Ein wenig geht es in diesem im Frühjahr 2020 erschienenen Roman von Lutz Seiler zu wie in seinem herrlichen Erstlingsbuch „Kruso“ (2014): Abschied von der DDR auf der Insel, die letzten Tage, nur diesmal nicht auf Hiddensee, sondern auf einer anderen Insel, und zwar mitten in der Hauptstadt der DDR, auf einer Insel in Ostberlin. Da gerät ein Protagonist in eine verschworene Gemeinschaft von Menschen, die dachten, für immer zusammenzuhalten: diesmal in Berlin-Mitte – Oranienburger Straße, die alte DDR, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, das alte Ostberlin. Und das sich bereits ankündigende, kommende, neue Berlin. Was geschieht? Es ist Wendezeit. Die Grenzen wurden dank Schabowskis Zettel und dem Fehlleser geöffnet. Die Menschen strömen in den anderen Teil Deutschlands. Es ist November 1989, die Mauer fällt. Und die Eltern des Protagonisten Carl telegraphieren ihrem Sohn, daß er aus Leipzig in die elterliche Wohnung nach Gera reisen solle, weil sie ihm, dem Sohn, etwas Wichtiges zu erzählen haben: Sie eröffnen ihrem Sohn, daß sie diese einmalige Chance nutze wollen, um in den Westen zu fliehen: wer weiß, wie lange dieser Zustand der offenen Grenze so bleibe, meint die Mutter, um dann wieder in den alten Zustand zurückzuspulen. Eine Flucht, die keine richtige Flucht mehr ist, weil die Mauer bereits gefallen war, aber um im Notaufnahmelager nicht allzu sehr aufzufallen, reist man besser nicht mit dem Auto an, so denken die Eltern. Also muß das Auto in Gera bleiben.
Mit dieser Nachricht wird der Sohn Carl von seinen Eltern überrascht und dazu verdonnert, die Wohnung in Gera einzuhüten und vor allem auf das kostbare, wohlgepflegte und gehegte Gefährt, den Lada Shiguli, aufzupassen. Nicht die Jugend bricht auf, sondern die Alten tun es. Was als elterliches DDR-Leben für die Dauer schien, erweist sich, wie später dann auch die DDR, als brüchig bis hinfällig: „wie gewohnt und als könnte es nicht anders als für immer so bleiben – schließlich war doch alles hier nur dafür eingerichtet.“ Für immer und immer. Denn das eben ist es, was Kinder glauben, die nun selber junge Erwachsene sind, und was sie noch weiterhin gerne glauben wollen. Alles bliebe wie immer: nur man selbst, als junger 20jähriger, würde sich ändern und seinen Lebensweg durchrauschen oder melancholisieren, wenn es einmal nicht so läuft, meist mit den Mädchen: Uni, Literatur, und wieder Mädchen, wild ein Leben leben und vor allem: Gedichte schreiben, so wie Carl es sich wünscht. Die Eltern – das sei der sichere Hafen. Daß alles bliebe. Aber die Gruppe „Karussell“ sang es so: „Nichts ist unendlich, so sieh das doch ein/ Ich weiß, du willst unendlich sein – schwach und klein“. Kitschig und schön zugleich. Ein wenig auch, wie jenes Seiler-Buch.
