Skizzen der Melancholie, Skizzen der Liebe

„Der Mensch bekommt die Bedingung nie in seine Gewalt, ob er gleich im Bösen danach strebt; sie ist eine ihm nur geliehene, von ihm unabhängige; daher sich seine Persönlichkeit und Selbstheit nie zum vollkommenen Aktus erheben kann. Dies ist die allem endliche Leben anklebende Traurigkeit: und wenn auch in Gott eine wenigstens beziehungsweise unabhängige Bedingung ist, so ist in ihm selber ein Quell der Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens.“ (F.W.J. Schelling, Vom Wesen der menschlichen Freiheit)

Traurige Tropen. Fragmentierungen, die uns in den Wendungen und Windungen bleiben. Wir wollen vieles, doch es zerrinnt. Nur jenseits aller Intention geht es. In der ästhetischen Existenz gar? Literatur und Leben, Kunst und Leben jedoch sind zweierlei. Das Begehren der frühen Avantgarden – sei es das der Romantiker in Jena oder der Künstler des frühen 20. Jahrhunderts – bleibt ein Phantasma, wenngleich ein schönes. Das Leben ist zu beschädigt, als daß es Gedankenräume für eine Utopie geben könnte und sich Leben in der Kunst oder Kunst im Leben aufhöbe und die Herrschaft anträte. (Allenfalls als Meesesche Parodie reicht es.) Allerdings gibt es diese exzeptionellen Momente des Lebens, die Daseinsekstasen. Im Moment kommt mir der Kostüm- und Historien-Film „Die geliebten Schwestern“ von Dominik Graf in den Sinn. Ein Film über eine Ménage-à-trois zwischen der älteren und verheirateten Caroline von Beulwitz, Friedrich Schiller sowie der ledigen Charlotte von Lengefeld. Lebensmodelle?

Was diesen Film sicherlich interessant macht – ob er es auch gut umsetzt, bleibt zu sehen – ist die Epoche, in der er spielt: ein (Liebes-)Leben außerhalb der Konventionen, vor dem Hintergrund der Französischen Revolution, die ein vollkommen anderes Europa schuf, Sitten und Gebräuchen, Lebensmodellen und Partizipationsweisen am Politischen einen neuen Raum gab. Inmitten dieser Wirren ein Lebensentwurf dreier Menschen, der noch heute kaum zu kommunizieren ist. Und Liebe ist, das wissen wir spätestens seit jenem genialen Buch von Niklas Luhmann, eine Weise der Kommunikation, bleibt auf (gesellschaftlich approbierte) Kommunikationsformen, die die Intimität codieren, angewiesen. Nur in diesen Formen kann sie existieren. Die Liebe der Griechen war eine andere als die der Romantiker aus Jena. Ich bezweifle zwar, daß Grafs Film gelingen wird, hege den Verdacht: Deutscher Fernsehfilm. Doch ich will nicht vorschnell urteilen. Liebe ist ein wildes, ein schönes Elixier – auch für den Film. Die Dichter besangen sie.

Heute morgen erschien es auf meinem Bildschirm, zeigte es mir Avira an: „13 Millionen Gefahren in 30 Tagen entdeckt“. Mir will scheinen, daß es mehr sind.

Zum Auftakt 2014, todessündig: Liebesbilder, literarisch imaginiert

Zum Jahresbeginn, als Auftakt für ein großes Lob der Acedia, die uns auch dieses Jahr wieder begleiten wird, gleichsam auch als Hommage an Hans Castorp, sei eine Stelle aus Monika Zeiners „Die Ordnung der Sterne über Como“ zitiert. Mit Hans Castorp bzw. dem „Zauberberg“ müßte dieser Blog im übrigen ebenfalls sich beschäftigen: 100 Jahre Erster Weltkrieg und das heißt: vor 100 Jahren zog Hans Castorp von seinem Zauberberg weg in die Schlachtfelder Flanderns oder der Champagne oder sonstwo hin.

Text-Passagen wie diese – als Reflexionseinschübe des Gelehrten Breitenbach ins Bild gebracht – sind natürlich genial und treffend, und sie hängen, wenn ich denn schon auf Hans Castorp verweise, sicherlich auch ein wenig mit der im „Zauberberg“ auftretenden Madame Chauchat (die wohl eher ein heißer Kater und keine heiße Katze ist) zusammen, die von Castorp begehrt wird, jene Frau vom guten Russentisch. Aber zurück zu Zeiner und der Rede des Gelehrten Breitenbachs:

„‚Der Liebende trägt in seinem Herzen das Bild der Geliebten, er nährt es Tag für Tag, er betet es an, er schmückt es in seiner Imagination aus, bis es vollkommen wird, gottähnlich, gleichzeitig verzehrt er sich vor Sehnsucht nach ihm, weil er es besitzt und doch nicht besitzen kann, er verzehrt sich nach einem einzigen Blick, er schläft nicht, er isst nicht, alles, was er tun kann, ist, an sie zu denken, seine Gedanken sind rotierende Spiralen, die ihn immer tiefer in sein eigenes Inneres hinein- und hinabziehen, ihn ins eigene Selbst, in den Tiefengrund des Ichs hinabreißen, und dann, eines Tages‘, Breitenbach änderte die Tonlage ins Sanftere, klimperte mit seinen Fingern in der Luft, steckte sie dann wieder in den Hosenbund, ‚wir sehen vor uns den Hof Kaiser Friedrichs II. von Sizilien, es ist ein Sonntag nach dem Kirchgang, hohe, von Sonnenschein durchflutete Frühlingsluft, ein Falke zieht seine einsamen Kreise, eine Kapelle von Spielleuten singt ein Lied, an diesem Morgen nun, nach wochenlangem warten, begegnet er ihr. Es ist die Frau aus Fleisch und Blut, das Modell seines phantasmas, wenn Sie so wollen. Sie spaziert an ihm vorüber, hautnah, er kann den Lufthauch spüren, den ihr Kleid im Vorüberwehen produziert, Brokat und Samt, es wogt schwer durch die milde Luft, ihr Kopf ist anmutig geneigt, ein Blick von ihr, ein Augenaufschlag, wäre die Erfüllung. Und er. Was macht er?‘ Breitenbach spreizte die Ellenbogenflügel und schien abheben zu wollen. Die Hörer saßen nach vorne gelehnt, hingen mit ihren Blicken an ihm, damit er es nicht tun konnte.

Nichts“, rief Breitenbach. „Er macht nichts! Er schlägt die Augen nieder. Er sieht sie nicht an. Er geht an ihr vorüber, ohne ihren Blick zu erwidern. Und warum?‘

‚Um sein inneres Bild nicht zu zerstören‘, sagte Tom

‚Sie sagen es‘, sagte Breitenbach.

‚Der Idiot‘, sagte Marc.

‚Nein!‘, Breitenbach schüttelte den Kopf, ‚es ist dies die Geburtsstunde der Phantasie, es ist dies die Vorwegnahme des Subjekts, es ist die die Befreiung des Denkens, im 13. Jahrhundert, denken Sie nur, im sogenannten tiefsten Mittelalter.‘“

Welch geniale Passage! (Sieht man einmal von den zahlreichen aufeinanderfolgenden „sagte“ und „sagen“ ab.) Verdichtung im Bild und Exzesse der Innerlichkeit als Geburt nicht nur des Subjekts, sondern zugleich der autonomen Kunst. Jegliche gesellschaftliche, ästhetische, stilistische Verfeinerung geschieht in dieser Struktur. Wer dazu nicht fähig ist, verbleibt am Ende im barbarischen Mittelalter seiner oder ihrer Unmittelbarkeit gefangen. Es ist jenes Phantasma, das das Subjekt erst als Bei-sich-Seiendes im Anderen möglich macht, und zugleich liegt darin die Gefahr objektloser Innerlichkeit oder der bitteren Acedia, wenn nicht ebenso die Strukturen der Bilderzeugung mitgedacht werden. (Wir denken nur an Dürers Stich „Melencholia II“.) Die Welt der Bilder und die des Realen gehen nicht immer kompatibel. Der griechische Bildhauer Pygmalion in Ovids „Metamorphosen“ versuchte diesen Gegensatz auf seine Weise zu bewältigen, indem er eine Statue ins Leben betete. Doch ist uns heute die Region der Götter und ihrer Wundertaten fern. Pygmalion ist nicht der Inbegriff des Künstlers, sondern am Ende dessen Gegenteil. Er betreibt nicht die Autonomie, sondern die Souveränität der Kunst. (Eines der Projekte der Avantgarden der Moderne: von den Surrealisten über die Situationistische Internationale bis hin zu Beuys oder dem Schreihals Meese.)

Welche Welt jeweils höher zu schätzen sei – die der Bilder und die des Realen –, läßt sich pauschal und generalisierend kaum sagen. Denn das hängt von den Umständen ab. Allerdings entsteht aus den Sublimierungen und den Bilderzeugungen (die immer Fixierungen sind) manches Mal gelungene Kunst, die das Wesentliche sagt, wenn auf gekonnte Weise dieser eine Augenblick, dieses nunc stans, diese Unendlichkeit in einem einzigen, einmaligen sowie unwiederholbarem Datum auf der Zeitachse, rückblickend vergegenwärtigt, in die Präsenz gebracht wird.

