Fridays for Future – Zur Klima-Demo in Berlin

Menschen strömen in den S-Bahnhof Rathaus Steglitz: Kinder, Erwachsene, Jugendliche, auch Lehrer sind mit dabei, es scheinen ganze Schulklassen auf den Beinen. Solche Szenen sah ich eigentlich nur bei Großveranstaltungen oder den großen Friedensdemonstrationen Anfang der 1980er Jahre. Sogar die Berliner S-Bahn beteiligt sich am Klima-Streik. Sie tut, was sie am besten kann: nicht fahren und nicht funktionieren. Die S 7 und andere Züge fielen bis zum Mittag wegen eines Stellwerkfehlers aus. Und wie üblich ließ die S-Bahn ihre Züge im zeitgedehnten Zehn-Minuten-Takt gondeln, während es auf dem Bahnsteig voller und voller wurde und an vielen Stationen die Leute einfach auf dem Bahnsteig warten mußten und auch im nächsten Zug vermutlich nicht mitkamen, weil der nämlich genauso voll war. Damit man einmal auch das Gefühl bekommt, wie es wohl in Tokio sein könnte. In der S-Bahn quetschten sich die Menschenkörper. Irgendein 13jähriger meinte in jenem Penälerhumor trocken „Wenn jetzt jemand furzt, stirbt der ganze Waggon.“ Fast alle wollten zum Brandenburger Tor, viele hatten Plakate und Transparente dabei.

Ein anderer junger Schüler, er mochte 15 oder 16 Jahre sein, erzählte von seinen Reisen in den Hambacher Forst, wie sie von der Polizei schikaniert wurden, wie ihnen die Übernachtung schwierig gemacht wurde, indem das Gelände, wo die Zelte stehen sollten, mit schwerem Gerät umgepflügt wurde, erzählte von Widerstand und Protest und sprach mit Emphase und ein wenig altklug, wie junge Menschen, die gerade die Politik für sich entdecken, manchmal sind. Ich kam mit ihm ins Gespräch. Der Junge schilderte, wie er und Genossen ein Denkmal mit politischen Parolen beschmiert hätten, allerdings mit Kreide, und wie dann die Polizei kam. Der junge Lehrer sagte mit einem süffisanten Lächeln. „Das will ich jetzt lieber nicht gehört haben.“ Eine schöne Atmosphäre, mir lächelte irgendeine Frau zu, so wie an diesem Tag ich häufig von Frauen Ende 30 angelächelt wurde. Ich weiß nicht weshalb, vielleicht lag es an meiner schwarzen Lederjacke und meinem harten Reporterblick. Vielleicht wollten sie auch einen vom Alter her gut situierten Mann. Sie waren bei mir an der falschen Stelle. Kriegsberichterstatter sind einsam. Und sie bleiben es. Wer jetzt keine Nikon hat, der hat sie nimmermehr.

Am Potsdamer Platz stiegen wir alle aus. Es herrschte auch dort ein Drängeln und Schieben. Alle strömten sie hin zum Brandenburger Tor. Massen und immer mehr an Menschen hier in Berlin. Kinder, Jugendliche, Eltern, aber auch Alte und jene Altachtundsechziger und auch Altachtziger wie ich, die schon damals bei den großen Protesten der BRD dabei waren. Fehlt nur noch, daß jemand die Graswurzelrevolution oder die UZ verteilte oder einem die Mitgliedschaft in der SDAJ aufschwatzen will. Linke aber genauso Bürgerliche gehen bei dieser Demo mit, politisch ganz unterschiedliche Menschen kamen hier und heute zusammen, um irgendwie mit ihren Mitteln ein Zeichen zu setzen.

Parolen wie „Ich sag Kohle, ihr ruft ‚Ausstieg‘“ sind ganz und gar nicht meine Sache, ebensowenig die Mitmachprogramme mit Herumhüpfen und Hände heben. Irgendwann sang von der Bühne Dota Kehr. Ich mag viele ihrer Lieder, auf den Text habe ich nicht gehört, aber die Melodie und die Art des Singens klangen schön. Ich hoffe, es war kein politisches Lied, denn da sind die Texte leider oft garstig-gräßlich und entbehren nicht eines gewissen Kitsches. Leider waren die Reden der unterschiedlichen Redner viel zu lang. Manche Zuhörer begannen schon mit den Füßen zu scharren.

Amüsant auch die Ansage vom (separaten) Lautsprecherwagen der Intersektionalisten und Queerfeministinnen: Bis sie zu Anfang ihrer politischen Ansprache all die Minderheiten aufgezählt hatte, war die Demo fast schon wieder vorbei. Ich wollte noch dazurufen: „Ihr habt Schlitzäugige vergessen und Menschen mit schiefen Zähnen“ ließ es aber dann doch um des lieben Friedens willen bleiben und weil ich weiß, daß man als Photograph am besten ungestört Photos macht, wenn man sich neutral verhält und ins politische Geschehen nicht weiter sich einmischt.

Eigentlich bin ich bei Demos immer unbehelligt geblieben, sei es von Seiten der Demonstranten oder der Polizei. Diesmal aber erwischte es mich, und das ausgerechnet auf einer solchen Veranstaltungen. Ich gehe seit 39 Jahren auf Demonstrationen, ich photographiere dort, ich habe Heftiges erlebt, ich kam in manche bedrohliche Lage, etwa wenn neben mir Polizisten zu Boden gingen, weil sie von Feuerwerkskörpern getroffen wurden oder wie ich in Bonn 1985 hinter einer Polizeikette lief und in einen Stein- und Tomantenhagel von Autonomen geriet, ohne daß mich was traf, zum Glück. Heute jedoch, bei einer Demo mit vielen Kindern, mit Erwachsenen, Lehrern, Angestellten, jungen und alten Menschen unterschiedlichster Prägung ist es mir passiert, daß ein Jugendlichen-Black-Block, es waren fast noch Kinder, mich beim Thomas-DehlerHaus, also der Parteizentrale der FDP, erwischte. Mit einem Farbbeutel, der neben mir aufschlug. Die gute Nikon D 600 schmutzig, die Hose rotrosa gesprenkelt, die Lederjacke fleckig. Na ja, dafür habe ich dann zehn Minuten später eine Verhaftung veranlaßt. Die Männer vom Greiftrupp wissen immer gut, wen sie holen müssen. (Nein, war ein Spaß – ich habe nur weiter aufmerksam beobachtet und bin mitgelaufen bis zum Ende und dort, wo es spannend sein könnte, daß abends dann die Knochen weh taten.)

Ich kann nicht ganz verstehen, wieso auf einer friedlichen Demonstration mit vielen Kindern ein Black-Block, diesmal in Grün-Lila allerdings, Bengalos zündet, mehrfach, bis dann ab dem Holocaust-Mahnmal ein Zug Bereitschaftspolizei den Block begleitet. Woraufhin sich in Rufen und Lautsprecherdurchsagen über die „Bullen“ und deren aggressive Art beschwert wird. Protestler, die ein Transparent wie „SUV-Macker abfackeln“ mit sich führen: mir ist nicht ganz klar, wie und inwiefern sich solche Personen mit Argumenten gegen rechtes Hatespeech positionieren wollen. Und wenn dann beim FDPHaus gerufen wird „Ganz Berlin haßt die FDP!“, so kann man das machen, wenn man das glaubt. Ich hätte denen am liebsten erwidert „Hier in Berlin werde ich sie bei der nächsten Wahl wählen!“ Es war ein ärgerlicher, selbstgefälliger und naiver Block. Vielleicht kann man diese Dummheit ihrem Jugendlichsein zugutehalten und dem damit verbundenen politischen Überschwang. Die Welt ist für sie schwarz/weiß, Differenzierungen und unterschiedliche Farben und Töne existieren in diesem Denken nicht – ich weiß eigentlich gar nicht recht, wie dieses instrumentelle Denken mit der Lektüre von Foucault und Adorno zusammengehen soll: wo man bei der Gesellschaft eine Differenziertheit einfordert, die man selbst jedoch nie bereit ist zu leisten. Verwunderlich ist das freilich nicht, das ragt bis in die Mitte, wenn Fernsehclowns wie Jan Böhmermann sich engagieren. Jedoch: zu meiner Zeit war es nicht anders. Aber ich schweife ab.