Auch ein Abschiedslied. Auch ein schöner Kontrast, gleich zu Beginn des Buches: Wagemutig sind die Eltern, die der Sohn in ihrem alltäglichen DDR-Dasein für langweilig, angepaßt und normal hielt. Und als Stubenhocker erweist sich der vormals in Leipzig Literatur studierende Sohn, der schon in Leipzig hockte und der nun nach der Abreise der Eltern monatelang still in der elterlichen Wohnung hockt, wartet, auf irgendwas wartet, auch darauf, daß er den Nachbarn, die neugierig sind und die wissen wollen, was mit den Eltern ist, aus dem Weg geht. Warten, abwarten, beobachten: wie schon im DDR-Leipzig, wo der jungen Mann wegen eines Mädchens namens Effi, in das er unsterblich und tief unglücklich verliebt war, sein Studium abbrach. Nun geht es wieder heim:
„Immer deutlicher wurde, dass Carl im Grunde nicht viel über seine Eltern wusste und nur ein paar blasse, kindliche Bilder mit sich herumtrug aus dem Album seiner Schulzeit und Jugend. Hatte er je wirklich über sie nachgedacht? War es die Aufgabe von Kindern, wenn sie erwachsen wurden, über ihre Eltern nachzudenken? Und wenn, wann sollten sie damit beginnen? War Mitte zwanzig dafür schon zu spät?“
Aber die „alte Ordnung löste sich auf, in rascher Geschwindigkeit“: die Gesellschaft, das Soziale, alles das, was war, ist nicht mehr so wie angedacht: Vorwärts immer, rückwärts nimmer. So denken Carls Eltern; und so denkt dann nach langem Hocken in der elterlichen Wohnung, die mehr und mehr zu einem Nicht-mehr-Ort wird, am Ende auch Carl. Er bricht mit dem Shiguli nach Berlin auf, ohne es den Eltern zu sagen, die glauben, er hüte die Wohnung weiter ein. Literatenträume, und irgendwas erleben, um es aufzuschreiben. Carl streift durch jene Mitte-Viertel, Scheunenviertel, Oranienburger Straße, Kollwitzplatz, fährt Schwarztaxi, beim ersten Mal ohne es zu merken, weil er freundlich ist und einen Ostberliner mitnimmt, der am Straßenrand winkt. Carl fährt, schaut, pennt in seinem Shiguli:
„In den ersten Tagen drehte Carl ein paar kleinere Runden. Er erkundete Berlin, kehrte aber immer wieder zu seinem Schlafplatz in der Linienstraße zurück. Er fuhr in die Kastanienallee, die er bisher nur als Titel eines Gedichtbands kannte, und lief eine Weile ziellos umher. Er war auf Entdeckungsreise, er konnte seinen Herzschlag spüren. Irgendwo hier, hinter diesen Fassaden, wurden die guten Gedichte geschrieben, die dann in Zeitschriften erschienen mit Namen wie ‚Liane‘ oder ‚Mikado‘. Auf der Suche nach ihrem besonderen Wesen musterte Carl die Menschen der Kastanienallee – auch wenn er sich damit lächerlich machte, er zeigte Respekt. Und tatsächlich hatten nicht wenige jene absolute Notwendigkeit im Blick, die zum Schreiben führen konnte; und dieser und jener schien schon tiefer hinabgestiegen in sein einsames ‚Ich muss‘, Rilkes Diktum, das auch Carl verfolgte, seit ihm die ‚Briefe an einen jungen Dichter‘ in die Hände gefallen waren.“
Oft schwingt, wie in der Rilke-Passage, Schalk und Selbstironie im Erzählen mit. Der hohe Anspruch des jungen Mannes und zugleich das am Ende auch wieder Hochtrabende, die große Geste, die im Rückblick der Jahre einerseits etwas Komisches und doch auch etwas Rührendes haben: als wir jung waren, als wir träumten, als da ein Leben noch offen vor einem lag,das es auszufüllen galt, mit all den Träumen, jene wunderbaren Jahre, im neuen, alten Berlin, um die Kastanienallee herum, die 15 Jahre später Castingallee hieß: Seiler vermag es, die Stimmung dieser Jahre anschaulich zu machen. Zumindest erzählt er sie so, daß jene Zeit glaubhaft wirkt und der Westrezensent meint, es wäre genau so gewesen, wie Seiler es beschrieb. [Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre: Literatur ist keine Dokumentation, sondern sie will schöne Geschichten erzählen, an denen wir uns berauschen. Einerseits. Die aber in ihrem Gemachtsein zugleich etwas Besonderes sind. Andererseits.] Wie Carl da im Fieber fast stirbt, weil er sich nachts im Auto eine Lungenentzündung zuzog und eine Gruppe Hausbesetzer ihn aufliest, mitnimmt, aufpäppelt und er in ihre Gemeinschaft hineinwächst. Hoffi, der Hirte, der Kopf der Gruppe um jenes in der Oranienburger Straße zu einem Treffpunkt ausgebaute Zentrum namens „Assel“, ein wenig gezeichnet wie die Figur des Kruso in dem gleichnamigen Roman und der als Commandante auch in diesem Roman wieder auftaucht, angereist von der Insel Hiddensee und nun ebenfalls in Berlin lebend, samt Kruso-Assistenten Edgar, der wie auch Carl ein weiteren Double des Autors zu sein scheint. Seiler verquickt hier auf eine schöne und unaufdringliche Weise Autobiographie und freies Erzählen: Das Ich ist immer ein Stück vom eigenen Leben und ist es doch nicht ganz. Der Ausbruch aus der alten Ordnung ist vielfältig: Inselszenen sind sowohl „Kruso“ als auch „Stern 111“.