In diesem Sinne wünsche ich Leserinnen und Lesern einen feinen Auftakt ins Jahr 2014. Bewahren Sie sich die Acedia, und lernen sie, wie man tritt- und stilsicher eine Bewohnerin, ein Bewohner des Grandhotel Abgrund wird und sich dieses Ortes als würdig erweist. Oder besser: Lernen Sie es nicht, denn sonst würde es uns wenigen Bewohnern hier zu voll!

Billardkönigin um halb zehn

Jene Frau, die mich irgendwann in einem Streit einmal einen Lackaffenblogger nannte, schrieb mir angesichts eines Textes über Dresden, den ich ihr schickte und den ich mit dem Titel „Billardkönig um halb zehn“ betitelte, daß diesen Text kein einziger Leser und keine Leserin verstehen würden. Alles verkopft und zudem wirr durcheinander gewirbelt, so daß am Ende kein Mensch mehr begreift, wer eigentlich beim Billard gewonnen habe und was dieser Text überhaupt solle. Diese Frau hat ohne Zweifel mehr als recht, nicht nur in diesen Dingen (was ich ihr gegenüber niemals zugeben würde). Zudem wird mein nächster Text zu Wols ihre Einschätzung beweisen, ein Text, in dem sich die Ebenen mischen und verirren. (Er kommt am Sonntag in den Blog.) Alles ist nicht erleuchtet, sondern alles geht durcheinander. Kein Strom des Bewußtseins fließt, mäandert und treibt wie Faulkners wunderbarer Ol’ Man River mal sanft, mal wild dahin oder die Ketten einer hemmungslosen surrealen Assoziation, aus der alles, was nur mit Sinn versehen ist, ausgeschieden wird. Am Ende bliebe dann das Unbewußte als jener unaufhebbare Rest.

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Der Aufstand gegen die Zeit, die Rebellion gegen ihr Vergehen: Diese Auflehnung ist in Prosa, in Lyrik oder überhaupt in der Kunst gut in ein Bild, in eine Anordnung zu bringen. Manchmal auch fixiert diese Auflehnung sich in einer Photographie. Die Achse Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft prägt das Denken des Melancholikers. Die Melancholie ist das Leiden am Vergehen der Zeit: daß es nicht möglich ist, die Zeit angemessen zu denken, geschweige denn zu halten und dabei zu intensivieren: sei es in Bildern, in Prosa oder Tönen. Franz Kafka schrieb in seiner Prosa-Miniatur „Das nächste Dorf“:

„Mein Großvater pflegte zu sagen: ‚Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß – von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.‘“

„Ein schööööner Tag …“ intonierte der breitschultrige Mann mit dem angegrauten Henriquatre-Bart fröhlich und bestimmt. Er haute die Spielkarten nacheinander auf den Holztisch, eins, zwei, drei, vier und noch eine fünfte Karte dazugehobelt. Er lachte. Die beiden anderen Männer schwiegen. Breitschultrig in seiner Lederweste und dem Holzfällerhemd orderte er ein weiteres Bier für die Skat-Runde und bestellte einen Brotkorb nach. Die vielfältig tätowierten Unterarme lagen ausgebreitet auf dem Tisch, der massive Kopf mit der Glatze schnellte hoch zur Kellnerin, als sie den Korb wegnahm: „Nee, nee, der bleibt hier! Nicht nur immer nehmen, auch mal geben!“ Die Kellnerin stellte den Brotkorb zurück. „Aber die hat es doch nur gut gemeint!“, beschwichtigte der Mann mit der Lederjacke, der gegenüber saß.

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Drei kräftig gebaute Männer, wohl Anfang vierzig, sitzen um den Kneipentisch in einer der Lokalitäten der Dresdener Neustadt herum, verzehren Brot und trinken Bier, dazu stehen, neben ihren drei Biergläsernen, drei Schnäpse. Ihr Skatkartenspiel ist vom Spielblatt altertümlich gemacht, spezielle, geschnörkelte Formen, die mir unbekannt sind, ranken auf dem Blatt. Wir sitzen neben ihnen, wir trinken Wein. Während es draußen ununterbrochen regnet. Dicht, grau, dunkel. Meine Augen ruhen auf ihrem Gesicht, ihre blau-grünen Augen betrachten mein Gesicht. Auf keiner der Photographien wird sie so schauen, wie sie jetzt gerade in diesem Augenblick schaut und blickt. Nicht nur, weil sich ihr Blick, wenn das Auge der Kamera sich auf sie richtet, verschließt, sondern auch deshalb, weil bestimmte Momente durch nichts zu fixieren sind. Es reichen die Worte und die Bilder nicht hin.

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Die Kugeln auf dem Billard mußten nur aufgebaut werden, in der richtigen Anordnung, die war nicht schwierig zu finden. Es erfolgte der Anstoß, und nachdem die Frau die Kugeln durch einen mehr oder weniger gezielten Stoß durcheinander wirbelte, ohne daß eine der vollen oder der halben Kugeln ins Loch sich bewegte, ging es daran, nun einzeln die Kugel einzulochen, die sich in der günstigsten Position befand. Die Stadt Dresden, die Lichter der Nacht in der Neustadt, der Regen, der Wein, eine Photographie-Ausstellung im Kupferstichkabinett reihen sich in der Zeit. Der Gang über die Augustusbrücke hin zur Neustadt. Der Queue lag mir leicht zwischen Daumen und Zeigefinger, ich bewegte ihn, spielte über Bande an, die Kugel schoß oder schob, so wie ich es wollte, berührte die Bande erneut und stieß dann auf die drei. So spielt zwar nicht die Profis, aber doch die, welche ein wenig zumindest dieses Kugelspiel beherrschen, während es ihr lediglich gelang, mit einem Stoß, den ich treffend als unkontrollierten Megastoß oder als hyperbolischen Schlag, vielleicht sogar parabolischen Überwurf bezeichnete, die weiße Kugel aus dem Feld zu hebeln. Das kostete einen Martini auf Eis. Vier Spiele absolvierten wir. Davon drei Gewinne für mich, und das eine Spiel verlor ich lediglich aus dem Grunde, weil es durch unglückliche Fügung außergewöhnlicher Umstände die schwarze Kugel ins falsche Loch verschlug.

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Nachdem ich dies aufgeschrieben hatte, fiel mir ein, daß es genau andersherum sich zutrug. Während der Blogbetreiber nicht eine einzige Kugel, die nicht mindestens drei Zentimeter vorm Loch lag, dort hineinbekam, stieß die Frau doch relativ gekonnt und gelassen, die Kugeln an ihre Zielorte, sogar zum Ende hin die schwarze Kugel, die 8, gelangte in das Loch, das vorgesehen war und wo sie ihren letzten und richtigen Ort fand, um ein Spiel siegreich zum Ende zu führen.

In die Nacht hinein schlenderten wir über die Marienbrücke. Der Regen hatte endlich aufgehört. Oder wir bemerkten nicht, daß es immer noch regnete. Den Schirm mit Raffael da Urbinos Engel auf dem Stoff, den ich im Kupferstichkabinett notgedrungen und unter dem Spott der Frau kaufte, benötigten wir nicht mehr, um uns zu schützen. Auf der Brücke verweilten wir lange, ohne den etwas entfernteren und nun doch eher oberseitig liegenden Canaletto-Blick groß zu würdigen, denn die Nächte sind manchmal zu intensiv, um immerzu der Kunst zu huldigen.

Dresden, mon amour – From Her to Eternity samt Entropie des Zen

Bildnisse fertigen. Abbildungen, Nachbildungen. Skizzen machen, malen, zerschneiden. Einkerben.

Den zweiten und letzten Teil der Photographien von Dresden gibt es hier zu sehen.

Ich habe am heutigen Tage zudem im Blog der Mützenfalterin zwei so derart schöne Kommentare geschrieben, die mich noch beim wiederholten Lesen von dem, was ich formulierte, solchermaßen rührten und affizierten, daß ich diese Texte – Lackaffenblogger und Narzißt, der ich zwanghaft bin – hier bei mir im Blog gerne dem geneigten und zur Leichtigkeit hin geöffneten Publikum wiedergeben möchte und ebenso auf diese Passagen verlinke.

Was vom Leben übrig bleibt“, betitelte die Mützenfalterin ihren Text samt zwei Photographien über Friedhöfe. So schrieb sie:

„Mit dem Fotoapparat auf dem Friedhof. Frische Kränze. Eine Trauergesellschaft in der Kapelle. An Beckett und seine Prosa gedacht. Daran, wie es sein wird, unter Erde und Kränzen zu liegen und dass ich mich im Grunde noch immer für unsterblich halte.

Die Unterschiede. Die Beobachtung.

Das, was vom Leben übrig bleibt.“

Eine sehr feine, wichtige und bedeutende Frage bzw. Überlegung: Was vom Leben übrig bleibt. Während ich die neue, gut geglückte Platte von Nick Cave höre und mich im Denken, im Grübeln, im Versinken, in jener Tradition der Acedia und des haltlosen Zweifels übe. „Mit 18 dachte ich noch, daß ich unsterblich sei.“ so schrieb mir eine Frau vor etwas über einem Jahr.

Und so dachte ich bei mir und kommentierte dort im Blog:

„Am Ende – das kann ein Trost sein oder aber auch nicht – bleibt vom Leben nichts übrig. Zumindest nicht für die Toten. Ob sich aus einer solchen Sicht irgendwelche Imperative ableiten lassen? Nein. Eher nicht. Allenfalls eine gewisse Lebenskunst zu pflegen und ästhetisch gepolt an die Dinge heranzugehen, kann Maxime sein: Jeden Augenblick zu intensivieren. Aber auch dies geht im Grunde nicht oder doch nur in den exzeptionellen Momenten – in den, wie Nietzsche es schreib, ‚Verzückungsspitzen des Daseins‘. Das Leben ist einzig als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt, so schrieb er.

