Heiner Müller zum 85. Geburtstag – „Trümmer die großen Gedichte, wie Leiber, lange geliebt …“

10001799-r%20copy Ich schrieb in diesem Blog an verschiedenen Stellen über Heiner Müller, so z.B. hier, ich verlinke dies, damit auch die alten Texte einmal wieder ausgegraben und gelesen werden, denn das ist es, was ich am Prinzip des Blogs als unzureichend erachte: die früheren Texte sind begraben unter einer Schicht anderer Texte, und so liegt Text über Text, sie verweisen zwar in der einen oder anderen Konstellation aufeinander, doch sie bleiben am Ende unbezüglich, ungelesen, ungenutzt im Digitalen gestreut, weil die Blogleserinnen und -leser der Chronologie folgen und selten zurückschreiten – so mutmaße ich. Das Buch macht es Leserinnen und Lesern einfacher: Es läßt sich blättern.

Doch nicht um das System des Blogs soll es gehen, sondern um Heiner Müller: zu loben gilt es sein großartiges Theater: Geschichtsphilosophie, die sich in die Antike verlagert, und zwar aus Notwendigkeit heraus und nicht, wie heute beliebt, als postmoderne und beliebige Spielerei, weil eine oder einer gerne einmal zeigen möchte: „Seht her! Ich kenne die Griechen, und auch ihre Göttinnen und Götter sind mir nicht fremd“. Zugleich aber ließ Heiner Müller die deutsche Geschichte nicht los, der Verweis auf die Antike, auf Homer, auf die Illias, auf Hamlet, auf Shakespeare war ein Verweis auf die von der Vergangenheit her determinierte und fortdauernde Gegenwart, auf die Zeit der DDR, auf die der faschistischen Diktatur. Insofern ist es konsequent, daß Müller jenen Engel der Geschichte aus Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen aufgreift. [Einmal nur aus der Totschlägerreihe herausspringen, so schrieb es Franz Kafka in sein Tagebuch.]

Von der Wolokolamsker Chaussee, auf der der Vormarsch der faschistischen Armee zu seinem Ende gelangte, bis zur Stalinallee führt eine Spur. Und die geht ebenfalls über die Vernichtungslager der Deutschen bis hin zum Sozialismus ohne menschliches Antlitz. Verpacken konnte man in der DDR diese Sätze nur in ein antikes Drama, oder aber es mußten die kritischen Passagen in den Zwischenräumen als Konterbande und im doppelten Bühnenboden versteckt werden. Alles andere wäre Wahnsinn. Das, was Müller offen aussprach, wie in seinem Drama „Die Umsiedlerin“ fiel der Zensur anheim. Der Regisseur dieses Stücks wurde in die Produktion geschickt, um sich durch die heilende Kraft sozialistischer Fleißarbeit an den Maschinen zu bewähren. Shakespeare-Factory. „Krieg ohne Schlacht“ heißt der Zustand dieser Welt, die beschädigt daliegt und mit der Gewalt überzieht Müller sie. Es ist jener Zustand zwischen Humanismus und Barbarei, der den Text Müllers trägt

Solche Texte, solche geschichtsphilosophisch aufgeladenen Dramen könne man nur in einer Diktatur schreiben, in der es Zensur gibt, so sagte Müller einmal. Da hatte er reicht. Wer zwischen den Zeilen schreiben muß, ist sehr viel mehr darum bemüht hinreichend ausdeutbar und doch sehr exakt zu schreiben. In einem anderen Rahmen des Schreibens sagte Karl Kraus – ganz zu Recht: „Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.“ In der heutigen Theater-, Prosa- und Lyriklandschaft ist das Verhältnis zur Geschichte großenteils verlorengegangen und ebenso der Wunsch, in Drama oder Prosa einen großen Wurf zu wagen. In der Lyrik vermag diese Größe samt Geschichte Durs Grünbein zu evozieren. Vielfach aber, so gut die Romane der deutschen Literatur auch sein mögen, fehlt der Gegenwartsliteratur dieser Sinn für Geschichte; ihre Tiefendimension, ihre Reichweite bis hin zum Mythos und zurück zu den Registern und den Fabeln der Macht. Doch es hängen die Texte in ihrer Zeit, und es geht nur, was geht. Ästhetisch, im Sinne der Form sowie der Arbeit daran: ihrer Fortschreibung.

