer wilden Jungensclique den großen Wurf wagt. Als wir träumten pointiert die Stimmung und diese Szenerie einer Zeit, in der alles wegbrach und die Kräfte einer erodierten Gesellschaft roh aufeinanderprallten, und je weniger sich deren Teilnehmer in den Komfortbereich aufhielten, desto heftiger schmerzte es. Leipzigs wilde Tage: Seinen genialen Wurf habe ich noch immer nicht hier im Blog besprochen.

In Die stillen Trabanten scheint sich ein anderer Ton als in seinem Roman anzubahnen, das alte Sujet von Die Nacht, die Lichter und auch dem Erzähl-Tagebuch Gewalten zwar aufgreifend, aber zugleich transformiert Meyer es im Stil. So zumindest mein Eindruck, als ich die Texte in der Lesung hörte. Trotzdem bleibt bei mir dieser erste Eindruck haften, daß sich in diesen Texten etwas wiederholt. Die genauere Lektüre seines neuen Bandes wird es zeigen, ob dieses Erzählen von Underdogs bzw. von Menschen aus jenem normalen Leben in durchschnittlicher Existenz eine Reprise ist oder ob Meyers Prosa in eine andere (oder zusätzliche) Richtung noch ausgreift

Wer solche Härten und Zeiten in einer ungeschminkten Prosa lesen möchte, greife sich von Sven Heuchert die Erzählungen aus dem Band Asche. Heuchert nennt diese Geschichten Storys, und in dieser Tradition stehen sie angemessen. Heuchert schreibt reduziert, berichtet uns vom Drastischen, und zwar nicht aus den Zonen verwahrloster Mittelstandsberliner mit irgendwas aus Sehnsucht, Flaneurgehabe und Medien, sondern dort, wo es wehtut und wo es kracht, weil Faust auf Fresse schlägt – real wie metaphorisch. Heuchert zeigt die Zonen und Zeiten der Desillusion. Darin deutlich in der Tradition Meyers. Aber um einiges roher noch und eigen. Von Ton und Sujet her würde ich sagen, daß sich beide Autoren ergänzen, und zwar in einer geographischen Weise des Literarisierens sozialer Härten. Vielleicht liegt es daran, daß ich um deren Herkunft weiß, aber bei Sven Heuchert lese ich deutlich den Ruhrpott und das Rheinische heraus, während Meyer den Ton des Ostens trifft. Jene, die die Wende als Menschenmüll zurückließ.

Im ganzen wieder einmal eine kurze Buchmesse, sozusagen ein Besuch als Short-Story. Ohne das Brimborium des Betriebes. Die Baumwollspinnerei liegt schön abseits und in den Gassen von Plagwitz und Lindenau ist es nachts wunderbar ruhig.

Korrekturen – „Die Ordnung der Sterne über Como“ und der Deutsche Buchpreis 2013

Ich muß ein wenig meinen Wunsch, daß Clemens Meyer den Deutschen Buchpreis 2013 gewinnen möge, korrigieren. [Mal davon abgesehen, daß es eigentlich zutiefst amusisch ist, sich auf diese Preise und Auszeichnungen zu kaprizieren und von diesem Kriterium her Bücher zu lesen. Wichtiger als solche Preise ist allemal die Form von Prosa: Wie wird erzählt? Konventionell wie immer, Geschichte an Geschichte gereiht oder die Romanform nach vorne treibend, Anderes wagend und probierend, die ausgetretenen Pfade verlassend? Dem Roman etwas Neues, einen anderen Aspekt und Dreh hinzuzufügen, wie wir es bisher und in dieser Weise nicht hatten. Adornos Kategorie des Avancierten aufgreifend. Aber solche Preise gehören nun einmal – zu recht – zum Betrieb dazu, weil sie für die Autorinnen und Autoren, die sie erhalten, finanzielle Unabhängigkeit versprechen und zudem bei der zukünftige Verlagswahl einen Mehrwert darstellen.]

Alle fünf Bücher auf der Shortlist scheinen mir auf ihre Weise interessant – ausgenommen Mirko Bonnés „Nie mehr Nacht“, das mir zu bemüht und zu konstruiert wirkt. Da ich das Buch aber nicht gelesen habe, bleibt dies nur ein Eindruck, den ich aus Klappentext und den Rezensionen bezog. Ich mag mich täuschen.

Sicherlich hätte Meyers großartiges Prosawerk aufgrund der Form des Erzählens – nämlich die Geschichte von Sex, Großstadt, Liebe, Geschäft in einer eigenwilligen Weise zu perspektivieren – sowie einer Sprache, die detailliert die Zustände, Dinge, Situationen trifft, diesen Preis verdient. Aber wünschen würde ich mir dennoch, daß den Preis Monika Zeiner mit ihrem fulminanten, übersprudelnden, witzigen, tief-traurigen, intensiven Romandebüt „Die Ordnung der Sterne über Como“ gewönne. Es wäre dies eine Ehrung für ein ganz und gar gelungenes Erstlingswerk, eine Auszeichnung für eine Autorin, die gerade die Bühne der Literatur zu betreten sich anschickt. Mag Terézia Moras Buch Das Ungeheuer“ von der Form und der Konstruktion und der Figurenperspektivierung her avancierter sein, indem die Ebenen „Reflexion des Mannes“ und „Reflexionen der Frau“ auf einer Buchseite jeweils oben und unten angeordnet und durch eine zartgraue Linie getrennt wurden und so zwei ganz und gar unterschiedliche Perspektiven zur Darstellung kommen, so scheint mir dennoch die Sprache und der Ton, den Zeiner trifft, für ein Debüt ganz außergewöhnlich. Genau lauscht sie, wie zwischen zwei Menschen Dialoge geführt werden, besitzt dabei den Blick fürs Absurde und Komische, das solchen Dialogen häufig zugrunde liegt, selbst innerhalb so ernster und trauriger Situationen wie dem Besuch auf der Intensivstation eines Krankenhauses, wo ein Mensch im Sterben liegt, oder im Leichenschauhaus.

Auf der Rückseite des Buches ist ein Satz von Michael Kumpfmüller abgedruckt, in dem es heißt: „Es ist unerhört selten, dass eine Frau mit dieser Gerechtigkeit, jenseits aller Klischees, über einen Mann schreibt. Was für ein Roman!“

Über solche Klappen- und Rückentexte ärgere ich mit jedesmal und mit Regelmäßigkeit. Weshalb hängen die Leserinnen und Leser, selbst Schriftsteller, die es bisser wissen müßten, immer noch an der Fiktion des Autors und insbesondere an seinem Geschlecht? Als ob es ein männliches oder weibliches Erzählen gäbe, als ob Frauen nur über Frauen und Männer nur über Männer schreiben könnten. Eine absurde Vorstellung, die Kunst aufs Geschlecht und auf Sprecherpositionen reduziert.

Dennoch hat Monika Zeiner dieses Lob, was für ein Roman dies sei, verdient. Konventionell zwar erzählt. Aber doch handelt es sich um eine Prosa, die eine ungeheure Kraft entfaltet. Zeiner erzählt zwar sprachlich nicht immer präzise und an einigen Stellen etwas überambitioniert, aber doch mit Witz und Detailreichtum die Geschichte einer Männerfreundschaft sowie einer zwischen diesen Männern sich bewegenden Frau: eine Geschichte zwischen Berlin und Neapel, Italien und Deutschland mit vielfachen Exkursen und Ausführungen zur Liebe oder genauer: Zur Unmöglichkeit von Liebe in den Zeiten der Individualitäts-Cholera.

Bisher bekannt – nein bekannt ist hier definitiv das falsche Wort – bisher trat Monika Zeiner schreibend mit einer Dissertation hervor, und zwar trägt diese den schönen Titel „Der Blick der Liebenden und das Auge des Geistes. Die Bedeutung der Melancholie für den Diskurswandel in der Scuola Siciliana und im Dolce Stil Nuovo“. Leider ist das Buch zur Zeit vergriffen. Es hat viel mit den Überlegungen und Ausführungen des Blogbetreibers zu tun.

Eine Besprechung von „Die Ordnung der Sterne über Como“ erfolgt demnächst. Auch auf den Aspekt der Liebe als Passion und als System, wie sich Individualität ausbildet, komme ich zu sprechen. Warten wir ab, wie morgen gegen 18 Uhr die Preisverleihung ausfallen mag und wer die schöne Trophäe zugesprochen bekommt. Meyer wiederum würde ich es wegen seiner Jubelposen wünschen. Wer trinkt schon während einer Preisverleihung und der vielen Reden ein Bier dabei und reißt dann die Flasche hoch, wenn es ans Literaturpreisgewinnen geht?