Am Ende bleibt nichts, und das ist es, was man mit dem Lachen Becketts und Bernhards beantworten kann. Denn diese Schwärze besitzt extrem komische Momente. Das ‚Endspiel‘, z.B., ist ein virtuos-komisches Stück. Das wird leider vielfach übersehen, und Friedhöfe sind extrem angenehme Ort. Allerdings werden wir das nicht mehr wahrnehmen können, wenn wir dort endgültig liegen.“

Und ein zweiter Kommentar griff diese Überlegung der Mützenfalterin auf, daß es durchaus ein Trost sei, könnte eine/r zweifelsfrei daran glauben, „nach dem Tod wäre alles restlos alles vorbei. Und doch: der Zweifel bleibt.“

„Ich hege daran keinerlei Zweifel, und ich bin darüber sehr froh. Es gibt nur den Körper, das Denken und die Werke, die manche/r hinterläßt. Wer nichts hinterläßt, die oder der lebt in der Erinnerung der anderen weiter. Bis auch diese anderen nicht mehr am Leben sind. Allenfalls existieren Photographien der Toten, des Toten, die ein Sammler auf einem Flohmarkt in einem Album entdeckt. Dieser Sammler imaginiert sich eine Geschichte zu jenen Menschen auf den Bildern, die er nicht kennt. Allerdings ist diese Möglichkeit im Fremden als Bild weiterzu‚leben‘ mittlerweile selten geworden – im Zeitalter digitaler Photographie. Denn Menschen besitzen keine Photoalben mehr.“

Friedhof der digitalen Kuscheltiere.

Familienalben, gefüllt mit Photographien, bedeuten eine besondere Form der Geschichtsschreibung. Weniger im Sinne exakter historischer Wissenschaften oder einer Art Visual History, sondern vielmehr geschieht das als Raum für die Imagination. [Wie auch Roland Barthes in seinem Buch „Die helle Kammer“ dieses besondere Moment jener einen Photographie , die bewußt abwesend bleibt und von ihm im Buch nicht präsentiert wird, am Beispiel eines Jugendbildes seiner Mutter in eine (phänomenologisch-dekonstruktive) Theorie zur Photographie bringt: das Wesen des punctum. Als Moment des Zufalls.] Gesichter in liegengebliebenen, fortgeworfenen, oder weggegebenen Fotoalben, Fotoalben, die auf Dachböden oder in Kellern und Schränken lagerten, ein Gesicht, das im Grunde: nein: an seinem Ende durchgestrichen ist, weil die Person, der es gehörte, nun tot ist. Unwiederbringlich. Was wird mit der Sammlung meiner Photographien geschehen? Ein ungeheures Archiv, das ich angehäuft habe. Womöglich für nichts. Der literarisch-ästhetische Kairos liegt darin, diese Gesichter geglückt wieder zum Leben zu erwecken – sei es als eine Art von Literatur, sei es in einer abbildenden Weise.

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Dieses Kunstwerk: eher noch: dieses Dokument kaufte ich mir im Herbst 2012 in einer Berliner Galerie. Nun hängt das Bild großformatig in meinem Wohnzimmer. Ich erfreue mich an dem Gesicht einer mir unbekannten Frau, die ich mir täglich anschaue. Eine Tote. Eine Frau, die vor 130 Jahren gelebt haben mochte: das Tote festzuhalten oder zu bannen, ist die wohl schwierigste Arbeit. Dem Vergangenen einen Ort, einen Platz zu geben, ohne daß es in Nekrophilie oder Idolatrie abdriftet. Einer Frau, die vorüberging, die zur Vergangenheit wurde. Ich sehe zugleich, wie ihr Gesicht, das Abbild ihres Gesichts bleibt und im selben Moment doch unwiederbringlich entschwindet – nicht nachbearbeitet mit den Photoshop eigenen Bordmitteln oder irgendwie konstruiert, sondern ganz einfach durch die Chemie, das Licht, die Luft, durch äußere Einflüsse hervorgerufen. Zufall der Photochemie vor 130 Jahren, die es nicht vermochte, das Angesicht zu fixieren. Anwesenheit, Abwesenheit. Das Gesicht. Vier verschiedene Portraits einer Person, nun auf eine Bildfläche montiert, wie aus einem Photoautomaten. Und die Zeit radiert das Gesicht aus, so wie uns die Gesichter von Menschen entschwinden, die mit unserem Leben nichts mehr zu schaffen haben. Ein oder zwei Jahre behalten wir sie in der Erinnerung, dann verblaßt jenes Gesicht, das einst mit Bedeutung und Leben angefüllt war. Hitze und Leidenschaften entweichen. Entropie des Zen. Diese seltsame Photographie wurde auf einem Flohmarkt in Paris im Jahre 2012 erstanden, abphotographiert und auf Großformat abgezogen.

Eine Stadt, im fahlen Licht. Daily Diary (43)

„Die Beziehungen zu einer Frau, die man liebt (das aber kann genau so gut für die Liebe zu einem jungen Mann gelten), können auch noch aus einem anderen Grunde platonisch bleiben (…). Dieser Grund kann darin bestehen, daß der Liebende, gerade aus dem Übermaß seiner Liebe heraus allzu ungeduldig, nicht genügend Gleichgültigkeit beim Abwarten des Augenblicks zu heucheln imstande ist, in dem er erlangen wird, was er sich wünscht.“ (Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit)

„Hitler hat Crystal genommen“, so sagte sie, als wir an den „Höfen am Brühl“ vorbeiflanierten – jener Passagen-Verschandlung der Stadt durch die immergleiche Welt der Waren –, ich wollte es zunächst nicht glauben, weil Hitler Vegetarier sowie Nicht-Raucher war. „Quatsch“, entgegnete ich, „Hitler sicherlich nicht!“ „Doch, hat er! Und Crystal war eine Droge, die im Zweiten Weltkrieg sehr begehrt war. Sie hieß damals bloß anders.“ Leipzig, so sagte sie, sei momentan die Stadt des Crystal, während in Berlin die Einnahme von Heroin überwiege. „Methamphetamin halt.“

Und wie kann man den langen Weg bis zum Endsieg ohne Drogen durchstehen? Die Innenstadt von Leipzig ist voll von Menschen.

Wir bewegen uns zum „Museum der bildenden Künste“, um uns die Grafiken der Pop-Art sowie die Fotografien des Rock‘n‘Roll von Elvis bis heute anzusehen. Vorher betreten wir den Museumsshop. Ich möchte, das ist bei mir jedesmal so, bevor ich eine Ausstellung besuche, erst in den Kunstbuchkaufladen. Dann erst gehen wir die Treppe zum Kellergeschoß hinunter, wo sich die Ausstellung befindet. Wir betrachten Fotografien und Grafiken, ohne sie im Detail zu sehen. Wir lassen alles auf uns zukommen, und der Tag liegt noch vor uns. Es ist dieses unendliche Sprechen vor den Bildern, assoziativ, wild, wirr, schön und sich treiben lassend, alles kommt zusammen und es ist eine Weise von nicht-kontemplativer und dennoch produktiver Rezeption. Gut getroffene Fotos von „Franz Ferdinand“, Ausschnitte und dem Zufall oder dem analytischen Blick geschuldete Komposition, und von den „White Stripes“ sehen wir das großartige Plattencover ihrer ersten LP.

Was zählt, ist der Moment, jeder Moment in dieser Stadt, denn es gibt für uns nicht sehr viele von solchen Augenblicken. Das Photographieren ist im Museum zu Leipzig streng, sehr streng sogar verboten. Ich mache schnell und heimlich ein Foto, das laute Auslösen der Nikon ist durch den gesamten Saal zu hören, und sofort erscheint hinter einer Stellwand hervor die Aufseherin, blickt strafend, aber da ich die Nikon bereits wieder unschuldig an der Seite hängen habe, bleibt ihr nur das stumm-streng-strafende Schauen übrig. Nun behält sie uns skeptisch im Blick. Eines von Ed Ruschas Bilder habe ich erwischt. Ich kritisierte seine Bilder: zu grafisch, zu affirmativ, während die Frau die Grafiken lobt – insbesondere das Hollywoodbild. Ich habe es nicht photographiert, nun bleibt dieses Bild der Bewußtseinsindustrie und der Welt des schönen Scheins als Erinnerung hängen und durch diesen einen Tag brannte sich Ed Ruscha in mein Gedächtnis. Einen Künstler, dessen Bilder ich ansonsten wieder vergessen hätte.

„E io a lui: ‚Iʼ mi son un che, quando
Amor mi spira, noto, e a quel modo
chʼeʼ ditta dentro vo significando.‘“
(Dante, Divina Commedia, Purgatorio XXIV,)

(„Und ich zum ihm: ‚Ich bin ein solcher, der wenn/Amor es mir eingibt, aufzeichnet, und so,/wie er innen diktiert, zeige ich es an.‘“

„Amor mi spira“. Inspirationen und der Anlaß dazu eröffnen eine Form von Schrift, die läutert. Eine der vier Platonischen Tugenden ist das Maß.