Wenn dann Gegenstände und Farbbeutel in Richtung des FDP-Hauses fliegen, fingen mit dem Krawall nun freilich nicht die „Bullen“ an, sondern der Jung-Black-Block. Sich hinterher darüber beschweren, daß Greiftrupps jene Leute, die solche Dinge machen oder ebenso im Zug gegen das Vermummungsverbot verstießen, später zu einem geeigneten Zeitpunkt herausholen, scheint mir nicht ganz unwahrscheinlich und irgendwie auch berechenbar. So zog der Zug sich hin. Zum Glück war diese Form des Protestes nur ein sehr kleiner Ausschnitt und allüberall bei dieser Demonstration ging es friedlich zu.

Im Anschluß an jene Fridays for Future-Proteste gab es vom Potsdamer Platz ausgehend noch eine Demonstration der Berliner Club-Betreiber. Unter dem Motto „No future no dancefloor“. In ihrem Aufruf zum Rave-Aufstand hieß es:

„Wir feiern viel, gern und verschwenderisch. Aber statt rassistischen Unsinn von Überbevölkerung zu labern, lieben wir es eng, laut, stickig und voll. Statt nationale Ausgrenzung wollen wir alle dabeihaben, egal woher sie kommen, wie sie lieben, begehren oder aussehen.

Unsere Nebelmaschinen ballern bis es von der Decke tropft und wir tanzen wie entfesselt. Aber wir sind nicht so vernebelt zu glauben, dass unser hedonistischer Ausnahmemoment die Welt zugrunde richtet und nicht der allesfressende kapitalistische Normalzustand.

Für nachhaltigen Feierexzess recyceln wir den letzten Schrott.“

Daß jene Leute das Klima retten wollen, scheint mir unglaubwürdig. Ich denke, die Raver samt ihren Gästen bekommen nicht einmal die basale Hygiene auf einer ihrer Club-Toiletten in den Griff.

Ansonsten aber, das muß man unbedingt dazu schreiben: Es war eine gute, eine wichtige und auch eine mächtige Demo, die da um 12 Uhr vorm Brandenburger Tor stattfand und dann über viele Stunden durchs Regierungsviertel zog. Und sie war vor allem friedlich. Und eben nicht nur in Berlin, sondern auf der ganzen Welt fanden diese Proteste statt. Man sollte keinem Alarmismus huldigen. Aber wenn eine Situation ernst ist, sollten man den Ernst der Lage nicht nur kennen, sondern auch benennen und sichtbar machen. Solche Aktionen sind symbolisch, sicherlich, und es konfligieren dabei unterschiedliche Ansätze und Forderungen; von Veganern über Bürgerlich-Liberale bis hin zu harten Kapitalismuskritikern und eben Kindern und Jugendlichen, die ganz einfach Angst um ihre Welt haben. Solch bunte Gemengelage ist nichts Neues, es gab sie bei den 1968ern schon, 1982 zu Friedensdemo-Zeiten gegen den Nato-Beschluß und sie existierte beim Anti-AKW-Protest jener 70er und 80er Jahre in Wyhll am Kaiserstuhl, in Brokdorf an der Elbe und in der Oberpfalz in Wackersdorf, als Bürger und Autonome zusammen demonstrierten, und auch zu der großen Fukushima-Demo 2011 in Berlin warʼs der Fall. Gerade dieser Protest lieferte 2011 ein wichtiges politisches Zeichen. Schön, daß so viele Menschen heute weltweit auf der Straße waren. Bei bei solchen Protesten geht es nicht unbedingt darum, Fachfragen zu debattieren. Sie sollen vielmehr politisch ein Zeichen setzen. Gehen genügend Menschen hin und sind es wie in Berlin gut 200.000 Menschen, dann muüssen auch SpOn und die Tagesschau darüber berichten. Schön wäre es, wenn man auch für Julien Assange, Edward Snowdon und Chelsea Mannings derart viele Menschen auf die Beine bekäme, denn auch dann müßte die „Macht um acht“ über solches berichten.

[Eine zweite Serie mit Photographien kommt morgen.]

 

Berliner Sumpf im Märkischen Sand (2)

Man könnte meinen, AISTHESIS setzte die Trends und Themen, wenn ich an meinen Bericht vor einer Woche denke: „Berlin, Berlin …“. Die SpON-Kolumne vom inzwischen immer mehr geschätzten Jan Fleischhauer vom 16.8.18 geht so:

„Leben in Berlin Das Venezuela Deutschlands

Tote kommen nicht unter die Erde, Geburtsurkunden dauern Monate, jeder Behördengang ist eine Qual: Wer Sehnsucht nach einer linken Sammlungsbewegung hat, sollte sich den Alltag im rot-rot-grün regierten Berlin anschauen.“

„Der Kolumnist Harald Martenstein füllt seine Kolumne im „Tagesspiegel“ mittlerweile mühelos mit Begebenheiten aus dem Verwaltungsalltag. Manches ist so kurios, dass man es nur glaubt, weil es in der Zeitung steht. Um die chronischen Verspätungen bei der S-Bahn zu beheben, kamen die Verkehrsbetriebe auf die Idee, nicht mehr an jeder Haltestelle zu stoppen. Der Plan wurde erst nach Protesten aufgegeben. Die Bezirksämter schaffen es nicht, Geburtsurkunden zeitnah auszustellen, berichtet der Chronist, Tote dürfen nicht unter die Erde, weil Ämter überlastet sind. Heiratswillige sollten ihr Vorhaben weit in die Zukunft legen.“

Aber leider ist vieles davon nicht neu, seit Jahrzehnten bekannt auch der Berliner Sumpf im Märkischen Sand. Macht aber nichts, denken viele, und solange man nichts vom Amt will, ist es ok, meinen manche.

Zum Photographieren bietet diese Stadt allerdings anregendes Ambiente. Alles was zählt – zumindest für den leicht anreizbaren Ästhetiker. Andererseits ist das bei jeder Stadt irgendwie der Fall, noch der langweiligste oder der sauberste Ort bietet Motive: ein guter Photograph findet genau die Plätze und Szenen, die er haben will und bringt sie ins Bild.

Fleischhauers ansonsten treffender Artikel wird allerdings ein wenig getrübt durch seine Kritik an der linken Sammelbewegung. „Aufstehen“ ist nun gerade keine Partei, und es ist diese Bewegung schon gar nicht r2g, sondern eigentlich das, was die gute alte PDS und die SPD mal waren. Diesen Parteien ist ihr alter Wählerstamm teils abhanden gekommen. Dieses Potential muß wieder gesammelt werden. Keine Partei ist derzeit dazu in der Lage oder willens. In der Linken toben Grabenkämpfe um No-border-no-nation-Parolen, die realiter kaum eine Chance auf Erfüllung haben, was auch gut so ist. Freilich: ob der Protest durch „Aufstehen“ gelingt, muß man abwarten. Man kann halt was tun oder man schaut einem System beim Krachen zu. Vielleicht wird es doch nicht so schlimm, vielleicht auch schlimmer. Keiner weiß. Man kann freilich all dies nur abwarten und schauen, niemand besitzt eine Glaskugel und kann hellsehen.

Beim Hartz IV-Dransal bis hin zu den Schrank- und Wohnungskontrolleuren und den Schröder-Gesetzen zur Freisetzung des Arbeitsmarktes bzw. genauer geschrieben zur Pauperisierung breiter Schichten im Niedriglohnbereich oder dem Abdrängen von Menschen in Ich-AGs regte sich kein nennenswerter Straßenprotest. Böse könnte man nun sagen, die Leute bekommen, was sie verdienen. Und auch bei den nächsten Wahlen. Da wird man dann, wenn manche an „Aufstehen“ schon im Vorfeld herumkritteln, eben mit 15 oder 20 oder 25 % AfD leben müssen.