„Put on the red light“: Spiegel an Spiegel – Clemens Meyers „Im Stein“

Lichter, Reflexionen, Blendungen, Spiegelungen. Lichtbrechungen, Verzweigungen, Täuschungen, Vielstimmiges: das sind die Begriffe, mit denen sich dieser faszinierende zweite Roman von Clemens Meyer umschreiben läßt – um es weg vom Sex sells auf eine andere Ebene zu bringen. Es sei vorweg gesagt: Ich rate zu diesem Buch, unbedingt, es handelt sich um ein Stück große Literatur, weil hier ein Schriftsteller seinen Stoff virtuos formt, und zwar über eine Distanz von rund 600 Seiten. Aber Leserin und Leser müssen sich Zeit nehmen. Das Buch fliegt den Lesern nicht zu, teils wirkt es sperrig. Es ist ein Reigen an Bildern, in Sprache geformt, der auf Leserinnen und Lesern  einschießt und sich im Kopf einnistet. Mal brutal, mal zart und zärtlich wie die Nacht, um in Anlehnung an  F. Scott Fitzgerald zu schreiben. Und sicherlich handelt es sich nicht um einen Zufall, daß einer der Protagonisten des Romans, der Immobilienbesitzer Arnold Kraushaar, genannt AK 47, jenen Ozean des Bewußtseins aus „Solaris“ erwähnt, der alle Bilder des Denkens als Trug-, Traum- und Wunschbilder wieder aus sich heraus spiegelt und in Gestaltung materialisiert. Es tritt hervor, was im Denken als Traum oder Trauma drängt: „dieser intelligente Ozean, da wollte ich immer reintauchen als Kind, eintauchen, weil ich dachte, dass dort die Unendlichkeit drin ist und man im Prinzip dann drin aufgeht.“ Das Spiegelkabinett, das die Bilder ins Unendliche hinein zu brechen und zu duplizieren vermag, dient dem Roman als poetisches Prinzip und Konstruktion von Welt – mal als Spukhaus, als Lachkabinett und Spiegellabyrinthe wie sie auf dem Jahrmarkt zum Amüsement vorkommen, mal als barocker Schloßspiegelsaal.

Leipzig, im Roman nur „die große Stadt“ und „Eden-City“ genannt, ist hauptsächlicher Ort der Handlung, von der Wendezeit bis ins Jahr 2011. Wir bewegen uns in der Welt des Rotlichtmilieus. (Auch ein Ort der Spiegel.) Aber wie sagt es Arnie Kraushaar: „Milieu. Was soll das sein, bitte? Die Muschi besitzt ein feuchtwarmes Milieu.“ Der Roman von Meyer hält durchaus (teils brutale) Bezüge zur Realität jener Welt der Prostitution bereit, aber er ist weder ein Sozialdrama, das mit dem Anklagefinger auf die Zusammenhänge der Prostitution verweist, noch dokumentiert oder glorifiziert er die Welt des Rotlichtmilieus, wenngleich sich in dem Buch durchaus Passagen finden, wie die zum Kongreß der Huren, die einen dokumentarischen Anstrich besitzen. Aber auch diese Stellen sind lediglich Mittel zum Zweck, um eine komplexe Lebenswelt wie unter einem Prisma in ihre Facetten und Farben zu zerlegen. Der Roman zergliedert und dekonstruiert diese Realität einer sehr speziell organisierten Großstadt-Welt in einzelne Bilder, die sich wie in einem Kristall zu einem Ganzen formen, das sich freilich aus den verschiedenen Blicken und Perspektiven erzeugt. Breit aufgefächert und in die verschiedenen Bilder und Ströme des Bewußtseins zerlegt. Die Teile konstituieren das Ganzem und bleiben dabei eigenständig; sie sind mehr als das Ganze. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Teile sind mehr als das summierte Ganze. Sie bleiben als Bilder souverän, zuweilen auch monadologisch verschlossen und als Rätsel im Raum stehend. Lösungen gibt es keine.

Es rauschen und fließen die Stimmen dahin und sie vermischen sich. Die Stimmen der Prostituierten, der kleinen und der großen Zuhälter, jenes Mannes, der seine Tochter in Leipzig und Berlin sucht, die auf den Strich abdriftete, der Bulle, der mit seiner Hure ins Bett geht. Das Meer der Stimmen, und es treiben im Kopf die Assonanzen und Assoziationen. Eine Flut von Eindrücken und Bildern pulsiert, im Kopf, im Hirn, von der Außenwelt her aufgenommen, übertragen durch die Sinnesorgane, weitergeleitet, umgewandelt und verarbeitet durch die Nervenbahnen. Verkehrswege allesamt. Die Straßen, die Nacht und all das, was darin geschieht. „Die Nacht, die Lichter“, wie der erste Band mit Erzählungen von Clemens Meyer heißt – das Thema im Titel bereits verdichtend.

Immer wieder sind es diese Lichter, die bei Meyer als Motiv und Metapher auftauchen. Reflexionen in Scheiben und Spiegeln, Lichter, die als Reflex blenden. Das kalte Funkeln der Diamanten, die  „Im Stein“ eine Rolle spielen.

Und am Rande der Straßen, in Perlenschur gereiht, das Meer an Häusern, selten nur Backsteine wie im Norden, sondern Sandstein oder Quadersteine, verfallene Jugendstilfassaden oder Fertigbauweise: „Fickzellen mit Fernheizung“ (H. Müller): „Im Stein“ lebend, wohnend, arbeitend, sich verdingend, einsitzend, und es ist, als führe der Leser dieses Romans nachts mit dem Auto durch die Straßen einer großen Stadt oder als säße er in einem Film, in dem ein Protagonist des Nachts mit seinem Auto durch diese Straßen der Stadt kreist: immer wieder sind es diese Lichter, die im Vorbeifahren flüchtigen Illuminationen, die als Sprach-Bilder den Roman durchziehen, die aufblitzen und im Vorbeifahren wieder verschwinden: Neonreklame, schrill, grell und überblendend, Fensterfassaden erleuchtet und darin die Auslagen der Warenwelt, in ein kaltes Licht aus Neon und Strahlern getaucht, die Ampeln, die Autoscheinwerfer des Gegenverkehrs, der vorüberzieht. Der Blick in den Rückspiegel, aus dem heraus die Lichter der Autos blenden. Dann weiter geht die Fahrt durch die dunklen Ecken der Stadt, jene einsamen Straßen, abseits der Ausgeh- und Einkaufsviertel, wo die Häuser stehen, in denen die Menschen wohnen. Die meisten ihrer Bewohner schlafen bereits in ihren Steinbauten – dort durch die Straßen geht die Fahrt mit dem Auto, wo nur vereinzelt noch in den Fenstern ein Licht brennt, rechts und links der Straße parken die Autos der Anwohner, es schimmert das gelbe Licht der Laternen. Auf dem Gehsteig ist kein Mensch mehr zu sehen. Alles ruhig. Nacht. Der Regen fällt auf die Scheibe, der Scheibenwischer macht sein monotones Geräusch: Quietsch hin, quietsch her. Der Motor läuft gelassen und ruhig.

Ich fahre durch die Stadt und immer in die Lichter hinein, ich liebe diese Lichter, die Nacht, das Nichts, ich könnte unendlich so weiter fahren und ich wünsche mir, daß es niemals mehr endet und niemals mehr morgen wird. Ich möchte wieder Drogen nehmen, doch bin ich bereits wegen Trunkenheitsfahrten vorbestraft. 1,4 Promille, wie die Staatsanwaltschaft mir schrieb, und die Lichter schimmern nicht mehr sanft, sondern sie mischen sich zu den wunderbarsten Reigen und Bögen. Aggressiv in die Augen stechend, die Augen blendend, alles andere überblendend. Irgendwo rechts am Straßenrand flirrt das blaue Licht einer Tankstelle, Neon, immer Neon, und etwas weiter dahinter das Rot der Leuchtschrift eines Supermarktes. Portishead klingt treibend aus dem Lautsprecher. Blaulicht im Rücken.  Stop Polizei, in roter Laufbandschrift. Großstadtlichter, die sich auf einer Autoscheibe brechen, über der die Regentropfen rinnen, die der Fahrtwind und der Scheibenwischer schnell wieder fortwischen, und immer kommen neue Tropfen, neue Lichter hinzu, neues Spiel der Reflexionen entsteht. Grell überblenden die Lichter, finden ihren Weg. Auch ins Auge. Es herrscht ein Wetter, bei dem kein Autofahrer in der Nacht gerne sich durch die Stadt bewegt, weil im Reigen der Reflexionen und Brechungen kaum noch die Menschen auszumachen sind, die die Straße überqueren oder die plötzlich vors Auto laufen. Ungesehen. Selbst in der Nacht noch, wo die meisten bereits schlafen. Es strudeln und taumeln die Lichter der großen Stadt, wie in jener einen Nacht, damals, in der wir die ungesunden Drogen nahmen. Während sie nur in ihrer Unterhose neben mir auf dem Beifahrersitz saß und ich fuhr. Love my Ständer.