Der Aufzug fuhr uns um halb zwei Uhr nachts in die dritte Etage des Hotels. An den Wänden hängen Druckgrafiken von Künstlern der Leipziger Schule bzw. von Künstlern, die in Leipzig studierten oder lehrten. Vorher spazierten wir in ein spanischen Restaurant irgendwo in Connewitz. Eine junge Serviererin mit roten Haaren fragte uns alle viertel Stunde: „Bei ihnen alles in Ordnung?“ Man kann sich so etwas gar nicht ausdenken: eine solch absurde Frage, die in einer Permanenz und penetrant wiederholt wurde. Die Frau dachte sich nichts Böses dabei.

Das Taxi brachte uns nach Reudnitz. Kurz vor halb zwei.

Stimmungen. Träume. Situationen, Momente, ein und ein halber Tag. Alles dies sind Ereignisse, die im Körper für einen Augenblick nachwirken und hängenbleiben, am Tag danach verdichten sie sich, anschließend verflüchtigen sie sich, irgendwann, und es ist, als sei niemals irgend etwas geschehen und gewesen. Phantasmen. Und es entschwindet der eine Mensch. Der Versuch über den geglückten Tag läßt sich in keine Prosa oder Poesie der Welt in eine Schrift oder gar in Gestalt bringen; er manifestiert sich nirgendwo sonst als in der Erinnerung, die mit der Zeit verblassen wird. Es konserviert sich nichts. Nicht einmal bleibt dieser eine Tag in einer Photographie aufbewahrt: aufgenommen vor Auerbachs Keller, an dem wir nach dem Besuch im Museum durch Zufall vorbeischlenderten, schon zum frühen Abend hin ging die Zeit, es dämmert, wir gehen gleich etwas essen, während ich die Nikon auslöse und sie sich mit ihrem so schönen Gesicht und dem Körper halb lachend und zugleich verlegen abwandte, so daß die Photographie komplett mißlang. Ich werde diese Photographie trotzdem aufheben, ich werde sie nicht löschen.

Es wird uns beide in diesem Leben niemals mehr geben. Es bleiben nur diese Tage übrig. Was ich gestern während der letzten Stunde im Café noch in die Ironie tauchte, ist heute die bittere, unaufhebbare Wahrheit.

Am Ende, wenn zwei Menschen sich in einem Parkhaus verabschieden, weiß keiner vom anderen, was er denkt, was sie gerade denkt. Und es fahren zwei Autos in ganz unterschiedliche Richtungen davon und verlassen die Stadt. Was bleibt, sind im Rückblick die roten Lichter.

Keine Photographie, keine Erinnerung, kein Satz vermag diesen Moment zu bannen. Am Kassenautomaten bezahlte sie ihre Parkgebühren und zog das Ticket. Es bleibt nicht mehr viel Zeit für irgendein Wort. Mein Wagen steht noch beim Hotel. Jedes Wort, jeder Satz scheint gleichbedeutend sinnlos. Leer. Triste. Die letzten Minuten, die letzten Schritte, die wir gehen, bis sie ihr Auto erreicht hat, sind ein Nichts und weniger als dies. Es vergeht in Sekunden – dieser eine Moment. Inmitten einer kalten Warenwelt, in den unwirtlichen Gängen eines Parkhauses, im zweiten Obergeschoß, dunkel und ins fahl gedimmte Neonlicht getaucht. Draußen das Licht der Stadt scheint trübe. Matt inmitten der grauen Wolken. Es regnet nicht einmal. Wir suchen ihr Auto, wir gehen zum Auto, das gleich abfahren wird ins Anderswo.

Auf Orte reimt sich Worte. Abschiedsorte – Abschiedsworte, „Machs gut!“, während die Arme sich kurz umeinander um die Schultern legen, die Oberkörper sich umhalten, umschlingen für die kurzen Sekunden und die Wangen sich leicht streifen. Ein kurzer Druck, während die Körper sich aneinander pressen, flüchtig wie sich Freunde verabschieden. Dann fuhr der Wagen aus der viel zu engen Parklücke eines Parkhauses am Leipziger Hauptbahnhof heraus. Die Rücklichter und eine japanische Automarke bleiben als letzter Blick. „Mach‘s gut, schöne Frau!“

Leipzig ist eine Stadt der Melancholie, des Wiederaufbaus, der Zerstörung, der Fragmente und sie ist, zumindest in manchen Stadtteilen, einer jener ausgewählt öden Ort. Weitere Photographien von Leipzig gibt es auf Proteus Image.

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„Die kleinsten innerweltlichen Züge hätten Relevanz fürs Absolute, denn der mikrologische Blick zertrümmert die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Vereinzelten und sprengt seine Identität, den Trug, es wäre bloß Exemplar. Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes.“
(Theoder W. Adorno, Negative Dialektik)

„Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur: jenes Leben, das in gewissem Sinne bei allen Menschen so gut wie bei dem Künstler in jedem Augenblicke wohnt“
(Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit)

Unvergeßlich bleibt der Geruch eines Menschen, wenn zwei Menschen morgens nebeneinander erwachen und jene Frau die verschlafenen Augen öffnet, während sich der Kopf des Mannes an ihrem Körper vergräbt.

Melancholia (3) – Einverleibungen, geschichtsphilosophisch: Zirkumzisionen

Der Versuch, diese Serie zur Melancholie und ihren Ausprägungen fortzusetzen. Nein, kein Versuch, sondern ich setze sie fort. Das Kannibalische als Moment der (oralen) Einverleibung funktioniert in verschiedenen Weisen und entäußert sich nicht nur in der libidinösen Besetzung des Objektes im Sinne einer Fort/Da-Struktur, welche das Objekt zu einem des Begehrens und zum Fetisch transformiert. Als Zitat im Zitat verleibt sich der Text die Texte ein und bringt sie in die Struktur einer unendlichen Verweisung, erzeugt die Depotenzierung des Zusammenhangs, die Dekonstruktion des Sinne. Der Sinne des Sinns, die „Logik des Sinns“ (Deleuze) ist nicht der Sinn. Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse, Narzißmus, Fetischismus, die gesteigerte Empfindungsfähigkeit und zugleich die Acedia der Melancholie formen den Text. „Im Denken bin Ich frei, weil ich nicht in einem Andern bin, sondern schlechthin bei mir selbst bleibe, und der Gegenstand, der mir das Wesen ist, in ungetrennter Einheit mein Für-mich-sein ist; und meine Bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in mir selbst.“ Aber lassen wir in einem leicht verschobenen Zusammenhang Heiner Müllers Text sprechen:

„Das Gefühl des Scheiterns, das Bewußtsein der Niederlage beim Wiederlesen der alten Texte ist gründlich. Versuchung, das Scheitern dem Stoff anzulasten, dem Material (ein kannibalisches Vokabular – ‚We are such stuff as dreams are made of‘), der Geschichte des amputierten Helden: sie kann jedem passieren, sie bedeutet nichts; bei dem einen genügt eine Blutvergiftung, der andre hat mehr Glück: er braucht einen Krieg. Ausflucht: Europa ist eine Ruine, in den Ruinen werden die Toten nicht gezählt. Die Wahrheit ist konkret, ich atme Steine. Leute, die ihre Arbeit machen, damit sie ihr Brot kaufen können, haben für solche Betrachtungen keine Zeit. Aber was geht mich der Hunger an. Uneinholbarkeit des Vorgangs durch die Beschreibung; Unvereinbarkeit von Schreiben und Lesen: Austreibung des Lesens aus dem Text. Puppen, mit Wörtern gestopft statt mit Sägemehl. Herzfleisch. Das Bedürfnis nach einer Sprache, die niemand lesen kann, nimmt zu. Wer ist niemand. Eine Sprache ohne Wörter. Oder das Verschwinden der Welt in den Wörtern. Stattdessen der lebenslange Sehzwang, das Bombardement der Bilder (Baum Haus Frau), die Augenlider weggesprengt. Das Gegenüber aus Zähneknirschen, Bränden und Gesang. Die Schutthalde der Literatur im Rücken.

Das Verlöschen der Welt in den Bildern.“
(H. Müller, Traktor)

Und das Motiv der Augenlider, die nicht mehr nur zerschnitten, durchschnitten, weggeschnitte sind, wie in jenem Text, in welchem Kleist das Bild „Mönch am Meer“ von C.D Friedrich deutete, oder diesen Schnitt durch das weibliche Auge, der im „Andalusischen Hund“ getätigt wird als die Beschneidung und zugleich die äußerste Freisetzung des Blickes, verweist bei H. Müller auf das Moment radikaler Dekomposition, welche zugleich eine Statik hervorbringt: es geschieht diese Freisetzung bzw. diese Umschreibung durch jenen (Benjaminschen) destruktiven Charakter mit dem modernsten Mittel: des Sprengstoffes und nicht mehr mit dem Skalpell – jenem Werkzeug der Beschneidung. Wobei wir in diesem Rahmen sowie in dieser Passage, wenn wir bei dem Schnitt, dem Einschnitt verweilen möchten, im Sinne der umfassenden Zirkumzisionen von einer Beschneidung als Kastrationsdrohung über das Freudschen Konzept vom Fetisch bis hin zu jenem Gedicht Celans gelangen können, welches „Einem, der vor der Tür stand“ heißt:

Diesem
beschneide das Wort,
diesem
schreib das lebendige
Nichts ins Gemüt,

Und in „Tübingen, Jänner“ sind es die zur Blindheit überredeten Augen, die ins Lallen oder in die Aphasie gleiten. Zu einer „Poetik der Beschneidung“ folgt hier im Blog demnächst und womöglich mehr, und zwar als Lektüre von Derridas Celan-Lektüre „Schibboleth“, was man bei Derrida mit dem Text „Geschlecht (Heidegger). Sexuelle Differenz, ontologische Differenz“ gegenlesen müßte.

