Comment cʼest – Feuilleton, Pop, Betriebssystem: schreibe FORMAT C:/Q

Nun bin ich seit Wochen kurz davor, mein über 30 Jahre währendes Abonnement der „Zeit“ zu kündigen, um auf die FAZ umzusatteln, was ich eigentlich schon lange hätte tun sollen, aber bisher aus Bequemlichkeit Monat um Monat hinausschob, und dann stoße ich endlich auf eine „Zeit“-Glosse, die zu lesen sich lohnt. Kritik der Kritik, eine Notiz aus dem Betrieb, die das Trallala des pseudosubversiven Popdiskurses beim Namen nennt. Wenn sich Kunstbetrieb, Feuilleton und Journalismus immer mehr nach der Kategorie der Unterhaltsamkeit ausrichten und ansonsten jeden komplexeren Anspruch mühelos zu unterlaufen sich anschicken: Wozu brauchen wir dann eigentlich noch diese Kultur-Seiten, wo all die Kultur-Journalisten fröhlich fabulieren, als schrieben sie für die „Bravo“ oder für die „Brigitte“?

Wenn Teile des Feuilletons unterhalten wollen, wie das Literarische Quartett oder andere Produkte im Kulturbetrieb, dann sollten sie es nach den harten Regeln der Unterhaltungsindustrie machen, so daß es im Resultat dann auch wirklich unterhaltsam ist und daß da nicht ein Mann in einem scheußlichen blauen Anzug sitzt, der wie eine Kopie Jörg Pilawas ausschaut. Schematisiert, konzeptualisiert, kalkuliert und standardisiert die Produkte! Und zwar auf eine Art, daß man auf den ersten Blick dieser Schablonen nicht gewahr wird. (Man mag gegen den alten Reich-Ranicki sagen, was man will, man mag seine Ästhetik als konservativ betrachten, aber als Kritiker gewitzt zu schreiben und zu unterhalten und dabei doch geistreich zu sein in seinem theatralischen Donnern: das vermochte er. Nicht immer zur Freude der Autoren. Aber es gibt eben keine Großkritiker mehr, was einerseits nicht schlecht ist, aber es fehlt im Feuilleton ein bestimmter Ton.)

Alexander Cammann bringt in der Zeit Nr. 49 des Jahres 2015 auf den Punkt, was im Betrieb fehlt. Nein, das ist kein Verfallsgejammere, wie gerne vorgehalten wird. Aber ich möchte im Internet wie auch im klassischen Feuilleton wieder Kritiken, Rezensionen, Berichte, Glossen lesen, die mich begeistern. Von Autoren, die schlauer als der Leser sind und die ihr profundes Wissen gerne teilen, um das der anderen zu erweitern. Die in ihrer Sprache etwas wagen, die mit Esprit schreiben können. Ich möchte nicht das lesen, was ich sowieso weiß, und in launigem Ton über irgendwelche Ereignisse wie Buchmessen, Lesungen, Bücher sich zu ergehen, mache ich abends in geselliger Runde selber. Dazu brauchtʼs keine Zeitung.

„Konsequenterweise kann heutzutage ein Pianist, der Beethovens Diabelli-Variationen eingespielt hat, nicht mehr danach gefragt werden, warum er dieses Stück so und nicht anders interpretiert hat, sondern danach, ob er auch Hip-Hop hört. Niemand käme auf die hingegen auf die Idee, Kendrick Lamar zu fragen, ob er auch den späten Beethoven hört. Während der popkulturelle Diskurs sich heute vorzugsweise im hermetischen Checker-Milieu entfaltet, müht sich jeder Museumsdirektor mit pädagogischem Begleitprogramm um einen niedrigschwelligen Zugang, als müsste er sich für seine Kunst schämen.

Nirgendwo geht es derzeit elitärer zu als ausgerechnet in den Deutungswettkämpfen populärer Kultur, im Ringen um die jeweils aktuell verbindliche Form. Nichteingeweihte haben weniger Zugangschancen als bei Schönbergs Zwölftonmusik: Die ewigen Distinktionsrituale des ‚Was geht/was geht nicht?‘ folgen fein ziselierten Codes zwecks Abgrenzung und Ausschluss, Abweichungen werden geächtet, allerneueste Trends und Tendenzen in einem ausdifferenzierten System unter Einsatz eines theoretisch hochgerüsteten Argumentationsarsenals durchgesetzt. Wenn schon der Gegenstand nicht hochkulturell ist, soll es wenigstens der Diskurs sein. Schade nur, dass man bei dieser Anstrengung zugleich auch noch so locker sein will.“

Schöner und treffender hätte man es nicht schreiben können. Wobei diese Distinktionskultur Pop allerdings ein Jahrzehnte währendes Phänomen ist – so alt wie der Pop selbst und diesem intrinsisch. Sein Wesen ist notwendigerweise Aus- und Abgrenzung. Das nahm er sich von der sogenannten Hochkultur – ein freilich in sich bereits problematischer Begriff. Die sogenannte hohe Kultur und der Pop sind lediglich zwei Spielmarken, zwei Seiten der einen Medaille – Janusgesicht der Spät-Moderne. Selbst die Provokation ist kein Phänomen des Pop, sondern von der Kunst geborgt und war dieser im Gestus der Avantgarden immer schon eingeschrieben: Grenzen zu überschreiten, heißt, sie anders als bisher zu ziehen. Aber eben auch: neue Grenzen zu erreichten. Unauflöslicher Widerspruch, der sich in der ästhetischen Form gründet. Das Bürgertum, das vom 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts noch als solches existierte und nicht bloß in seiner herabgesunkenen Variante einer neuen Bürgerlichkeit, die meist auf die Bräsigkeit hinausläuft, ließ sich in seinem Antagonismus gerne erschüttern, wenn die Künstler schrieben oder lauthals riefen: „Épater la bourgeoisie!“ und „Glotzt nicht so romantisch!“ (Dieses romantische Geglotze und Geklotze in Phrasen ist heute leider wieder en vogue.)

Pop ist die Fortsetzung der Hochkultur mit anderen Mitteln.

Die vermeintlich Pop-Progressiven finden das vermutlich gar nicht komisch. Bei Pop hört der Spaß auf.
 

15_08_16_LX_7_5274
 

Die wunderbaren deformierten Jahre ungehemmten Denkens. Über Philipp Felschs „Der lange Sommer der Theorie“ (2)

Felsch erzählt diesen langen Sommer der Theorien in einer durchaus anregenden Weise – ich schrieb dies bereits im ersten Teil meiner Besprechung, wenngleich der Wein denn doch mit einigem Wasser zu verdünnen ist. Anregend insofern, weil Felsch einen unterhaltsamen Ton pflegt: das Buch ist für viele mit Gewinn lesbar, auch für die, die nicht unbedingt in diesen Theoriebauten heimisch sich fühlen und darin sich bewegen wie die freundlichen Fische im klaren kalten Wasser. Zudem erliegt das Buch nicht der ach so postmodern witzig-ironischen Versuchung, im abgeklärten Ton der Spätgeborenen (zu denen in gewissem Sinne auch der Rezensent gehört: Jahrgang 64 immerhin) über das linke Theoriepotential insbesondere der Kritischen Theorie im seicht-affirmativen Bolz-, Kittler- oder Sloterdijk-Imitation-Ton  sich zu erheben und in eben jener doch eher bedeutungslosen und zu oft gehörten Rillung zu spuren und zu schwadronieren. Zumindest in großen Teilen. Felsch spart (weitgehend) mit Polemik sowohl gegen den hermetischen Text der frühen Frankfurter als auch gegen das Delirieren und den neuen Ton der wilden und so ganz anders als dialektisch denkenden Franzosen. Sofern er Polemik einsetzt, geschieht das – von kleinen Ausnahmen abgesehen – meist dosiert. Dieser Spagat, verschiedene Theoriesysteme dazustellen, gelingt Felsch.

Felschs Buch kann man auf zwei Arten lesen. Entweder es läßt sich der Leser vom ungeheuren Sog, den Theorien sowie ihre Kontexte ausüben können, in den Bann ziehen, weil diese Theorien zum Bestand der eigenen Lebenswelt und der intellektuellen Biographie werden. Man gleicht dann die von Felsch geschilderten Lese- und Lektüreszenen mit seiner eigenen intellektuellen Biographie ab, entdeckt gemeinsames oder Differenzen. Oder aber man ärgert sich gigantisch über den zusammengeklaubten Inhalt des Buches sowie über die Art, wie Felsch vorgeht, weil er Theorie vielfach als Accessoire der Mode oder im Sinne lebensweltlicher Bezüge behandelt und auf die Biographie herunterschraubt. Daß, wie Felsch schreibt, Theorie – mal grob gesprochen – einen gewissen Sexappeal verleiht und akademisches Kapital erzeugt, mag nicht von der Hand zu weisen sein. Wissen tritt häufig triumphierend und als Machtspiel auf – insbesondere in den Seminaren. Aber wenn man seinen Blick auf die verschiedenen Produktionen intellektuellen „Mehrwerts“ beschränkt – seien das nun die heißesten Blond-Schnitten des Adorno-Seminars oder aber eine gewisse dialektische Geschmeidigkeit und qua Ästhetik vermittelter Geist und Rhetorik –, verliert man mit diesem willkommenen Beiwerk allzuleicht den Sachgehalt aus den Augen, der einer Theorie zugrunde liegt. Hegel, Marx, Benjamin, Adorno, Foucault oder Deleuze schrieben sicherlich nicht aus diesen Gründen ihre Texte, sondern es drängte sie eine bestimmte Frage, die den Rahmen ihrer Theorie wirkte.

Andererseits hat es im Kontext unserer Biographien Gründe, die nicht in den Theorien selber liegen, weshalb wir zu einem bestimmten Denken gelangten: warum griffen wir genau zu diesem einen Zeitpunkt zu einem uns bisher unbekannten Buch, schlugen es auf, lasen es, durchdrangen das Buch, kämpften mit ihm , lasen in Intensität und erschlossen einen Text, der uns derart affizierte, daß für dahin alles ganz anders aus der alten und hinein in eine neue Bahn drängte? Diese Fragen knüpfen sich auch an dieses Buch und verweisen damit auf den Leser als aktiven Part dieser intellektuellen Biographie. Wieso war es genau dieses eine Buch, das eine Art von Umkehr im Denken und auch in den Handlungen auslöste und in unserem Denken etwas in Gang setzt – womöglich ein Leben verändert und ihm eine andere Richtung verleiht? Jeder, der liest und sich mit Texten beschäftigt, wird solche Erlebnisse nennen können. Diese Lese-Urszenen gehören zur intellektuellen Biographie. Hegel, Adorno – so geht meine Reihung. Weshalb war es bei mir mit 16 oder 17 Jahren ausgerechnet Hegels „Phänomenologie“ und nicht Kant, Fichte oder Schelling? [Vorwitzig könnte ich nun schreiben, weil der Geist Hegels bis heute das Klügste und im Mannigfaltigen der Theorie unübertroffen ist.]

So bedeutsam sie sein mögen, doch oft sind diese Urszenen in der Reflexion schwierig einzuholen: weshalb in einer bestimmten Lebenssituation etwas zu einer Konstellation zusammenschoß, das uns für dahin und bis ans Ende unserer Tage im Denken bestimmen wird. Dem Kairos oder der Beliebigkeit des Zufalls geschuldet? (Die Kunst des Lesens ist nicht gering zu schätzen. Und wir sollten, wenn in Roland Barthesʼ gleichnamigem Text vom Tod des Autors gesprochen wird, nicht vergessen, daß er damit zugleich die Geburt des Lesers verkündete. Ich wies in meinem Text zur Literaturkritik darauf hin. Ich halte diese Geburt für mehr als problematisch. Insbesondere die Sphäre der literarischen Blogger:innen zeigt uns, was wir am Ende von solchen Leserinnen und Lesern zu erwarten haben. Anderes Thema aber. Geeignet für die Rubrik „100 Zeilen Haß“.)