Clemens Meyer liebt diese Lichter einer Stadt, die in der Nacht daliegt und eine Vielzahl an Geschichten bereithält – fröhliche und weniger fröhliche, solche vom Amüsement und solche von tiefster Tristesse, die nichts mehr mit der Melancholie eines Überästhetisierten zu schaffen haben.

Die Welt der Puffs, der Bordelle, des Wohnwagenstrichs, der verschiedenen Varianten des Geschlechtsverkehrs samt seiner Fetischausprägungen wie Kaviar essen und Sekt trinken, die Welt der kleinen Mädels, die für Geld gefickt werden und die nicht einmal 16 Jahre sind, die Stadt der Engel auf den Motorrädern, der gekauften Bullen, die das Geschäft laufen lassen, so daß die Konkurrenz aus Osteuropa fern bleibt. Die Stadt von Arnold Kraushaar, der als Immobilienbesitzer Wohnungen an die Prostituierten vermietet. Das Chaos nach der Wende, in das seine Jungs die Ordnung bringen. Herr der Häuser und nun ganz oben im Geschäft: Einstmals in seligen DDR-Zeiten Kickboxer, Fußballhooligan, auf die dritte Spielzeit wartend, und auf der Leiter immer einen Schritt weiter. Kapitalismus heißt, sich hochzuarbeiten, und auch der Sex ist eine Ware, die gekauft und marktgerecht dargeboten werden will, wie all die schicken Smart- und iPhones, teils in Sklavenarbeit geschaffen, nicht anders als manche Zwangsprostituierte für ihren Zuhälter schuftet. Aber die Welt von AK 47 ist nicht die der Zwangsprostitution, sondern eine solche von Frauen, die auf ihre Weise arbeiten wollen. Das beliebte Schema schwarz/weiß, das die Dinge handhabbar macht, funktioniert bei Meyer nicht. Es gibt nicht nur den bösen Luden-Lümmel. Auf ihre Weise sind in diesem Buch alle gleich. Meyer schildert keine seiner Figuren unsympathisch und verrät sie dadurch.

Zu all den Kürzeln, die im Buch für die verschiedenen Möglichkeiten von Sex auftauchen, wie FO für „Französisch ohne“, muß das von der OK hinzugefügt werden: Organisierte Kriminalität als eine Variante des marktwirtschaftlichen Kapitalismus – seine Gesetze imitierend. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Da ist der mal brutale, dann wieder sinnlich-liebevolle Zuhälter Hans (genannt Schweine-Hans, weil er aus dem Hause eines Metzgers stammt), und der bis zum Ende unsichtbar bleibende Herr der Spiegel, der hinter allem und über allem schwebt, der Mann, mit den Fäden in der Hand, den wir nicht zu Gesicht bekommen und der als eine Art unsichtbares Zentrum des Romans wirkt. Denn die Zeiten ändern sich und den ehrbaren Zuhältern sowie den Immobilenvermietern kommen irgendwann die Engel in die Quere.

Leipzig: die Stadt, die Steine, die Lichter, der Tod, das Gewerbe. Ein verzweigtes Labyrinth an Geschichten, Minotauros-Prosa. Und unterirdisch unter all dem Geschehen und den Bildern fräsen sich in Meyers Roman die Bohrer durch das Erdreich der Stadt, ganz und gar unmetaphorisch, baustellenreal, graben die Tunnel und die Unterführungen: den City-Tunnel. Es gräbt und gräbt.

Durch Meyers zweiten Roman „Im Stein“ bewegt man sich als Leserin oder Leser wie bei einer solchen nächtlichen Autofahrt bei Regen in einer Stadt. Es strömen die Eindrücke, verzahnen sich, verfransen sich, gehen durcheinander, das Buch folgt – einerseits – einer Logik der Assoziationen und des Traumes, in dem in der erzählten Zeit – von den Jahren vor der Wende bis in die Gegenwart des Jahres 2011 hinein – nichts in zeitlicher Kontinuität sich verknüpft: „ich weiß gar nicht genau, was da nun Ende, Anfang oder Mitte gewesen ist“, so schildert der Bordellbesitzer Hans seiner Liv, die er hätte lieben können, seinen Traum, den er hatte, als er neben jener Blumenverkäuferin aufwacht. Einschübe und Brechungen tragen die Prosa Meyers. Alle diese Phasen, Bilder, Aspekte, Begebenheiten, Handlungen, Tätigkeiten bilden einen Reigen, der aber kaum noch im Sinne einer kontinuierlich erzählten Geschichte funktioniert. Es läßt sich eine Geschichte von der Begebenheit A über B nach C hin im Strahl der linearen Zeit erzählen. Wenn ein wissender Erzähler eingeschaltet wurde, der das, was geschah, in eine Anordnung bringt und den Ereignissen eine geordnete Struktur zuweist, dann ergibt das den raunenden Beschwörer des Imperfekts.

So aber, in der Weise wie Meyer erzählerisch verfährt, bleiben lediglich die Impressionen, die Eindrücke der Protagonisten als solche bestehen und ergeben in der Ansammlung ein Mosaik, ein vielstimmiges Gespräch, wie man es etwa in Faulkners Prosa findet, so z. B. in „Schall und Wahn“. Die Struktur hier heißt Vielstimmigkeit und Perspektivismus. Daß aus dieser Welt der Prostitution noch sinnvoll und als zeitliches Kontinuum erzählt werden könnte: dieser Illusion des Zeitrealismus erliegt Clemens Meyer nicht mehr. Die Kategorie des Sinnes und des Zusammenhangs von Gesellschaft ist aufgelöst. Wenngleich Meyer für diesen Roman viel recherchierte und mit Prostituierten und anderen aus dem sogenannten „Milieu“ sprach, so schreibt er dennoch kein Sozialdrama, er beschreibt nicht, was sich zuträgt. Dies merkt der Leser insbesondere an den Stellen, wo Meyers Sprache trotz des harten Prosatones fast schon poetisch und lyrisch verfährt. Es gibt in dem Buch Stellen, bei denen ich beim Lesen vergehen und im Text verglühen möchte, mit solcher Intensität und Wucht sind sie geschrieben. Wie dies überhaupt in der Prosa Meyers in den gelungensten Passagen seines Werkes geschieht. Was mich an Meyers Text am meisten verblüfft, ist der Umstand, daß er inmitten der sehr prägnanten Sprache, die von teils sehr knappen, kurzen Sätzen getragen wird, Bilder von ungeheurer Sprachkraft und -gewalt entfaltet: Es bleibt beim Lesen solcher Sätze der Atem weg und als einiger Satz geht mir durch den Kopf: DAS, genau das Bild ist es, genau so ist es, wie Meyer es beschreibt. (Ich werde im zweiten Teil auf die Prosa bzw. auf die Poesie dieses Buches kommen.)

Meyer gelingt es in großer Sprache und doch nie groß tönend oder sprachlich überhöhend mit Drastik die Szenarien zu beschreiben, ohne dabei irgend etwas zu verklären oder indem Meyer den Gossenpoeten gibt. Dort, wo es zur Sache geht, da geht es auch zur Sache: da helfen keine schönen Bilder und keine Gekleistere. Und dennoch findet Meyer für das Brutalste, nämlich Sex mit Minderjährigen, die zur Prostitution gezwungen werden, Bilder und eine Sprache, die beiden Seiten der Szenerie beleuchten: Die Brutalität dieses Verhältnisses scheint gerade durch die Lakonie, in der Meyer diese Szenen schreibt, umso drastischer und anspringend.