Eigentlich sollte es die Aufgabe von Politik sein, Wähler, die einst die SPD oder die Linke wählten, von dort wieder abzuholen. Klug wäre es von den etablierten Parteien und auch von der identitären Zeitungs- und irgendwas-mit-Medien-Linken allerdings, sich ein paar Gedanken zu machen. Sofern man nicht kampflos 15 % AfD hinnehmen möchte, muß man deren Wähler erreichen. Das tut man nicht, indem man sie als Nazis und Dummköppe tituliert oder indem etwa der politisch dumpfe Leo Fischer „liegenbleiben“ hashtagwitzelt. Eindimensionale Menschen. Inzwischen gönne ich manchen dieser pseudoprogressiven Linken, manchen dieser Sessellinken, die hier bequem in ihrem Berliner Biotop hocken, ihre mindestens 30 % AfD. Denn wie es so ist: erst echter Widerstand von rechtsaußen macht wohlstandsverwahrloste Identitätslinke vielleicht doch einmal kreativ und treibt zum Nachdenken, wie man weitere Kreise als den eigenen Sperr- und Kleindenkbezirk erreicht. No-border-no-nation könnte da unvorhergesehen schnell sehr eng werden. Ein arg begrenzter Ort.

Egal wie, das alles wollte ich gar nicht schreiben, sondern eigentlich nur auf einen Artikel verweisen, um meine Photographien vom Anfang des Jahres bei einem Spaziergang in Kreuzberg sowie Friedrichshain und an der Spree zu zeigen. (Teil 1 der Serie gibt es an dieser Stelle, und Anfang der Woche kommt dann einmal wieder eine Buchkritik, und zwar, passend zum Thema womöglich, zu Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse)

 

„Every you Every me“: Stadt als Standort – Facetten des Populären (2)

„Das jemand in Berlin ‚lebt und arbeitet‘, kam
hier einem Bedeutung generierenden Faktor gleich. So als
wäre die Ortsangabe per se dazu in der Lage, etwas über
künstlerische Arbeiten selbst auszusagen, Sinn zu stiften und dadurch
die Sehnsucht nach Orientierung und ‚Bedeutung‘ zu befriedigen.“
(Isabelle Graw, in: Texte zur Kunst, Heft 94)

 
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Aisthetische Verhältnisse: Die Stadt als eine Lebensweise und Lebensform, als Möglichkeitsraum, um günstig zu wohnen, seinen Träumen, Ideen oder Idealen nachzugehen, sexuelle Präferenzen ohne Grenzen, die Stadt als Metapher und ihr Name eine Verlockung, als Leben, zweckfrei und frei von Zeit: eine Verheißung. Generierung des Mehrwerts. Unendliche Feste. Das freilich zog die Menschen von überall her an. Nicht anders wird es demnächst leider Leipzig ergehen. Nicht im großen Stil, aber es kommen mehr Menschen. Doch dem romantischen Spiel der inszenierten Bohème folgt in der Regel das Maklerbüro Engel & Völkers – was freilich nicht immer ein Nachteil sein muß. Es kommt auf die Bezüge an, unter denen Makler arbeiten und inwiefern eine Stadtverwaltung bzw. deren Regierende sich das Heft nicht oder eben doch von wirtschaftlichen Interessen aus der Hand nehmen lassen. [Andererseits sind solche Sätze absurd – hegen sie doch irgendwie die Illusion, daß es innerhalb des Systems ein gutes Gegen gäbe oder irgendwo in den Tiefen des Politischen oder Privaten ein richtiges Leben im falschen existierte, sei es auch bloß als Feierabend- und Freizeitkommunismus beim lauschigen Bierchen am Lagerfeuer.]

Berlin als Lebensform: vom Berghain bis zur Kaschemme. In anderer Weise geschieht der Berlin-Hype auf der Ebene der Kunst. Insbesondere die bildenden Künste zog es seit den 00er Jahren nach Berlin. Die erste Berlin Biennale, kuratiert von Klaus Biesenbach, Hans-Ulrich Obrist und Nancy Spector, fand 1998 statt. Schauen wie „Based in Berlin“ und Kunstmessen wie ABC brachten auf verschiedenen Ebenen, von kultureller Distinktion, ästhetischer Reflexion bis zur Ökonomisierung des Raumes,  in Berlin einen massiven Wandel. Waren früher München und insbesondere das Rheinland mit Köln und Düsseldorf solche Hochburgen, so mausert sich inzwischen auch Berlin. Wenngleich das zahlungskräftige Publikum immer noch in der Rheinregion sitzt.

Berlin ist noch nicht saturiert genug, insofern lassen sich hinreichend viele Nischen finden, in denen mal zu recht, mal outriert der Subversion gefrönt wird. Nicht dem Kommerz dient – zumindest vorgeblich – das kulturelle Engagement, sondern dem symbolischen Wert der hehren Sache Kunst. Dabei geschieht freilich eine eigentümliche Dialektik der Subversion. Je marktferner sich in Berlin die Kunst gibt, desto größer der Standortvorteil. Das führt, was die Aufwertung von Vierteln betrifft, zu einer vertrackten Situation. Dem Gebiet um die Potsdamer Straße herum (kurz Potse genannt, was in meinem puritanisch-gegenderten Ohr einen obszönen Anstrich hat, aber da die Kurfürstenstraße nicht weit liegt, mag das Wort passen) tat ein Wandel gut. Inzwischen siedeln Galerien dort und massiv werden Wohnungen entmietet. Das ist nicht die Schuld der Galeristen und Künstler, sei dazu gesagt, sondern (konsequente) Folge einer Politik, die weder fähig noch willens ist, zu handeln. Aber es handeln andere im Hintergrund. Berlin ist eben arm. Armut ist nicht sexy. Macht und Geld sind es sehr wohl.
 
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Inwiefern in diesem Prozessen Kunst als Standortvorteil wirkt – ganz gleich, ob sie sich nun subversiv gibt oder nicht, ob sie marktkonform oder sperrig sich verhält, das spielt keine Rolle – und das „symbolische Kapital“ durchaus geldwerten Vorteil generiert, haben seit einem Jahrzehnt zahlreiche Künstler und Galerien begriffen. Kunst und Neoliberalismus stehen (gewollt oder ungewollt) in einem Verhältnis, Kunst borgt von diesem ihr Begriffsrepertoire, und Begriffe der Ideologie des ungehemmten Marktes, wenn nur der Staat verschwindet und jeder seines Glückes Schmied sei und authentisch, individuell und flexibel sich verhält, zogen in die Kunstwelt ein. Daß der Künstler ein autonomes Individuum sei, das sich in keine Vorgaben pressen läßt, können wir seit der Renaissance den großen Künstlerportraits entnehmen – sei’s Albrecht Dürer oder im Barock dann Rembrandt van Rijn.
 
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Diesem andauernden, sich in immer neue Windungen steigernden Trend, Individualität und Kreativität als Zauberwort für die neue Arbeitswelt zu preisen, widmet sich – um nun wieder zum Thema zu kommen – in den „Texten zur Kunst“ Isabelle Graws Beitrag „Der Mythos der Marktferne. Anmerkungen zum Aufstieg Berlins zu einer Kunstmetropole“. Kreativität ist das Zauberwort, das als „Heilswort der Gegenwart“ Tore öffnet und noch die simpelste Arbeit zum genialen Tun aufwertet. Insbesondere da, wo alle das gleiche betreiben, hält man sich für besonders kreativ. Einer muß es den Menschen nur lange genug vorbeten, daß sie einzig und authentisch seien.