Was bleibt von Heiner Müller? Natürlich, seine Texte, wenngleich es auf deutschsprachigen Bühnen relativ still um ihn geworden ist. Und dann sind da noch die Photographien von Müller: Poser-Bilder, aber vom feinsten. Wunderbar auf der Fotografie des Autors diese Brecht-Pose: in der einen Hand die Zigarre, und auf Lesungen manchmal in der anderen Hand das Glas mit dem Whisky. Heiner Müller war ein guter Vorleser: mit lakonischer Stimme sprach er, das brachte einen besonderen Sound, einen Drive in seine Prosa oder Lyrik. Am Ende aber bleiben die Texte übrig, auch wenn sich dagegen viele sträuben, denn das Leben geht zu Ende, ist endlich und es herrscht hernach: Nichts. Krebsbaracken, um mit dem verehrten Gottfried Benn zu sprechen.

ICH KAUE DIE KRANKENKOST DER TOD
Schmeckt durch
Nach der letzten Endoskopie in den Augen der Ärzte
War mein Grab offen Beinahe rührte mich
Die Trauer der Experten und beinahe
War ich stolz auf meinen unbesiegbaren
Tumor
Einen Augenblick lang Fleisch
Von meinem Fleisch

12.12.1995

Achtzehn Tage später verstarb Heiner Müller am 30. Dezember 1995.

Der Tod und die Krankenhauskost sind eine sehr private Angelegenheit Aber es geht auch anders: Müller beschränkte sich im Gedicht nie rein aufs Private, wenngleich seine späteren Gedichte (soll man diese Texte überhaupt der Lyrik zurechnen?) häufig auf die Alltagsumstände verweisen. Die Lyrik Müllers entwirft die (Geschichts-)Bilder, erzeugt sie, und die Bildbeschreibung ist eine der Verfahrensweisen Müllers. Müller be- und überschreibt die Bilder der Geschichte. „Bilder bedeuten alles im Anfang. Sind haltbar. Geräumig“ So auch die Utopie, die eng mit den Texten Müllers verknüpft ist.

Über ein Blatt mit Gedichten
Frisch aus der Schreibmaschine
läuft ein Insekt
Ich weiß nicht ob es mir Spaß gemacht hätte
Aber das weiß ich genau ich hätte es umgebracht
vor zehn Jahren ohne
Zögern Was ist anders geworden
Ich oder die Welt?

Eine kluge Frage, fürwahr, eine dieser Brechtschen Lyrikfragen. Wie nahe liegen in diesem Text der Tod, die Szenen eines Alltags und die Reflexion auf einen Augenblick beieinander! Aber so dicht, in dieser Weise zusammengefaßt, kann das lediglich in der Komposition des Gedichts gelingen. Keine unmittelbare Wahrnehmung, auf die sich immer wieder so gerne berufen wird, vermag dieses Zusammenspiel von Gewalt, Leben, Lyrik, Geschichte, Selbstbetrachtung, Tod und Augenblick in ein Bild zu bringen.

Diese ewige Phrase, daß seine Prosa uns fehlen wird, ist entbehrlich, aber dennoch rate ich dazu, sich an manchen Tagen wie diesen in der Werksausgabe bei Suhrkamp oder in den Texten im Rotbuch Verlag festzulesen, hineinzulesen. Denn die Zeit, die gestundete, ist knapp bemessen: Vanitas, Sanduhren, Schädel, leere Gläser, Spiegel und Masken, und so rinnt unser Leben dahin:

ein kind weint in der cafeteria
das kind ist ein monster aus der alptraumfabrik
eine variation auf ein thema von spielberg
die mutter ein gebirge aus kaltem fett
groß ist mutter natur
deiner erfindung pracht
und ach die wunder
der medizin
duft von rosen und flieder
in der anatomie des dr benn