(Ende des ersten Teils)

Letzte Ausfahrt Leipzig – Clemens Meyers „Als wir träumten“

Clemens Meyer wird zuweilen der Ruf eines Machos angedichtet. Klar, der Meyer ist tätowiert, und im Knast soll er schon mal gesessen haben, so als Zwischenspiel, während er in Leipzig am Literaturinstitut das Schreiben studiert, einen Galoppergaul hat er in Scheibenholz laufen: Oh und uiii, so raunt es vielsagend aus der Manege! Und ’n Ossi aus Leipzig, aus Halle (Saale) is’ er, hat sich in der Wendezeit gehauen und Dinger gedreht. So sagt man. Und nun ein Roman, der im Milieu des Milieus „Aktie rot“ spielt. Schöne Klischees. Manche brauchen diese Zuschreibungen und Vorurteile, um gepflegt ihrer Verschnarchtheit zu huldigen.

Clemens Meyers Weg zur Literatur ist ungewöhnlich. Meyer wird momentan gehypte, aber das ist das Wesen des Marktes, die Marketingmaschine eines großen Verlages, die hinter ihm steht und die er dennoch verdient hat – und zwar aufgrund seiner herausragenden, sehr genauen Prosa.

Ja: da reißt einer im Überschwang die Bierflasche hoch, schwenkt sie voll Freude in der Luft herum, springt aus der Sitzreihe auf, als er 2008 für den Erzählungsband „Die Stadt, die Lichter“ den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Zu Recht. Mir ist dieser Gestus lieber, als das literatenschwere Stock-im-Arsch-Wein-in-sich-Hineingegieße mit dem Ich-bin-ja-so-dankbar-Gesicht oder dem Kindchenschreibschema-Gesicht des Deutschen Fräuleinwunders oder der Hegemannschen Haargardine. Meyer legt los, plaudert los, aber er zieht nicht diese Show all der Literaturhackfressen aus dem bekannten und dem unbekannten Segment ab. Ebensowenig wie er die Story eines Outsiders oder des Literaturprolls inszeniert. Meyer schreibt, und darauf kommt es ihm selber an: Auf die Schrift, auf den Text, auf eine Literatur, die – teils zumindest – sehr realistisch und unverblümt darstellt, was sich in bestimmten Zonen und Milieus, auf die die Literatur nicht so häufig den Blick richtet, zuträgt. Meyer ist belesen, es bedeutet für ihn Literatur Leidenschaft und nicht Habitus und Schnörkelphrase.

Aber mich interessieren die Biographien von Schriftstellern nur marginal – so auch bei Meyer. Kleists, Prousts, Kafkas oder Becketts Texte eröffnen eine Raum, einen Horizont, geben den Blick auf eine Struktur frei, verweisen auf eine grundsätzliche Konstitution von Subjekt – auf einen Erfahrungsraum hätte ich fast geschrieben, wenn dieser Begriff nicht so sehr abgelutscht und deshalb mit Ekel-Ranz behaftet wäre –, die ganz ohne das Biographische oder banale Körperfühligkeit sich realisiert und den Fokus auf eine Geschichte lenkt, die in dieser Weise so noch nie erzählt wurde. Eine unerhörte Begebenheit: davon handelt Literatur und sie handelt davon, wie diese unerhörte Begebenheit in eine angemessene Form gebracht wird, die auf der Höhe ihrer Zeit sich befindet. Es ist dabei ganz gleichgültig und ohne Bedeutung für die Prosa, ob einer nun Hartzi, Angestellter, Knasti, Jurist, Gabelstaplerfahrer, Körperklaus, Schinderhannes oder vielfühlige/r Innerlichkeitsbekenntnisapostel:in war.

Meyers erster Roman heißt „Als wir träumten“. Er handelte von der Zeit des Aufbruchs, der Gesetzlosigkeit inmitten einer sich neu konstituierenden Zone und des freien Spiels der Kräfte als die Mauer fiel. Dieses Spiel der Kräfte ist ganz wörtlich zu verstehen, denn es flogen zwischen den rivalisierenden Gruppen die Fäuste, und es lag in dieser „Prosa der Welt“ mancher Kopf zwischen Blutfluß und Doc Martens-Stiefel im Rinnstein. Prosaische Moderne eben, um ein Bild Hegels zu gebrauchen. Der Weltgeist trägt Stiefel, der Weltgeist mag aber kein Prada. Meyer versteckte sich nicht vor der Realität, sondern er stellte sich dieser Zeit literarisch und mit einer ungeheuren Sprachgewalt: Er brachte einen rechtsfreien Raum ins Bild der Literatur, stellte die Wohnviertel und Lebenswelten aus, die weniger ansehnlich sind, verwies auf die Plätze und Ereignisse, die nicht gut ins Bild der bürgerlich-gediegenen Literatur paßten. Die Wende: das ist kein Ponyhof, und blühende Landschaften zeigten sich an diesen Orten des östlichen Leipzigs in den Landschaften des Gesichts als Veilchen und blutig geschlagene Köpfe. Leipzig – ein Ort, an dem sich die Möglichkeiten, die es aber im Grunde von Beginn an nicht mehr gab, einen Platz schaffen wollten, und es herrschte der ungebremste Wille, wild, gefährlich und ohne die verhaßten Autoritäten zu leben, die seit dem Ende der DDR sowieso abgewirtschaftet waren oder ganz einfach der Lächerlichkeit verfielen. Wer als Staatsbürgerkundelehrererin die Gesetzmäßigkeiten des wissenschaftlichen Sozialismus als Verheißung pries und ein paar Monate später im Gesellschaftskundeunterricht nahtlos die Ideen einer sozialen Marktwirtschaft verkünden durfte, der hatte ausgespielt. Wer als Volkspolizist plötzlich und übergangslos auf der Seite der FdGO stand, wirkte eher lächerlich als überzeugend, vor allem, wenn er in einem abgerumpelten Polizeiwagen namens Trabi oder Wartburg daherfuhr, der nun mit einem Westblaulicht und Westanstrich versehen war.

Und so blieb viel Raum für all die Träume und vor allem für den Möglichkeitssinn einer Existenz, die nicht mehr ins Korsett der sozialistisch verordneten Lebensform paßte, die die Jungen und Mädels gerade den Bach heruntergehen sahen und die sich mit Macht dennoch ihren Teil vom Kuchen absäbeln wollten – sei es mit Gewalt. Denn es war niemand da, der die Kontrolle ausübte. Zuweilen ein wenig vom kleinen Glück träumend: „Mark fetzte die Tortenpackung auf und stellte die Torte in die Mitte. Sie war noch gefroren, und wir brachen große Stücke aus ihr raus und aßen sie wie Eis. Wir machten auch die Schokolade auf und neues Bier. Draußen wurde es dunkel, Fred zündete ein paar Kerzen an, und wir rückten zusammen und aßen und tranken und waren glücklich.“ So endet dieser Roman. Das Glück ist klein, eisgefrorene Resterampe, wo die abgeworfenen Brocken und vom großen Tisch heruntergefallen Krümel, die Kapitalismus abwirft, zusammengeklaubt, zusammengeraubt werden. Es hängt jenes kleine und gesuchte Glück an den Kumpels – ein wenig Wärme, wenn die Jungs die Bullen abgehängt haben.

Rico, Mark, Paul und Daniel, wie die Protagonisten von „Als wir träumten“ hießen, wachsen im Leipzig der Nachwendezeit auf: nach der Kindheit im Kontext des Sozialismus kommt nahtlos der Bruch und die Jugend zwischen Boxen und Bier, Fußball, Alk und Autoklau. „Grauzone morgens“, da hat sich, was die Farbgebung und den Zustand betrifft, im Grunde im Gang der Zeit nicht viel geändert. Wozu aufstehen, wenn man genauso gut im Bett liegenbleiben kann? Zumal wenn der Kopf wehtut vom Alk. „Leipziger Premium Pils“. Daß sie von Anfang an keine Chance haben, wenn VEB fortan „Vatis ehemaliger Betrieb“ hieß, war ihnen schnell klar. Die Verheißungen des Westens, die Produkte, die die Werbung anpries und die mit einem Male die Schaufenster der heruntergewirtschafteten Geschäfte mit ihren tristgrauen Fassaden schmückte, lassen sich nun einmal nur mit Geld erwerben, und wenn keines vorhanden ist, wollen all die schönen, schimmernden, scheinenden Produkte und Marken wie Nike, Reebok und Chanel auf eine andere Weise beschafft werden.