Ist „Stern 111“ ein Berlinroman? Ein Ostberlinroman, genauer geschrieben? Ja und nein. Zwar spielt er an jenen Plätzen des Wende- und Nachwendeberlins in Mitte und Prenzlauer Berg: Oranienburger Straße, Rykestraße, Wörtherstraße, Schönhauser Allee, Kastanienallee, Knaackstraße bis hinein ins Winsviertel. Legendär in der Oranienburger Straße das Zentrum jener wilden Hausbesetzer, an die Carl gerät und die ihn aufpäppelten: jenes ausgebaute, umgebaute, ausgegrabene Kellerlokal mit dem Namen „Assel“.
Ostberlinjahre des Ausbruchs. Eine Art Niemandsland. Maler, Schauspieler, Dichter, Macher, die die marode Bausubstanz dieser Viertel für sich zu nutzen wissen, die renovieren, umbauen, Häuser besetzen, um Wohnraum zu gewinnen. Aber zugleich geht es um mehr als um das alte Wendeostberlin mit seiner speziellen Szene aus Künstlern, Aussteigern, Hausbesetzern, Lebemenschen, aber auch den Alteingesessenen und besonders den Alten, die dort nicht mehr fortwollen und schon bald fort müssen. Jene heute monokulturell aufbereiteten Viertel sind inzwischen die Lieblingsorte von Journalisten, die das migrantische Leben preisen und als sie einstmals mit diesem in Neukölln und Wedding in Berührung kamen, schnell in den inzwischen entmieteten Prenzlauer Berg flohen. Bodentiefe Fenster sozusagen und Entmietung; heute beklagt man sich literarische über jene mit den „Schäfchen im Trockenen“.
Das alles war damals anders. Alles war offen. Neue Lebensformen schienen möglich. Insofern ist dieser Roman auch ein Buch, das die Frage stellt, wie wir leben wollen. Sei es am Beispiel der Eltern, die tatsächlich zu einem ganz Neuen aufbrechen und Carl, der sich tastend in jenem Ostberlin bewegt. Verfall stand auf der Tagesordnung des Jahres 1989 und diese Ästhetik des Untergangs ermöglichte zugleich ein Refugium für Kunst. Es ist das, was Seiler beschreibt, nicht nur ein Ort, sondern zugleich ein Zustand, eine Emphase von Aufbruch, die Zeit des Umbruchs, die genauso für Leipzig, für Halle und vermutlich auch für Chemnitz und Magdeburg gelten kann. Der Roman erzählt eine Erfahrung, die kein Wessi je machen konnte, nämlich wie ein System vollständig wegbrach und eine Leerstelle hinterließ, an die man andocken und die Menschen mit ihren Ideen und mit ihrer Phantasie ausfüllen konnten; die alten Autoritäten waren fort oder wurden verlacht, neue waren zunächst nicht in sicht. „Stern 111“ zeigt, was damals war, als die DDR zusammenbrach und als sich Menschen ihre Freiräume eroberten – ähnlich wie auch Clemens Meyers Leipzig-Tableau „Als wir träumten“: großartig, weil Meyer in klaren Bildern und pointierten Szenen jene Jahre der Wende auch dem Leser aus dem Westen anschaulich machen kann – vor allem das Wilde dieser Zeit. Und eben dieses Zeigen von Zeit fasziniert auch bei Seiler.
