Ich mag keine Buchbesprechungen schreiben. Das liegt daran, daß ich es sterbenslangweilig finde, Inhaltsangaben zu verfassen, wie es im Grunde notwendig ist, damit jene Leser, die das Buch nicht kennen, überhaupt wissen, worum es darin geht und damit die Leserinnen und Leser mit Lust über meinem Blogtext verweilen, und zwischen den Zeilen gleiten und schlürfen – besonders die weiblichen. Allein, ob aller Notwendigkeit, derer ich durchaus und guten Willens einsichtig bin, es bleibt dabei: Ich halte Nacherzählungen für bloßes Abschreiben und damit eben: Nacherzählen. Nacherzählungen sind Nacherzählungen, sind seit der Schulzeit das Genre mit einer hohen Dichte an Monotonie, sofern es sich dabei überhaupt um ein Genre handelt und nicht vielmehr um eine stupide Übung, die ich bloß deshalb in Kauf nehme, damit die Leserinnen und Leser diese Besprechung weiterlesen. Ich kann beim Nacherzählen keine Kraft aufbringen, um die Geschichte aufzuladen, sondern ich muß mich an der Ebene der Fakten entlangschreiben. Der Nacherzählung unzulässige, wilde, witzige, absurde, erweiternde, erhellende oder in die Philosophie gewendete Passagen hinzuzufügen, geht eher nicht, könnte zudem die Autoren verärgern.
Der Gehalt eines Romans erschöpft sich jedoch nicht in der Nacherzählung. Trotzdem bleibt die Nacherzählung ein (leider notwendiges) Übel.
Was geschieht in „Das Geräusch des Werdens“? Viele Handlungsstränge verweben sich da: zum einen gibt es jenes fiktive rumänische Dorf Mărginime mit seinen teils skurrilen Bewohnerinnen und Bewohnern, das aus der Perspektive verschiedener Figuren wie der Dorfschullehrerin Clara oder dem Schuhmacher erzählt wird. Obwohl mit schnellem Strich gezeichnet, um die Metapher des Zeichnens hier zu verwenden, treten diese Dorfmenschen in der Schilderung plastisch hervor. Der eigenwillige Tischler am Rande des Dorfes, ein Außenseiter, ein Mann, dem die Frauen verfielen, zumindest vor drei Generationen, mit jeder weiteren Generation setzte der Verfall ein; unheimlich und unnahbar ist dieser vorletzte Tischler, der seine Kinder aus einem Stück Holz schnitzte, so zumindest geht im Dorf das grausige Gerücht. Zwillinge brachte er hervor, die zudem den gleichen Namen tragen: Varian I und Varian II. Zwei Möglichkeiten und zwei Wege des Lebens. Es sind beide, Varian I und Varian II, nicht auseinanderzuhalten. Und einer kann immer der andere sein. Der eine Varian, der andere Varian. Der eine, der in Mărginime blieb, der andere, der ging. Oder umgedreht und umgekehrt. Vielfach spielt dieser Roman mit dem Verschwimmen von Perspektiven, und immer wieder stellt sich diese Frage, wie sich im Leben Identität gewinnen läßt.
Und dann steht Berlin als Fluchtpunkt im Raum. Eine Stadt als Verheißung, nachdem die Grenzen zu Osteuropa sich öffneten. Das Kapitel „Der Salon Sucre“ gibt einen fast Döblinschen Blick auf die Stadt frei: eine Stadt als Aufzählung, als Summe ihrer Ort und Gebäude. Das kann man auch mit anderen Städten machen, aber indem die Eigennamen in diesem Text immer wieder eingestreut werden, erhält sich das, was man Lokalkolorit nennen würde – ohne daß es sich bei „Das Geräusch des Werdens“ nun um einen typischen Berlin-Roman handelte. Er spielt in Berlin – mehr aber nicht. Berlin ist ein Ort der Verheißung wie auch Paris oder New York es sind. Manchen aus dem Osten Europas zog es in diese Stadt.