Was auch immer uns in den Lektüren motivierte – für solche Grundlagenforschung ist die Psychoanalyse zuständig. Theorien und deren Rezeption hängen sicherlich zu einem Teil auch mit unserem eigenen „Bildungsroman“ zusammen, wie Feltsch schreibt. Theorien sind nicht nur Theorien, sondern ihre Texte klingen und stehen in einem bestimmten Ton, ihnen liegt eine Schreibweise zugrunde, die affiziert. Theorien sind sicherlich nicht nur sexy, wie Felschs Buch es stellenweise nahezulegen scheint. Aber sie berühren uns doch, greifen uns an, greifen in unser Leben ein. Bei Peter Gente waren es 1957 Adornos „Minima Moralia“, die schweren Eindruck hinterließen und sein Leben umkrempelten. Zu Recht. In jener Zeit nach dem verlorenen Krieg samt dem Massenmord an Juden, wo es als konservativem Abwehrreflex und in biederer Gemütlichkeit einer allzuleicht von der Hand gehenden Besinnung im „Jargon der Eigentlichkeit“ vor Entschlossenheiten, Befindlichkeiten und Geworfenheiten geschichtlicher Situationen nur so wimmelte, war eine Bewegung und ein Denken dringend vonnöten, das sich dem, was war, stellte und nicht in der Heideggerei die Geschichte zu verdrängen trachtete oder Ontisches ontologisch zudeckt. Sondern vielmehr: Wer waren diese Täter? Diese Frage war zu stellen. Das Klima, in dem Gente aufwuchs, gleichsam die Bundesrepublikanische Geworfenheit von Verdrängung, die Ideologie des Aufbaus, insbesondere das Akademische der Universitäten mit seinem Begriffsgeraune erhabener Worte und leerer Phrasen luden einen denkenden jungen Menschen geradezu zum Gegenangehen ein. Gente rannte mit Adornos „Minima Moralia“ in der Jackentasche herum. Der klare und zugleich aporetische, dann wieder zarte Ton der darin enthaltenden Texte, das Musikalische dieser Philosophie in Prosa und insgesamt das ästhetische und kritische Moment dieser Skizzen aus dem beschädigten Leben, bewegte in Gente etwas. In dieser Weise näherte er sich Adornos Denken, vertiefte sich in all jene Texte, derer er habhaft werden konnte. Nicht anders als der Betreiber dieses Blogs Felsch gelingt eine interessante Beschreibung dieses Milieus der Aufklärung, das sich gegen Obskurantismus und Bundesrepublikanischen Mief wandte und insbesondere dagegen, daß sich eine Kultur wieder aufrichtete, die ihrer Inhalte und ihrer formenden Aspekte längst beraubt war. Diesen Bildungsgang Gentes mit all den Tücken, Schwierigkeiten, Entdeckungen und Eroberungen textuellen Terrains schildert Felschs Buch.

Wer – in Anlehnung an Rüdiger Safranskis feinen Titel – über jene „wilden Jahre der Philosophie“  und den Geist dieser Zeit einen schweifenden Blick werfen möchte, der ist in „ Der langen Sommer der Theorie“ bestens aufgehoben. Es ist ein anregendes Sachbuch, das insbesondere für interessierte Laien, die diese Theorien bisher nur vom Hörensagen kannten, gut lesbar ist. In launiger Sprache geht es durch die Zeiten. Allerdings ist dieser lange Sommer der Theorie keiner der Kommunikationstheorie, der Fundamentalontologie, der Hermeneutik und dem, was man gerne jenen Paradigmenwechsel nennt: während die alten Gräben zwischen kontinentaler Metaphysik sowie Materialismus und angloamerikanischer Philosophie zu bröckeln begannen und Analytische (Sprach)Theorie und Logik sowie Hermeneutik, Kantische Transzendentalphilosophie und später sogar – über die Holismuskonzepte – Hegelsche Dialektik miteinander in Berührung kamen und während sich an den deutschen Universitäten Theoriekonzepte gegenseitig durchdrangen. Diese Selektivität begründet sich in der individuellen Perspektive, und insofern kommt das Buch nicht in die Versuchung, eine Großgeschichte von 30 Jahren an Theorie zu schreiben.

Schön zu lesen bei Felsch sind naturgemäß jene Szenen, wo die Theorie in einer bisher ungeahnten Weise praktisch wird und sich Theorie und Bar durchdringen: als die Zeiten begannen, sich umzupolen und die Verbindungen und die Anschlüsse sich änderten. Aber es zeigt sich in dieser postmodernen Feierlaune des Amüsierbetriebs bereits auf der Bühne der Freigeisterei das Wesen des Betriebs und kontaminiert das Private. Wer nach der Lektüre von Adornos „Minima Moralia“ immer noch und unverdrossen auf die Orte der Unschuld lauerte, scheint unverbesserlich oder aber obskurantistischer Renegat. Wie so oft bei den Postmodernen. Plötzlich wird der niedrige Level zu hoher Theorie aufgeplustert oder Banales bedeutungshubernd aufgeladen: Ob Pop oder Comic, Kneipe und Augenblickskunst, die eher dem Capricciohaften und dem Assoziativen des Moments anverwandt sind. Das ist in etwa so als meinte man, Hertha Zehlendorf sei ein Erstligaverein. Aufbrezeln des Bedeutungslosen. Aber das kommt, das geht, das ist morgen dann wieder vergessen. Das einzige was an der Postmoderne bleibt, wird der Studiengang „Kulturwissenschaft“ sein.

Jenes von Felsch genannte Spiel von „Exklusion und Inklusion“ des Berliner Nachtlebens der späten 70er Jahre in den Szene-Clubs weist bereits, so muß man Felsch ergänzen oder korrigieren, auf die Zeit radikaler Umverteilung, die wenig später dann als Regierungsprogramm neoliberaler Ökonomie von dem Schauspieler Ronald Reagan und der Unternehmgattin Thatcher administrativ untermauert und betrieben wurde. Der Club entscheidet über die, welche drinnen sind, indem wie im Berliner „Dschungel“ an die Hausfreunde bunte Plastikmarken als Erkennungszeichen ausgegeben wurden, so das der Einlaß sichergestellt war, während die übrigen durch gutes Aussehen oder andere schwierig zu bestimmende Faktoren Einlaß sich erkämpften oder eben nicht erhielten und draußen harrten. Der Türsteher, als ausführendes Organ und als Büttel, vollzieht die Distinktion, die von einer mehr oder weniger bekannt-unbekannten Instanz propagiert wird: IN oder Out. Haben  oder Nichthaben. Nachtclub, Bar und Kneipe als gesellschaftliches Ensemble in nuce. Diesen seine Schatten vorauswerfenden neoliberalen Aspekt beim Clubbesuch haben die wenigsten überhaupt nur im Ansatz registriert.

Aber für die Beteiligten dieser Distinktionsszenerien, die ja zugleich ein Phänomen des Pop sind, (Popmusik ist immer Absatzbewegung und Differenzerfahrung) sollte es mehr sein, denn auch im Nachtleben kam bekanntlich der Theorienschwung nicht zum Erliegen – dort wurde geplant, genetzwerkt, Kommunikation betrieben, Ideen und Spleens gepflegt, die sich mal groß oder mal gar nicht realisierten und bloßes Phantasma blieben. Zwischen Rauch und Rausch. Die Moderne wurde zur Postmoderne, der Geist wandelte sich ironisch. Die strikte Theorielastigkeit der 68er-Textarbeitsgruppen, wie Felsch sie darstellt, bricht sich zugunsten eines Spiels von Theorie und Spaß auf, im Grunde genau die Aufhebung der Arbeitsteilung, die wir in der New Economy der Software-Buden, der Werbe- und Agenturwelten heute finden, wenn der Arbeitsplatz wie eine Ferienfreizeit für große Kinder ausschaut: eine gespenstische Szenerie, von der Adorno bereits in den 40ern in den „Minima Moralia“ sprach: Die Freizeitvergnügen nähern sich der Arbeit an, während die Arbeit sich in die Freizeit hinein verlagert.

Im Bezirk der Theorien freilich lag in den studentischen Milieus noch die Unschuld: Nach dem Seminar oder nach der Hegel-Arbeitsgruppe gab es die Bar, den Park mit Picknick und Weinvorräten, wo umstandslos und oft auch vertiefend an die Gespräche angeknüpft wurde, die bereits in den Seminaren heftig geführt wurden. Felschs Buch vergegenwärtigt dieses Lektüre-Milieu, in dem Habitus und Theorie zu einer Lebensform verschmolzen. Diese Welt versank jedoch für die meisten mit dem Ende des Studiums.

Abschließend noch dies: die „Bleiwüste der Gesellschaftskritik“ der 60er Jahre, die Felsch in Typographie und Design jener Texte zu recht bemängelt – wir erinnern uns an diese in der Tat grauenhafte Flugblattästhetik: weshalb können kluge Texte typographisch nicht gut und vor allem ansprechend dargeboten werden? – fällt leider ebenfalls auf das Literaturverzeichnis des Buches zurück, das ausgesprochen unübersichtlich und damit leseunfreundlich gestaltet wurde. Erst die Vornamen zu bringen und dann in alphabetischer Reihenfolge die Nachnamen erleichtert das Suchen nicht. Das „Ders“ bei Namenswiederholungen ist schlecht gewählt, weil es in der Bleiwüste der Literaturangaben untergeht. Besser gesetzt wäre hier ein Gedanken- oder Spiegelstrich gewesen. Die unerfreuliche Gestaltung ist insofern schade, weil das Literaturverzeichnis ausgesprochen instruktiv ist und zum Stöbern und Weiterlesen der von Felsch angeführten Aspekte einlädt.

Felschs Buch liefert den Blick auf eine Epoche, als Bildung in den Geisteswissenschaften noch nicht auf Bachelor-Niveau und auf Kulturwissenschaften heruntergewirtschaftet wurde. Als wir – auch im Sinne eine Humboldtschen Bildungsideals – mit einem  Blick aufs Ganze wie auf die Nebenwege studierten, als wir aus Neigung diese oder jene Biege nahmen, manchmal uns verzettelten. Aber wie es beim Blättern in einem Lexikon so ist: man sucht einen bestimmten Begriff, gerät aber mit einem Male ins Stöbern, schlägt diesen und jenen  Artikel auf, schweift ab, liest, vertieft sich darin. Für die zielorientiere Wissensanwendung ist dieses Verfahren gewiß nicht produktiv. Für ein breites und in die tiefe gehendes, für ein fundiertes Wissen jedoch bleibt dieser Gang des Geistes unerläßlich. Felschs Buch vermittelt uns Lesern ein wenig von diesen wunderbaren Jahren. Wenn er jedoch das Buch mit dem Satz beendet „Die Zukunft der Theorie ist ungewiss.“ so handelt es sich allerdings um einen fragwürdigen Allgemeinplatz.

„Das richtige Leben im falschen“? Friedrich von Borries „RLF“: Revolte als Real Life Fiction, als Kunst, Klamauk oder Kolportage?

Zur Mitte des Augusts hin, zum Ende der trägen Hundstage, erschien Friedrich von Borries‘ Buch „RLF“ – ein zunächst kryptisch klingender Titel, der jedoch lediglich ein Akronym für „Richtiges Leben im Falschen“ bedeutet: Jenes bekannte Zitat  Adornos aus den „Minima Moralia“, das vielen die Empörung hochsteigen läßt, weil sie es als anmaßend empfinden. Ihr Zorn ist durchaus der richtige, aber eigentümlicherweise richten sie diesen Reflex nicht gegen den Aggressor, gegen jenes falsche Leben, sondern gegen den Boten, der die Botschaft brachte, daß diese Welt denkbar schlecht eingerichtet sei. Ob das nun Blogger:innen sind, denen Adorno Hitzepickel der Erregung ins blaße Gesichtchen treibt, oder die Wut der positivistisch Angehauchten, die sich gerne über den (vermeintlich elitären) Gestus Adornos empören. Regelmäßig provoziert dieser Satz Widerspruch und Widerlegungen und sei es, indem auf das kleine private Glück oder halbutopische Situationen, die hie und da auszumachen sind, verweisen wird. Allen Fraktionen gemein ist, daß ihnen Adorno viel Ärger samt Verdruß verursacht. (Den Ursachen dafür nachzugehen, was dieses Ressentiment auslöst, wäre sicherlich ein Projekt eigener Art.)

Erstaunlicherweise aber verhält sich Borries gegenüber Adorno seltsam gelassen, ja sogar affirmativ. Er greift diesen Satz Adornos sogar ganz bewußt als eine Art von Statement heraus. Die Welt des Design und der popkulturellen Pastiche-Formung schlägt in eine andere Richtung aus, als den Vorwurf anzubringen, dies alles sei Old-School. Sie greift in die Trickkiste des Marketing: Das Objekt – in diesem Falle die Gesellschaftskritik – in den Kokon einzuschlingen, um ihn in einer Geste der Vereinnahmung zu erdrücken. Der Ansatz von Borries zeigt sich als trickreich, er verzweigt sich, greift das kritische Potential auf, driftet im Ironiemodus, und vielleicht meint er es sogar ernst: daß nur innerhalb des Systems und mit den Mitteln dieses Systems das System um ein winziges oder mit Glück gar um ein ganzes verändert werden kann. Und dann heißt es: Ironiemodus aus. Sollte es uns zu denken geben, wenn aus der Ecke des Design, des Konsums sowie des Kunstkuratorentums ein Fürsprecher Kritischer Theorie auftaucht? Handelt es sich bei diesem RLF-Projekt nicht vielmehr um einen postmodernen Kunstscherz, Klamauk oder Kolportage?