Und wie schon in seinem erstem Roman „Kruso“ zeigt er Menschen, die in der Gemeinschaft ein besseres und anderes Leben führen wollen, das von Freiheit, aber auch von einem Ideal sozialistischer Gemeinschaft bestimmt ist: Kommune machen, nur eben bloß nicht wie jene zwanghaften 68er, sondern auf Ostart. Da ist jener Hirte, Hoffi mit Spitznamen, der jene lose Hausbesetzergruppe anführt, er denkt bei seinem neuen Wohnprogramm an Arbeiter und an Aussteiger. Er predigt, er nimmt jeden auf, der mitmachen will, so eine Art Naturtheater von Oklahama. Ein Kollektiv, eine Gemeinschaft mit neuer Lebensform. Jeder nach seinen Bedürfnissen. Doch die meisten jener Arbeiter, die der Hirte ansprechen wollte, hatten genug von den Utopieträumen: „Kommt die Westmark bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.“ Genau dies war ihr Verhältnis zur DDR. Und so verirren sich in die „Assel“, jene von den Besetzern peu a peu ausgebauten Kellerkneipe und Café, nur jene ehemaligen russischen Soldaten, die unter traurigen Bedingungen inzwischen schwarz auf dem Bau arbeiten. Oder es kommen die Huren der Oranienburgerstraße. Was bleibt, ist der Idealismus jener Jahre.
Ein wenig anders freilich und als Kontrastbild des Berlin-Aufbruchs wirken Carls Eltern. Sie sind die wirklichen Aussteiger. Sie fangen aus einem alten Leben ein völlig neues an: alles auf Risiko, brechen aus einem alten Leben, das sie jahrzehntelang in Gera führten, aus. Carl hat Eltern, die er im Grunde nicht kennt und die eine Existenz führten, von der er bisher nichts wußte: Sie liebten es, Rock’n Roll zu tanzen, sie waren, als es noch keine Mauer gab, bei einem Rock-Konzert in Westberlin, sie hörten jene Musik und mochte das Wilde und Überschlagende beim Tanzen, und sie haben sich in der DDR am Ende doch gefügt: „Er sah seine Eltern, Seite an Seite tauchten sie ein in diesen Irrtumsnebel, der immer dichter wurde.“
Das Leben der Eltern in der BRD und später dann sogar in den USA, das Leben Carls in Mitte und im Prenzlauer Berg: die Parallelmontage der beiden unterschiedlichen Leben ist eine schöne Konstruktion, um auf diese Weise verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen, wie man auf die Öffnung der Mauer reagieren kann.
An manchen Stellen bin ich mir allerdings von der Sprache her nicht sicher, ob das, was da steht, so gemeint ist oder ob es die Ironie einer Jugend-Phase abbilden soll, so wie junge Künstler gerne bilderreich dichten:
„Für einen Moment beschlich ihn der Verdacht, dass die Welt, der er angehörte, klammheimlich verschwunden und er einer der Übriggebliebenen war, ein Stück angefaultes Treibholz auf dem großen breiten Strom der neuen Zeit.“
Vielleicht soll solcher Bericht von der Zeit in der Form des personalen Erzählers die Stimmung Carls abbilden und sie zugleich persiflieren. Vielleicht aber auch den Eindruck des Erzählers wiedergeben. Doch ist dies zu viel von Pathos, wenn es ernst gemeint sein sollte. Gebeizte Stimmungskunst. Solche hochtourende Prosa findet sich an einigen Stellen. Weniger hätte gut getan. Die Wendung „für einen Moment“ taucht in diesem Roman übrigens an genau 44 Stellen auf. Ich gehe davon aus, daß diese Häufung nicht bloß Nachlässigkeit ist, sondern daß hier der Augenblick, der Moment eben, eine besondere Rolle spielt. Und einen solchen besonderen Moment im Leben eines jungen Mannes erzählt auch Lutz Seiler. Dazu gehört genauso die Ablösung von den Eltern, die sich wiederum von ihrem alten Leben ablösen.