„Der Kommunismus beginnt dort, wo einfache Arbeiter, in selbstloser Weise, harte Arbeit bewältigend, sich Sorgen machen um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, um den Schutz eines jeden Puds Getreide, Kohle, Eisen und anderer Produkte, die nicht dem Arbeiter persönlich und nicht ihm ‚Nahestehender‘ zugute kommen, sondern ‚Fernstehenden‘, d.h. der ganzen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit.“

Zugleich eben verlöscht im Text Müllers die Welt in den Bildern, gerät starr und in den Bann. Endspielszenarien. State of Play. Das Bild, die Photographie ist der Fetisch des Immergleichen. An einer anderen Stelle des Müllerschen Textes, in der Prosa-Miniatur „Bildbeschreibung“ verwandelt sich diese Photographie wieder in Sprache, worauf ebenfalls jene oben genannte Passage verweist.

„Bilder bedeuten alles am Anfang. Sind haltbar. Geräumig.
Aber die Träume gerinnen, werden Gestalt und Enttäuschung.
Schon den Himmel hält kein Bild mehr. Die Wolke, vom Flugzeug
Aus: ein Dampf der die Sicht nimmt. Der Kranich nur noch ein Vogel.
Der Kommunismus sogar, das Endbild, das immer erfrischte
Weil mit Blut gewaschen wieder und wieder, der Alltag
Zahlt ihn aus mit kleiner Münze, unglänzend, von Schweiß blind
Trümmer die großen Gedichte, wie Leiber, lange geliebt und
Nicht mehr gebraucht jetzt, am Weg der vielbrauchenden endlichen Gattung
Zwischen den Zeilen Gejammer auf Knochen der Steinträger glücklich
Denn das Schöne bedeutet das mögliche Ende der Schrecken.

(Heiner Müller, Bilder)

Darin steckt sicherlich ebenso eine Theorie der Photographie. (Und zugleich der Bezug auf die und die Parodie jener Rilkeschen Duineser Elegien.) Es bleibt die Abwesenheit, welche die Melancholie und zuweilen auch den Melancholiker antreibt.

Melancholia (2)

Zu entdecken gilt es im Rahmen dieser Serie im Hinblick auf all die Ausprägungen der Melancholie die erotische Dimension derselben – zum Beispiel so, wie sie im 13. Jahrhundert zuerst in der (italienischen) Liebeslyrik aufschien; zumindest wenn man Giorgio Agamben und seinem Buch „Stanzas“ folgt. Melancholie, die im Bezug zur Liebe steht, hat zugleich, wie Eva Geulen schreibt, mit jener wunderbaren christlichen Todsünde, die ich selber als die momentan angemessene Weise der Entäußerung betrachte, nämlich mit der acedia (also jener Trägheit des Herzens) zu tun. Zugleich ist diese Trägheit (als Zurückhaltung und Vorbehalt genommen) alles andere als faul und müßig, wie es die christliche Schreibweise indoktriniert, denn beständig versucht die acedia, welche sich mit der Melancholie eins weiß, einen Pol der Ruhe als Destruktion und einen Raum zu finden, um in der Produktion von Bildern und in den unterschiedlichen Weisen von Darstellung eine Dauer und Punktierung zu erzeugen, die zugleich aber in dem Bewußtsein inszeniert wird, nicht zu bestehen und nichts zu fixieren; es bannt die Sprache und das Bild den Verlust oder auch die Abwesenheit der/des Anderen. Zugleich beruht dieser Modus einer Präsenz, die sich – zumindest in jenem Gefühl der Liebe, welches wir als das emphatische und einzige ansprechen – gleichzeitig entzieht, auf der Illusion, es gäbe intakte Subjektivität und Bei-sich-sein-im-andern. Das Moment der Phantasmagorie oder auch des Narzißmus koppelt sich mit der ästhetischen Inszenierung innerhalb der Sprache oder des erzeugten Bildes. Das begehrte Objekt bleibt Objekt und damit Anderes, solange es als Objekt konzipiert wird. Die Sprache verschafft die nötige Distanz.

Agamben schreibt in den „Stanzen“ (1978): „Das, wovon die Spaltung zwischen Poesie und Philosophie Zeugnis ablegt, ist die Unmöglichkeit, den Gegenstand der Erkenntnis voll und ganz zu besitzen.“ Der Diskurs der Liebe verbindet sich in solcher Weise des Denkens mit Erkenntnistheorie. Diese Differenzerzeugung, welche die vollständige Negation von Präsenz und Fülle anerkennt und begreift oder diese Präsenz zumindest in einen anderen Modus der Darstellung retten möchte, greift eine Wendung Adornos aus der „Ästhetischen Theorie“ auf: nämlich die, daß Philosophie und Kunst einander bedürfen: beide Weisen des Diskurses haben teil und kommen der Sache doch niemals nahe.

„Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables.“ (Adorno: Ästhetische Theorie, S. 191) Und einige Seiten davor heißt es: „Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.“

Die Liebe ist der radikale Entzug und das Moment der Fülle im Rahmen der Reflexion. Marcel Proust schrieb dazu den vollkommenen Roman. Hernach war in der Literatur alles anders.

Melancholia (1) – sowie astronomische Aspekte: Der Venustransit am 6. Juni 2012

Im Hinblick auf den Status des Daseins, um ein wenig zu heideggern und damit zugleich zu kalauern, weil es (teils) so sehr Jargon ist und klingt, daß es fast weh tut, soll in diesem Blog nun auch noch und in Korrespondenz zu anderem Seriellen eine Textreihe mit dem schönen Wort „Melancholie“ im Titel geliefert werden. Nichts Systematisches entsteht hier freilich, und womöglich endet die Serie schnell oder sogar nach bereits einer Folge wieder, wenn ich die Lust verliere, wie ich im Grunde an allem die Lust verliere, weil die Dinge und die Menschen mich so unendlich langweilen, während ich mich in immer andere Bereiche verirre, ich mache hier im Blog nur noch Unsystematisches, und alles Versprechen breche ich. Der ästhetische Theoretiker ist notorisch unzuverlässig, wenn es nicht gerade um die Liebe in ihrer emphatischen Ausprägung sowie als narzißtische Wunschmaschine geht.

Melancholie, griechisch μελαγχολία, Schwarzgalligkeit, etymologische Herleitung aus der Naturwissenschaft der Antike, die Lehre von den Temperamenten; im etymologischen Wörterbuch von Kluge steht: „Täterbezeichnung: Melancholiker“ Dieses Kombination lese ich als oxymoronisch geniale Wesensbeschreibung, wenngleich es mit dem postulierten Wesen eine eher zwiespältige Angelegenheit ist. Mich erinnert der Begriff der Melancholie an jene schwarze Stelle auf der Haut: Melanom, und ebenso schön als Begriff: Melatonin, wenn ich denn schon in den Wortfeldern stöbere: für den Nachtrhythmus des Körpers zuständig; die wunderbare, blonde Kirsten Dunst, im Halbdunkel, hingestreckt, nackt auf dem Felsen, angestrahlt vom Licht und vom Abglanz jenes Sterns: die von jenem todbringenden Stern reflektierte Sonne flimmert fahl auf ihrer Haut, ein Bild, das niemals vergeht, schöner kann die Erde nicht verglühen, schöner eine Frau nicht illuminiert werden als in dieser Weise. Und allein dieses Filmbild inspiriert meine Serie „Belinda Projekt(s) – Datumsgrenzen“, weil es mir die Assoziationsräume jener Septembertage des Jahres 2011 öffnete, als „Melancholia“ ins deutsche Kino kam, und den versäumten Augenblick eines Oktobertages auf dem Ohlsdorfer Friedhof in der Freien und Hansestadt Hamburg.

„Das Wort ‚Melancholie‘ bezeichnet im modernen Sprachgebrauch recht unterschiedliche Dinge. Es ist der Ausdruck für eine Geisteskrankheit, die durch Angstzustände, tiefe Depression und Lebensüberdruß gekennzeichnet ist – wenngleich freilich in neuerer Zeit ihr medizinischer Begriff eine weitgehende Zersetzung erfahren hat. Es ist ferner der Ausdruck für eine auch im physischen Habitus kenntlich werdende Charakterveranlagung, die zusammen mit der sanguinischen, cholerischen, phlegmatischen das System der ‚vier Temperamente‘ (der alte Ausdruck ist: ‚vier Komplexionen‘) bildet. Es ist schließlich der Ausdruck für einen vorübergehenden Seelenzustand, der bald quälend, deprimieren, bald aber auch nur sanft-träge oder nostalgisch sein kann. In diesem Falle ist es eine rein subjektive Stimmung, die dann auf die Welt der objektiven Dinge übertragen werden kann, so daß man sinnvoll von der ‚Melancholie des Abends‘ der ‚Melancholie des Herbstes‘ oder, wie Shakespeares Prinz Heinz, von der Melancholie von ‚Moorditch‘, des nach einer Sumpfgegend benannten Londoner Stadtteils, sprechen kann.