Der junge Valentin ist ein solcher Glückssucher, der das Dorf und seine Freunde verläßt, den es nach Paris als Sehnsuchtsort zieht und der, nicht wissend, an welchem Ort seiner langen Reise er sich gerade befindet, in Berlin am Bahnhof Zoo in den Armen einer jungen 18-Jährigen Frau hängenbleibt, die sich in ihn unsterblich-wild und romantisch verliebt.
„Sie stand vor ihm und schaute ihn an. Er wußte nicht, was er tun sollte.
‚Paradies‘, sagte Valentin dann.
‚Paradies?‘, fragte das Mädchen.“
Und sie verlassen den Bahnsteig, halten sich noch immer an den Händen. Valentin und Liv bleiben zusammen, sie zeugen in Berlin eine Tochter namens Leonie. 25 Jahre Rumänien, 25 Jahre Berlin.
Und die Zeit vergeht wie im Fluge, zerrinnt unter den Fingern und zwischen den Händen, und es bleiben am Ende genug ungenutzte Möglichkeiten übrig, um zu bedauern oder um das, was ist, zu akzeptieren.
Die Geschichte von „Das Geräusch des Werdens“ ist als Rahmenhandlung konzipiert. Der aus jenem Dorf stammende, mit 13 Jahren erblindete Marijan, Sohn des Varian I (oder II, je nachdem) als junger Mann nun in Berlin lebend, mit seiner Blindheit zu Beginn seines Aufenthaltes in dieser Stadt zutiefst hadernd, bekommt irgendwann von einem Unbekannten eine Kamera geschenkt. Eine Kamera hält Bilder fest, die es für einen Blinden aber in dieser herkömmlichen materialisierten Daseinsweise nicht gibt, und sie ist Marijans notwendige Lebenserhaltungsmaschine, weil sie ihn im Grunde mit seiner eigenen Blindheit konfrontiert und ihm, dem Blinden, ein Mittel an die Hand gibt und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Aber Marijan will eben nicht bloß Objekte photographieren, ebensowenig möchte er das Sehen und die Blindheit abbilden, sondern Marijan geht es um die Zwischen-Räume, diese besondere Art, Räume nicht mit dem Blick zu erfahren. Eine Art Bilderverbot mittels Bildern: Entracte.
Nun steht Marijan aufgeregt da und eröffnet in einer Berliner Galerie mit dem schönen Namen „Berlin am Meer“ eine Ausstellung mit seinen Photographien. So beginnt der Roman, und von diesem Auftakt her entfaltet sich das Erzählen im Roman mit der Eröffnungsrede des Photographen zu seiner Vernissage, die in jene Welt des Dorfes Mărginime einführt und von dort her in die verschiedenen Figuren und Perspektiven sich verzweigt. Auf das Moment des Aleatorischen im Rahmen der Erzählkonstellation dieses Romans, wie ein Leben zu erzählen sei, wiesen verschiedene Buchkritiken (zu Recht) hin. An Marijan Seite steht während jener Vernissage die hübsche, große Leonie mit dem schönen Schlüsselbein. Jene Frau, die sich in Marijan verliebte, als sie – durch jenen Zufall, der eben doch selten im Leben und im Lieben zuschlägt – kurz vor seinen Körper und dem Anschlagen des Blindenstockes zum Stehen kommt. Sie ging nicht aus dem Weg. Der Geruch von Parfüm. Zwei Körper, der eine sehend, der andere spürend, andere Sinne nutzend. Der Roman schildert diese Situation aus beiden Perspektiven. Kurz, aber doch präzise verfährt der Text, wenn er diese Phase der Annäherung zwischen Leonie und Marijan ins Bild bringt.
Die Figur eines blinden Photographen ist absurd wie manche Konstellation oder Geschichte in diesem Roman. Andererseits ist in den Produktionsweisen der Kunst nichts so absurd, daß es nicht dennoch möglich wäre. Und diese Kamera samt den Bildern, die sie festhält und die – aus gutem Grunde – an keiner Stelle des Romans genauer beschrieben werden: was nun genau darauf zu sehen sei, funktioniert als eine Art blinder Fleck und als strukturierende Leerstelle.