Daß dieses eigentümliche Hybrid-Wesen-Projekt RLF bzw. dieser Roman RLF nun erschienen ist, trifft sich insofern gut, weil er verschiedene, seit Jahren auf meinem Blog immer einmal wieder angespielte Themen in einen Zusammenhang bringt: das Ende der Kunst durch eine Logik der Verwertung, wo sich Kunst lediglich als geldwerter Standortvorteil und als Merkmal von Distinktion ausdrückt und Biennalen und Ausstellungen, die heute besser Event heißen, dazu dienen, die Übernachtungsquote in Städten zu erhöhen: daß wir also an ein Ende der Kunst angelangt sind, die sich als eine emphatische, als autonom und souverän versteht, einer Kunst, die sich in Konsum und Wertvermehrung erschöpft, wie es sich Hegel in seiner damals kühnen These vom Ende der Kunst niemals träumen ließ. Weiterhin eines meiner Themen, die mit Adornos Diagnose über diese Gesellschaft zusammenfallen, ist das Ende von Kritik an Gesellschaft, weil jedes und alles in den Strudel von Emotion, Betroffenheit und Gefasel gezogen und vereinnahmt wird, ohne daß da noch ein Funken von Analyse bleibt. Fast könnte man sagen, das Gewebe und der Schleier sind so dicht geworden und so umfassend gestrickt, wie es sich Adorno und Horkheimer in ihrer pessimistischsten Phase nicht hätten träumen lassen.

Und wie es der Zufall wollte, ohne daß ich von dem Projekt RLF vorher etwas wußte, schrieb ich vor einigen Wochen als Reaktion auf einen problematischen Artikel von Kathrin Rönicke über jenen Passage von Adorno einige Texte.

Gegen den Satz Adornos, daß es kein richtiges Leben im falschen gäbe – sozusagen die Ortlosigkeit von Leben und Denken – läßt sich kaum anführen, daß hie und da gutes und auch gelingendes Leben vorhanden wäre, man müsse nur hinschauen. Den Inselcharakter solcher Partial-Refugien zu verkennen und sie als Widerlegung von Adornos Satz anzusetzen, geht an der Intention der „Minima Moralia“ und an der historischen Situation, in der sie entstand, im ganzen vorbei.

Maßgeblich bleiben in der Philosophie Adornos die Überlegungen, die sich nicht auf irgendeinen Fixpunkt oder in einer These festnageln lassen. Diese Qualität des Denkens nimmt manche/r ihm schwer übel und das Übelnehmen schlägt blitzschnell, aber leider nicht blitzgescheit ins bloße Ressentiment um. Ohne Reflexion und ohne Bezug zu den Texten. Von Borries nun greift diese Satz Adornos auf und verdichtet ihn als Projekt für vermeintlich verändertes Denken in drei Buchstaben: sozusagen als Slogan.

Was macht RLF, was ist RLF? Verschiedenes. Zunächst gibt es das Buch selbst, welches Borries schrieb. Ein Roman aus der Welt der Werbewirtschaft, der Occupy-Bewegung sowie der weltweiten Proteste: von den Riots in London und in den Pariser Vorstädten bis hin nach Spanien, an den dann allerdings die Wirklichkeit – oder das, was wir dafür halten – andockt. Borries erzeugt diesen Eintritt eines Buches in die Wirklichkeit – Kennzeichen und Zitierung teils bemühter postmoderner Literatur – durch einen Hinweis, den er noch vor der Seite mit den Einleitungszitaten – zweimal Adorno, einmal Guy Debord, einmal Oliviero Toscanini – plaziert:

„Dieser Bericht beruht auf Angaben und Unterlagen, die Mikael Mikael mir zur Verfügung gestellt hat. Ich habe sie meinen Möglichkeiten entsprechend überprüft. Einige Orte und Namen habe ich geändert, um die für das Gesamtprojekt ‚RLF‘ notwendige Anonymität der Beteiligten zu wahren.“
Berlin, Mai 2013
Friedrich von Borries

Weiterhin korrespondiert mit diesem Projekt eine Ausstellung in Berlin, die bis zum Oktober stattfindet. Es ist die Berliner Weltverbesserungsmaschine. Ein auf Assoziationen und ästhetischen Korrespondenzen beruhendes Kunstprojekt.  Dazu sind zwei Bände im Merve Verlag erschienen. RLF ist aber auch ein Unternehmen:

„Als Kernprodukt bietet das Unternehmen die Teilhabe an einer Bewegung an, die man durch den Erwerb und die Nutzung seiner Produkte zum Ausdruck bringen kann: Zehn Designobjekte dienen als Ausrüstung für den Widerstand, liefern Abzeichen zur Identifikation und Distinktion einer Gemeinschaft, die in Möglichkeitsräumen denkt und soziale Wirklichkeit hinterfragt. Das Design entstand nach den Entwürfen des Künstlers Mikael Mikael. Dieser schreibt den Luxusobjekten die explizite Botschaft Show you are not afraid ein. Mitunter durch Vergoldung des Materials wird ebendiese versiegelt; durch tatsächlichen Gebrauch wiederum tritt sie sichtbar zutage.“

Warenwert und Shopping: ich kaufe also bin ich, ich konsumiere, also bin ich, frei nach Norbert Bolz. Und wie sagte es der New Yorker Bürgermeister Giuliani nach den Anschlägen vom 11.9.?: „Go Shopping!“ Diese drei Aspekte des Projektes RLF bedingen einander, wenn man der Konzeption von Borries folgen möchte. Ob eine solche Subversion durch Affirmation am Ende funktioniert, bleibt dahingestellt – ich selber bezweifle es. Natürlich kann es witzig sein und Effekte hervorrufen, in einer Weise des Guerilla-Marketing Sand ins Getriebe zu streuen durch Persiflage, durch Klamauk, wie er sich unter anderem hier auf einer der Internetpräsenzen von RLF manifestiert.  Und im Zeichen von Occupy mögen andere Formen des Protests Bedeutung gewinnen, als wir sie bisher kannten. Die Welt des Pop, der sich teils als Subversion verkauft, hängt mit dieser Form der Rebellion zusammen, und es ist ebenfalls das Design, die Welt der Konsumprodukte, des schönen Scheins – immer schon gewesen –, das die Welt verbessern und verändern wollte. Allerdings nicht im Fokus von Gesellschaftskritik, sondern durch die Handhabung: Form follows function ist am Ende ein Slogan, der ebenso der bloßen Bequemlichkeit dient. Von Borries‘ RLF-Projekt spiegelt dies, auch im Bereich der Kunst, wider. Kritik als Affirmation und als Verwirrungsstiftung, indem die klassischen Grenzen zwischen rechts und links, progressiv und reaktionär eingezogen werden.

Zum Buch selber in einem zweiten Teil mehr. Es ist, dies sei vorab gesagt, von seiner Konstruktion her nicht besonders gelungen, eher auf dem Niveau eines mittelmäßigen Krimis angesiedelt, anstatt die Komplexität vom Verhältnis der Theorie zur Praxis unter den Bedingungen der Spätmoderne (gerne auch der Postmoderne) zu begreifen und in eine andere Anordnung zu bringen. Da nützen auch die konstruierten Kniffe und die Anordnung von Erzähltext und den eingeschobenen Interviews mit verschiedenen Protagonisten des Protests wenig. Die Figuren und die Szenen sind hölzern und schablonenhaft geschnitzt. Allenfalls als Assoziationsraum und als eine Art heuristisches Mittel mag das Buch dienen. Und vielleicht ist das auch bloß die Absicht des Projektes RLF. Aber dazu demnächst mehr. In der Hoffnung das Projekt RLF dann wieder zur Philosophie Adornos hin zu verlassen.

Von der Kunst ein und zugleich gar kein Ich zu sein – Fernando Pessoa zum 125. Geburtstag

Es grenzt sich ein Buch über sich selber hinaus, multipliziert und dividiert zugleich, und es trägt diese Bewegung bereits im Titel: „Das Buch der Unruhe“. Es entfernt und entfesselt sich dort das Ich einer fiktiven Person, die sich als Hilfsbuchhalter Bernardo Soares ausgibt. Daß die falsche Existenz unserer Lebenswelten bloß den gesellschaftlichen oder den individuellen Bedingungen geschuldet sei, ist nicht der Tenor des Denkens jener Person, die unter dem Namen Fernando Pessoa firmiert. Es scheint vielmehr ein grundsätzliches Desaster im Existenz-Spiel seinen Spuk zu treiben. Pessoa selbst spaltete sich als Text in verschiedene Heteronyme auf: Alberto Caeiro, Álvaro de Campos und Ricardo Reis. Für alle diese Personen erfand jener Pessoa eine eigene Sprache der Dichtung, eigene Biographien und Existenzweisen, bis hin zu den Horoskopen. Pessoa war mehr als esoterisch angehaucht, sein Denken ist konservativ und nachgerade antidemokratisch zu nennen. Dennoch blitzen darin Aspekte auf, die – ganz im Sinne einer Dialektik der Aufklärung – auf die Tücken und die Verwerfungen der ästhetischen Moderne verweisen: Existenz im Plural bedeutet nicht bloß, daß Ich auch ein anderer sei, sondern zugleich erweist es sich als vielfältig und multipel. Und es konstituiert sich ein solches Ich im Spiel (der Fiktionen). Dieses Changieren in der Prosa und der Dichtung Pessoas macht denen, die auf Eindeutigkeit geimpft sind – egal welcher politischen Farbe sie sein mögen – Angst. Eine große sogar: wenn der Diskurs des Identischen und der behaglich realistischen Erzählweise, wie sie manche Schriftstellerin, mancher Schriftsteller betreibt, die sich innerhalb der Moderne wähnten, verlassen wird, geraten wir in eine Sphäre, die sich den Zuordnungen entzieht. Nicht mehr das gleichförmige Plaudern eines „Stechlin“ oder das Seichtwasser desselben, letzte letale Regung eines Geistes der Goethezeit, sondern es flüchtet sich das poetisierende Subjekt in eine Art von Text als Vielfalt, der jenseits kommunikativer Momente liegt und der zugleich als artifizielles Text-Lebens wirkt und das Surrogat bildet:

„Schreiben ist besser als das Wagnis zu leben, auch wenn leben nichts anderes heißen sollte als Bananen im Sonnenschein kaufen, solange die Sonne scheint und Bananen zu Verkauf ausliegen.“ (F. Pessoa, Das Buch der Unruhe)

Schöner Schein der Warenwelt, in der die Einsicht liegt, über das Notwendige oder das Einfachste hinauszuragen. Es durchzustreichen und zugleich wieder in dieser Linienführung in eine Art von Text-Bild zu wandeln. Pessoas Prosa ist Existenzprosa, die von einem eigenwilligen, heute teils uns fremden Pathos durchtränkt ist.

„Jeder hat seinen Alkohol. Ich finde genügend Alkohol im Existieren. Betrunken von Selbst-Gefühl schweife ich umher und gehe richten. Wenn es an der Zeit ist, finde ich mich wie irgendein anderer im Büro ein. Wenn es an der Zeit ist, gehe ich zum Fluß und betrachte wie irgendein anderer den Fluß. Ich bin der gleiche geblieben. Und über alledem, mein eigener Himmel, bestirne ich mich insgeheim und habe meine Unendlichkeit.“

Schwankend und fließend zwischen Heraklit und Kant steht eine Ich-Existenz, die sich in den Bereichen Büro und Natur gleichermaßen zu bewegen weiß, die immergleich und doch anders aus dem Fluß steigt und die die Unsinnigkeit beider Daseinsarten sieht. Geist und Denken berauschen und betäuben sich in der Mannigfaltigkeit der Eindrücke gleichermaßen.

Fernando Pessoa entfaltete in seinem „Buch der Unruhe“ ein eher formales Programm der Dissoziatin von Autor, Subjekt, Denken und Text – es ist dieses Buch weniger ein Roman im Sinne der Tradition des Erzählens einer Schtory, sondern eine Art von Reflexions- und Meditationsprosa, die um ein „Ich“, eine Art von Ich kreist, das sich einerseits als vielfältiger multipler Kosmos in Verzweigungen und Aufspaltungen und andererseits als eine gigantische solipsistische Schleife der Reflexion erweist.

Material eingelöst wurde diese Dimension der Vervielfältigung im monadologisch-monologischen Singular und als Durchstreichung desselben, wo sich ein Ich verschleift, verwindet und in sich selbst einkreist, einen Kokon aus Reflexion und Wolken bildet, erst in der Literatur jener sogenannten Postmoderne. Womit ich – obwohl jene Autorin den Begriff Postmoderne nicht gerne liest – bei jenen Büchern bin, die ich für die legitimen Nachfolger Pessoas halte: Aléa Toriks Bücher „Das Geräusch des Werdens“ und – noch viel mehr Pessoa mit Inhalt ausfüllend – der Roman „Aléas Ich“. Pessoa kommt insbesondere im zweiten Werk dieser Schriftstellerin, die ebenfalls ein Schriftsteller ist, auf den Punkt, zieht diesen hin zur Line und in die Verzweigungen. Insbesondere über die Düsternis, die „Aléas Ich“ umtreibt, ist dieses Buch legitimer Nachfolger jener Prosa Pessoas. (Aber eben nicht nur, sondern vor allem: darüber hinaus. Postmoderne in ihrer durchaus gelungenen Variante, wie wir sie bei den Godfathers der Literatur: Don DeLillo, Pynchon und David Foster Wallace kennen.)

Aber bleiben wir beim Verwirr- und Suchspiel der Prosa Pessoas, insbesondere beim „Buch der Unruhe“

„Ich habe mich derart in die Fiktion meiner selbst verwandelt, daß jedes natürliche Gefühl, das in mir aufkommt, sich mir sogleich, sobald es aufkommt, in ein Gefühl der Phantasie verwandelt – das Gedächtnis in Traum, der Traum in mein Vergessen des Traums, die Selbsterkenntnis in ein Nicht-an-mich-Denken.