„Stern 111“ ist in diesem Sinne auch ein Bildungsroman. Die Bildungsreise des jungen Carl aus dem beschaulichen, kleinen DDR-Gera nach Ostberlin und der Werdegang eines jungen Mannes, der sich nicht sonderlich viel zutraut, der sympathisch ist, der gerne ein Dichter werden will und der von den Leuten wegen seiner stillen Art gemocht wird, aber eigentlich nie die Rolle des Leittiers im Rudel spielt. Er schaut zu. Und in diesem Schauen, aus dieser Passivität heraus und durchs Beobachten bildet jener Carl sich. Carl nämlich wird es am Ende sein, der genau diesen Roman geschrieben und der zum Schriftsteller wurde; und aus diesem Grund wechselt der Roman dann im Epilog von der Er-Perspektive in die des Ichs. Ein Autor, ein Dichter, der sich gefunden hat. Vom Er zum Ich. Rückblicken auf sich selbst kann man oftmals nur in der dritten Person: man war damals ein anderer. Wie endet der Roman? So wie es richtig ist, nämlich mit einem Blick auf jenen Ort, der neben dem kleinen Carl, Hoffi, dem Hirten, Carls großer Liebe Effi, der er im Osten Berlins wiederbegegnet, Carls Eltern und vielen anderen Bewohnern dieser Utopie-Oase, einer der Protagonisten dieses schönen Romans ist, nämlich die herrliche „Assel“, in der sich Glück, Liebe, Arbeit, Kunst, Kampf, Verzweiflung und Feiern zutrugen:
„Auch heute steht in der Oranienburger Straße 21 ein Haus. Wenn ich dort vorüberkomme, überprüfe ich die Nummer am Eingang und die Lage zu bestimmten Bäumen gegenüber, die es schon damals gab, im Park. Die Lage – sonst ist nichts geblieben. Selbst das Souterrain, die alte Höhle, gibt es nicht mehr. Die Decke ist herausgerissen, der Unterstand ist aufgebrochen, das U-Boot gesprengt. Durch breit verglaste Öffnungen in der Fassade schaut man einem hohen, gut beleuchteten Raum bis auf den Grund. Der alte Unterschlupf ist eine Art Aquarium geworden. Wozu, bleibt ein Rätsel. Vereinzelt stehen dort ein paar Möbelstücke, ohne Preis. Einen Kunden oder einen Verkäufer habe ich nie dort gesehen – keine Menschen, nur ein Kasten aus Glas und Stein, in dem ein paar Möbel treiben.“
Von dem, was einmal war, blieb nichts mehr übrig – außer den Fassaden der Häuser und jene Erinnerungen an eine Zeit, die lange vorüber ist. Lutz Seiler verdichtete sie in Literatur. Die Oranienburger Straße heute ist eine leblose Zone, eine Straße wie jede andere, mit Bars und indischen Restaurants samt bunten Fahnen, die mit India-Kitsch Touristen aus New York und Madrid locken, in einem Bezirk, der inzwischen unbewohnbar ist. Nichts ist unendlich. Der Rest ist Geschichte, der Rest bleibt Erinnerung für die, die damals dabei waren. Ein wunderbares, poetisches, schönes Buch zum Abschied eines Landes, programmatisch steht dafür auch der Romantitel: wer damals nicht dabei war, wird nur mit Nachschlagen wissen, was „Stern 111“ ist. Nämlich ein altes DDR-Transistorradio.
„Carls Mutter zog einen Handwagen hinter sich her, in dem Carl saß, das Kind, vom Dorf bis zur Autobahn waren es nur zwei Kilometer. Carl-das-Kind hatte ein Kissen im Rücken und das Stern 111 auf den Knien, ihr Kofferradio.“
Teils ist das Buch in der Sprache auch ein Schelmenroman. Im Blick des Sohnes auf die Eltern erinnern vom Humor her manche Passagen an Thomas Brussigs „Helden wie wir“. Insofern würde ich, obgleich Seiler ein verhaltener Spaßmacher ist, diese Prosa teils als Komik lesen, und zwar gerade durchs Dezente als eine guter Variante des Humors, gelingt dies. Vor allem aber ist es ein ostdeutscher Bildung- und Entwicklungsroman. Seiler verbindet diese Elemente aus Poesie der Sprache und Zeitgeschehen zu einer konsistenten und spannenden Geschichte mit herrlicher Pointe, zuweilen auch Kitsch, den ich diesem Buch aber insofern verzeihe, weil der Roman wunderbar erzählt eine Stimmung, eine Zeit, eine Phase anschaulich macht, die ich als Rezensent nicht miterleben durfte. Ich harrte damals in jenen wunderbaren Jahren des frühen Erwachsenendaseins mit Mitte 20 in der guten Denk-Stube und las in der Arbeitsgruppe „Kants Kritik der reinen Vernunft“. Auch so ein Stubenhocker. Aber ohne die Ambition, ein Dichter zu werden.
Lutz Seiler, Stern 111, Suhrkamp Verlag 2020
528 Seiten, 24,00 EUR