Melancholia (3) – Einverleibungen, geschichtsphilosophisch: Zirkumzisionen

Der Versuch, diese Serie zur Melancholie und ihren Ausprägungen fortzusetzen. Nein, kein Versuch, sondern ich setze sie fort. Das Kannibalische als Moment der (oralen) Einverleibung funktioniert in verschiedenen Weisen und entäußert sich nicht nur in der libidinösen Besetzung des Objektes im Sinne einer Fort/Da-Struktur, welche das Objekt zu einem des Begehrens und zum Fetisch transformiert. Als Zitat im Zitat verleibt sich der Text die Texte ein und bringt sie in die Struktur einer unendlichen Verweisung, erzeugt die Depotenzierung des Zusammenhangs, die Dekonstruktion des Sinne. Der Sinne des Sinns, die „Logik des Sinns“ (Deleuze) ist nicht der Sinn. Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse, Narzißmus, Fetischismus, die gesteigerte Empfindungsfähigkeit und zugleich die Acedia der Melancholie formen den Text. „Im Denken bin Ich frei, weil ich nicht in einem Andern bin, sondern schlechthin bei mir selbst bleibe, und der Gegenstand, der mir das Wesen ist, in ungetrennter Einheit mein Für-mich-sein ist; und meine Bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in mir selbst.“ Aber lassen wir in einem leicht verschobenen Zusammenhang Heiner Müllers Text sprechen:

„Das Gefühl des Scheiterns, das Bewußtsein der Niederlage beim Wiederlesen der alten Texte ist gründlich. Versuchung, das Scheitern dem Stoff anzulasten, dem Material (ein kannibalisches Vokabular – ‚We are such stuff as dreams are made of‘), der Geschichte des amputierten Helden: sie kann jedem passieren, sie bedeutet nichts; bei dem einen genügt eine Blutvergiftung, der andre hat mehr Glück: er braucht einen Krieg. Ausflucht: Europa ist eine Ruine, in den Ruinen werden die Toten nicht gezählt. Die Wahrheit ist konkret, ich atme Steine. Leute, die ihre Arbeit machen, damit sie ihr Brot kaufen können, haben für solche Betrachtungen keine Zeit. Aber was geht mich der Hunger an. Uneinholbarkeit des Vorgangs durch die Beschreibung; Unvereinbarkeit von Schreiben und Lesen: Austreibung des Lesens aus dem Text. Puppen, mit Wörtern gestopft statt mit Sägemehl. Herzfleisch. Das Bedürfnis nach einer Sprache, die niemand lesen kann, nimmt zu. Wer ist niemand. Eine Sprache ohne Wörter. Oder das Verschwinden der Welt in den Wörtern. Stattdessen der lebenslange Sehzwang, das Bombardement der Bilder (Baum Haus Frau), die Augenlider weggesprengt. Das Gegenüber aus Zähneknirschen, Bränden und Gesang. Die Schutthalde der Literatur im Rücken.

Das Verlöschen der Welt in den Bildern.“
(H. Müller, Traktor)

Und das Motiv der Augenlider, die nicht mehr nur zerschnitten, durchschnitten, weggeschnitte sind, wie in jenem Text, in welchem Kleist das Bild „Mönch am Meer“ von C.D Friedrich deutete, oder diesen Schnitt durch das weibliche Auge, der im „Andalusischen Hund“ getätigt wird als die Beschneidung und zugleich die äußerste Freisetzung des Blickes, verweist bei H. Müller auf das Moment radikaler Dekomposition, welche zugleich eine Statik hervorbringt: es geschieht diese Freisetzung bzw. diese Umschreibung durch jenen (Benjaminschen) destruktiven Charakter mit dem modernsten Mittel: des Sprengstoffes und nicht mehr mit dem Skalpell – jenem Werkzeug der Beschneidung. Wobei wir in diesem Rahmen sowie in dieser Passage, wenn wir bei dem Schnitt, dem Einschnitt verweilen möchten, im Sinne der umfassenden Zirkumzisionen von einer Beschneidung als Kastrationsdrohung über das Freudschen Konzept vom Fetisch bis hin zu jenem Gedicht Celans gelangen können, welches „Einem, der vor der Tür stand“ heißt:

Diesem
beschneide das Wort,
diesem
schreib das lebendige
Nichts ins Gemüt,

Und in „Tübingen, Jänner“ sind es die zur Blindheit überredeten Augen, die ins Lallen oder in die Aphasie gleiten. Zu einer „Poetik der Beschneidung“ folgt hier im Blog demnächst und womöglich mehr, und zwar als Lektüre von Derridas Celan-Lektüre „Schibboleth“, was man bei Derrida mit dem Text „Geschlecht (Heidegger). Sexuelle Differenz, ontologische Differenz“ gegenlesen müßte.