Mein eigenes Sein habe ich so sehr ausgezogen daß Existieren mich ankleiden heißt. Nur in der Vorstellung bin ich ich selbst. Und um mich her vergolden alle unbekannten Sonnenuntergänge in ihrem Hinschwinden die Landschaften, die ich nie zu Gesicht bekommen werde.“

Selbstaffektion und Dekonstruktion des Subjekts in einem einzigen Zuge. Am 13. Juni 1888 erblickte Fernando António Nogueira de Seabra Pessoa in Lissabon das Licht jener Welt.

Rahmungen eines Textes – „Aléas Ich“, zweite Lesung. Der Realismus der Literatur ist nicht die Realität

13_04_10

Und weil das für einige nicht ganz klar zu sein scheint, so sei ein Disclaimer vorausgeschickt: Dieser Text handelt von einem Text. Er hat nichts mit empirisch-faktischen Subjekten zu tun. Es geht um den Bezirk der Imagination – eine Welt, die zwischen (literarischem) Realismus und Phantastik, zwischen Leben und Tod, zwischen Lust, Liebe samt Verzweiflung als Formen des Imaginären ihren Ort hat. Jeglicher Positivismus ist zu meiden, weil er in die Irre führt. Der Schluß vom Werk auf die Autorin, auf den Autor oder noch viel schlimmer gestrickt: der Schluß vom Autor aufs Werk bleibt das amusische Verhalten schlechthin, ist der Schulfall von Banauserie, wie Adorno es formulierte. Franz Kafka wirkte als Schriftsteller und zugleich führte er die Existenz eines Verwaltungsangestellter, in Prag lebend. So sagt man. Wir wissen manches über ihn. Er hat sich jedoch – entgegen zirkulierender Gerüchte und entgegen der Annahme einiger leichtgläubiger Seelen – niemals in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt. Ebenfalls handelt es sich bei Aléa Torik nicht um ein personales Etwas oder ein Wesen, das sich in den Zuschreibungen, sie sei nun x oder gar y oder er oder anderes fassen ließe.

***

„Eigennamen, deren ‚Aussage‘ ein Gesicht bedeutet, Eigennamen sind unter allen Namen und Gemeinplätzen diejenigen, die der Auflösung des Sinns widerstehen und uns helfen zu sprechen. Erlauben sie uns nicht, hinter brüchigen Aussagen zwar das Ende der einen Verstehbarkeit (Intelligibilität), aber auch den Morgen einer anderen zu erahnen?“
(Emmanuel Lévinas, Eigennamen)

Die Wirklichkeit ist ein Text, die darin auftretenden Personen (man lese in diesem Begriff auch das Lateinische „persona“ für: Maske), die im Roman vorkommenden Tatsachen und die Begebenheiten sind erzählte. Sie unterliegen der Fiktionalisierung. Zumindest in der Literatur verhält es sich in dieser Weise. Was sollte die Wirklichkeit (in der Literatur) auch sonst sein? Die Wirklichkeit der Literatur ist die Literatur selbst mit all dem, was in der Literatur vorkommt. Die Literatur ist eine Wirklichkeit eigener Ordnung; sie folgt eigenen Gesetzen. Die Wirklichkeit der Literatur ist nicht dialogisch verfaßt, wie es die Hermeneutik sich wünscht, aber auch nicht monologisch konzipiert. Die Wirklichkeit der Literatur ist kein Tatsachen-Realismus. Die Probleme des Ichs einer erzählenden und zugleich erzählten Figur sind andere als die des empirischen Subjekts. Der Realismus der Literatur ist nicht die Realität. Nichts schlimmer als der Bitterfelder Weg oder das Gefasel von Empfindsamkeit, Bauchgefühl, Identifizierung mit einem Text, Offenheit, Gestimmtheit, Authentizität der Prosa und was der Phrasen mehr sind. Literatur ist im Idealfall das Messer, das die Augen und die Sinne ausschabt. Sie erzeugt keine Nähe, kein Verständnis, keine Verständigung, sondern sie ist die „Kunst der Entzweiung“, wie ein Buch des Philosophieprofessors Martin Seel heißt. Zudem: Literatur hängt mit dem Begriff der Zeit zusammen, sie arbeitet mit und zugleich gegen die linear verlaufende Zeit.

Vielfach stellt ein Roman eine Vorrede oder eine Art Präludium als Auftakt bereit, setzt nicht, wie Kafka oder Proust unvermittelt und wie ein Schlag ein: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ oder „Es war spät am Abend als K. ankam“: Lakonisch-großartig und eine geradezu absurde Eröffnung, die Ankunft verheißt. Aber natürlich kommt K. im weiteren Verlauf dieser Geschichte nirgends mehr an. Ganz anders wiederum Romane wie „Der Zauberberg“ oder „Don Quijote“, den ich im Zusammenhang mit „Aléas Ich“ nicht ohne Hintergedanken nenne. Sie machen im Auftakt, gleichsam als eine Art Vorsatz oder Präludium – schließlich geht nichts über ein gekonntes Vorspiel – das Erzählen selbst zum Thema: der Erzähler als raunender Beschwörer des Imperfekts, oder aber es wird ein Erzähler/Schreiber eingeführt, der die Vorrede als notwendig legitimiert, um überhaupt erst erzählen zu können. Die Vorrede selbst und nicht der literarische Text als solcher ist das schwierigste des gesamten Werkes und eröffnet die Paradoxie:

„Und wie ich einmal so unschlüssig dasaß, mit dem Papier vor mir, die Feder hinter dem Ohr, den Ellbogen auf dem Schreibtisch und die Hand an der Wange, erwägend, was ich sagen sollte, da trat unversehens ein Freund von mir herein, ein Mann von Witz und großer Einsicht; und als er mich so nachdenklich sah, fragte er mich um die Ursache. Ich hielt nicht damit zurück und sagte ihm, ich dächte über die Vorrede nach, die ich zur Geschichte des Don Quijote schreiben müsse und um derentwillen ich mich in einem solchen Zustand befände, daß ich sie gar nicht schreiben und ebensowenig die Taten dieses so edlen Ritters ans Licht treten lassen wolle.“ (Cervantes, Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha)

Bereits der erste oder zumindest doch einer der frühesten modernen Romane, der quer zur Form der Epik lag, begann mit einer paradoxen Situation, mit einem Verwirrspiel literarischer Subjektivität. Um das, was sich in dem Roman „Aléas Ich“ ereignet, halbwegs begreifbar zu machen, wären einige Ausführungen zur paradoxen Situation der Autorschaft und zur De-Konstruktion der Autorin, des Autors als Instanz nötig. Ein solcher Literaturessay kann naturgemäß nur knapp skizzieren und Aspekte fetzenhaft anreißen.

Diese Paradoxien in „Aléas Ich“ beginnen bereits auf dem Buchdeckel: Dort, wo der Eigenname der Autorin bzw. des Autors stehen sollte, befindet sich der Name einer Romanfigur, die sich als Autorin präsentiert, und an der Stelle, wo für gewöhnlich der Romantitel steht, der in der Welt der Literatur häufig ein Eigenname ist – von Anton Reiser über Madame Bovary bis zu Effi Briest oder Johann Holtrop –, da befindet sich der Hinweis auf Autorenschaft: Aléas Ich. Es müßte dort aber ein Eigenname stehen. Dieser Eigenname bleibt eine Leerstelle. Denn was ist Aléas Ich? Und für die hermeneutischen Tiefenschürfer, die Präsenzdenkerinnen und -denker sowie jene, denen die Welt der Maskerade und des Spiels immerzu suspekt bleiben wird, bildet diese Leerstelle das Skandalon. Denn Namen und Zuschreibungen machen nun einmal alles so fein handhabbar und verfügbar. Aber die Spaltung reißt mitten durchs Subjekte, und zwar geschieht sie in einer Form von Vielfalt.

Womit in einem Roman der Anfang zu machen sei? Es ist eine Frage des Rahmens. Gehört ein Rahmen noch zum Kunstwerk oder ist er lediglich Zierrat und Beiwerk, wie man es gerne bei Gemälden sieht? Womit beginnt ein Roman, was ist Bestandteil des Romans, welchen Eröffnungszug spielt er und wieweit greift er in die Realität aus, die er abbildet oder eher repräsentiert oder doch vielmehr verfremdet? Ein Text ist eine Realität sui generis. In diesem Werk der Aléa Torik gehört der Rahmen ebenfalls mit zum Kunstwerk, das sich zugleich ausgesprochen selbstreferentiell verhält. (Im nächsten Teil dazu mehr.) „Aléas Ich“ als einen postmodernen Roman zu bezeichnen – wobei „Postmoderne“ hier nicht pejorativ verstanden wird –, scheint mir angesichts der Unterminierung herkömmlicher Identitätskonzepte angemessen. Einerseits. Andererseits ist es nicht bloß ein Spiel, in dem Literatur auf Literatur verweist beziehungsweise mehr oder weniger gekonnt im Modus verborgener Zitate auf andere Werke der Literatur angespielt wird, so daß es eines Dechiffriersyndikats bedürfte. Sondern es erzählt dieser Roman – durchaus in einer konventionellen Weise – eine Geschichte. Jedoch, und das ist die Crux des Buches: es überschlagen und verweben sich in dieser Geschichte die Fiktionalisierungen, immer wieder laufen Szenerien und Figuren aus dem Ruder (auch dazu demnächst mehr). Auf der Ebene reiner Fakten können Leserin und Leser diesen Roman als die Geschichte einer jungen, aufstrebenden Schriftstellerin lesen, die bereits ihren ersten Roman veröffentlichte – nämlich „Das Geräusch des Werdens“. (Ich besprach dieses Buch hier und auch an dieser Stelle.) Und sie können im gleichen Zug erleben, wie die Situation entgleitet. Die junge Frau lebt in Berlin, sie erlebt dort Geschichten mit Männern, trifft Freundinnen und vieles mehr. Alles dies geschieht unter dem Namen Aléa Torik.

Wie kann eine Autorin ihren Text in ihrem eigenen Namen unterzeichnen und was bedeutet ein solcher (Schrift-)Zug? „Aléas Ich“ stellt im Modus literarischen Sprechens die Frage nach der Wahrheit des literarischen Textes. Die Produktion von Fiktionalität geht immer einher mit Amtlichem: der Frage nach der Unterschrift, die sich niemals beglaubigen läßt.

„Deutungs- und Archivierungstechniken von Literatur, Literaturmagazine also suchen die Wahrheit über Wörter seitdem beim Sprecher oder Schreiber. Was ein Witz ist. Als ob Eigennamen nicht Wörter wie alle anderen wären. Nur muß einer schon in der Irrenanstalt sitzen, um das auszusprechen. Als der Psychiater Navratil einen Schizo fragte, wann Werke gut seien, kam die nach allen Regeln unserer Kultur aufgesagte Antwort: ‚Wenn sie mit der Persönlichkeit übereinstimmen‘. Aber als er nachfragte, woran die Übereinstimmung zu erkennen sei, kam nur noch: ‚An der Unterschrift.‘“ (Friedrich Kittler, Wie man abschafft, wovon man spricht: Der Autor von „Ecce homo“)

Vielleicht sollten wir uns beim Lesen von Literatur wieder ein wenig mehr daran erinnern, daß die Eigennamen Wörter wie alle anderen sind – Wörter, deren Referent einer sehr speziellen Situation unterliegt. Im Falle der Literatur bleibt zuweilen der Referent unsichtbar und verkehrt sich wenn nicht in den unendlichen Text, dann doch zumindest in eine Fülle von Text.

(Ende des ersten Teils)

Alea Torik, Aléas Ich, erschienen im Osburg Verlag.

Spiegelungen des Autors, Brechung des Auktorialen, Spiele der Prosa – „Aléas Ich“ in erster Lesung, erste Szene

Der Schein des Scheins ist das Wesen der Kunst. Potenzierung und Depotenzierung. Diese Leseszene, die Anordnung des Textes, die Wörter, die Identität sowie die Positionierungen von Erzählerin oder Erzähler lassen sich in bezug auf den Roman „Aléas Ich“ trefflich mit einem Zitat von Michel Foucault zeichnen und in eine Signatur bringen. Es ist jedoch, um das Gleichgewicht zu kippen, bloß eine von vielen möglichen Signaturen. Es ist diese Textstelle ein dem ersten Anschein nach fiktiver Dialog in Foucaults „Archäologie des Wissens“. (Über die Struktur von Eigennamen wäre noch zu schreiben.)