Die Reize werden aufgesteigert, Betriebsweihnachtsfeiern zu Events stilisiert und noch in der Freizeit dienen die für Leistung, die sich wieder lohnen muß, ausgezahlten Sachprämien dem Ethos der Arbeit. Ein Betriebsmarathon oder ein nach der Arbeit einzulösender abendlicher Wochenkursus für ein US-Marine-artiges Trainingsprogramm sehen aus wie feine Geschenke oder Boni, sind aber nichts weiter als die Verlängerung der Arbeitswelt. Das Recht auf Faulheit kommt in diesen Zonen nicht vor. Keiner dieser Arbeitnehmer, die sich als solche kaum noch verstehen – „Einen Betriebsrat? Wozu brauchen wir den denn?“ – verfiele auf die Idee, daß seine Arbeit tatsächlich Arbeit ist, von der weder er selbst oder die Gesellschaft, sondern wer anders profitiert. Der Kunst die Schuld für diese Szenarien aufzubürden ist naturgemäß zu simpel. Aber im universellen Verblendungszusammenhang greift eins ins andere. Es existieren keine unschuldigen Orte. Wer das annimmt, ist mit gehöriger Naivität geschlagen, gestraft, vielleicht aber auch: gesegnet. Das Heilsame der Anästhesie.
 
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 „Auch von Arbeitern und Angestellten wird inzwischen ein gewisses Maß an Kreativität verlangt, wobei sich die Vorstellung, die man sich vom ‚kreativen Arbeiter‘ macht, am Modell des selbstbestimmt arbeitenden Künstlers orientiert. Entsprechend dem traditionellen Künstlerbild hat auch der kreative Arbeiter möglichst flexibel, mobil und kreativ zu sein. Er soll zudem eigenverantwortlich arbeiten und sich dabei auch noch selber verwirklichen. Je deregulierter und prekärer die Arbeitsverhältnisse, desto gefragter ist dieser Typus des kreativen Arbeiters, der prototypisch in Berlin-Mitte der späten 1990er Jahre anzutreffen war. … Jedes Abendessen war zugleich eine Teamsitzung, jedem Gespräch wohnte ein instrumenteller Zug inne, da es mit Brainstorming einherging.“ (I. Graw)

Als dann in den 00er Jahren die schönen Blasen platzten und den ersten Internetbuden der Arsch auf Grundeis ging, war es plötzlich vorbei mit dem schönen Schein und dem Hohn auf den Betriebsrat. Die nachfolgenden Unternehmen lernten freilich schnell, und eine absurde Melange aus Kunst, Medienphilosophie samt Blahsprech, Zen und Asien (von Kopf bis Bauch: Nahrung aus Vietnam hält schlank), Illusion von Freiheit, wie sie vorher in den 80ern nur Camel oder Marlboro produzierten, bestimmte die Arbeit des Betriebes, der seine Tätigkeit freilich nur am Rande als Arbeit verstanden wissen wollte. Der kasual in den Abend hinein verlängerte Freitag war fast schon Freizeit. Dieser Umstand trifft sicherlich auf diverse Software-Firmen zu, die ihre Produkte für Kunst, für E-Commerce, fürs Internet oder fürs Smartphone entwickeln und an den angesagten Orten (nicht nur in Berlin) fleißig programmieren.

„Der flexibel Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus“ hieß Ende der 90er Jahre ein Buch des amerikanischen Soziologen Richard Sennett, der bereits früh diese Phänomene beschrieb. (Wobei ich hoffe, daß er den Begriff der Kultur ironisch gebrauchte, denn ansonsten wäre der Titel ein einziger Schrott: diese Phänomene nämlich sind genau das Gegenteil von Kultur, sofern man diesem Begriff noch einen emphatischen Gehalt zubilligen möchte, was ich mittlerweile für verfehlt halte.) Diese Flexibilität hängt nicht nur mit der Bereitschaft zusammen, Orte der Arbeit relativ schnell bereitwillig wechseln zu können und zu wollen, sondern sie disponiert das Subjekt selber zu einem Bündel heteronomer Verhaltensweisen, die es freilich als die ihr authentisch eigenen zu instrumentalisieren hat. Insbesondere die bildende Kunst ist in diesem Zusammenhängen das Surrogat, das die Betriebstemperatur kuschelig hält. Abends eine Vernissage, bei der die aufs Stichwort einschnappende und vorhersehbar geschulte Wahrnehmung zum weiteren Einsatz abkommandiert wurde. Foster Wallace oder Bolaño eignen sich zu solchem Prozedere nur bedingt, weil ihre Lektüre ein Unmaß an Zeit erfordert, die sich am Ende des Vorgangs nur selten amortisiert. Der kulturelle Mehrwert liegt lediglich darin, einen Namen nennen zu können, der mit einer hinreichenden Komplexität gezeichnet ist.
 
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Sicherlich kann man als Kritik anmerken, daß die „Texte zur Kunst“ diesen Phänomenen der Stadt samt einer Kunst als Kompensationskomplement spät erst sich widmeten. Ausprägungen, die bereits vor zehn oder fünfzehn Jahren abzusehen waren, als Berlin noch hyper-hypester Hype war. Aber besser zu spät als nie, und bekanntlich beginnt die Eule der Minerva … Aber ob daraus nun so etwas wie Philosophie zu pressen ist, bezweifle ich. Wir verbleiben im Modus der bestimmten Negation. Das ist für viele nicht sehr gemütlich. Aber der Blick des Ironikers gleitet bekanntlich von distanzierter Warte über den Görlitzer Park und andere Brachen und Umstände, geht in die neutralen oder auch in die schwer bedeutsamen Zonen der Stadt, in denen gewerkt, gewichtelt und kulturell getan wird. Erfreut sich am Tand und am Spiel der Zeiten.

Es geht wie es geht. Immer näher rücken mir die Figur und der Habitus des Ernst Jüngers (freilich nicht dessen politische Haltung, wobei man sich natürlich fragen muß, wie beides am Ende doch zusammenhängt), der bei der Kanonade von Paris, auf einem Dach dinierend, in die Nacht blickte und dazu eine Champagnerbowle zu sich nahm, darin Erdbeeren schwammen, Feuer und Strahlkraft der Gewalten beschauend. Der eigentümliche, erhabene, erschaudernde Glanz, den das Ungeheure mit einem Male auslöst. Aber insbesondere im Wirken solcher ästhetischer Augenblicke, in dieser eigenwilligen Inszenierung des Schreckens tritt dieser sehr viel deutlicher zutage als in den halbpathetisch-verkitschten Antikriegsbeschwörungen des „Nie wieder!“, die in die ästhetische Form nur die politische Intention hineinpressen. Wer die Form zugunsten der Politik preisgibt, liefert nicht nur die ästhetische Form aus und banalisiert sie, sondern entleert im selben Moment ebenso das Politische zugunsten eines engagierten Statements aus dem geblähten Bauch. Aber wenigstens die Fürze sind in dieser Haltung echt und authentisch. Anderes Thema aber. Wir jedoch, wir betrachten weiter diese Stadt in ihren Facetten. Nicht im Ton des Unmittelbaren schwingen wir  mit oder anders. Sondern als böser Stachel und als häßliche Unke. Der Rosa Luxemburg die Hand zu reichen, bleibt vergeblich, weil sie noch immer im Landwehrkanal treidelt.

Der kalte Blick Nietzsches und Jüngers auf diese Stadt. Ich möchte deren Bewohnerinnen und Bewohner als Käfer fixieren und in die entomologische Sammlung bringen. Wir werden dann im Herbst wieder diese Perspektiven in Photoserien begleiten, wie bereits hier oder auch da und an verschiedenen anderen Stellen und Städten.
 
