Ich schrieb in diesem Blog an verschiedenen Stellen über Heiner Müller, so z.B. hier, ich verlinke dies, damit auch die alten Texte einmal wieder ausgegraben und gelesen werden, denn das ist es, was ich am Prinzip des Blogs als unzureichend erachte: die früheren Texte sind begraben unter einer Schicht anderer Texte, und so liegt Text über Text, sie verweisen zwar in der einen oder anderen Konstellation aufeinander, doch sie bleiben am Ende unbezüglich, ungelesen, ungenutzt im Digitalen gestreut, weil die Blogleserinnen und -leser der Chronologie folgen und selten zurückschreiten – so mutmaße ich. Das Buch macht es Leserinnen und Lesern einfacher: Es läßt sich blättern.
Doch nicht um das System des Blogs soll es gehen, sondern um Heiner Müller: zu loben gilt es sein großartiges Theater: Geschichtsphilosophie, die sich in die Antike verlagert, und zwar aus Notwendigkeit heraus und nicht, wie heute beliebt, als postmoderne und beliebige Spielerei, weil eine oder einer gerne einmal zeigen möchte: „Seht her! Ich kenne die Griechen, und auch ihre Göttinnen und Götter sind mir nicht fremd“. Zugleich aber ließ Heiner Müller die deutsche Geschichte nicht los, der Verweis auf die Antike, auf Homer, auf die Illias, auf Hamlet, auf Shakespeare war ein Verweis auf die von der Vergangenheit her determinierte und fortdauernde Gegenwart, auf die Zeit der DDR, auf die der faschistischen Diktatur. Insofern ist es konsequent, daß Müller jenen Engel der Geschichte aus Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen aufgreift. [Einmal nur aus der Totschlägerreihe herausspringen, so schrieb es Franz Kafka in sein Tagebuch.]
Von der Wolokolamsker Chaussee, auf der der Vormarsch der faschistischen Armee zu seinem Ende gelangte, bis zur Stalinallee führt eine Spur. Und die geht ebenfalls über die Vernichtungslager der Deutschen bis hin zum Sozialismus ohne menschliches Antlitz. Verpacken konnte man in der DDR diese Sätze nur in ein antikes Drama, oder aber es mußten die kritischen Passagen in den Zwischenräumen als Konterbande und im doppelten Bühnenboden versteckt werden. Alles andere wäre Wahnsinn. Das, was Müller offen aussprach, wie in seinem Drama „Die Umsiedlerin“ fiel der Zensur anheim. Der Regisseur dieses Stücks wurde in die Produktion geschickt, um sich durch die heilende Kraft sozialistischer Fleißarbeit an den Maschinen zu bewähren. Shakespeare-Factory. „Krieg ohne Schlacht“ heißt der Zustand dieser Welt, die beschädigt daliegt und mit der Gewalt überzieht Müller sie. Es ist jener Zustand zwischen Humanismus und Barbarei, der den Text Müllers trägt
Solche Texte, solche geschichtsphilosophisch aufgeladenen Dramen könne man nur in einer Diktatur schreiben, in der es Zensur gibt, so sagte Müller einmal. Da hatte er reicht. Wer zwischen den Zeilen schreiben muß, ist sehr viel mehr darum bemüht hinreichend ausdeutbar und doch sehr exakt zu schreiben. In einem anderen Rahmen des Schreibens sagte Karl Kraus – ganz zu Recht: „Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.“ In der heutigen Theater-, Prosa- und Lyriklandschaft ist das Verhältnis zur Geschichte großenteils verlorengegangen und ebenso der Wunsch, in Drama oder Prosa einen großen Wurf zu wagen. In der Lyrik vermag diese Größe samt Geschichte Durs Grünbein zu evozieren. Vielfach aber, so gut die Romane der deutschen Literatur auch sein mögen, fehlt der Gegenwartsliteratur dieser Sinn für Geschichte; ihre Tiefendimension, ihre Reichweite bis hin zum Mythos und zurück zu den Registern und den Fabeln der Macht. Doch es hängen die Texte in ihrer Zeit, und es geht nur, was geht. Ästhetisch, im Sinne der Form sowie der Arbeit daran: ihrer Fortschreibung.