„Sie präparieren bereits den Ausweg, der Ihnen im nächsten Buch gestattet, woanders aufzutauchen und, wie Sie es jetzt tun, zu höhnen: nein, nein, ich bin nicht da, wo Ihr mich vermutet, sondern ich stehe hier, von wo aus ich Euch lachend ansehe?
Ja, glauben Sie denn, daß ich mir so viel Mühe machen würde und es mir soviel Spaß machen würde zu schreiben, (…), wenn ich nicht mit etwas fiebriger Hand das Labyrinth bereite, wo ich umherirre, meine Worte verlagere, (…). Mehr als einer schreibt wahrscheinlich wie ich und hat schließlich kein Gesicht mehr. Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt zu schreiben.“
(M. Foucault, Archäologie des Wissens)

Text-Zitate sollten nicht als Motto verwendet werden, um bloß zu illustrieren oder in anderer Stimme anklingen zu lassen, was nicht selbst als Formulierung und Text geschafft wird. Aber sie sind dennoch eine (Text-)Stimme als Resonanz-Körper. Ich werde mich in einer, zwei oder drei Folgen an dem Roman „Aléas Ich“ entlangschreiben. Die Form herkömmlicher (literarischer) Kritik, wie wir sie in den Feuilletons der Zeitungen finden, scheint mir in diesem Falle unangemessen zu sein. Zu fragen, wer dieses Ich sei, das schreibt, inszeniert und in eine Anordnung bringt, drängt sich natürlich immer wieder auf, weil wir fixierte Bilder möchten. Für den Raum des Textes sind solche Fragen jedoch unerheblich.

„Aléas Ich“ läßt sich von verschiedenen Seiten her erzählen oder: in eine Darstellung bringen. Allerdings kann man, was meiner Abneigung gegen die Nacherzählung entgegenkommt, den Plot oder das, was Handlung heißt, nicht unmittelbar als Story und launig in Linie gebracht wiedergeben, denn jedes Erzählen, was genau da im Buch geschieht, verfehlt im Grunde den Gehalt des Textes. „Aléas Ich“ spielt damit, daß beständig die Perspektiven wechseln. Schreibszenen sind Fiktionsszenen, Fiktionsszenen werden – ich komme darauf noch zurück – wiederum selber als Fiktionalisierungen markiert. Es läßt sich dieser Text auch deshalb nicht gut (nach-)erzählen, weil dies bedeutete, sich auf eine Sprecher:innen:position, auf eine Blickachse zu kaprizieren. Ist es die junge Frau aus Rumänien, die Schriftstellerin werden will, die wir als Protagonistin inszenieren möchten? Oder ist es jener mysteriöse Mann, jenes Alter Ego, das als Adrian auftaucht und auf einem Friedhof in Bukarest dem Ich, das als Eigenname Aléa führt, eine Geschichte erzählt (S. 309)? Ist es jenes Wesen, das am frühen Morgen des 11. September 2011 sowie am Abend des 11. September 2012 im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum in Berlin sitzt und sich als Aléa Torik ausgibt – eingerahmt zwischen diese beiden Zeit-Räume eine Geschichte?

„Aléas Ich“ ist in gewissem Sinne zugleich ein Bildungsroman, allerdings ein solcher, der die klassische Struktur umpolt und sie überborden läßt. Nicht mehr verfolgen wir ein (sich irgendwie bildendes, entwickelndes) Subjekt beim Gang durch die Welt, an der dieses Subjekt wächst wie in Goethes „Wilhelm Meister“ oder eben nicht wächst, wie in Flauberts „Éducation sentimentale“, oder aber wo es in der Schwebe bleibt, ob überhaupt eine Entwicklung stattfand und wenn es sie gab oder nicht gab, wurde diese Ausbildung eines Ichs möglicherweise auf dem großen Schlachtfeld Europa ausgelöscht, so wie dies im „Zauberberg“ geschieht. Sondern vielmehr geht der Blick auf die Perspektivierungen des Ich. Klassisch mag in „Aléas ich“ noch jenes Motiv auftreten: Eine junge Frau, die ihr Elternhaus verläßt, in eine Großstadt zieht, um zu studieren und um partout und koste es, was es wolle, Schriftstellerin zu werden – zunächst als Lehrjahr inBukarest, dann prononcierter in Berlin. Ebenso handelt dieser Roman davon, wie ein Ich sich bildet, wie eine Fiktion entsteht, wie eine Autorin damit beginnt, „ich“ zu schreiben. Der Roman beginnt und endet in einer Art Solipsismus, der sich jedoch im seinem Verlauf, als Verlauf des Textes, nicht mehr bloß an ein einziges Ich bindet.

„Aléas Ich“ scheint auf eine Weise verworren und klar in einem. Aléa Torik ist eine Schriftstellerin, die sich der Frage stellt, wie sich die Identität von Autorin/Autor, aber auch die des Fiktiven, die von Romanfiguren konzipiert. Aber es bleibt festzuhalten „Natürlich heißt niemand Aléa Torik“, wie wie Nicole Henneberg ihre FAZ-Kritik zu „Das Geräusch des Werdens“ titelte. Insofern ist „Aléas Ich“ als Roman und als Text grenzgängerisch: Erzählung, Poetik und Metapoetik in einem. Es wird solches Verfahren von den Verfechtern des Identitären und des Bei-sich-seins im Raum vorgeblicher Erfahrungen als haltloses Spiel, wenn nicht als Betrug abgetan. Aber Authentizität ist innerhalb der Literatur eher ein Schimpfwort und nichts, das es anzustreben gilt oder was als Kategorie der Poetik etwas taugt. Literatur ist nicht authentisch, sondern sie ist in sich stimmig gebaut, enthält einen Wahrheitskern, ist gekonnt geschrieben, gehorcht den Gesetzen der Rhetorik, sie führt Rhythmus mit sich, sie fabuliert, erzählt, läßt die Phantasie strömen oder aber sie streicht diese Elemente im selben Akt und zugleich durch, sie radiert und löscht aus. Was zählt, ist die Konstruktion, und die entscheidende Frage – egal in welcher Weise nun erzählt wird – bleibt immer: Funktioniert es? Insofern kann, dies zeigt der Roman „Aléas Ich“ gut, eine Ästhetik des Erzählerischen plural verfaßt sein. Auktorialer Blick und assoziativer Bewußtseinsstrom, innerer Monolog, Figurenrede und objektivistischer Kamerablick schließen sich – diese Erkenntnis ist für die literarische (Post-)Moderne keineswegs neu – nicht aus, und es läßt sich innerhalb des Erzählens das Erzählen dekonstruieren, ohne daß es wie eine akademische Übung ausschaut. Dies zumindest vergegenwärtigt der Roman „Aléas Ich“. Was zugleich nicht bedeutet, dieser Text wäre ganz frei von Schwächen. (Welcher Text ist das schon?) Und es will dieser Essay keineswegs einen Lobgesang anstimmen. Vielmehr möchte auch dieser Essay sich Phänomenen wie Fiktion, Schein, Wahrheit und Text näheren. Ein Unternehmen, nebenbei, das dieser Blog schon seit einigen Jahren versucht, wenn es ihm um die Rhetorik von Bildern, um ihr Leben, ihre Macht und ihre Struktur geht.

Das inszenatorische Spiel, das Aléa Torik über die Literatur sowie ihren Blog betrieb, um sich als reale Person, als Schriftstellerin, als Schriftsteller zu verbergen und zu maskieren, wurde von einigen mit dem Hinweis darauf kritisiert, daß in solchem Verfahren nicht ein multiples Subjekt dargestellt oder eine Dekonstruktion der Begriffe männlich/weiblich durchgeführt würde, sondern vielmehr ein Spieler hier wie im Marionettenspiel sämtliche Fäden in der Hand halten möchte, während alle anderen an diesen Fäden zappeln. Dies sei mit Freiheit und dem Spielcharakter nicht zu vereinbaren. Ein im Hinblick auf das Spiel der Literatur, das die Grenzen überschreitet und überschreibt, eigentümlicher Vorwurf; zumal wenn man bedenkt, daß dieselben Menschen vor den personen- und subjektinszenierten Photographien und multiplen Selbstportraits von Cindy Sherman mit andächtigem „Oh“ verweilen. Natürlich hängt ein Text, eine Photographie – auch – an einer Autorin, an einem Autor. Doch ist das zugleich eine Binsenweisheit. An wem sollten sie sonst hängen? Vom Himmel kommen Werke nicht gefallen. Aber Autorinnen und Autoren sind zugleich bloße Instanzen im Betrieb der Kunst und des Feuilletons. Im Akt der Produktion oder des Schreibens, in ihren Rollen, Inszenierungen, wenn sie sich im Arsenal der Figuren und Figurationen entäußern und entwerfen, bleibt nichts von der Identität übrig. Der Blick hinter die Masken schuldet sich lediglich dem identifizierenden Denken. Doch selbst die Biographie bleibt ein Stück weit Inszenierung.

Eine Grenze jedoch läßt sich – zumindest im herkömmlichen Medium Buch/Werk – nicht überschreiten: die zwischen Produzent und Rezipient. Es sein denn, die Rezipienten produzierten selbst.

 

Konstruktion, Dekonstruktion, Dekonspiration, „Aléas Ich“

Es tut sich in diesem Buch ein spannendes Spiel auf, das sich – unter anderem – um die Autor(innen)schaft und um Fiktionalität von Autoren gruppiert, und es stellt sich in dieser Prosa zudem die Frage „Wer schreibt?“, „Wer spricht?“ Aber es wird diese Frage nicht in einer Absicht aufgeworfen, Masken zu lüften, sondern vielmehr will sich die Frage selbst samt deren Antwort durchstreichen, um sie des Unsinns zu überführen. Insofern handelt es sich hier nicht um eine Rechtfertigungsprosa oder gar um eine Fußnote, die „Das Geräusch des Werdens“ – den ersten Roman – samt deren Autorin zu legitimieren versucht oder in einer Art „confessio“, als radikale Selbstbetrachtung Präsenzpunkt auszumachen trachtet, sondern der Text betreibt – zumindest dem ersten Anschein nach – ein noch umfassenderes Spiel mit der Fiktionalisierung und der Metaebenen von Literatur. Wobei ja auch die Fußnote – sozusagen in einer dekonstruktiv aufgebauten Fußnote an den Rand geschrieben – oftmals eine sehr viel bedeutsamere und auch subtilere Funktion hat, als die Stelle im Haupttext, an die der Schreiber sie angebrachte.

Die Frage „Wer schreibt?“ in einer Absicht der Identifikation und des Dingfestmachens im Raum des Empirischen zu stellen, verfehlt den Text als ästhetisches Objekt zur Gänze. Autorin oder Autor sind Produkt von Texten. Nicht umgekehrt, wie es mancher erfahrungsungesättigte Leichtliterat oder -literarin vermeint.

Weshalb eigentlich die Sucht mancher Leserinnen und Leser immer hinter die Schleier und die Masken des Autors, der Autorin blicken zu wollen? Ein Aspekt mag da sicher die Boulevardisierung der Literatur, die Galaisierung abgeben. Es müssen Bilder her, und zwar möglichst schicke, und die schönen Autorinnen und Autoren zeigen sich für die Verlagsprospekte gerne. Und wenn sie, wie Judith Hermann eher nicht so schön sind, dann wird qua Photographie eine Personality, eine Art Aura geschaffen: die vergeistigte vergrübelte Frau, in matt-milchigem Schwarz/Weiß gehalten, verhaucht und aus der Zeit gefallen. Wir alle kennen diese Bilder. In den 90ern und zum Beginn der 00er Jahre kursierte der von den Marketingabteilungen der Verlage geschaffene Begriff des Deutschen Fräuleinwunders in der Literatur. Personality als Literatur.

Für andere wieder resultieren diese Enttäuschungen, daß eine Autorin irgendwie und irgendwo und am Ende doch ganz anders ist, aus persönlicher Kränkung: Wer sich lange mit einer solchen Bloggerin und Autorin schrieb – anonym wie das im Internet so zugeht – und dann nicht das fand, was er suchte, mag sich ärgern. Aber wurde er dabei betrogen, oder betrog er sich nicht eher selbst? In diesem Falle kann es um der Sache willen gut tun, die Befindlichkeiten über Bord zu werfen und den Blick auf den eigenen Blick zu werfen. Worin besteht denn die Täuschung, wenn mir ein(e) Unbekannte(r) E-Mails schreibt? Wurde ich durch den Eigennamen, der auf den Genus deutet, getäuscht? Worüber wurde ich getäuscht? Eine Autorin oder ein Autor sind kein Fertiggericht,wo die Ingredienzen juristisch korrekt angegeben sein sollten.

Wer sich in der Welt der Literatur bewegt, der hält sich im Raum der Fiktionen auf, und durch das Internet (als Medium der Literatur) erweiterter sich dieser Raum außerordentlich. Wer einstmals in den guten alten Zeiten auf einem Empfang oder bei einer Feier einen Schriftsteller traf, der konnte Pech (oder Glück) haben, und er fand sich Jahre später in einem Buch wieder. Thomas Mann nutzte häufig Menschen als Vorlagen – von den „Buddenbrooks“ und vom „Zauberberg“ waren nicht alle angetan. Heute begegnen Sie auf einer Party einem Schriftsteller oder einer Schriftstellerin und flugs findet einer sich am nächsten Tag (mit Glück leicht verfremdet) in einem literarischen Blog wieder. Das Internet mit YouTube, Flickr, der Welt der Blogs hat die Wahrnehmung verändert. Auch die Produktionsformen von Text. Davon – unter anderem – handelt der Roman „Aléas Ich“. Wie und auf welche Weise entstehen Fiktionen? Für ein solches Wissen ist es ganz gleichgültig ob die in dem Roman der Autorin zugeschriebene Dissertation über „Identität, Authentizität und Illusion – Zum Begriff Fiktionalität“ nun existiert oder nicht. Der Text „Aléas Ich“ ist Bestandteil einer solchen (fiktiven oder realen) Dissertation – die Grenze zwischen Philosophie und Literatur verschiebt sich auf eine solche Weise, daß Ebene und Metaebene ins Fließen geraten. Philosophie wird zur Literatur (dieses altes Thema der 80er, 90er Jahre, insbesondere für uns Derridaleser, die dem Text Derridas mit Wohlwollen folgten.)