[…]

Erst auf dem Boden der Aristotelischen Naturphilosophie vollzog sich die Vereinigung zwischen dem ursprünglich rein medizinischen Begriff der Melancholie und der Platonischen Konzeption der Mania. Ihren Ausdruck fand diese Vereinigung in der für das griechische Denken paradoxen These, daß nicht nur die tragischen Heroen wie Ajax, Herakles, und Bellerophon, sondern überhaupt alle Männer von überragender Bedeutung, sei es auf dem Gebiet der Künste, der Dichtung, der Philosophie oder der Staatskunst, ja sogar Sokrates und Platon Melancholiker gewesen seien.“
(R. Klibansky/E. Panowsky/F. Saxl, Saturn und Melancholie, S. 37 u. S. 57 f., Fft/M 1990)

Die Frauen fallen dort dann eher nicht mit hinein.

Die Melancholie hängt ebenfalls mit den Sternen zusammen: In jenem Film Lars von Triers trägt der Planet, welcher auf die Erde zutreibt, den Namen „Melancholia“, und auf Dürers rätselhaftem Stich „Melencolia I“ sieht die Betrachterin im Hintergrund einen strahlenden Kometen. Es ist ein so gleißendes sich strahlenförmig ausbreitendes Licht, daß es Betrachterin und Betrachter fast erscheint, als rase der Stern auf die Erde zu. Zu fragen bleibt, ob es sich um einen unbekannten, unheilvollen Kometen oder aber um Saturn selbst handelt: Jenen Planeten, der in der mittelalterlichen Astrologie für Unglück (und eben damit verbunden der Melancholie) steht, im Englischen etwa besitzt der Begriff „saturnine“ die Bedeutung „düster“ bzw. „finster“. Dürers Stich bildet ein Rätsel und die Produktion von Sinnzusammenhängen zerbricht in der Lektüre des Bildes.

Das Bild sprengt alle Eindeutigkeiten auf:

„… daß die Besonderheit der ‚Melencolia‘ darin besteht, daß die feste, in Theologie und Philosophie verankerte Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung aufgegeben ist. Damit sind Schaffender wie Betrachter gleichartig dem Problem der Erzeugung sinnvermittelnder, verstehbarer Zeichen ausgesetzt. Die Auslegungsgeschichte der ‚Melencolia‘ ist zu sehen als eine Kette von Sinnentwürfen, die in ihrer scheiternden Anstrengung, ein Sinnganzes zu erfassen, selbst Züge des melancholischen Syndroms trägt, das Dürer hier ins Bild setzt. Man muß – wie die geflügelte Frau – diesen Prozeß der rastlosen Sinnproduktion unterbrechen: das ist der Moment der Selbstreflexion, die nicht schon auf den nächsten Sinn aus ist, sondern fragt, was eigentlich in dieser Kette der Sinnzuweisungen geschah und geschieht.“
(Hartmut Böhme, Albrecht Dürer Melencolia I., S. 9, Fft/M 1989)

Und es ist dies zugleich der Moment reflektierender Kontemplation, welche sich auf eine Sache zusammenzieht: ein Subjekt, welches, in sich gekehrt, betrachtet und visualisiert; annähernd so wie jenes Wesen auf Dürers Stich, das, trotz der Flügel, eben keinen Engel darstellt, sondern die Melancholie personifiziert. Ganz anders hingegen Justine in von Triers Film, die hellwach und agil wird als der Stern sich auf die Erde bewegt. Sie weiß von Anbeginn an – seit der Hochzeitsfeier als sie jenen so hell strahlenden Stern erblickt –, daß alles verloren ist, und sie wird in dieser Sicht auf das, was unweigerlich geschieht, immer klarer.

Überhaupt der Verweis von Bild zu Bild, wenn die Betrachter an den Strom der Bilder andocken und sich von diesem Fluß tragen lassen: „Melancholias“ Bezug zu „Solaris“ und der rätselhafte Verweis auf das Breughel-Bild „Jäger im Schnee“, die Materialisation der toten Haris‘ auf Solaris aus jenem Ozean heraus– jener Geliebten von Kelvin, die sich ums Leben brachte. Schuld und Sühne, die Bilder des Gedächtnisses, Andenken: sehr russisch stellt sich dieser Film dar.

Melancholie ist das Leiden an der Zeit. Daß sie linear fließt und nicht anders.

Der Melancholiker reflektiert auf den einen Moment – jenen versäumten Moment, der unwiederbringlich entschwunden ist und der sich im Fluß der Zeit nicht mehr zurückholen läßt. Freud bezeichnet dies in seinem Aufsatz zu Trauer und Melancholie als den Objektverlust und bringt diese Dinge in ein Modell psychoanalytischer Rahmenhandlung.

„Jezt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,
Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond,
Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt,
Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns,
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlinging unter den Menschen
Über die Gebirgshöhn traurig und prächtig herauf.“
(F. Hölderlin, Brod und Wein, Erste Fassung)

In der zweiten Fassung heißt der Mond bei Hölderlin interessanterweise nicht das Schatten-, sondern das Ebenbild unserer Erde.

Eine vollkommen andere, für den naturwissenschafltichen, astro-physikalischen Blick antimelancholische Bedeutung besitzt jenes Ereignis, das unter dem Namen „Venustransit“  firmiert: Wenn am 5./6. Juni 2012 die Bahn der Venus genau zwischen Erde und Sonne hindurchführt und sie als dunkler Punkt an der Sonnenscheibe vorbeizieht. Eine solche Konstellation ereignet sich relativ selten: man kann es als ein großes Glück bezeichnen, daß diese Passage bereits 2004 stattfand. Das vorletzte Mal geschah das Schauspiel am 6. Dezember 1882. Im 18. und 19. Jahrhundert diente dieses seltene Ereignis den Astronomen dazu, um die Entfernung zwischen Sonne und Erde zu bestimmen. „Edmond Halley kam 1716 auf die Idee, durch Messung der exakten Dauer einer Venuspassage an möglichst weit voneinander entfernten Orten auf der Erde den Abstand zwischen Sonne und Erde zu bestimmen. Mit Hilfe des dritten Keplerschen Gesetzes ließen sich dann die Abstände aller anderen Planeten im Sonnensystem berechnen.“ (Wikipedia) Halley selbst kam nicht in den Genuß, den Venus-Transit beobachten und Vermessungen anstellen zu können, weil zwischen den Jahren 1656 und 1741 der Planet nicht passierte. So kann‘s gehen im Leben.

Ohne beim Blick in die Sonne geeignete Sonnenfilter einzusetzen, erblindet der Sternenbetrachter: Der bestirnte Himmel über mir: er übt vielerlei Funktionen aus, und das reicht von der Kontemplation, welche an die Kantische Konzeption des Erhabenen anknüpft und die zugleich mit dem Zustand der Erregung und Gemütsaufwallung gepaart ist, bis hin zu den Beobachtungen der Astrophysik. Die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung folgen dabei verschiedenen Mustern. In einem Ganzen sind die differenten Aspekte nicht mehr zu haben, nicht einmal mehr bei Kant, wenngleich man seine „Kritik der Urteilskraft“ als einen letzten Versuch lesen kann, das Auseinanderdividierte der Vernunft in einen Zusammenhang zu bringen.

Der nächste Transit wird dann am 11. Dezember 2117 stattfinden. Es gilt auch dann wieder: Nicht vergessen, das Schutzbrillchen aufzusetzen, und rechnen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch dann wieder mit einem qualifizierten Bericht auf „Aisthesis“. Vielleicht aber haben wir jedoch Glück und befinden uns zu dieser Zeit woanders.

Anläßlich dieser Betrachtungen reichen wir heute Abend eine Flasche Riesling vom Weingut Clemens Busch an der Mosel.

100 Jahre „Morgue“ von Gottfried Benn – mit einem Seitenblick auf Robert Frost (2)

Als hätte es die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs nicht gegeben, als ob kein Inferno stattfand, als ob die Menschen weiterhin mit Hottehü-Pferdchen durch die Natur streifen werden. Brave old world. Das 19. Jahrhundert endete bekanntermaßen mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Über der entfalteten, entfesselten Technik liegt Schnee, Schnee und nochmals Schnee, und das hat einerseits etwas sehr poetisches: ein letztem Mal noch: diese Stille eines Winterwaldes – zu Weihnachten hin. Es ist, als ob nichts wäre, nichts geschähe. Der Schnee legt sich über alles und jedes. Ein letztes Mal. Immer gibt es ein letztes Mal. Zeremonie des Abschieds. Ähnlich verhält es sich bei jenen zwei Wegen als Modell erinnerter Subjektivität. Es bleibt die Differenz zwischen Form und Inhalt. Verrätseltes und Rein-entsprungenes. Die Formen des Bewußtseins als modernes bleiben außen vor. Kein Ansatz von rhizomhafter Spaltung und Verästelung.

Stopping by Woods on a Snowy Evening
Whose woods these are I think I know.
His house is in the village though;
He will not see me stopping here
To watch his woods fill up with snow.
My little horse must think it queer
To stop without a farmhouse near
Between the woods and frozen lake
The darkest evening of the year.
He gives his harness bells a shake
To ask if there is some mistake.
The only other sound’s the sweep
Of easy wind and downy flake.