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Berlin, Berlin [Bashing for Bohème]. Facetten des Populären (1)

Marktferne, aber dafür Kunstnähe? Dies war einmal! Heute geht in Berlin beides recht gut zusammen: Stadt als Kunst als Standortfaktor. Vom Wilden und Ungezähmten der Kunst blieben allenfalls die Brachen der Stadt, die sanft ruhen und den Schlaf schlummern. Bis sie erweckt werden. Sie liegen solange brach, bis sich ein für Investoren geeignetes Projekt findet, das sich wirklich lohnt. So wird es – meine Prognose – in 10 Jahren ebenso dem Tempelhofer Feld ergehen. Insofern hatten die Bebauungsgegner – obwohl dem Schein nach die Abstimmung gewonnen – bereits im Mai verloren; denn anstatt heute, im Hier und Jetzt, für eine sinnvolle Bebauung zu votierten, sperrten sie sich komplett. Auch das ist Berlin.

94_TZK_Cover_02_t_w470Die Juni-Ausgabe der „Texte zur Kunst“ widmet dieser Stadt in all seinen Facetten von Kunst, Kommunikation und Kommerz – rtl-alliteriert, freilich von mir, wie Biker, Busen, Büchsenbier – unter dem Titel „Berlin Update“ ein Heft: Vom radikalen Wandel Berlins innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte, der wesentlich durch ökonomische Faktoren bedingt ist, bis zum Kunsthype samt der Kommerzialisierung, vom „Theorie-Design“, das mit dieser Stadt durch drei Universitäten samt ihren Sonderforschungsbereichen verbunden ist sowie dem kulturellen Crossover verschiedener Institutionen wie Theatern, Museen und Kunst-Events (Berlinale, Theatertreffen, Berlin Biennale, Gallery Weekend, Monat der Fotografie, Kunst- und Modemessen usw.), bis hin zu einer Stadt der neuen Medien, für die symbolisch Orte wie das Café Sankt Oberholz oder andere Trendbars, -Restaurants und-Clubs stehen, die genauso schnell wechseln wie sie kamen, samt perfider Arbeitswelten, die den Schein des Authentischen malen, wo Arbeit und Freizeit keinen Unterschied mehr machen, weil Freizeit den Charakter von Arbeit annimmt und Arbeit sich als Freizeit geriert – vom Fitnessprogramm bis zu den Plänen gesunder Ernährung, irgendwelchen Kursen im Creativ Writing und Schreibseminaren.

Berlin bietet für die Kreativ- und Kunstszene in relativ günstiger Weise zwei ökonomisch hoch wertvolle Ressource: Raum und Zeit. Immer noch läßt es sich in dieser Stadt für wenig Geld und gut leben, wenn man seine Essens- und Lebensansprüche gering ansetzt, sich von Nudeln ernährt und dieses Minimale als neue Zünftigkeit propagiert. Insofern ist billiger Wohnraum in guter Lage gewünscht und wird als Anspruch angemeldet. Gerne wird dabei in schäbiger Bude die Aura der Bohème gepflegt. In einer Weise freilich, die mich in diesem Klischee an Aki Kaurismäkis absurd-komischen Film „Das Leben der Bohème“ denken läßt. Ein Schuß Tragik und schönes Scheitern ist naturgemäß ebenso beigemischt, denn was wäre das Leben samt seinen Inszenierungen ohne jene Tragik und sei diese auch nur eine Posse und Simulationseffekt. In einem post-dramatischen, post-aristotelischen Zeitalter, in dem Ort, Zeit und Handlung sprunghaft divergieren können, bleibt das Dividuum.

Das „transgressive Potential von Underground-Parallelwelten“ diente immer schon – seit dem Phänomen des Pop und den läppischen Exzessen der Beat-Generation, allen voran J. Kerouac: keiner wußte das besser als Adorno – der radikalen Ökonomisierung von Gesellschaft. „Mit Danone kriegen wir euch alle!“, drohte die Werbung der 80er Jahre. Oder mit Kunst. Oder mit Pop oder indem sich die Bezirke mischen. Neoliberalismus und Kunst sind zu einem gewissen Teil Komplizen derselben Sache. Selbst da noch, wo letztere sehnend an ihre Autonomie glaubte. In den letzten Zügen der Dialektik rettet sich Kunst in den Pop: in den Bezirk der identitätsstiftenden Erfahrungswelten im turnschuhmiefenden Teenager-Zimmer, wo sich mit diesem oder jenem Musikstück ein besonderer Raum von Existenz und Dasein verband. Das kroch ins Musikstück wie in Prousts Madeleine und im Tee die Erinnerungen sich aufbewahrten, so daß eine Situation inmitten der neuen Unübersichtlichkeiten qua Musik als Gestus und Haltung doch noch als allgemein kommunizierbare zu konnotieren war. So konnte sich das Phänomen Pop zumindest auf der Ebene der Referenzierungen am Leben halten. (D.  Diederichsen beschreibt diese Wirkungen des Pop – ich drücke es mal in meinen Worten aus, man muß das ja bei solch feinen Wortwendungen dazu sagen, sonst denkt jeder, das sei von Diederichsen – als aisthetische Erfahrung auf eine geniale Weise in seinem gleichnamigen Buch. Inwiefern er dieses Phänomen Pop dialektisiert und fruchtbar macht, ist durchaus tricky zu nennen. Aber so kennen wir ihn, dafür lieben wir ihn. Das ist eines dieser interessanten Interferenzphänomene. Affirmativsein ohne Affirmation)

Allerdings gibt es zu jedem Berlin-Trend genauso den Gegenzug. Daß immer mehr Menschen von Berlin genug haben und ihnen das Gewese um diese Stadt zum Halse heraushängt, haben manche bereits zum Beginn der Blase erkannt. Lange bevor ein New Yorker Magazin namens „Gawker“ Anfang des Jahres verkündete, „Berlin is over“, es ginge mit Berlins Habitus als irgendwie coole Stadt nun zu Ende. Sehr viel früher schon teilte zum Beispiel der großartig bissige Don Alphonso regelmäßig gegen Berlin und insbesondere die sogenannte Berliner Medien-Bohème mit ihrem Jammerton und ihrer Anspruchshaltung aus. Ein Habitus des Digitalen als Flow und Funding, ohne dabei irgend etwas an Kraft und Denk-Arbeit investieren zu wollen oder genauer geschrieben: zu können. Und ebenso früh polemisierte der Don gegen den widerlichen Ranz und das Unansehnliche dieser Stadt, die sich keine schönen Gebäude leisten mag, sondern das Verwildern von Flächen als Stadtplanung ausgibt oder aber Dokumente der Zeit, wie den Palast der Republik, abreißt. [Andererseits ist mir das Verwildern dann auch wieder lieber als eine Stadtpolitik, die nur für ein bestimmtes Klientel Geld in die Hand nimmt – zumal sich die Ödnis und der Dreck ungemein als Kulisse zur Photographie eignen: Die Welt ist bekanntlich seit Nietzsches Satz nur noch als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt – zumindest solange ich in einer solchen Umgebung nicht wohnen muß. Ergänzt sei fürs Heute und für jene, die bei Nietzsche vorauseilend zucken und sich wegducken: als eine Ästhetik des Häßlichen oder als anästhetische Angelegenheit. Andererseits mochte ich in den 90er Jahren ebenso wenig im Rollbergviertel oder im Weserkiez wohnen. Und wer es sich leisten konnte, der zog naturgemäß weg. Organisierte Verwahrlosung von Stadtteilen, so könnte man das gemeinsame Programm aller Berliner Parteien nennen, die den Senat stellten. Dieses Herunterranzen hat sicherlich Gründe. Seit Nietzsche wissen wir freilich, daß die Wahrheit durchaus gute Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen.]