Der schöne Schein der Waren, die Féerie des Fetischs Ware jedoch ist nicht nur käuflich zu erwerben, und wem das Flanieren in der Welt der Passagen zu wenig ist, weil die Mittel fehlen, das Mögliche wirklich werden zu lassen, der nimmt sich das, was ihr oder ihm in der Welt der Werbung als Verheißung versprochen wurde. Ins Heute gewendet: die Jugendlichen, die bei den Riots in London mitwirkten, haben genau das getan, was die Werbung von ihnen verlangt hat. Daß der Appell der Werbung an die bloßen Instinkte von Menschen freilich derart in die dionysisch-bachantische Orgie und in den Taumel umschlägt, hätten sich die gewitzten Macher des Marketings nicht träumen lassen. Ein Griff in die Auslage genügt. Wozu zahlen, wenn man es auch umsonst haben kann? Andererseits kann es keine erfolgreichere Werbekampagne für Flachbildschirme geben als jene Bilder aus London, die im Jahre 2011 um die Welt gingen. You can get what you want, so sollte der Slogan dieser neuen Kampagne für Plasmaflachbildschirme lauten: it’s not a trick, it’s a Sony.

It’s not a trick, it’s a Zonie: Wer in der Platte wohnt und nicht schnell in den Westen wegmachen konnte, weil er dafür noch zu jung oder zu unbeweglich war, dem blieb nicht viel übrig, als sich eine eigene Welt zu suchen. Diese Traumlogik der Grenzlandschaft zwischen Lok- oder Chemie-Leipzig-Fußball, Schlägereien mit Skins, offenen Räumen und unbenutzten Gebäuden, die für alle offen standen, Crashkid-Dasein, Bierkisten aus der Brauerei in Reudnitz klauen, Liebe zu jenem hübschen Mädchen, das als Schimäre (und Geistbild fast) auftaucht, als Sternchen eben, verdichtet sich in Meyers Debüt zu einem grandiosen Panorama der Wendezeit im Osten, ohne Prosakitsch, ohne Metaphernketten und Aufgeladenes: nicht mehr „33 Augenblicke des Glücks“, kein akademischer Feminismus, dem es um die quotierte Besetzung an den literarturwissenschaftlichen Seminaren geht, um am Futtertrog ihren Platz zu bekommen, keine Meriten akademischer Ich-Findung und der Selbstbespreizung Hermannscher Befindlichkeiten, oder Grünbeinsches Griechentum und Sucht nach Philosophie (ich schätze Grünbein ausgesprochen: einer der wenigen Schriftsteller, der die Anspielung ins Griechische versteht und nicht als halbbildungsbürgerliche Phrase in die Lyrik oder die Prosa einbaut) sondern es richtet sich ein Blick auf die Wirklichkeit, wie wir es von nur wenigen Schriftstellern kennen. Darin besticht Meyers Prosadebüt „Als wir träumten“. Schonungslos und ungeschminkt:

„ Als wir Kinder waren (ist man mit 15 auch noch Kind? Vielleicht waren wir es nicht mehr, als wir das erste Mal vorm Richter standen, der meist eine Frau war, oder als sie uns das erste Mal nach Hause brachten und wir am nächsten Tag zur Schule gingen, oder auch nicht, und die Abdrücke der verfluchten 8 noch an den dünnen Handgelenken hatten), als wir liebe Kinder waren, war der Mittelpunkt des Viertels für uns der große ‚Volkseigene Betrieb Duroplastspielwaren und Stempelsortiment‘, aus dem uns ein ansonsten unbedeutender Klassenkamerad, über seine Stempelkissen herstellende Mutter, Stempel und kleine Autos besorgte, weshalb er von uns keine Dresche und manchmal ein paar Groschen bekam. Der große VEB ging 1991 Pleite, und das Gebäude wurde weggerissen und die Mutter des kleinen Stempel- und Modellautoherstellers wurde nach zwanzig Jahren arbeitslos und erhängte sich auf dem Außenklo, weshalb der unbedeutende Junge von uns auch weiterhin keine Dresche und manchmal ein paar Groschen bekam. Jetzt steht dort ein Aldi, und ich könnte mir dort billig Bier oder Sphaghetti kaufen.“

Solche Sätze sind großartig, weil sie ohne fuchtelnde Prätention und ohne Geklimpere das, was ist, auf den Punkt bringen. („als wir liebe Kinder waren …“, was für eine wunderbare Sentenz und Sprachfügung) Dazugehören oder nicht dazugehören. Wir und sie und Lakonie. Die Logik der Gewalt sowie der Wunsch nach Wärme steuern die Handlungen. Hose runter, Beine breit, ficken ist ʼne Kleinigkeit. Die Geschichte einer Jugend, die nicht euphemistisch und im schwachsinnigen Jargon Coming of age sich nennt, sondern die sachlich-brutal so ist wie sie ist. Clemens Meyer steht in der Tradition von Hubert Fichte und in der von Hark Bohms Film „Nordsee ist Mordsee“. Ich hoffe allerdings innig, daß die Verfilmung dieses Buches, die gerade ansteht, nicht in den Sozialkitsch abdriftet.

Und so habe ich es nun doch noch geschafft, eine kurze Besprechung dieses wunderbaren, klaren, drastischen Romans zu liefern, den ich 2006 in einem Zuge gelesen habe. Gerade wegen der ausgesprochen schlechten Besprechung in der „Zeit“ – wie ich meine, mich zu erinnern. Es ist dieser Besprechungstext, in den Samstagmorgen eines Septemberherbsttages hineingeschrieben, ein Vorausblick und steht ganz im Zeichen von „Im Stein“. Dessen Besprechung folgt im nächsten Teil. Montagmorgen. Oderso. Noch herrlich verweht und benommen von dieser wunderbaren, kühlen, ausufernden Prosa.

Clemens Meyers „Im Stein“ – ein kurzer Vorausblick, Shortcut

Im heutigen Arbeitsjournal berichtete Alban Nikolai Herbst von seinem gestrigen Besuch einer Lesung mit Clemens Meyer in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg. Ich habe das leider verpaßt und nicht mitbekommen. Insofern konnte ich nicht hingehen. Ich habe zu seinem Journaleintrag, in dem es auch eine Diskussion mit unterschiedlichen Positionen gibt, einen kleinen Kommentar verfaßt – sozusagen eine Vorab-Eloge zu dem von mir hoch geschätzten, hoch verehrten Clemens Meyer und seinem im Milieu der Bordelle, der Prostitution und der Halbwelt spielenden neuen Roman „Im Stein“. Freilich alles noch vorläufig formuliert, tentativ, erste Sichtung. Und das geht dann so:

u1_978-3-10-048602-8 Dieser Roman ist nicht nur gut geschrieben und klug komponiert, sondern er verweist in einen Bereich, in den nur wenige der deutschen Gegenwartsautorinnen und -autoren literarisch sich hineinbegeben: nämlich die Welt der Huren, der Bordelle, der gemieteten Wohnungen, wo für Geld gefickt wird. Das Buch ist in den Montagen gelungen gebaut, poetisch in der Sprache und in den verwendeten Bildern, geglückt in der Form, in der Anordnung seiner Elemente: der lineare Zeitstrahl von der DDR über die Wende bis ins Heute wird diachron aufgebrochen und gefächert in die Ströme des Bewußtseins, in die Perspektiven, in denen die verschiedenen Protagonisten zu Wort kommen: Sexarbeiterinnen, Zuhälter, Bullen, ein Vater, der seine Tochter sucht. Die Wende 1990: das ist ein Bordell und ein Kampfplatz um die besten Plätze für die Huren im Kampf zwischen den rivalisierenden Parteien. Aber Meyer ist dabei kein Gossenpoet, der betont cool hinrotzt und den Gangster mimt. Ganz im Gegenteil. Das Buch ist eben kein Hurenbuch mit Votzensound. Wer Ohren zum Hören hat und damit auch ein wenig liest, wird dies bereits beim Titel erlauschen, erlesen, bemerken, wie poetisch, fein und geschliffen da ein Schriftsteller vorgeht. Ohne irgendwie seinen Text gefühlig und rührig zu machen.