Was bleibt von Heiner Müller? Natürlich, seine Texte, wenngleich es auf deutschsprachigen Bühnen relativ still um ihn geworden ist. Und dann sind da noch die Photographien von Müller: Poser-Bilder, aber vom feinsten. Wunderbar auf der Fotografie des Autors diese Brecht-Pose: in der einen Hand die Zigarre, und auf Lesungen manchmal in der anderen Hand das Glas mit dem Whisky. Heiner Müller war ein guter Vorleser: mit lakonischer Stimme sprach er, das brachte einen besonderen Sound, einen Drive in seine Prosa oder Lyrik. Am Ende aber bleiben die Texte übrig, auch wenn sich dagegen viele sträuben, denn das Leben geht zu Ende, ist endlich und es herrscht hernach: Nichts. Krebsbaracken, um mit dem verehrten Gottfried Benn zu sprechen.
ICH KAUE DIE KRANKENKOST DER TOD
Schmeckt durch
Nach der letzten Endoskopie in den Augen der Ärzte
War mein Grab offen Beinahe rührte mich
Die Trauer der Experten und beinahe
War ich stolz auf meinen unbesiegbaren
Tumor
Einen Augenblick lang Fleisch
Von meinem Fleisch
12.12.1995
Achtzehn Tage später verstarb Heiner Müller am 30. Dezember 1995.
Der Tod und die Krankenhauskost sind eine sehr private Angelegenheit Aber es geht auch anders: Müller beschränkte sich im Gedicht nie rein aufs Private, wenngleich seine späteren Gedichte (soll man diese Texte überhaupt der Lyrik zurechnen?) häufig auf die Alltagsumstände verweisen. Die Lyrik Müllers entwirft die (Geschichts-)Bilder, erzeugt sie, und die Bildbeschreibung ist eine der Verfahrensweisen Müllers. Müller be- und überschreibt die Bilder der Geschichte. „Bilder bedeuten alles im Anfang. Sind haltbar. Geräumig“ So auch die Utopie, die eng mit den Texten Müllers verknüpft ist.
Über ein Blatt mit Gedichten
Frisch aus der Schreibmaschine
läuft ein Insekt
Ich weiß nicht ob es mir Spaß gemacht hätte
Aber das weiß ich genau ich hätte es umgebracht
vor zehn Jahren ohne
Zögern Was ist anders geworden
Ich oder die Welt?
Eine kluge Frage, fürwahr, eine dieser Brechtschen Lyrikfragen. Wie nahe liegen in diesem Text der Tod, die Szenen eines Alltags und die Reflexion auf einen Augenblick beieinander! Aber so dicht, in dieser Weise zusammengefaßt, kann das lediglich in der Komposition des Gedichts gelingen. Keine unmittelbare Wahrnehmung, auf die sich immer wieder so gerne berufen wird, vermag dieses Zusammenspiel von Gewalt, Leben, Lyrik, Geschichte, Selbstbetrachtung, Tod und Augenblick in ein Bild zu bringen.
Diese ewige Phrase, daß seine Prosa uns fehlen wird, ist entbehrlich, aber dennoch rate ich dazu, sich an manchen Tagen wie diesen in der Werksausgabe bei Suhrkamp oder in den Texten im Rotbuch Verlag festzulesen, hineinzulesen. Denn die Zeit, die gestundete, ist knapp bemessen: Vanitas, Sanduhren, Schädel, leere Gläser, Spiegel und Masken, und so rinnt unser Leben dahin:
ein kind weint in der cafeteria
das kind ist ein monster aus der alptraumfabrik
eine variation auf ein thema von spielberg
die mutter ein gebirge aus kaltem fett
groß ist mutter natur
deiner erfindung pracht
und ach die wunder
der medizin
duft von rosen und flieder
in der anatomie des dr benn