Bei aller berechtigter Kritik an Berlin, sehe ich vieles entspannter als der Don, denke mir daß München doch zu gediegen ist, allenfalls für die Besuche in den einschlägigen Museen geeignet, sicherlich eine Stadt mit schönen Vierteln und hervorragender Küche, viel Mode, gutem Weine sowieso, aber doch zu glatt. München ist wie ein Mann oder eine Frau in den 60ern. Nahe genug an Italien – immerhin. Wenn ich irgendwo leben möchte, dann in Leipzig, vielleicht noch in Essen, Köln oder Duisburg. Gerne in Hamburg wegen des breiten Stroms. Nur eine Stadt mit einem richtigen Fluß als Ader ist eine lebenswerte Stadt. Wir sehen dies an New York und Lissabon. Was ich an Berlin schätze, sind nicht die ungentrifizierten oder mittlerweile aufgewerteten Stadtviertel, die so oder so in ihrem Ranz daliegen, sondern die Weite der Stadt. Alles verläuft sich. Anders als in Hamburg oder Essen. Mein Mitleid mit den Gentrizifizierungsjammerlappen allerdings, für die Lankwitz oder Wilmersdorf Zumutungen sind, hält sich arg in Grenzen. Die Profiteure von gestern sind nun einmal die Verlierer von heute. So geht die Geschichte übers Subjekt hinweg. So funktioniert nun einmal eine über den Markt organisierte Gesellschaft. Seid nicht böse darüber. Es kommen andere Zeiten!

Recht hat der Don freilich, wenn er in witzig-böser Weise gegen die Berliner Medien-Bohème austeilt: Menschen, die irgendwie und irgendwo einmal einen Text geschrieben haben, sei es auf einem (Zeitungs-)Blog oder anderswo, bezeichnen sich ernsthaft als „Journalisten“. Es ist doch eher lachhaft. Menschen, die keine drei Zeilen Foucault, Adorno, Hegel, Marx oder Zizek gelesen haben, führen diese Namen im Munde, als hätten sie zehn Jahre deren Texte beackert. Nichtlesen, aber trotzdem vollmundig darüber sprechen oder in Kurz-Zeichenzahl die Namen als Referenz- und Distinktionsmerkmal fallenlassen, weil’s den kulturellen Mehrwert erzeugt. Trends, trendy. Auf der Ebene der Textfakten nachprüfen können es sowieso nur wenige, weil niemand diese Texte zusammenhängend studierte. Schlagwortsound wird abgesondert.

Gleiche gilt für die Internetphänomene. Es werden Banalitäten zu riesigen Wolken und Gebirgen gebauscht, und dabei plustert man sich selber gleich mit auf wie’s Vögelchen im Walde. Und immer mal wieder geschieht im Schwung der Tage ein Paradigmenwechsel, Post-Privacy und Meme treten auf den Plan, werden wieder abbestellt, vielleicht springt morgen ein digitaler Platonismus aus dem Schächtelchen. Pseudo-Kenntnis der Philosophie und Medienwissen aus dem Kindergarten als Halbbildung spielen sich als Wissensformen auf: sozusagen als intrinsische Qualität des zugereisten Berlin-Bewohners. Insbesondere hier sehen wir, welchen Schaden das Studium der Kulturwissenschaften auf breiter Flur anrichtete. [Ende vom ersten Teil des kulturellen Narrativs]
 
 
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Kafkas untergründige Schreibströme. Der Gerichtshof zu Berlin – jener „andere Prozeß“

So nannte Elias Canetti sein Buch über den Briefwechsel zwischen Franz Kafka und Felice Bauer. War es eine vertane Zeit? Vermutlich. Für beide. Was Kafka an diese Frau und diese Frau an Kafka band, bleibt wohl für immer ein Rätsel – unterschiedlicher hätten Menschen kaum sein können. Felice Bauer: Lebenspraktisch, mitten in Beruf und Leben stehend, an Literatur und Kunst kaum interessiert. Kafka: ein Mensch, der in Zwänge gepfropft, nur für die Literatur lebte. Erst zehn Jahre später sollte er seinen einzigen und wunderbaren Lebensmenschen finden, nämlich Dora Diamant. Lange sollte das Glück freilich nicht währen, weil Kafka 1924 in der Nähe von Wien, in Klosterneuburg unter Qualen und sprachlos verstarb.

Vor 100 Jahren fand am 12. Juli im Hotel „Askanischer Hof“ nahe dem Anhalter Bahnhof in Berlin jenes für Kafka hochnotpeinliche Ereignis statt, das er als einen Gerichtshof über ihn bezeichnetet: die immer wieder von Kafka unter mehr oder weniger fadenscheinigen Gründen aufgeschobene Verlobung zwischen ihm und Bauer erfolgte am 1 Juni 1914. Nun wurde sie als Gerichtstag, der unvermittelt über Kafka hereinbrach, wieder aufgelöst. „Askanischer Hof“, 12. Juli, 11 Uhr vormittags. Kafka betritt einen Raum, in dem bereits drei Frauen sitzen: Felice Bauer, ihre Schwester Erna, sowie Bauers Freundin Grete Bloch, die in dieser Angelegenheit ein zwiespältige Rolle spielte. Aber auch die von Kafka dürfte nicht sonders rühmlich sein. Felice Bauer meldete Ansprüche an, die Kafka wohl niemals – zumindest nicht mit F.B. – würde erfüllen können und wollen. Es geht nicht gut aus. Felice Bauer läßt alle Zurückhaltung fallen und nennt vor den beiden Zeuginnen intimste Details aus ihrem Leben, liest Briefe vor. Am Ende dieses Prozesses stand die Auflösung der Verlobung. Kafka reiste, seltsam unbeteiligt, von Berlin weiter an die Ostsee.

„23. Juli. Der Gerichtshof im Hotel. Die Fahrt in der Droschke. Das Gesicht F.ʼs. Sie fährt mit den Händen in die Haare, wischt die Nase mit der Hand, gähnt. Rafft sich plötzlich auf und sagt gut Durchdachtes, lange Bewahrtes, Feindseliges. Der Rückweg mit Frl. Bl. Das Zimmer im Hotel, die von der gegenüberliegenden Mauer reflektierte Hitze. Auch von den sich wölbenden Seitenmauern, die das tiefliegende Zimmerfenster einschließen, kommt Hitze. Überdies Nachmittagssonne. Der bewegliche Diener, fast ostjüdisch. Lärm im Hof, wie in einer Maschinenfabrik. Schlechte Gerüche. Die Wanze. Schwerer Entschluß sie zu zerdrücken. Stubenmädchen staunt: es sind nirgends Wanzen, nur einmal hat ein Gast auf dem Korridor eine gefunden.

Bei den Eltern. Vereinzelte Tränen der Mutter. Ich sage die Lektion auf. Der Vater erfaßt es richtig von allen Seiten. Kam eigens meinetwegen von Malmö, Nachtreise, sitzt in Hemdärmeln. Sie geben mir recht, es läßt sich nichts oder nicht viel gegen mich sagen. Teuflisch in aller Unschuld. Scheinbare Schuld des Frl. Bloch.

Abend allein auf einem Sessel unter den Linden. Leibschmerzen. Trauriger Kontrolleur. Stellt sich vor die Leute, dreht die Zettel in der Hand und läßt sich nur durch Bezahlung fortschaffen. Verwaltet sein Amt trotz aller scheinbaren Schwerfälligkeit sehr richtig, man kann bei solcher Dauerarbeit nicht hin- und herfliegen, auch muß er sich die Leute zu merken versuchen. Beim Anblick solcher Leute immer diese Überlegungen: Wie kam er zu dem Amt, wie wird er gezahlt, wo wird er morgen sein, was erwartet ihn im Alter, wo wohnt er, in welchem Winkel streckt er vor dem Schlaf die Arme, könnte ich es auch leisten, wie wäre mir zumute. Alles unter Leibschmerzen. Schreckliche, schwer durchlittene Nacht. Und doch fast keine Erinnerung an sie.