Bereits Meyers erster Roman „Als wir träumten“ brachte Leipzig, brachte die Wende, brachte die Wendeverlierer in den Plattenbauten ins Bild. Nicht dieses ewige Berlin-Getaumel, die Findungsexistenz des akademischen Literaturprekariats. Eines der genialsten und eindrucksvollsten Debüts, das ich gelesen habe. Nicht immer wieder, in der Schleife-endlos, dieser ewige Mittelschichtenjungakademiker/innen-Literaten-Judith-Hermann-Kram: Ich finde meine männliche, meine weibliche Identität: Versonnen schauten sie die Existenz.

Die Frauenfiguren sind von Meyer teils dokumentarisch recherchiert. Es wird die Sicht von Huren präsentiert. Es werden die Beziehungen von Frauen untereinander gezeigt, so z.B. wenn jene beiden schon etwas älteren Huren (so Mitte vierzig) gemeinsam Tango tanzen: „Sag zum Abschied leise Servus“. Ein großartig geschriebenes Bild, wie Frauen auf Frauen blicken und miteinander zärtlich-distanziert umgehen. (Auch das gibt es in diesem Buch. Übrigens auch bei „Aléas Ich“: Olga und Aléa nämlich) Allein um dieser Szene willen ist das Buch mehr als ein bloßes Stückchen über die Welt des Rotlichtmilieus. Zudem durchdringen sich beim Aspekt der Prostitution die Ebenen: Dokument einerseits und Literarisierung: Meyer spielt mit der ästhetischen Form, öffnet sie. Gerne wird bei Frauen, die freiwillig als Huren arbeiten weggeschaut. Macht Frau nicht, paßt nicht. Paßt nicht so gut ins moraline Rundumwohlfühlbild des doch eher quasi-bürgerlichen Feminismus. (Sofern es Bürgerlichkeit denn überhaupt noch gibt.) Prostitution und Porno: Bääää, pfui, maskulinistisch. Meyer schaut nicht weg, sondern bringt ein Sujet in die Literatur, das dort selten so zum Thema gemacht wurde, ohne es zu verherrlichen oder per se zu verurteilen. Zudem weiß er, wovon er schreibt. Genauso wie er es in „Als wir träumten“, in seinem großartigen Erzählungsband „Die Nacht die Lichter“ und in „Gewalten“ tat.

Bücher zu lesen, bedeutet immer auch wahrzunehmen, ob und wie sich die literarischen Formen erweitern, auf welche Weise sie das herkömmliche Erzählen zu überschreiten vermögen. (Aus diesem Grund auch mein vehementes Plädoyer für Aléa Torik in all ihren  Facetten.) Wer allerdings Texte verschlingt und sie sich kannibalisch einverleibt, der verfehlt meist die Texte. Da ist es wie mit guten Speisen und gutem Wein. Das beste wird in (narzißtischer) Gier versäumt, wenn man die feinen Speisen nur in sich hineinhaut.

Clemens Meyer selber habe ich eigentlich immer als witzig, freundlich, aber doch bestimmt erlebt. So auf der Leipziger Buchmesse 2011, als er die Laudatio auf die Litertaturkritikerin Ina Hartwig hielt, die den Alfred-Kerr-Preis bekam. Der Vortrag fiel lebendig, witzig und spannend aus. Ein wenig mag Meyer sicherlich die Show. Aber auf eine sympathische Weise. Im Leben geht es bunt zu: es gibt die Bühnen- und Rampensäue, die das brauchen und dann gibt es die, welche im stillen Winkel schreiben. Meyer ist dabei noch einer der angenehmen Typen, weil er zwar krakelt, aber auf eine mir nicht unähnliche und deshalb vielleicht sympathische Weise. Schön auch in einem Interview seine Antwort, weshalb er nicht in Berlin wohne, sondern in Leipzig: Aber in Berlin lebten doch alle Schriftsteller. Was solle er dort? Leipzig sei seine Stadt. Was stimmt. Leipzig ist eine sehr coole Stadt.

Leichte Kritik möchte ich allenfalls daran üben, daß sich manche der inneren Monologe bzw. der Bewußtseinsströme gleichen. Die eigentlich unterschiedliche Perspektivierung, die erforderlich wäre, um die Charaktere zu zeichnen,  bzw. die Auffächerung des Geschehens in Blicke fällt – teils zumindest – so different denn doch nicht aus: Der Text des Bielefelder Groß-Bordellbetreibers, der von Hans, dem Besitzer eines kleinen Puffs, die Sicht von AK, dem Vermieter von Wohnungen zwecks Sex: sie gleichen sich vom Duktus her zuweilen. Aber das müßte ich noch im Detail sichten. Ausgeglichen wird dieser Mangel aber auf alle Fälle durch die Sprachgewalt von Meyer sowie durch die Bilder, die er erzeugt. Wie bisher jedes Buch von Clemens Meyer ist es ein großer Wurf.

Demnächst dazu in meinem Blog eine Rezension. Zweihundert Seiten fehlen noch.

Nachtrag: Clemens Meyer ist seit dem 11.9 auch in der Shortlist für den Deutschen Buchpreis vertreten. Zu Recht und mit guten Gründen. Ich wünsche ihm das beste. Verdient hat dieses Buch einen Preis, weil es literarisch avanciert geschrieben wurde und zudem – in einem guten Sinne – arschcool ist, wie wir Luden von der Herbertstraße so sagen: der Wiener Peter und der PoC-Kalle.

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Hinzuweisen bleibt – darauf insistierte zu recht die Kommentatorin(?) Kombina  – daß es oben im Text, wo die beiden Frauen miteinander tanzen, nicht heißen dürfe Tango, sondern heißen müsse: Walzer. Richtig, ich assoziierte da den Kreisler mit hinein: „Zwei alten Tanten tanzen Tango“. So geht es im Leben: Walzer oder Tango? Welcher Tänzertyp sind Sie? Alles eine Frage des Gefühls. Ach, wie wir die Gefühle und die Cafeteria-Fragen lieben.

Clemens Meyer

Endlich einmal wieder darf ich in den Gefilden der schönen Literatur singen, lobpreisen, jubilieren, obwohl sich solches für einen Ästhetiker nicht geziemt, der in der Contenance geschult ist. Ja, der Grund für solche Exaltiertheiten liegt darin, daß es ein neues Buch von Clemens Meyer gibt. Jubeln und im Grunde noch gar nicht so recht wissen, was einen erwartet, paßt schlecht zusammen, aber es ist die Erwartung groß. Das dritte Buch, welches in der Regel als das schwierigste bezeichnet wird, muß sitzen: Man ist einerseits im Betrieb etabliert, aber noch nicht so, daß man auch einmal etwas Mißratenes abliefern darf. Viele Augen sind nicht mehr nur wohlwollend-gewogen, sondern der Blick gerät manchem skeptischer als sonst. Gerade am dritten Werk zeigt es sich, ob der Atem ausreicht oder ob es bloß schreibende Eintagsfliegen sind. Gerade dieses Buch muß gelingen.

Vor etwa eineinhalb Jahren erschienen Clemens Meyers Erzählungen „Die Nacht, die Lichter“ (ich berichtete hier darüber), nun kommt dieses neue Buch von ihm, auf das ich mich freue. Es scheint ein sehr spezielles Buch zu sein und nichts für empfindsame Gemüter. Abwarten also, was dieses dritte Buch bietet. Ich kann jedoch nicht verhehlen, daß ich die Prosa von Clemens Meyer ausgesprochen schätze, weshalb einige Vorschußlorbeeren verteilt werden. Es schreibt ein Literat, von dem noch Großes zu erwarten sein wird.

In der „Berliner Zeitung“ vom 17. März erschien zum neuen Buch ein Interview mit Clemens Meyer. Falsch im Ankündigungsteil schreibt der Redakteur allerdings, daß sein Debütroman 2007 erschienen sei. Es war 2006. Doch wie auch immer: Das Gespräch dort drehte sich im wesentlichen um sein neues Buch „Gewalten. Ein Tagebuch“, wo das Verhältnis von Persönlichem und Welt, früher schrieb man Gesellschaft, in die literarische Darstellung gebracht wird. Wieder einmal sind es Geschichten von unten, teils brutal aus dem devianten Milieu der extremen Sorte.