The woods are lovely, dark and deep.
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep,
And miles to go before I sleep.
(1922)

Das Gedicht fährt im Modus der Innerlichkeit und rekurriert auf (Kälte-)Bilder der Natur und des Dörflichen bzw. Ländlichen. Orte der Stille, der Einkehr, und zugleich liegen diese Meilen, dieser Weg vor dem lyrischen Ich, gesteigert und als Intensität des Ausdruckes dargebracht durch diese Wiederholung in den beiden Schlußzeilen. Der Schlaf kann die Ruhe oder zugleich das Ermatten bzw. den Tod des Subjekts bedeuten. Die melancholische Schönheit einer Winternacht – es könnte auch ein Abend im Herbst sein. Es gibt freilich im Diskurs der Ästhetik Einschnitte, nach denen nichts mehr so ist, wie es vorher war – auch nicht die Konzeption von Schönheit und Subjektivität. Der Stand des ästhetischen Materials ist hernach ein anderer. Eine solche Zäsur lieferten (unter anderem) Benns Morgue-Gedichte.

Frost gilt als einer der bedeutendsten Lyriker der USA. Kennedy schätzte ihn, Frost durfte zu seinem Amtsantrit 1961 vortragen. Dichtung als Kategorie des Politischen – so wie dereinst Hölderin mißbräuchlich in den Tornistern kaiserlicher Weltkriegssoldaten getragen wurde, so wie die „Todesfuge“ andenkenhaft ritualisiert wurde, um bloß vergessen zu dürfen, so daß Celan es reute, sie geschrieben zu haben. In dem Thriller „Telefon“ spielte jene letzte Strophe in „Stopping by Woods“ eine Rolle.

An Frosts Gedichten zeigt sich aber, wie sehr das Kunstwerk an seinen Zeitkern gebunden ist. 100 Jahre früher wäre diese Dichtung außerordentlich und modern gewesen, insbesondere über die Frage nach der Subjektkonstitution sowie der Stellung des Subjekts zur Natur. Vor der Frage der Subjekt- und Bewußtseinskonstitution der Moderne, wie sie etwa T.S. Eliot oder Ezra Pound entfalten, versagt Frosts Lyrik. Mehrstimmigkeit und der Strom des Bewußtseins sind ihm fremd. Und in die Gegenwart bzw. in das frühe 20. Jhd. transformiert, wird aus dem eichendorffschen oder mörikeschen Restromantiker in der Rezeption und im Zeitalter kulturindustrieller Fungibilität der Reste-Romantiker: Wo Lyrik dann in ihrer Lektüre irgendeiner vulgärheideggerschen Gestimmtheit untergeordnet wird, drückt sie bloß noch das standardisierte Gefühl aus: am Wegesrand der Lyrik aufgeklaubte Empfindungen des suchenden Ich. Alle fühlen irgendwie individuell und doch alle gleich in der selben Pose.

Solche Lyrik dient lediglich der Erbauung, das Gedicht wird Mittel zum Zweck, und Kunst erbringt wie der Museumsbesuch die Kompensationsleistungen für die Zurichtung der Subjekte im Arbeitsalltag und durch die verwaltete Welt einer entfesselten Moderne. Aber es gibt keinen Weg zurück. Der Kälte gilt es, sich mimetisch zu nähern. Mimesis ans Tödliche, wie es bei Adorno heißt. Der Entfesselung muß Kunst sich gewachsen zeigen, will sie nicht an ihr Ende kommen. Durch Regression gelingt diese Fahrt zwischen Skylla und Charybdis nimmer. Im Grunde sind Naturgedichte zum Beginn des 20. Jhds nicht mehr zu schreiben – zumindest nicht in der hergebrachten Weise –, ganz zu schweigen vom Naturgedicht nach 1945: eben nach Auschwitz, aber auch nach Hiroshima, Nagasaki und dem Gulag versteinerte die Natur unter der Medusa der Geschichte. Insofern mein ceterum censo: daß nach der Lyrik Celans, die ja durchaus auch eine Naturlyrik ist, und der Prosa Becketts nicht viel mehr geht. Andererseits eignet den Es-geht-nichts-mehr-Rufen zugleich der Mangel an Anstrengung, die unternommen werden muß, um sich an der Form abzuarbeiten. Lyrik läßt sich nicht auf einen Nenner bringen.

„Denn der Gehalt eines Gedichtes ist nicht bloß der Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen. Sondern diese werden überhaupt erst dann künstlerisch, wenn sie, gerade vermöge der Spezifikation ihres ästhetischen Geformtseins, Anteil am Allgemeinen gewinnen.“ (Th. W. Adorno, Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: GS 11, S. 50)

Dies gilt gleichermaßen für die Produzenten- wie für die Rezipientenseite und berührt damit den ästhetischen Gegenstand vollständig.

Zugleich aber zeichnet es die ästhetische Moderne aus, daß das Kunstwerk der Moderne sich verrätselt und entzieht; oder aber es ist nicht. Und daran scheitert alle Lyrik sowohl als fromme Naturlyrik als auch jene (postmoderne) affirmative Kunst, mag sie auch augenzwinkernd sich gerieren.

Was die Natur bzw. ihre Metaphern in Frost Gedichten betrifft, so idealisiert er die Natur jedoch nicht – darin unterscheidet er sich von einer naiven Romantik. So wie jener mit Schnee gefüllte Wald, in dem ein Mann oder eine Frau mit einem Pferdchen steht (es könnte sogar pfirsichfarbend sein), welcher zugleich das Moment des Unheimlichen in sich trägt: es enthält diese Natur beide Momente: die Schönheit, die Anmut eines verschneiten Waldes als auch die raue Wirklichkeit desselben. In der Natur bergen sich beide Seiten: sowohl das Heimatliche, welches so leicht in den Gesinnungskitsch gleitet, als auch ihre Notwendigkeit, die unter dem Blick des Subjekts etwas Grausames annehmen kann: wenn der Winter den Schnee gegen das Haus wirft, wie in „Storm Fear“.

Es gehört jedoch, und dies ist die andere Seite der Betrachtung, zur Moderne in gewissem Sinne ebenfalls die konservative Seite der abgelebten Form mit dazu. Wenn Frost von der „Klärung der Existenz“ spricht, so ist dies angesichts der Dissoziationen der Moderne allerdings eine anachronistische Position – beyond the reflection. Und das Gedicht beginnt keinesfalls „im Entzücken und endet in Weisheit“. Diese Position ist erschlichen, und wer von Weisheit fabuliert, befindet sich an allen möglichen Orten, nur nicht an dem, welchen sie oder er als Ziel avisierten.

Trotzdem besitzt dieses Gedicht von Frost in seiner unmittelbaren Rezeption etwas Anrührendes, dieses Moment der Schönheit, das bereits einer vergangenen Epoche angehört, versetzt mit jener süßen Melancholie unvergänglicher Schönheit, welche das Lebenselexier der Jugend darstellt und von dem diese Jugend nicht weiß, daß es am Ende ins Nichts vergeht, und es ist solches Gedicht zugleich von seinem Gemachtsein her, indem es ans Gefühl appelliert, Pop avant le pop. All dieses Seichte und Gefällige samt dieser doch bei sich seienden Subjektivität als Anwesenheit und In-sich-Ruhen, selbst im Moment der Unruhe, gibt es bei Benn nicht. Seine Gedichte in „Morgue“ überführen qua Form im Versmaß diese Haltung der Ideologie.

Wenn man es in den Sound der Popmusik übersetzten möchte, dann ist es bei Benn eher dieses hier:

„I‘m waiting for my man
Got 26 dollars in my hand
Up to lexington 125
Feelin‘ sick and dirty
Huh, I’m waiting for my man“
(Velvet Underground)

Bei Benn am Ende freilich subtiler und weniger schmutzig gestaltet.

„O, Nacht! Ich nahm schon Kokain,
Und Blutverteilung ist im Gange.
Das Haar wird grau, die Jahre flieh‘n,
Ich muß, ich muß im Überschwange
Noch einmal vorm Vergängnis blühn.“

Entgrenzungen einer Moderne, die die Natur rein ins Innere verlagert; Schneeverwehungen, und zwar – anders als in Frosts Lyrik – konzipiert als Riß, der mitten durchs Subjet verläuft, vermittels Chemie; Gedichte, kurz vor dem epochalen Einschnitt. Wunschphantasien und die Phantasmagorie der Blüte, die sich einzig noch durch jene künstlichen Paradiese hervorzaubern läßt. Die weiße Metapher.

Und das Gedicht „Nachtcafé“ treibt einen Klang der Vorkriegszeit hervor, der in seiner Hektik, in den Formen des Abgeschmackten, jenem Menschlich-Allzumenschlichen einer kontingenten Existenz so niemals dagewesen ist. Der menschliche Makel und die Musikalität der Sprache:

Nachtcafe
824: Der Frauen Liebe und Leben.
Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte
rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot.
Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende.

Grüne Zähne, Pickel im Gesicht
winkt einer Lidrandentzündung.

Fett im Haar
spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel
Glaube Liebe Hoffnung um den Hals.

Junger Kropf ist Sattelnase gut.
Er bezahlt für sie drei Biere.

Bartflechte kauft Nelken,
Doppelkinn zu erweichen.

B-moll: die 35. Sonate
Zwei Augen brüllen auf:
Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal,
damit das Pack drauf rumlatscht!
Schluß! He, Gigi! –

Die Tür fließt hin: Ein Weib.
Wüste ausgedörrt. Kanaanitisch braun.
Keusch. Höhlenreich. Ein Duft kommt mit.
Kaum Duft.
Es ist nur eine süße Verwölbung der Luft
gegen mein Gehirn.