Wieweit es diesem Roman nun gelingt, die Grenzen neu oder anders zu bestimmten, vermag ich allerdings an diesem Punkt der Lektüre noch nicht zu sagen. Ob er eine Weise von Wahrnehmung erzeugt, die jene Hybris des modernen Autorensubjekts aufspaltet oder ob der Text am Ende doch wieder auf jenen narzißtischen und spiegelstadiumsähnlichen Punkt kommt, in dessen Zentrum jenes omnipotente und selbstverzückte Subjekt hockt, das es im Rahmen Lacanscher und Deleuzescher Begehrlichkeiten zu destruieren galt, das wird die weitere Lektüre zeigen.

„Die Wahrheit existiert nur, solange niemand von ihr erzählt“ so heißt es vieldeutig, paradoxal, an den Perspektivismus Nietzsches und an die vielfältigen (philosophischen) Wahrheitstheorien des 20. Jhds anknüpfend, in diesem Roman. Literatur – das ist immer auch ein Stück creatio ex nihilo, und in diesem Akt helfen keinerlei moralischen Urteile, die mit den Begriffen Lüge, Betrug oder Wahrsprechen operieren, um mit externen Maßstäben an ein Objekt der Ästhetik heranzutreten. Für die Kunst ist immer noch der Begriff des Scheins konstitutiv. Am Text des Literaturwissenschaftlers und ästhetischem Theoretikers K. H. Bohrer mag man manches kritisieren – daß er jedoch im Rahmen seiner Adorno-Lektüre dessen Begriff des Scheins stark machte, gehört zu seinen großen Leistungen. (Leider vergaß er darüber die Passagen Adornos zur Geschichtsphilosophie.)

Der Autor ist eine Funktionsstelle. Es geht in der Literatur um die Funktion des Autors, nicht um die Person, die sich dahinter verbirgt. (Daß in dem Begriff „Person“ zugleich der der Maske steckt, sei geschenkt.)

Wer meint, mit „Aléas Ich“ wieder einen verspielten, verschnörkelten, zauberischen Roman mit angehängtem Lokalkolorit von Rumänien und Berlin in der Hand halten zu können, der wird sicherlich enttäuscht sein. Aber für eine dezidierte Kritik ist es nach der ersten Hälfte des Buches wohl noch zu früh: eine Symphonie läßt sich nicht beurteilen, wenn ich bloß den ersten Satz höre und ein Tafelbild bleibt Fragment, wenn ich nur die untere rechte Ecke wahrnehme und für Kritik und Kommentar zur Verfügung habe. [Eigentlich müßte es eine Art von Buch- und Kunstkritik geben, die das Werk fort- und weiterschreibt. Ein Blick ohne Richterspruch. Im Lesen des Textes erfaßt sich die immanente Struktur eines Werkes: eine Art von mimetischer Rezeption; sich dem Werk gleichzumachen, anzuschmiegen und dabei diesem trotzdem nicht zu verfallen.]

Die Frage nach der Funktion des Autors und damit auch die nach der Funktion von Literatur, die Frage nach den Identitäten und die nach der Moral des Personalausweises wird hier im Blog in nächster Zeit sicherlich Thema sein.

Perspektivierung von Liebe und Identität: Fluchtpunkte. Über Aléa Toriks „Das Geräusch des Werdens“

Ich mag keine Buchbesprechungen schreiben. Das liegt daran, daß ich es sterbenslangweilig finde, Inhaltsangaben zu verfassen, wie es im Grunde notwendig ist, damit jene Leser, die das Buch nicht kennen, überhaupt wissen, worum es darin geht und damit die Leserinnen und Leser mit Lust über meinem Blogtext verweilen, und zwischen den Zeilen gleiten und schlürfen – besonders die weiblichen. Allein, ob aller Notwendigkeit, derer ich durchaus und guten Willens einsichtig bin, es bleibt dabei: Ich halte Nacherzählungen für bloßes Abschreiben und damit eben: Nacherzählen. Nacherzählungen sind Nacherzählungen, sind seit der Schulzeit das Genre mit einer hohen Dichte an Monotonie, sofern es sich dabei überhaupt um ein Genre handelt und nicht vielmehr um eine stupide Übung, die ich bloß deshalb in Kauf nehme, damit die Leserinnen und Leser diese Besprechung weiterlesen. Ich kann beim Nacherzählen keine Kraft aufbringen, um die Geschichte aufzuladen, sondern ich muß mich an der Ebene der Fakten entlangschreiben. Der Nacherzählung unzulässige, wilde, witzige, absurde, erweiternde, erhellende oder in die Philosophie gewendete Passagen hinzuzufügen, geht eher nicht, könnte zudem die Autoren verärgern.

Der Gehalt eines Romans erschöpft sich jedoch nicht in der Nacherzählung. Trotzdem bleibt die Nacherzählung ein (leider notwendiges) Übel.

Was geschieht in „Das Geräusch des Werdens“? Viele Handlungsstränge verweben sich da: zum einen gibt es jenes fiktive rumänische Dorf Mărginime mit seinen teils skurrilen Bewohnerinnen und Bewohnern, das aus der Perspektive verschiedener Figuren wie der Dorfschullehrerin Clara oder dem Schuhmacher erzählt wird. Obwohl mit schnellem Strich gezeichnet, um die Metapher des Zeichnens hier zu verwenden, treten diese Dorfmenschen in der Schilderung plastisch hervor. Der eigenwillige Tischler am Rande des Dorfes, ein Außenseiter, ein Mann, dem die Frauen verfielen, zumindest vor drei Generationen, mit jeder weiteren Generation setzte der Verfall ein; unheimlich und unnahbar ist dieser vorletzte Tischler, der seine Kinder aus einem Stück Holz schnitzte, so zumindest geht im Dorf das grausige Gerücht. Zwillinge brachte er hervor, die zudem den gleichen Namen tragen: Varian I und Varian II. Zwei Möglichkeiten und zwei Wege des Lebens. Es sind beide, Varian I und Varian II, nicht auseinanderzuhalten. Und einer kann immer der andere sein. Der eine Varian, der andere Varian. Der eine, der in Mărginime blieb, der andere, der ging. Oder umgedreht und umgekehrt. Vielfach spielt dieser Roman mit dem Verschwimmen von Perspektiven, und immer wieder stellt sich diese Frage, wie sich im Leben Identität gewinnen läßt.

Und dann steht Berlin als Fluchtpunkt im Raum. Eine Stadt als Verheißung, nachdem die Grenzen zu Osteuropa sich öffneten. Das Kapitel „Der Salon Sucre“ gibt einen fast Döblinschen Blick auf die Stadt frei: eine Stadt als Aufzählung, als Summe ihrer Ort und Gebäude. Das kann man auch mit anderen Städten machen, aber indem die Eigennamen in diesem Text immer wieder eingestreut werden, erhält sich das, was man Lokalkolorit nennen würde – ohne daß es sich bei „Das Geräusch des Werdens“ nun um einen typischen Berlin-Roman handelte. Er spielt in Berlin – mehr aber nicht. Berlin ist ein Ort der Verheißung wie auch Paris oder New York es sind. Manchen aus dem Osten Europas zog es in diese Stadt.

Der junge Valentin ist ein solcher Glückssucher, der das Dorf und seine Freunde verläßt, den es nach Paris als Sehnsuchtsort zieht und der, nicht wissend, an welchem Ort seiner langen Reise er sich gerade befindet, in Berlin am Bahnhof Zoo in den Armen einer jungen 18-Jährigen Frau hängenbleibt, die sich in ihn unsterblich-wild und romantisch verliebt.

„Sie stand vor ihm und schaute ihn an. Er wußte nicht, was er tun sollte.
‚Paradies‘, sagte Valentin dann.
‚Paradies?‘, fragte das Mädchen.“

Und sie verlassen den Bahnsteig, halten sich noch immer an den Händen. Valentin und Liv bleiben zusammen, sie zeugen in Berlin eine Tochter namens Leonie. 25 Jahre Rumänien, 25 Jahre Berlin.

Und die Zeit vergeht wie im Fluge, zerrinnt unter den Fingern und zwischen den Händen, und es bleiben am Ende genug ungenutzte Möglichkeiten übrig, um zu bedauern oder um das, was ist, zu akzeptieren.

Die Geschichte von „Das Geräusch des Werdens“ ist als Rahmenhandlung konzipiert. Der aus jenem Dorf stammende, mit 13 Jahren erblindete Marijan, Sohn des Varian I (oder II, je nachdem) als junger Mann nun in Berlin lebend, mit seiner Blindheit zu Beginn seines Aufenthaltes in dieser Stadt zutiefst hadernd, bekommt irgendwann von einem Unbekannten eine Kamera geschenkt. Eine Kamera hält Bilder fest, die es für einen Blinden aber in dieser herkömmlichen materialisierten Daseinsweise nicht gibt, und sie ist Marijans notwendige Lebenserhaltungsmaschine, weil sie ihn im Grunde mit seiner eigenen Blindheit konfrontiert und ihm, dem Blinden, ein Mittel an die Hand gibt und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Aber Marijan will eben nicht bloß Objekte photographieren, ebensowenig möchte er das Sehen und die Blindheit abbilden, sondern Marijan geht es um die Zwischen-Räume, diese besondere Art, Räume nicht mit dem Blick zu erfahren. Eine Art Bilderverbot mittels Bildern: Entracte.

Nun steht Marijan aufgeregt da und eröffnet in einer Berliner Galerie mit dem schönen Namen „Berlin am Meer“ eine Ausstellung mit seinen Photographien. So beginnt der Roman, und von diesem Auftakt her entfaltet sich das Erzählen im Roman mit der Eröffnungsrede des Photographen zu seiner Vernissage, die in jene Welt des Dorfes Mărginime einführt und von dort her in die verschiedenen Figuren und Perspektiven sich verzweigt. Auf das Moment des Aleatorischen im Rahmen der Erzählkonstellation dieses Romans, wie ein Leben zu erzählen sei, wiesen verschiedene Buchkritiken (zu Recht) hin. An Marijan Seite steht während jener Vernissage die hübsche, große Leonie mit dem schönen Schlüsselbein. Jene Frau, die sich in Marijan verliebte, als sie – durch jenen Zufall, der eben doch selten im Leben und im Lieben zuschlägt – kurz vor seinen Körper und dem Anschlagen des Blindenstockes zum Stehen kommt. Sie ging nicht aus dem Weg. Der Geruch von Parfüm. Zwei Körper, der eine sehend, der andere spürend, andere Sinne nutzend. Der Roman schildert diese Situation aus beiden Perspektiven. Kurz, aber doch präzise verfährt der Text, wenn er diese Phase der Annäherung zwischen Leonie und Marijan ins Bild bringt.

Die Figur eines blinden Photographen ist absurd wie manche Konstellation oder Geschichte in diesem Roman. Andererseits ist in den Produktionsweisen der Kunst nichts so absurd, daß es nicht dennoch möglich wäre. Und diese Kamera samt den Bildern, die sie festhält und die – aus gutem Grunde – an keiner Stelle des Romans genauer beschrieben werden: was nun genau darauf zu sehen sei, funktioniert als eine Art blinder Fleck und als strukturierende Leerstelle.

Die zweite Leerstelle des Romans, das Ausgesparte des Textes: das bleibt jene Krisztina, die irgendwann mit 16 Jahren aus dem Dorf verschwand, keiner weiß weshalb, geflohen, ermordet, entführt, was auch immer; die, so munkelt man, der Teufel geholt habe, unter einem weißen Laken hat sie mit ihm gerungen, so berichtet die alte Lehrerin Silvana. Aberglaube. All jene Protagonisten, die das Dorf Mărginime verließen, um in der Fremde etwas anderes zu suchen, kamen irgendwann wieder – und sei es nur kurz, so wie Varian 2. Nur dieses eine Mädchen nicht; es bleibt zurück und verschollen.

Obwohl das Geschehen und die Handlungen des Romans meist relativ kurz nur und perspektivisch angerissen werden, üben diese sich zu einem Roman ausweitenden Skizzen dennoch einen Sog aus, der Leserinnen und Leser mitnimmt. Der einzige Kritikpunkt an diesem im ganzen gelungenen und sehr genau gearbeiteten Text, liegt in der Erzähl- und Denkweise der Figuren, wenn sie ihre Umgebung auf eine teils skurrile oder fast surreale Weise in ihrer Verdrehtheit wahrnehmen. Sätze wie: Ein Tischler ohne geschickte Hände ist ein schlechterer Tischler als ein solcher ohne Hände, aber mit Geschick im Blut lassen schmunzeln, treffen in ihrem metaphorischen Gehalt zwar einen Kern. Aber manchmal ist weniger mehr, wenn dieses Prinzip überhandnimmt.