„Der Kommunismus beginnt dort, wo einfache Arbeiter, in selbstloser Weise, harte Arbeit bewältigend, sich Sorgen machen um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, um den Schutz eines jeden Puds Getreide, Kohle, Eisen und anderer Produkte, die nicht dem Arbeiter persönlich und nicht ihm ‚Nahestehender‘ zugute kommen, sondern ‚Fernstehenden‘, d.h. der ganzen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit.“

Zugleich eben verlöscht im Text Müllers die Welt in den Bildern, gerät starr und in den Bann. Endspielszenarien. State of Play. Das Bild, die Photographie ist der Fetisch des Immergleichen. An einer anderen Stelle des Müllerschen Textes, in der Prosa-Miniatur „Bildbeschreibung“ verwandelt sich diese Photographie wieder in Sprache, worauf ebenfalls jene oben genannte Passage verweist.

„Bilder bedeuten alles am Anfang. Sind haltbar. Geräumig.
Aber die Träume gerinnen, werden Gestalt und Enttäuschung.
Schon den Himmel hält kein Bild mehr. Die Wolke, vom Flugzeug
Aus: ein Dampf der die Sicht nimmt. Der Kranich nur noch ein Vogel.
Der Kommunismus sogar, das Endbild, das immer erfrischte
Weil mit Blut gewaschen wieder und wieder, der Alltag
Zahlt ihn aus mit kleiner Münze, unglänzend, von Schweiß blind
Trümmer die großen Gedichte, wie Leiber, lange geliebt und
Nicht mehr gebraucht jetzt, am Weg der vielbrauchenden endlichen Gattung
Zwischen den Zeilen Gejammer auf Knochen der Steinträger glücklich
Denn das Schöne bedeutet das mögliche Ende der Schrecken.

(Heiner Müller, Bilder)

Darin steckt sicherlich ebenso eine Theorie der Photographie. (Und zugleich der Bezug auf die und die Parodie jener Rilkeschen Duineser Elegien.) Es bleibt die Abwesenheit, welche die Melancholie und zuweilen auch den Melancholiker antreibt.

Engel der Geschichte

Ich möchte heute und hier, unkommentiert, zwei Text nebeneinander stellen und zusammen- oder gegeneinander lesen:

„Ich bin der Engel der Verzweiflung. Mit meinen Händen teile ich den Rausch aus, die Betäubung, das Vergessen, Lust und Qual der Leiber. Meine Rede ist das Schweigen, mein Gesang der Schrei. Im Schatten meiner Flügel wohnt der Schrecken. Meine Hoffnung ist der letzte Atem. Meine Hoffnung ist die erste Schlacht. Ich bin das Messer mit dem der Tote seinen Sarg aufsprengt. Ich bin der sein wird. Mein Flug ist der Aufstand, mein Himmel der Abgrund von morgen.“
(Heiner Müller, Werke 1, S. 212)

Und so heißt es auch im Lenz von Bücher, daß man den Himmel als Abgrund unter sich hat, wenn man auf dem Kopf geht.

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm,“
(Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, GS I/2, S. 697 f.)

Stalinstadt

 20 Jahre keine DDR (Teil 2)

Der sozialistische Führer baute den Arbeitern
eine schöne neue Stadt und ein Stahlwerk:
(„Wir loben die guten Sozialisten“)
(Heute: Eisenhüttenstadt)

Vom chic des Totalitären?
Nein, nein, (eine Fortschreibung der „Wolokolamsker Chaussee“.)
Die Spur der Russischen Panzer durch die Geschichte verfolgend, Heiner Müller
jener Mann, ganz in schwarz mit der Zigarre und dem Whisky
Der Mann mit der monotonen Stimme,
auf seinem Balkon in Berlin-Friedrichsfelde, „Fickzellen mit Fernwärme“

„VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN
Das Thälmannlied Die Partisanen vom
Armur und Völker hört die Signale
Das roten Halstuch naß vom Stalinopfer
Und das zerrissene Blauhemd für den Toten
Gefallen an der Mauer Stalins Denkmal
Für Rosa Luxemburg Die Geisterstädte
VERGESSEN Kronstandt Budapest und Prag
Wo das Gespenst des Kommunismus umgeht
Klopfzeichen in der Kanalisation
VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN
Begraben immer wieder von der Scheiße
Und aus der Scheiße steht es wieder auf
VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN
Dreht seine Runden und geht seinen Gang“

(Wolokolamsker Chaussee V)

 

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