Erwies sich Clemens Meyer in seinem großartigen Debüt „Als wir träumten“ als Meister der großen Form, immerhin gelangen ihm, als Erstwurf beachtlich, 517 Seiten sehr gute Prosa aus der Sicht eines Wendeverlierers, so beherrschte er mit seinem Buch „Die Nacht, die Lichter“ auch die kleine Form der Erzählung gut. Von seinem dritten Buch schreibt die FAZ:

„Wer nichts übrig hat für den virilen Mythos vom Boxerherz, das sich nicht unterkriegen lässt, für Stories vom Einstecken, ohne aufzustecken, für Kämpfer, die, in die Ecke getrieben, mit dem Kopf durch die Wand wollen, der wird auch Meyers neuem, elf Runden währendem Ringen mit heiklem Stoff wenig abgewinnen können. Doch schon der Versuch sollte Respekt abnötigen. Denn welcher andere deutschsprachige Autor würde sich nacheinander folgende Themen vornehmen, um nur die Texte Nummer zwei bis fünf zu betrachten: Abu Ghraib und Guantánamo, den Amoklauf von Winnenden, den Tod eines Jugendfreundes im Hospiz und die Ermordung der achtjährigen Michelle in Anger-Crottendorf (jenem Leipziger Stadtteil, in dem Meyer lebt)? Clemens Meyer schlägt sich nicht mit Schwächeren, er will es wirklich wissen.“

Clemens Meyer ist, was die deutschsprachige Literatur angeht, die Entdeckung des Jahres 2006 und für mich die Sensation schlechthin gewesen, und ich warte gespannt auf jedes seiner Bücher. Selten habe ich ein Debüt so sehr gemocht, begierig mir einverleibt. Da ist jemand, der erzählen kann wie der Teufel. So muß man sehen, ob dies auch in seinem dritten Werk funktioniert, das aufgrund des Tagebuchcharakters, den es einschiebt, einen artifizielleren Charakter besitzt als seine ersten beiden Bücher.

Zum Schluß möchte ich zwei kurze Passagen aus dem Interview in der „Berliner Zeitung“ zitieren. Einmal zum Plagiat, da Meyer den Satz „Wir fahren wohin wir fahren“ zitathaft verwendet:

„Ja, allerdings ist der Satz geklaut. Er stammt aus Jurek Beckers ‚Jakob der Lügner‘, glaube ich. Das steht auch im Text. Einzelne Sätze darf man stehlen, ganze Passagen nicht. Das soll man nicht tun.“

So ist es, und auch in einem Kurzinterview in „Kulturzeit“ hat Meyer in seinem angenehmen, sächselnden Dialekt zum Plagiieren gute Dinge formuliert.

Weiterhin sagt er zu dem unsäglichen Berlin-Hype der Künstler bzw. der Künstlerdarsteller Treffendes.

A. Montag: „Junge, erfolgreiche Künstler ziehen nach Berlin. Wann packen Sie den Koffer?

Meyer: Ich bin oft in Berlin und mag die Stadt auch. Meine Freundin lebt dort. Aber ich werde in Leipzig bleiben. Hier ist meine Wohnung, mein Archiv. Meine Heimat. Hier habe ich meine Bücher geschrieben. Hier lebt meine Mutter, leben meine Freunde. Und Halle, wo ich geboren bin, ist ganz nah. Dort bin ich auch sehr oft. Und überhaupt: Man muss ja auch die Region stärken. Alle wollen nach Berlin? Allein deshalb muss ich hier bleiben.“

Auch dem ist nichts, rein gar nichts hinzuzufügen.

Clemens Meyers Erzählungsband, „Die Nacht, die Lichter“

So manchen Schriftsteller zieht es in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder zu einem ganz bestimmten Milieu hin, und schwer nur kommt er davon weg in seinem mehr oder weniger langen Schriftstellerleben: Den einen drängt es zum gehobenen feinen Bürgertum oder in die Welt des Adels, andere zur Demimonde, dann wieder zieht es welche zu Großwildjägern und Abenteurern, oder es gibt Schriftstellerinnen, die es zu den untätigen, fragmentierten Melancholikern und den Endzwanzigern, Dreißigern treibt, die partout nicht erwachsen werden wollen. Und so muß man sich als Schriftsteller vorsehen, bei diesem mehr oder weniger freiwillig gewählten Milieu stehenzubleiben, ohne sich dabei literarisch weiterzuentwickeln.

Thomas Mann gelang es ganz gut, Stagnation zu vermeiden, ästhetisch Stimmiges abzuliefern und dabei gut, stilvoll und bedeutsam zu bleiben, Proust schrieb nur einen ganz großen (philosophischen) wundervollen Roman (sieht man einmal von „Jean Santeuil“ ab), da war es nicht weiter schwierig, nicht auf der Stelle zu treten, zumal ja in aller Komplexität nicht nur eine Epoche besichtigt wurde, ein Blick hinter die Vorhänge des Pariser Adels fiel sowie die „Existentiale“ Liebe und Eifersucht ausgeleuchtet wurden. Genug für ein Leben, so sollte man meinen. Henry Miller und Hemingway sind ein amerikanischer Fall für sich, der Oberfranke würde hier sagen „Paßt schoan“. Bei Judith Hermanns neuen Buch „Alice“ wird man sehen, ob sie es vermag, sich vom zuweilen enervierenden Judith-Hermann-Sound zu lösen, der zum ästhetischen Selbstgänger wurde.

Wie aber steht es um Clemens Meyer?, so sei hier einmal oberlehrerhaft in den Raum gefragt, jenen Schriftsteller des Jahrgangs 1977, den wir seit 2006 als einen „Durchstarter“ kennen. Mit „Als wir träumten“ ist ihm ein beeindruckendes sowie fulminantes Debüt gelungen, welches mit Fug und Recht „Roman“ genannt werden kann. Als Erstlingswerk eine Stecke von über 500 Seiten zu durchpflügen und dies dann auch noch vom Schreiben und vom Stil, von der Konstruktion und vom Stoff her gut hinzubekommen, ist eine Leistung. Der Roman hat ein Wendemilieu zum Thema, das wohl nicht dem entspricht, was der übliche Intellektuelle sich einmal vorstellte, als von den großen Wenderomanen oder gar dem großen Wenderoman die Rede war. Nun, auch Clemens Meyer hat den nicht geschrieben. Aber er hat ein ostdeutsches Milieu geschildert, das sonst nur in den „Sozial“-Reportagen von „Spiegel“- oder „Stern“-TV vorkommt, wenn es um deviante Jugendliche aus der Platte geht. Crime sells.

Doch Meyer ist mit „Als wir träumten“ mehr als ein Roman über deviante Jugendliche gelungen. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, seiner Liebe, seiner Freunde, schildert die Hoffnungen und Träume einer Clique Jugendlicher im Nachwendeleipzig. Dies alles ist so erzählt, daß man gerne weiterliest. Ein Roman aus der Gosse zwar, der aber im Grunde die existentiellen Dinge der Jugend nennt. Er handelt von Größe, Liebe und Feigheit, von Brutalität und Perfidität, er ist pubertär aufgeladen, weil es die Welt derer ist, die aus der Pubertät entwachsen. Öfters einmal gibt es reichlich was auf die Fresse, daß es beim Lesen wehtut. Und man liest weiter wie im Rausch, legt das Buch, am Schluß angekommen, atemlos beiseite.

Nein, das Buch ist nur zu einem kleinen Teil eine Milieuschilderung; Meyer will in seinem Debütroman nichts und niemanden mit wohligem Gruseln vorführen, sondern er ist konzentriert bei der Sache, und gerade dadurch bringt der Roman es auf den Punkt: das, was da in jenen Wendejahren im Osten und mit „dem Osten“ geschehen ist, was viele in ihrer Nachbarschaft erlebt haben. Indem der Roman das Alltägliche einer bestimmten neu entstandenen Klasse beleuchtet, ohne dabei Partei zu beziehen, ist er im Grunde ein extrem politischer, obwohl Meyer „nur“ aus der Sicht und Position des Protagonisten Daniel heraus schreibt und beschreibt. Über die lange Distanz des Romans hat das gut funktioniert. Doch reicht das auch aus für die kurze Stecke der Erzählung?

 In Meyers zweitem Buch „Die Nacht, die Lichter“ sind es Erzählungen oder, wie es im Untertitel heißt, „Stories“, wir kennen dies ja schon von Ingo Schulze, wo es aber umgekehrt lief, daß ein ganzer Roman „Simple Storys“ hieß. Hier nun sind es tatsächlich Stories, man muß das unbedingt deutsch aussprechen, wie es ja auch in Deutsch geschrieben ist und so wie jemand (am besten norddeutsch intoniert) sagt: „Nun vertell man keine Schtories!“, wenn er jemandem zu verstehen geben will, daß da fabuliert oder ein wenig übertrieben wird. Bei Meyer allerdings wird nichts über- oder untertrieben. Erzählt werden Geschichten, also Stories mitten aus dem Leben, aus einem Alltag heraus, der manches Mal nur traurig und trist ist.  Doch erzählt wird dies ohne den Hang zur Melancholie oder zur Verklärung.