Diese durch die unterschiedlichen Anlagen eigentlich doch divergenten Perspektiven der Charaktere, ihre unterschiedlichen Bewußtseins- und Reflexionsströme, gleichen sich an einigen Stellen aufgrund dieses Verfahrens der Überspitzung, des Hyperbolischen stark, ohne daß es der Zeichnung des je speziellen Charakters geschuldet ist. Reizvoll mag es sein, wenn Worte, die eine Situation beschreiben, gedreht und in einen Gegensinn gewendet werden. Dinge, Handlungen, Situationen erscheinen plötzlich in einem anderen Licht. Es ändert sich der Blick. Dieses Stilmittel ist erkenntnisfördernd und zeigt neue Perspektiven auf. Aber an einigen Stellen fand ich es übertrieben und es geriet diese Überdrehung der Sprache, das leicht surreal Anmutende zu einem Manierismus, der nicht unbedingt dem literarischen Charakter geschuldet war. Sämtliche Uhren am Bahnhof waren deshalb so hoch angebracht, damit die Menschen die Zeit nicht vorstellen, um das Warten abzukürzen. Solche Stilmittel sind wie in dem Fall der Bahnhofsuhren pointiert, teils witzig, sie sollten jedoch sparsam eingesetzt werden. Wenn Überspitzungen aber zum Pointenfeuerwerk geraten, können sie sich schnell abnutzen und damit substanzlos werden. Aber ich weiß selber wie es ist: wenn einem etwas besonders gut gelingt, möchte man es wiederholen und erliegt der Versuchung.

Doch zugleich bezieht „Das Geräusch des Werdens“ aus diesem sprachlichen Verfahren seine Kraft, und der Roman schreibt einen Realismus, der sich mit Magie paart – insbesondere jene Passagen, die von dem archaisch-traditionellen und doch von der Moderne erfaßten rumänischen Dorf samt den Fluchtbewegungen handeln. Dieses Prinzip der Komposition als eine Art magischen Realismus zu bezeichnen, griffe wohl zu hoch, aber der Roman knüpft doch an diese lateinamerikanische Tradition erzählerischer (Post-)Moderne an.

Es handelt sich beim „Geräusch des Werdens“ durchaus um einen Roman, der von der Philosophie inspiriert ist, aber diese Philosophie wurde darin nicht mit Hoch- oder Niedrigdruck hineingepreßt, daß es scheppert, hallt, bröselt und am Ende doch nur hohl und zumeist bemüht nachklingt, sondern sie entwickelt sich im Geschehen, im Gehalt des Romans, in der Reflexion der Figuren und durch die Anordnung der Elemente des Textes hindurch. Kritik der (festschreibenden) Identität mag dabei ein Stichwort sein. Und mit dem belgischen Literaturtheoretiker Paul de Man könnte man ebenso von „Blindness and Insight“ sprechen.

Trotz seines philosophischen Überbaus ist „Das Geräusch des Werdens“ ein sinnlicher, teils sogar anrührender Text, ohne daß es aber in den Kitsch abgleitet. Märchenhaft, surreal, mit den Blicken, den Weisen von Wahrnehmung spielend, was sich deutlich am Ende des Romans in jener schönen Szene zeigt, als die genial konzipierte Figur des asexuellen, leicht neurotischen, körperübersteigert ängstlichen, unkonventionell lebenden Maddox am Ende der Vernissage zu seiner Freundin Tilli von Dingen spricht, die Marijan in der Rede über seine Herkunft angeblich gesagt haben soll. Hat er es, hat er es nicht? Tilli bestreitet: „Marijan hat kein Wort von seinem Vater oder dessen Zwillingsbruder erzählt. Das bildest Du Dir ein.“ Der Fluß von Rede: Fast wie ein Traum.

Der Schluß des Buches, als Leonie und Marijan den Abend in der Galerie ausklingen lassen, bewegt sich einerseits auf einer Grenze, daß man den Kopf leicht schräg legen möchte. Aber wie es bei großer Literatur so ist: es kippt nicht über, das Sinnliche bleibt sinnlich, das Zarte zart, die Wörter werden genau getroffen und das wirkt an keiner Stelle überstrapaziert, sondern als Moment des Ausdrucks äußerst genau beobachtet. Ganz so wie es bei großer Literatur der Fall ist und womit sich immer wieder zeigt: das Leichte ist zuweilen das am schwersten herzustellende oder mit Hugo von Hofmannsthal gedacht: es ist die schwierigste Kunst, in der Oberflächlichkeit die Tiefe zu verstecken. Es handelt sich um eine anmutige Liebesgeschichte mit einem eigenwilligen Ende, wie sie – wenn wir denn in den identitären Zuschreibungen der Autorenlogik agieren wollen – nur von einer Frau geschrieben werden kann. Aléa Torik ist ein großer Roman geglückt.

Dieser Tage erschien zudem der neues Buch „Aléas Ich“, das ich auf diesem Blog demnächst besprechen möchte.

Gibt es ein Paradies? Müssen wir die Erde einmal umrunden und durchwandern, wie Kleist das in seiner Schrift zum Marionettentheater schrieb, um wieder ins Paradies gelangen zu können? Literatur ist nur im Ausnahmefall jener Ort einer wiederhergestellten Unmittelbarkeit. In der Regel verweigert sie die Identität, die Fixierungen und die Präsenz im So-Sein.

Endlich Gewißheit: Die Postmoderne endet 2011!

Zurück aus dem hohen Norden, dort wo die Rentiere wohnen, die Menschen raue Umgangsformen pflegen, dort wo im Winter die Tage kurz, die Nächte lang, die Frauen blond, die Gewässer kalt, die attraktivsten Frauen jedoch schwarzhaarig sind, wünsche ich allen Leserinnen und Lesern ein frohes und gesundes Neues Jahr. Machen Sie das Beste daraus – das Schlechte kommt von ganz alleine.

In einigen Blogs gab es während meiner Abwesenheit Texte bzw. Diskussionen zur Postmoderne, so etwa hier, hier und hier. Meine Position zu den Ansätzen der Postmoderne, des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion findet sich eher in den letzten beiden Texten wieder. Wobei auch der Beitrag auf „Kritik und Kunst“ – sozusagen ex negativo – interessant ist. Aber ich habe diese Dinge (insbesondere die Kommentare) nach meiner Rückkehr nur kurz überflogen. Und ich muß einmal schauen, ob ich in dem einen oder anderen Beitrag noch etwas dazu schreibe.

Wer zu diesen Theorien – denn der Poststrukturalismus (sowie die Postmoderne bzw. die Dekonstruktion) treten nicht im Singular auf – etwas Einführendes lesen möchte, den verweise ich auf das gute Buch von Vincent Descombes, Das Selbe und das Andere (Fft/M 1981). Weiterhin in diesem Umkreis das Buch von F. Dosse, Geschichte und Strukturalismus Bd. 1 Das Feld der Zeichen 1945 – 1966 und Bd. 2 Die Zeichen der Zeit 1967 – 1991, (beide Hamburg 1996). Das Buch ist sehr ausführlich, ob es den komplexen Theorien gerecht wird, sei dahingestellt. Ganz allgemein zur französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, die sich ja nicht nur auf die Postmoderne beschränkt, und sehr anregend geschrieben, ist das Buch von B. Taureck, Französische Philosophie um 20. Jahrhundert. Analysen, Texte, Kommentare (Reinbek 1988) Was dieses Buch auszeichnet: daß eben auch die Texte selbst sehr ausführlich zu Wort kommen, es gibt lange Text-Passagen von Sartre, Derrida, Merleau-Ponty, Foucault, Deleuze, Lyotard, die dann kommentiert werden. Ausnehmend gut eignet sich dieses Buch zum Selbststudium. Insbesondere deshalb, weil darin mein Plädoyer befolgt wird: Zu den Texten! Was Postmoderne, Poststrukturalismus, Dekonstruktion sind, lernt man nur durch die Texte.

Im ganz anderen Rahmen, um auch die (post-)strukturalistische Psychoanalyse einzubeziehen, empfehle eindringlich ich das Buch von Alain Juranville, Lacan und die Philosophie (1990, Klaus Boer Verlag). Die Texte Lacans geben sich zuweilen hermetisch. Dieses Buch schlüsselt die Theorie Lacans äußerst gut auf, insbesondere im Hinblick auf Freud, Kant, Hegel, Saussure, Heidegger. Es ist unbedingt zu lesen, wenn man sich mit dem Poststrukturalismus beschäftigen möchte.

Zudem verweise ich bezüglich des Themas bescheiden auf meine angefangene, nie beendete, lange nicht fortgeführte Serie „Eine Verteidigung der Postmoderne gegen ihren Mißbrauch“. Mehr noch findet man hier im Blog unter der Kategorie „Postmoderne“.

Grundsätzliches zu Derridas Philosophie kann man in dem Gesprächsband „Positionen“ (Wien 1986, Passagen Verlag) lesen, wo Derrida einige Aspekte seiner Philosophie in Gesprächen darstellt. Insbesondere bei Derrida besteht die Schwierigkeit darin, daß sich seine Philosophie in einer verknappten Form kaum wiedergeben läßt. Zudem: es gibt in diesem Sinne bei Derrida keine Hauptwerke, wo man sagen kann: lies mal das und dann das Buch! Der Text Derridas zerstreut und verzweigt sich.

Zum hier bei Aisthesis bereits thematisierten Verhältnis von Philosophie und Literatur möchte ich folgendes zitieren:

„Zum dritten Punkt, zur Ästhetik, zu den Bezügen zwischen Philosophie und Literatur, Philosophie, Rhetorik und Politik ist zu sagen, daß ich niemals – man lese doch bitte den Text – die Philosophie der Rhetorik gleichgesetzt habe. Natürlich glaube ich, daß man die Rhetorik im philosophischen Diskurs analysieren muß, aber wenn man sich auf die Mythologie blanche oder andere philosophische Texte bezieht, so sieht man, daß ich niemals die Philosophie auf ein literarisches Genre reduzieren wollte. Was mich andererseits tatsächlich interessiert, das sind die Grenzen, die Probleme der Grenzen zwischen Philosophie und Literatur. Aber dieses Problem aufwerfen heißt nicht, die Philosophie auf eine Art Literatur zu reduzieren. Ich richte mich nicht mehr im Bereich der Literatur ein, als ich mich im Bereich der Philosophie eingerichtet habe. Im übrigen fehlt dem philosophischen Diskurs und besonders dem von Habermas eine ausgearbeitete Aufmerksamkeit gegenüber der Schrift, gegenüber diesen so schwierigen Fragen der Gattung und der Rhetorik.“ (Positionen, S. 29 f.)

Kunst und Geschmack (3)

Christoph Menkes Rekonstruktion des Geschmacksbegriffs

Geschmack in der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts liefert einerseits ein Modell zu Komplexitätsreduktion und -bewältigung – hier liegt, an sich, bereits die bürgerliche Gemütlichkeit gegründet: der deutsche Michel mit der Schlafmütze – und birgt andererseits emanzipatorisches Potenzial. Die bürgerliche Gesellschaft, so Menke, benötigt den Geschmack, um all die fremden Verhaltensweisen und Gegenstände zu erfassen, mit denen das Subjekt konfrontiert wird. Daß, was philosophisch nicht in der Philosophie des vorkantischen Rationalismus aufgeht, ohne dabei jedoch in einen Swedenborgschen Irrationalismus bzw. in Geisterseherei abzudriften, kann im Rahmen einer Ästhetik bewältigt bzw. reflektiert werden, die nicht einzig auf Klarheit und Deutlichkeit in den Vorstellungen getrimmt ist, sondern genauso die undeutlichen Vorstellen und das Unklare im Begriff aufzunehmen vermag. In Geschmack samt der sich ausbildenden Disziplin der Ästhetik versichert sich ein aufstrebendes Bürgertum – korrespondierend mit der Philosophie der Aufklärung – seiner selbst: zunächst einmal im Denken und im Ansatz auch in der Tat.

Einen Spezialfall des Geschmacks stellt dabei das Schöne dar, der aber gleichzeitig – dies sei kritisch gegen Menkes Konzeption angemerkt – eine sedative Funktion besitzt. Im Schönen als Gegenstand des Geschmacks, so Menke, vergewissern sich das Subjekt seiner Möglichkeit: der Möglichkeit von Kultivierung und reflexiver Reaktualisierung. Einerseits ist dies eine historisch notwendige Form des reflexiven Bei-sich-seins, andererseits liegt darin bereits dieses Moment einer unpolitischen bürgerlichen Kontemplation in Kunst gegründet, welches zu den verschiedenen Ausprägungen von Ästhetizismus führte. (Auch dieser Blog hat, wie Sie sehen und lesen, bürgerliche Ahnherrenschaft.)