Im Restaurant Belvedere, an der Stralauer Brücke mit Erna. Sie hofft noch auf einen guten Ausgang oder tut so. Wein getrunken. Tränen in ihren Augen. Schiffe gehn nach Grünau, nach Schwertau ab. Viele Menschen. Musik. Erna tröstet mich, ohne dass ich traurig bin, d. h. ich bin bloß über mich traurig und darin trostlos. Schenkt mir ‚Gotische Zimmer‘. Erzählt viel (ich weiß nichts). Besonders wie sie sich im Geschäft durchsetzt gegenüber einer alten giftigen weißhaarigen Kollegin. Sie wollte am liebsten von Berlin weg, selbst ein Unternehmen haben. Sie liebt die Ruhe. Als sie in Sebnitz war, hat sie öfters den Sonntag durchgeschlafen. Kann auch lustig sein. – Auf dem andern Ufer Marinehaus. Dort hatte schon der Bruder eine Wohnung gemietet.

Warum haben mir die Eltern und die Tante so nachgewinkt? Warum saß F. im Hotel und rührte sich nicht, trotzdem alles schon klar war? Warum telegraphierte sie mir: ‚Erwarte Dich, muß aber Dienstag geschäftlich verreisen.‘ Wurden von mir Leistungen erwartet? Nichts wäre natürlicher gewesen. Von nichts (unterbrochen von Dr. Weiß, der ans Fenster tritt) [bricht ab]“

Was für ein Strom an Beobachtungen von nebenbei, der sich um das eigentliche rankt bzw. es fast verdeckt. Leben, das im nachhinein (nicht im Akt des Vollzuges: das ist nicht zu verwechseln!) zu einem Stück Literatur gerinnt. So wie überhaupt die Briefe und das Tagebuch Kafkas immer wieder diese eigentümliche Ambivalenz aufweisen. Der Eintrag schließt mit Frageszenen, wie sie dann auch am Schluß seines Romans „Der Proceß“ vorkommen. Verhängnisvolles Final. Zwei Wochen nach diesem Verhängnis von Berlin machte Kafka sich an die Niederschrift dieses Romans. Erste Notizen dazu finden sich schon in seinem Tagebucheintrag vom 29. Juli: „Josef K., der Sohn eines reichen Kaufmanns, ging eines Abends nach einem großen Streit, den er mit seinem Vater gehabt hatte – …“ Auch tritt in dieser Skizze ein Türhüter auf: Schuld- und Strafphantasien knüpfen sich in diesen Schreibübungen lose zu einem Assoziationsteppich: Ein Angestellter, der von seinem Chef des Diebstahls in der Ladenkasse überführt wird. Schuld und Sühne, Urteil und Strafe nehmen als Motive Raum ein. Am Ende dieses Schreib-Prozesses wird einer der bemerkenswertesten Text Gestalt annehmen und doch Fragment bleiben: eine rätselhafte, zu einer Vielzahl an Deutungen animierende Prosa um eine Strafe ohne Verbrechen.

Wie im Falle des Gerichts am „Askanischen Hof“ Biographie und Literatur eins zu eins zusammenzuschließen, bleibt in der Regel banal. Allenfalls geben Ereignisse des Lebens den Anlaß für einen Text, können Anstoß sein. Goethes „Marienbader Elegien“ sind ein solcher Text: die Liebe eines Greises zu einer 19 Jährigen Frau. Banal und traurig, dennoch entstand ein Text von ungeheurer Art. Und nur von solchen Texten handelt Literatur samt der ästheischen Kritik. Insofern geht Canettis Text dann auch an zentralen Aspekten der Prosa Kafkas vorbei, unterläuft sie und verfehlt damit den Roman im ganzen. Wieweit Biographisches einen Text am Ende tatsächlich strukturiert, liegt meist im dunkeln, wenngleich sich im Sinne positivistischer Literarturtheorie in Kafkas „Proceß“ sicherlich Stellen finden lassen, die mit Realem korrespondieren oder doch zumindest als Erlebniswelt Kafkas durchsichtig sind. Hartmut Binder unternahm immer wieder diese Versuche. Doch für die Struktur eines Textes sind solche Details am Ende des Lektüreprozesses marginal, denn sie liefern keinerlei Grund für die literarische Form und weshalb ein Text, so und nicht anders konstruiert wurde. Bekanntlich ist nach Abschluß der Produktion jeder Text mehr als sein Schöpfer, wächst über ihn hinaus, gelangt zu einem Sein ganz eigener Art.

Mit dem „Proceß“ ist Kafka wohl eines der bedeutendsten Bücher des 20. Jahrhunderts gelungen: in der Sprache selber nicht mehr expressionistisch übersteigert und im Ton des „Oh Mensch …“ gehalten, sondern vielmehr kühl, spannt das Buch Fragmente an Szenen aus, mit einem Bild Kleists gesprochen, könnte man an jenen freistehenden Torbogen denken, in dem die einzelnen Teile einander tragen: Von den Advokaten- und Gerichtsszenen, der Angestelltenexistenz, dem Prügler, der in einer Hinterkammer der Büros – wie in einer wilden Traumsequenz der BDSM-Szene – seine Tätigkeit ausübt, über jene Leni mit den Schwimmhäuten zwischen den Fingern, Gerichte, die auf Dachböden tagen und spielende Kinder: das Domkapitel dann mit jenem Pfaffen auf der Kanzel sowie dem Gespräch über die Dimensionen der Wahrheit bildet einen weitern der Höhepunkte dieses Romans.  „Warum,“ so schreibt Kleist 1800 an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge, „dachte ich, stürzt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen.“ Dieses Bild mag auch für Kafkas „Proceß“ taugen. Wie wir wissen, lieferte Kafka die Prosa Kleists einige Anregungen und gab ihm zu denken. Aber diese Teile und Szenen des Buches entstanden bei Kafka in loser Folge – lediglich der Anfang also die Verhaftungsszene morgens im Bett – und das Ende – jene Hinrichtung durch Männer, die wie Tenöre aussahen – standen von Anbeginn an fest.

Insbesondere gilt es, in Kafkas Prosa den Blick auf das Gestische zu lenken. Die Handbewegungen der Menschen, wie sie ihre Gliedmaßen strecken, wie sie sich bewegen oder wie sich ihre Körper im Raum anordnen und auf welche Weise Kafka Szenen zu beschreiben vermag: So die vor dem Gericht oder wenn K. mit seinem Onkel und dem Advokaten Huld spricht, der ihm helfen soll, den Prozeß zu „gewinnen“, das Urteil abzuwenden. Eine Filmszene, vom Spiel des Lichts getragen, das den Spannungsbogen aufbaut (zum Filmischen bei Kafka, lese man Peter-André Alt, Kafka und der Film. Über kinemathographisches Erzählen):

„Im Licht der Kerze, die der Onkel jetzt hochhielt, sah man dort, bei einem kleinen Tischchen, einen älteren Herrn sitzen. Er hatte wohl gar nicht geatmet, daß er so lange unbemerkt geblieben war. Jetzt stand er umständlich auf, offenbar unzufrieden damit, daß man auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Es war, als wolle er mit den Händen, die er wie kurze Flügel bewegte, alle Vorstellungen und Begrüßungen abwehren, als wolle er auf keinen Fall die anderen durch seine Anwesenheit stören und als bitte er dringend wieder um die Versetzung ins Dunkel und um das Vergessen seiner Anwesenheit. Das konnte man ihm nun aber nicht mehr zugestehen.“

 Mehr zum „Proceß“ folgt. Im Laufe dieses Jahres. Verstreut, eingeschoben, assoziativ. In loser Folge. Selten nur ist es Menschen vergönnt, solche Texte  zu schreiben, wie Kafka es tat. Viel an Literatur gibt es, doch wenig nur, was auf diese Weise einschlägt und bis ins Detail hinein gelungen ist.