Wozu dient die Story?: Sie will, anders als etwa die (Thomas Mannsche) sprachgewaltige, ausladende Erzählung oder die Novelle, kurz pointieren, in wenigen knappen Sätzen skizzieren; schnelle Dialoge treiben die Handlung. Das ist die Tradition der amerikanischen short story, wie sie seit den 90er Jahren bei vielen Schriftstellern wieder in Deutschland angesagt war. Eine ganze Generation, so könnte man überspitzt sagen, fühlte sich plötzlich zur amerikanischen Tradition eines Raymond Carver hingezogen, schrieb Vorworte für die in Deutschland veröffentlichten Bücher Carvers. Das langatmige, weit ausholende und mäandernde Erzählen ist vorbei. Der Erzähler beeindruckt vielmehr mit Lakonik, und es herrscht Verknappung vor. Die Story fängt in ihrer Sprache den jeweiligen Geist der jeweiligen Zeit ein, aber sie bietet nicht, wie der Roman oder die klassische Erzählung, ein manchmal groß angelegtes Panorama, sondern arbeitet vielmehr als photographischer Schnappschuß. Ein paar Bilder, ein Blitz, eine Szenerie kurz aufleuchtend und dann die Nacht. So eben geht es auch in dem Band von Clemens Meyer zu, in der Tradition der short storys, jedoch mit einem deutschen Underdogsujet: kurz und knapp, einen Assoziationsraum eröffnend.

Es sind fast alles Geschichten von ganz unten oder aus dem „Milieu“, meist enden sie verhängnisvoll oder zumindest ohne große Hoffnung. Selten bricht in die Tristesse einer Hochhaussiedlung der Hauch des Anderen ein, kommt eine Ahnung auf, daß es auch ein Leben da draußen, außerhalb gibt, wenn etwa wie in „Warten auf Südamerika“ einer aus der alten Clique Karten von dort schreibt und es „geschafft“ zu haben scheint. Doch eigentlich bleibt alles wie es ist, der Einbruch des Besonderen ist kurz nur. Manchmal hält der Schluß auch eine völlig unerwartete Wendung bereit, so wie etwa in der Erzählung „Wagen 29“. Ansonsten ist es, wie es ist, es ist so, wie es dort zugeht, ganz positivistisch gesprochen. Manches Mal wünscht man sich, daß es gut ausgehen möge, so beim Lesen von „In den Gängen“. Wer einmal in einem jener Großsupermärkte als Aushilfe oder als Festangestellter gearbeitet hat, der findet die Charaktere, die Art von Menschen, die dort im Food- und Non-Food-Bereich arbeiten müssen oder wollen, und die Atmosphäre der Arbeit exakt getroffen wieder: diese Mischung aus Solidarität, Einsamkeit, Verzweiflung, kleinen Scherzen, die helfen, die Tätigkeit erträglich zu machen, gemischt mit einer schlecht bezahlten Arbeit. Doch gleitet Meyer nicht in den Sozialkitsch ab, schon gar nicht vertraut er auf irgend ein Potential, daß diese Menschen ändert und sie dazu bringt, ihre Lage durchschauen zu können. Vielmehr beißen sich die Charaktere an Hoffnungen fest, die hinterher nur bitter enttäuscht werden, so wie bei jenem Mann, der für seinen erkrankten Hund das Geld zur Operation auf der Pferdewettbahn gewinnen muß, weil er diesen Eingriff aus eigener Tasche kaum bezahlen kann. Zum Schluß gewinnt er das nötige Geld sogar, und zwar durch die Hilfe eines Kumpels, der Perdewetten einst als Profi betrieb. Doch Geld zu gewinnen und Geld zu behalten, sind zweierlei Dinge. Die Wendung ist überraschend und leider lakonisch-drastisch.

Clemens Meyer hat einen genauen Blick für die Charaktere und die Szenerien. Knappe Beschreibungen, daß man sich sogleich im Geschehen wiederfindet und weiß, was Sache ist. Teils bedient Meyer sich des Mittels der Elipse, doch weiß man gleichsam intuitiv sofort, worum es geht. Da muß nicht viel gesagt werden, so wie in der Erzählung, die dem Band ihren Titel gab. Das Eliptische baut den Spannungsbogen auf. Erzählerisch und technisch ist das gekonnt. Andererseits erwartet man dies auch von einem Erzähler, welcher das „Deutsche Literaturinstitut Leipzig“ besuchte.

Doch nie gerät die Schilderung der Underdogs zum Selbstzweck; es hat nicht dieses furchtbar Gekünstelte eines Bukowski, wo in jedem zweiten Satz das Wort „Ficken“ lauert, obwohl manches von Meyer dem Sujet nach genauso gut von Bukowski stammen könnte. Um das Heikle einer solchen Verwechselung weiß Meyer sicherlich. Eher schon steht das Erzählen in guter alter Tradition Hemingways als Vater eines bestimmten Typus von amerikanischer Short Story oder befindet sich in der Gesellschaft Carvers. Szenen, Alltäglichkeiten, die zu Momenten verdichteten Episoden des Lebens, das Déjà-vu, was einen bei mancher Story überkommt, enthalten oftmals ein allgemeingültiges Moment; auch wenn es nicht das Milieu ist, aus dem man selber(ohne eigenes Zutun und Verdienst) entstammt. Doch pointiert Meyer „existentielle“ Momente, die einem Intellektuellen genauso widerfahren können wie einem, der ohne jegliche Mittel einfach nur durchkommen will. Kurz präzise, schnörkel- und umstandlos wird hier geschrieben, so daß solche Momente, von denen man weiß, daß es sie einmal gab kurz nur aufscheinen, freilich in verfremdeten Zusammenhang. Doch rückt man einmal von der Perspektive des Underdogs ab und sieht auf das Generelle, so kommt einem einiges recht vertraut vor.

Und wenn man noch weiter im Namensregister stöbern will, so bietet sich bezüglich des Sujets womöglich der Vergleich mit dem phantastischen Denis Johnson an, etwa mit seinem Erzählungsband „Jesus Son“, wenngleich Meyers Duktus sehr viel ruhiger ist als der voranstampfende Johnson. Obwohl diese Verortung in einem Namensfeld eigentlich nie gut ist, denn Meyer ist Meyer, so wie Johnson nun einmal Johnson ist. Doch kann durch ein solches Verorten ein wenig der Raum und damit zugleich der Rahmen, in dem die Bewegungen stattfinden, gezeigt werden.

 „Als wir träumten“ setzt sich von dem Band mit Erzählungen insofern ab, weil in diesen „Stories“ das Mißgeschick und das Geschehen mittlerweile ganz und gar Bundesrepublik geworden bzw. ins Allgemeine gewendet ist. Nicht mehr viel ist geblieben von jener Wendezeit in Leipzig. Das, was in der Erzählung „Wagon 29“ passiert, kann sich überall ereignen und ist ein existentielles Moment. Was in dem Roman sehr speziell angelegt war, nämlich der Verfall einer Ordnung und ihre Okkupation durch eine Leerstelle sowie der Kampf aller gegen alle, damit jeder ein Quentlein vom neuen Glück abbekäme, und dadurch an einen historischen Ort gebunden war, transponiert Meyer nun. Diese Geschichten sind ortlos geworden, und sie könnten zugleich an jedem Ort in Deutschland spielen. Gut erzählt sind sie, und man bleibt nicht, wie so oft, wenn Erzählen zum artifiziellen Zweck halb-organisierter Selbstreferenzialität der Generation Diskurs geworden ist, mit der Frage zurück „Was soll das eigentlich alles?“ Dies allerdings ist in der heutigen Zeit schon recht viel, wenn da jemand begabt erzählen kann und auch etwas zu erzählen hat. Es bleibt am Ende nur übrig, Clemens Meyer für sein drittes Buch, das ja der Legende nach das schwerste sein soll, viel Erfolg und gutes Gelingen zu wünschen.

 Clemens Meyer, Die Nacht, die Lichter. Stories, Fischer Verlag, Frankfurt/M 2008, ISBN: 978-3-10-048601-1, 272 Seiten, 18,90 EUR