Eine Fettleibigkeit trippelt hinterher.
(1912)

Hernach kann eigentlich keiner mehr dichten wie vordem. Natur und Subjekt verschränken sich, ohne daß aber irgend etwas aufgeht oder sich vermittelt. Und da ist es wieder – en avant Dada: Diese Nähmaschine und jener Regenschirm, welche auf dem Operationstisch (des Vivisecteurs) sich begegnen. Jener Vivisecteur, der aussaugt, ausschöpft, komponiert und sporadisch als Restsubjekt fungiert. Nachtleben, Berlinerisch. Es ist die Großstadt, welche – auch in ihrem Sound – als Signum der Moderne fungiert. Dem Gesang der Vögel wohnt noch der Mythos inne, wie Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“ schrieb. Wenn die Räder der Straßenbahn sich an den Stahlschienen reiben und kreischen, während die Tram vom Nordbanhnof die Invalidenstraße hochfährt, hin zum Zionskirchplatz und weiter, so eignet sich diesem Geräusch ebenfalls der Mythos und das Moment von Natur zu. Benjamin erkannte diese Bedeutung der Großstadt für die Moderne und brachte es in seinen Aufsätzen zu Baudelaire sowie in jenem Fragment gebliebenen Buch über die Pariser Passagen auf den Punk. Und auch heute noch sind es die Metropolen, welche in den Bann ziehen.

Kleisttage, Herbsttage, Wannsee – Eine melancholische Reise in den Süden

„Küsse, Bisse/Das reimt sich und wer recht von Herzen liebt,/Kann schon das eine für das andre greifen“

H. v. Kleist, Penthesilea

Wenn eine Reisende oder ein Reisender, etwa vom Osten kommend, vom Potsdamer Platz über das Kulturforum sich bewegend, die Potsdamer Straße in Richtung Süden immer weiter geradeaus fährt, dann …, ja dann ist der Autofahrer ziemlich bescheuert und ortsunkundig, weil sie oder er nämlich nur im Stau steht und nicht vorankommt. Nichts schlimmer als Samstag auf der Potsdamer Straße mit dem Auto, auf nur einer Spur. Langsamer nie als im November. Also umfahren wir den direkten, den geraden Weg, schließlich besitzt Berlin wunderbare Stadtautobahnen – jede Stadt sollte sich Stadtautobahnen zulegen: man kommt schnell durch und es gibt dort keine Fahrräder. Also über die Stadtautobahn spurten, mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit versteht sich. Und so beginnen wir unsere Reise: in Steglitz, die Autobahn verlassend, und fahren die Straße Unter den Eichen immer geradeaus, dann auf die Berliner Straße, bis man, weiter geradeaus, die Potsdamer Chaussee erreicht, welche, wie es der Name bereits sagt, direkt nach Potsdam führt. Teils stehen am Straßenrand schöne Alleebäume, am Wegesrand, zu den entsprechenden Obst- und Gemüsezeiten der Saison, verkaufen Händler, die vorgeben, aus dem Umland zu stammen, Erdbeeren, Spargel und sonst was für Obst und Gemüse an Hungrige und an Köche. Die Fahrt über die Straße ist eine Reise für sich, etwa wenn man durch das ruhige und verschlafene Zehlendorf kommt. Wie heißt ein Schlachtruf, sobald sich Nachbarn über zu laute Musik auf Kreuzberger oder Neuköllner Partys beschweren?: „Geh doch nach Zehlendorf!“ Dabei ist es schön in Zehlendorf, ab einem gewissen Alter zieht man entweder nach München – sofern man ordnungsliebend ist, graffitibefreite Zonen sowie klinisch-antibakterielle Sauberkeit mag und etwas für die Bayern übrig hat – oder nach Ottensen, wer Lehrer oder Yogatherapeut geworden ist. Und für den ganz normalen und beschaulichen Menschen mit Berliner Gemüt bieten sich Zehlendorf, Steglitz, Friedenau an. Dort wohnten, nebenbei gesprochen, Uwe Johnson, Günter Grass, meines Wissens zeitweise auch Max Frisch und Erich Kästner.

Wenn der Autofahrer endlich den fast äußersten Teil des Berliner Südwestens erreicht hat und nach Wannsee kommt, dann biegt er hinter der Eisenbahnunterführung links ab in die Bismarckstraße, und da findet sich nach kurzer Strecke rechter Hand das Doppelgrab von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist. Es befindet sich auf einem Hügel, von dem die Betrachterin oder der Betrachter auf den Kleinen Wannsee schauen können. Schöner Herbstwald, gefärbtes Laub, das ich mir betrachte, wer möchte da nicht begraben liegen? Und die Ufer sind leider besetzt von Ruder- und Segelclubs, so daß der Flaneur nicht spazieren kann. Mit diesem Blick auf den See und in den Herbstwald hinein erschoß Heinrich von Kleist am 21. November 1811 zuerst die todkranke Henriette Vogel und hernach sich selber. Davon mehr und im Detail am Todestag  – hier in Ihrem Sensationsblog, unter der Rubrik „Todesschüsse“. Als wärst Du selbst dabei, so hautnah reportiert Ihnen ihr ästhetischer Lieblingsberichterstatter Bersarin jene Ereignisse, die sich an jenem 21.11.1811 an einem trüben Novembertag am Kleinen Wannsee zutrugen. Auf dem ersten ursprünglichen Grabstein kam der Name von Henriette Vogel nicht einmal vor.

Die Anlage des Kleistgrabes ist recht verwildert, sie soll umgestaltet bzw. ästhetisch flurbereinigt werden, so daß es dort mehr Platz zum Spazieren am Wasser gibt. Ich selber begab mich, nach einer sinnierenden Minute, in der ich auch der eigenen Melancholie frönte, weil ich am Vormittag eine ziemliche schriftliche Eselei begangen habe, weiter hin zum Großen Wannsee, um dort ein wenig zu spazieren – bis hin zum Heckeshorn. Photographien von diesem Kleistgang zeige ich auf Proteus Image.

Auch die Strecke am Großen Wannsee entlang – auf der Straße, auf dem Gehsteig – führt lediglich an Häusern im Privatbesitz vorbei: ein Segel- oder Ruderverein folgt auf den anderen. Es gibt kaum einen freien Blick auf den, geschweige einen freien Zugang zum Wannsee: Members only. Zuweilen thronen am Ufer auch prachtvolle Villen. Aber es stehen zur linken ebenfalls Appartementhäuser der 70er Jahre, die architektonisch recht interessant ausschauen. Unten beim Heckeshorn geht es dann in den Wald hinein und es gibt Wege am See

Vor 70 Jahren, einige Kilometer entfernt, begannen im Oktober 1941 am S-Bahnhof Grunewald die ersten umfassenden Deportationen der Berliner Juden. Über 50 000 Juden wurden von diesem S-Bahnhof in die Vernichtungslager im Osten verbracht. Gefüllt mit 1.013 Juden in den Vieh- oder Güterwagons verließ am 18. Oktober 1941 der erste Deportationszug der Deutschen Reichsbahn den Bahnhof Grunewald.

„Die Rolle der Deutschen Reichsbahn im Holocaust blieb lange unbeachtet. Erst in den 1980er und 1990er Jahren wurden in Erinnerung an dieses Kapitel in der Vergangenheit des Bahnhofs Grunewald mehrere Mahnmale errichtet. Daher wurden die ersten Mahnmale von anderen Gruppen errichtet. Die erste Gedenktafel zur Erinnerung an diese Deportationen wurde 1953 am Signalhaus aufgestellt, allerdings wurde sie aus unbekannten Gründen wieder entfernt, auch der Zeitpunkt des Abbaus ist nicht dokumentiert. Die Einweihungsfeier wurde damals von Polizisten gestört, weil die Vereinigungsgruppe, die die Gedenktafel initiiert hatte, als kommunistisch galt. Die zweite Tafel des Gedenkens wurde erst zwanzig Jahre später im Jahr 1973 angebracht und 1986 gestohlen. Am 18. Oktober 1987, dem 46. Jahrestag des ersten Transportes, wurde ein weiteres Mahnmal von einer Frauengruppe der evangelischen Gemeinde Grunewald errichtet. Auf zwei Eisenbahnschwellen stand senkrecht eine dritte mit der Inschrift

„18.10.41“

Eine Messingplatte mit der Beschriftung

„Wir erinnern / 18. Okt. 41 / 18. Okt. 87“

vervollständigte das kleine Ensemble. Nachdem die Initiatorinnen das Mahnmal altersbedingt nicht mehr pflegen konnten, wuchs es zu und die Messingplatte wurde entwendet. 2005 wurde es dann vereinfacht, mit querliegender anstatt senkrechter Eisenbahnschwelle, wieder hergerichtet und eine neue Messingplatte montiert, …“ (Wikipedia)

Soviel zur zeitnahen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. „Entwendet“ ist ein feiner Euphemismus.

Sicherlich böte sich in bezug auf Kleist eine Text/Photostrecke an: eigene Bilder, dazu Texte von Kleist, aber mir scheint solche Anordnung doch ein wenig zu bemüht. Und um solch ein Projekt wirklich gut zu gestalten, muß man sich sehr viel Zeit nehmen, die jemand, der in Vollzeit im Beruf steht, naturgemäß nicht besitzt. Und schließlich ist „Aisthesis“ bloß ein bescheidener ästhetisch-kritisch-theoretischer Blog, aber kein Buchprojekt.

„Zeit geben“