Und am Ende des Weges: die Brachen der Stadt. Photographie und Erzählung

„Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten. Die Rettung, die dergestalt – und nur dergestalt – vollzogen wird, läßt immer nur dem, im nächsten Augenblick schon verlorenen [sich] vollziehen. (Walter Benjamin, Das Passagenwerk)

 

Ecken Berlins

Auf dem Blog „Kreuzberg süd-ost“ wurde seinerzeit Mitte Februar nach Photographien von Brandmauern gefragt. Das brachte mich dazu, meine Photosammlung durchzugehen. Und siehe da: ich fand unzählige Bilder, allerdings hatte ich sie nicht mit dem Begriff „Brandmauer“ verschlagwortet. Ich photographierte also ganz und gar unbewußt diese Brandmauern, ohne darüber nachzudenken, daß es sich um ebensolche Brandmauern handelt, denn ansonsten hätte ich sie mit dem Titel „Brandmauern“ in meinem Archiv-Programm versehen, wie ich es bei jedem meiner Photos machte. In diesem Falle tat ich es jedoch nicht. Nun war ich von dieser Idee der Brandmauern angefixt: Ich bin kurz darauf flanieren und fotografieren gegangen, habe Licht auf den Sensor der Kamera gebannt.

Einen ersten Teil dieses Spazierganges zeigte ich bereits, hier folgt nun die zweite Bilderpartie. Von der Michaelkirchstraße auf die Köpenicker Straße zu schlendern und auf den Brachflächen sich zu bewegen.

Der Flaneur bezieht keinen Standpunkt, er bleibt in seinem Spazieren nirgends lange stehen, er verweilt nicht kontemplativ, sondern läßt sich im Strom der Stadt treiben. Er saugt die Eindrücke auf; die dreidimensionalen Bilder der Stadt verwandelt er in die zweidimensionalen Tableaus seiner Photographien. Der Flaneur schreitet durch die Wastelands, durch die Brachen und Badlands. Unbeteiligt. Ohne Anteilnahme. Vor allem aber erklärt er seine Photographien nicht. Die Sprache der Photographie, der Bild-Text der Photographie erhellt sich ohne Kontext, schießt zu einer Evidenz zusammen: das dialektische Bild transportiert den gesellschaftlich notwendigen Schein und durchbricht ihn zugleich. Einerseits. Andererseits ist die Photographie, die durch keinen Text gerahmt oder beschrieben wird, nur als Assoziation lesbar. Es könnte nämlich alles ebenso ganz anders sein.
 

Geraubte Küsse/Baisers volés

kiss-by-hotel-de-ville-robert-doisneau Eine Photographie ohne Beschriftung und ohne jene neben oder hinter dem Bild markierte Referenz kann kein geschichtliches oder journalistisches Dokument sein, sie bleibt als Bild autonom: selbstzweckhaft, in sich gekehrt, fast schon monadisch und voll von Rätseln. Dieser Zusammenhang schließt nicht aus, daß eine solche Photographie keine Geschichte erzählt. Eine Vielzahl von Geschichten können (in der Imagination) an ein solches Bild andocken, sich der Photographie bedienen, sie sogar ins kollektive Bildgedächtnis heben, wie jenes Photo von dem Mann und der Frau, die sich in unendlicher Leidenschaft küßten, und zugleich trifft gar keine dieser Geschichten den Referenten: das Moment, was in der Photographie einerseits deutlich für alle sichtbar ausgestellt wird und das zugleich unendlich sich verschließt und entzieht, weil es in jener 1/125 Sekunde ohne jeden Kontext uns präsentiert wird. Referenz ohne den Referenten. Die Geschichten der unbeschrifteten, unmarkierten Photographien bilden eine Phantasmagorie. Erzählung ohne den Rahmen: jene Photographien, die den Augenblick bannen, wie etwa in ihrer klassischen Variante die Bilder von Cartier-Bresson oder von Robert Doisneau schildern eine Szene in der Sprache des Bildes. Man denke an jenen Mann, der im Überschwang eine Frau küßt. Wie aus dem Leben geschnitten und gebannt, ein zauberhafter Augenblick, eingefroren, so meinten wir. Bis wir erfuhren, daß diese Szene mit Schauspielern nachgestellt war. Was Jeff Wall bewußt als inszenierte Dokumentation einsetzt – unheimlich, fremd und bedrohlich wie in jener Photographie mit dem Titel „Insomnia“ –, bleibt bei Robert Doisneau grenzwertig und fingiert den Moment. Aber ist der fingierte Moment nicht genauso gut wie der, den wir für wirklich halten? Was hat ein inszenierter Kuß einem echten voraus? In unserer Betrachtung nicht viel. (Allenfalls für die Küssenden mag es einen Unterschied ausmachen.) Wir können uns in den Bildern, die wir betrachten, täuschen, wir können uns in Menschen täuschen. Die ontologische Dimension des Bildes bleibt an den Rahmen gebunden. Und selbst dieser ist fragil. Jeder Kontext kann im nächsten Moment ein ganz anderer sein.

Die Brachen rund um die Köpenicker Straße werden nicht lange mehr erhalten bleiben. Aber dies wissen wir alle.

Daily Diary (60) – Flaneure in Berlin

Bilder, dargeboten in der Reihung, so wie der Flaneur in Berlin, genauer gesagt in Berlin-Friedenau sie aufnahm. Naturgemäß zeige ich nicht alle Fotografien, die ich schoß, sondern nur einen Ausschnitt dieses Ausflugs biete ich meinen Leserinnen und Lesern, die heute Betrachterinnen und Betrachter sind und sich damit ganz und gar unmittelbarer Sinnlichkeit hingeben können. In narzißtischer Bildbetrachtungsverzückung reiche ich mir selber, zum Abend hin, einen Chianti, den es zum Kartoffelpüree (natürlich selbstgemacht) mit Petersilien-Pesto (ebenfalls selber hergestellt) sowie Lachs (frisch geschossen aus unserem schönen Deutschen Wald, den wir uns von niemandem nehmen lassen.) gab. In Anbetracht der Situation, daß ich bereits gestern Abend viel Riesling trank, scheint es mir, daß ich im Mai mein Projekt „Der Blogtrinker“ aufnehmen kann, da inzwischen die Konditionierung wieder stimmt. Die letzten Reste des bösen Epstein-Barr sind entwichen.

Hier aber die Photographien. In zeitlicher Abfolge, wobei sich daran die Frage knüpft, wieweit eine Photographie die Zeit abbilden, einfrieren oder gar ihr Wesen und ihre Merkmale in irgend einer Weise zur Darstellung bzw. in eine Art von Präsenz bringen kann. Die Repräsentationformen der Kunst als Präsenzmaschine imaginierter Gegenwart. [Und jetzt müßte ich zudem heideggern: die Gegenwärtigkeit des Seins (im Bild). Mit den Texten Heideggers das moderne Medium des digitalen Bildes, der Fotografie  überschreiben: auch dies wäre eines der Projekte, die es irgendwann zu verwirklichen gilt. Aber es steht andererseits – ich springe wieder einmal und assoziiere – immer noch ein Text zum dialektischen Bild bei Adorno und Benjamin aus. Ein Mehrteiler versteht sich.]

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Daily Diary (58)

Dem perfekten  Abschied wohnt das Moment der Inszenierung inne. So wie die Identitäten inszeniert waren. Der Blick in den Personalausweis reicht nicht aus, um die Identität zu bezeugen. Und es läßt sich in den Versicherungen und auch in der Wahrheit gut mit den Masken spielen. Wir wechseln die Gesichter, die Namen und die Zugangscodes, die Schlüsselreizbegriffe. Doch am Ende aller Inszenierungen bleib der Abschied absolut und endgültig, und er sollte in vollendeter Form geschehen – eben als Inszenierung, dem Gesetz der Ästhetik gehorchend, als Objet trouvé dargeboten. Die Wahrheit ist bekanntlich dem Menschen zumutbar. Allerdings als erratische. Schöner als in dieser Weise, wie auf den Photographien festgehalten und gebannt, läßt sich ein Blumenstrauß nicht an den Straßenrand werfen oder aber dort drapieren – von der Zeit erfaßt. Und es gesellten sich im Laufe dieser Zeit noch andere Blumen hinzu. Vom Betreiber dieses Blogs am Straßenrand gefunden und festgehalten als zwei ganz besondere Momente im Lauf der Zeit. Melancholie ist Zeitbewußtsein

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