„Unser Geschmack fürs Schöne versichert uns, dass die Arbeit der Bildung gelingen kann, dass Subjektivitätsform und Objektivitätsanspruch sich bruchlos verbinden lassen. Der ästhetische Geschmack am Schönen ist nicht nur eine besonders kultivierte und raffinierte Art von Geschmack, es ist der Geschmack des Geschmacks. Im Genuss am Schönen genießt sich das Subjekt in der Vollkommenheit seiner Bildung. Nach Kant zeigen die schönen Dinge an, ‚daß der Mensch in die Welt passe‘“ (S. 40 f.)

Es steckt in diesem Konzept Menkes eine Form von Kompensationstheorie, aber zugleich wirft er, sozusagen unfreiwillig, einen richtigen Blick auf die bürgerliche Gesellschaft, der sich bis in die heutige Zeit durchaus verlängern läßt, insbesondere, was die affirmative gesellschaftliche Funktion von Kunst anbelangt, die sich in ihrem Gehalt und in ihrer Transformation vom 18./19. Jhd hin zum 20. gewandelt hat. Was einmal der Emanzipation des Subjekts diente, ist gewissermaßen als ein Akt von „Dialektik der Aufklärung“ mittlerweile umgekippt. Dies wird im nächsten Teil zu Adorno deutlich werden. Andererseits darf auch der kritische Gehalt, der diesem Konzept der bürgerlichen Gesellschaft innewohnt, nicht gering geachtet werden. Insofern ist es ein wenig schade, daß Menke diese Aspekte auf einer materialen Basis und sozialgeschichtlich nicht umfassender entfaltetet und auch keinerlei Sekundärliteratur hierzu bereitstellt, die seine sehr groben Thesen untermauerten.

Zusammenfassend kann man, mit Menke gesprochen, festhalten, daß über den Geschmack im 18. Jahrhundert eine Form von Weltaneignung und Subjektwerdung geschieht, die mit der Entwicklung eines Bürgertums als sich emanzipierender Klasse einhergeht. (Allerdings muß man hinzufügen, daß dieses Bürgertum äußerst heterogen sich darstellt, es reicht vom Fabrikanten über den Beamten bis zum Kleinbürger oder Handwerker.) Die Herausbildung der Kategorie des Geschmacks ist eng mit den Prozessen der Aufklärung und der Herausbildung von Subjektivität, die sich als Individualität denkt, verflochten. Für diese Prozesse steht das Bürgertums, das in der Epoche der entwickelten Warenwirtschaft ihren gesellschaftlichen Ausdruck fand. Diese Umpolungen wirken sich gleichfalls auf das Kunstwerk und den Künstler aus. Nicht länger mehr steht das Kunstwerk im Dienst des Religiösen oder des Politischen, um in diesen Bezirken zu symbolisieren. Und es kann sich eine Form von autonomer Kunst und die sie betrachtende Theorie, nämlich die Ästhetik, herausbilden. Hier und in der Auseinandersetzung dann mit Kant ist vor allem die Literatur und Ästhetik der Frühromatik bedeutsam.

Inwieweit das Subjekt in dieser Epoche des ausgehenden 18. Jahrhunderts als ein sich selbst Denkendes (und damit eben auch als ein selbst Handelndes) ins Zentrum rückt, mag man an Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und insbesondere in der darauf folgenden Philosophie, die gerne unter dem Begriff des Deutschen Idealismus gehandelt wird, ermessen, wo zum ersten Mal (ganz explizit) ein Terminus wie der des Selbstbewußtseins auftaucht. Noch bei Kant gab es diesen Begriff nicht, zumindest nicht explizit. Wenngleich im § 16 der „Kritik der reinen Vernunft“ das „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“ formuliert wird. Diese Bewegung kulminiert dann in Hegels „Phänomenologie des Geistes“, in der die umfassendste Bestimmmung von Selbstbewußtsein im frühen 19. Jhd geliefert wird.

Allerdings ist das Denken des Denkens keine neue Gestalt der Philosophie, sie ist seit der Antike, insbesondere mit Aristoteles bekannt und bildet eine der wichtigsten Denkfiguren abendländischer Philosophie. Als neues Moment tritt hier einerseits der mit diesem Denken einhergehende Autoritätsverlust und das Brüchigwerden einer überkommenen Ordnung hinzu, was sich auf politischer Eben in der französischen Revolution kristallisierte, sowie der Gewinn von Handlungsoptionen. Überpointiert kann man formulieren, daß in der Ästhetik und vermittels ihrer die Vernunft praktisch wurde. Freilich sind wir in diesem späten 18., frühen 19. Jahrhundert noch weit von einer „Souveränität der Kunst“ samt ihren entgrenzenden (auch politischen) Avantgarden entfernt. Zumindest aber wurde in dieser Epoche dafür ein Grundstein gelegt.

Diese historische Entwicklung des Geschmacksbegriff, die Menke aufzeigt, mündet auf der philosophisch-ästhetischen Ebene dann in Kants „Kritik der Urteilskraft“. Wobei es mir jedoch scheint, daß Menke in seinen ästhetischen Bestimmungen ganz explizit einen Schritt hinter Kant treten möchte, etwa indem der die ästhetischen Positionen Sulzers, Herders und Mendelssohns aktiviert.

Wie läßt sich die Kategorie des Geschmacks aber in die Gegenwart, in eine sich selber überdrüssige Moderne transponieren? Menke schreibt, daß zu dieser sich im 18. Jhd. herausgebildeten Ästhetik des Geschmacks kein Weg zurück führt. Denn solche Ästhetik „ist gebunden an die gleichzeitig entstehende bürgerliche Gesellschaft, der die Ästhetik (nicht: die Philosophie des Rationalismus) ihre ideologische Grundkategorie des ‚Subjekts‘ bereitstellte. Das bürgerliche Subjekt ist ein Individuum, das sich durch Übungen so geformt, so ‚gebildet‘ hat, dass es ohne fremde Leitung, daher auch ohne Leitung durch eine ihm vorgegebene Methode, durch eigene Reflexionsleistung selbst zu urteilen vermag.“ (S. 41) Das eben ist genau dieses Kantische Moment der Aufklärung: zu wagen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Und solches konnte über die bis aufs Äußerste mit Subjektivität getränkten Begriffe wie Geschmack, Gefühl und Genuß passieren.

Geschmack gehört also zur bürgerlichen Gesellschaft, doch hat dieser Begriff innerhalb dieser mehr als 250 Jahre einen extremen Wandel erfahren. Und weshalb Geschmack nur bedingt bis gar nicht als Kategorie er Ästhetik taugt, zeigt sich dann bei Adorno. Dieser Wandel bzw. diese Depravierung des Geschmacks fängt an mit den hohen Tönen eines Bürgertums, das sich am Kunstwerk ohne jede Reflexion delektiert, über eine Kunst, die als Ausstattungsgegenstand für Räume und als Design in der Deutschen Bank oder bei einem Investor fungiert und reicht hin bis zu einer Bewegung wie „Neue Bürgerlichkeit“, wo Joachim Bessing, Alexander von Schönburg oder Benjamin Stuckrad-Barre beweisen, daß auch sie mit Messer und Gabel essen können, so dient der „Geschmack“ der sozialen Distinktion, der Elitebildung, und es reicht, so Menke weiter bis in die Sphäre des Massenkonsums.

In der Gegenwart (nämlich in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, so füge ich hinzu) hat der Geschmack zudem eine Leitfunktion, so Menke. Er ist die entscheidende Vermittlungsinstanz im Massenkonsum. Jeder Konsument hat in der Massenkultur einen bestimmten Geschmack – ausgesprochen oder unausgesprochen – und für jeden Konsumenten hält diese Massenkultur etwas Passendes bereit: von subversivem Pop über das, was man Klassik nennt, bis hin zu Lady Gaga oder dem Schlager. Dazu gehört die beschleunigte Produktion von Waren; selbst solcher, für die es noch gar kein Bedürfnis gibt. Apple erweist sich hier als Kaderschmiede. In der arbeitsteilig organisierten, warenproduzierenden Gesellschaft eines massenkonsumistischen Kapitalismus ist der Geschmack weiterhin kein soziales Privileg mehr, er hat sich multipliziert, durchzieht die unterschiedlichsten Lebenswelten. Zugleich bedeuten die Wahlen, die der massenkonsumistische Geschmack trifft, Identitätsfestlegungen:

„Passt die Sache in mein Leben? Oder auch. Welches Leben paßt zu dieser Sache? (…) Wie muß ich mein Leben ändern, mein Leben neu bestimmen und erfinden, damit diese neue Sache in es passt? Aus den Passensverhältnissen von Mensch und Welt, derer der bürgerliche Geschmack sich im Genuss am Schönen versichert, wird die beständige Anpassung zur Anpassung an die sich erneuernden Produkte.“ (S. 42)

Diese Aspekte, welche Menke in einer Art Makroperspektive aufzeigt, bilden teils richtige Topoi, die er Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ entlehnt hat. Wenngleich Adorno und Horkheimer diese Kritik der Massenkultur dort und woanders sehr viel dezidierter entfaltetet haben.

Wie nun sieht Menkes Bestimmung des Geschmacks aus?: Er selber will die Klippe zwischen einem bügerlichen Geschmacksbegriff, wie ihn das 18. Jahrhundert entwickelte, und den Theorien der Postmoderne, die den Geschmacksbegriff wieder ins Zentrum stellten, umfahren. Das postmoderne Lob der ästhetischen Freiheit im Massenkonsum, wie Menke das in seinem Text beschriebt, ist freilich sehr vergröbert dargestellt. Ich vermute, daß er damit After-Positionen wie die von Norbert Bolz mit seinem Konsumistischen Manifest meint: Wer Kapitalismus hat, der führt keine Kriege mehr und der ist vor religiösem Fundamentalismus geschützt, weil er konsumiert.

Richtig ist in Menkes Sicht die postmoderne Kritik, wenn sie gegen die rückwärtsgewandte Apologie des bürgerlichen Geschmacks als Instanz der Autonomie opponiert, denn dieser bürgerliche Geschmack ist unwahr, weil die behauptete Identität von Subjektivitätsform und Objektivitätsanspruch ideologisch erschlichen ist. Doch auch die postmoderne Variante, so Menke: die Ersetzung von Objektivität durch das Spiel mit Identitäten und dem Vollbringen von Adaptionsleistungen kann nicht das letzte Wort sein. Es muß eine Alternative sowohl zum bürgerlichen als auch zum massenkonsumistisch-postmodernen Geschmack geben. Menke stellt ganz explizit die Frage nach einem anderen Geschmack.

Er versucht hier eine Bestimmung von Geschmack, die sich allerdings nur schwer wird durchhalten lassen. Bei dieser Neubestimmung will Menke den Objektivitätsanspruch des Geschmacks nicht völlig über Bord werfen, sondern diesen Anspruch vielmehr um die bürgerliche Selbstermächtigung (also die Inthronisierung eines omnipotenten Subjekts) bereinigen. Menke möchte aus den Ästhetiken des 18 Jahrhunderts eine dritte Position, die jenseits von Bürgerlichem und Postmodernem angesiedelt ist, entwickeln. Hier spielt der Begriff der Leidenschaft, des Pathos eine Rolle. Geschmack ist eine unerwartete Empfindung, die den schrittweisen Gang der Reflexion unterbricht (also im Grunde genommen das instrumentelle Verhalten). So schreibt Menke:

„Der Geschmack ist Energie – Kraft, die sich von selbst äußert und unkontrolliert im Subjekt auswirkt. So wenig das Subjekt daher über den Geschmack als sein Vermögen verfügt, so wenig verbürgt der Geschmack eine Identität, derer das Individuum sich vergewissern kann.“ (S. 45)

Es läßt sich in dieser Passage Menkes sicherlich ein Rekurs auf Prä-Rationales, vielleicht sogar auf ein somatisches Moment ausmachen. Geschmack existiert als Impuls, Kraft, Pathos, jedoch nicht – und das ist ganz gegen Kant gereichtet – als Reflexionsgeschmack. Impuls und Energie verbürgen das unverfügbare Eigene des Subjekts. Man liegt wohl nicht ganz falsch, wenn man in dieser Position eine Nähe zu Adornos Nichtidentischem vermuten kann, wobei es diesem jedoch um ein Absehen vom Subjekt geht. Auf die Parallele zum Nichtidentischen sozusagen innerhalb des Subjekts verweist auch dieses Zitat Menkes:

„Der Geschmack muß als eine Kraft erkannt werden, die weder ein Vermögen reflektierender Subjektivität noch ein Mechanismus sich erhaltender Identität ist: Der Geschmack ist das niemals einzuholende Fremde im Eigenen.“ (S. 46)

Geschmack kann bei Menke als anthropologisches Merkmal und als Instanz für ein Unverfügbares angesetzt werden, denn er macht uns als Individuen aus, noch vor aller identifizierenden, festlegenden Subjektivität und ihrer reflexiven Selbstvergewisserung.

Im nächsten Teil geht es zu Adornos Bestimmungen des Geschmacks bzw. des Genußmomentes in der Kunst.