Die zweite Leerstelle des Romans, das Ausgesparte des Textes: das bleibt jene Krisztina, die irgendwann mit 16 Jahren aus dem Dorf verschwand, keiner weiß weshalb, geflohen, ermordet, entführt, was auch immer; die, so munkelt man, der Teufel geholt habe, unter einem weißen Laken hat sie mit ihm gerungen, so berichtet die alte Lehrerin Silvana. Aberglaube. All jene Protagonisten, die das Dorf Mărginime verließen, um in der Fremde etwas anderes zu suchen, kamen irgendwann wieder – und sei es nur kurz, so wie Varian 2. Nur dieses eine Mädchen nicht; es bleibt zurück und verschollen.
Obwohl das Geschehen und die Handlungen des Romans meist relativ kurz nur und perspektivisch angerissen werden, üben diese sich zu einem Roman ausweitenden Skizzen dennoch einen Sog aus, der Leserinnen und Leser mitnimmt. Der einzige Kritikpunkt an diesem im ganzen gelungenen und sehr genau gearbeiteten Text, liegt in der Erzähl- und Denkweise der Figuren, wenn sie ihre Umgebung auf eine teils skurrile oder fast surreale Weise in ihrer Verdrehtheit wahrnehmen. Sätze wie: Ein Tischler ohne geschickte Hände ist ein schlechterer Tischler als ein solcher ohne Hände, aber mit Geschick im Blut lassen schmunzeln, treffen in ihrem metaphorischen Gehalt zwar einen Kern. Aber manchmal ist weniger mehr, wenn dieses Prinzip überhandnimmt.
Diese durch die unterschiedlichen Anlagen eigentlich doch divergenten Perspektiven der Charaktere, ihre unterschiedlichen Bewußtseins- und Reflexionsströme, gleichen sich an einigen Stellen aufgrund dieses Verfahrens der Überspitzung, des Hyperbolischen stark, ohne daß es der Zeichnung des je speziellen Charakters geschuldet ist. Reizvoll mag es sein, wenn Worte, die eine Situation beschreiben, gedreht und in einen Gegensinn gewendet werden. Dinge, Handlungen, Situationen erscheinen plötzlich in einem anderen Licht. Es ändert sich der Blick. Dieses Stilmittel ist erkenntnisfördernd und zeigt neue Perspektiven auf. Aber an einigen Stellen fand ich es übertrieben und es geriet diese Überdrehung der Sprache, das leicht surreal Anmutende zu einem Manierismus, der nicht unbedingt dem literarischen Charakter geschuldet war. Sämtliche Uhren am Bahnhof waren deshalb so hoch angebracht, damit die Menschen die Zeit nicht vorstellen, um das Warten abzukürzen. Solche Stilmittel sind wie in dem Fall der Bahnhofsuhren pointiert, teils witzig, sie sollten jedoch sparsam eingesetzt werden. Wenn Überspitzungen aber zum Pointenfeuerwerk geraten, können sie sich schnell abnutzen und damit substanzlos werden. Aber ich weiß selber wie es ist: wenn einem etwas besonders gut gelingt, möchte man es wiederholen und erliegt der Versuchung.
Doch zugleich bezieht „Das Geräusch des Werdens“ aus diesem sprachlichen Verfahren seine Kraft, und der Roman schreibt einen Realismus, der sich mit Magie paart – insbesondere jene Passagen, die von dem archaisch-traditionellen und doch von der Moderne erfaßten rumänischen Dorf samt den Fluchtbewegungen handeln. Dieses Prinzip der Komposition als eine Art magischen Realismus zu bezeichnen, griffe wohl zu hoch, aber der Roman knüpft doch an diese lateinamerikanische Tradition erzählerischer (Post-)Moderne an.
Es handelt sich beim „Geräusch des Werdens“ durchaus um einen Roman, der von der Philosophie inspiriert ist, aber diese Philosophie wurde darin nicht mit Hoch- oder Niedrigdruck hineingepreßt, daß es scheppert, hallt, bröselt und am Ende doch nur hohl und zumeist bemüht nachklingt, sondern sie entwickelt sich im Geschehen, im Gehalt des Romans, in der Reflexion der Figuren und durch die Anordnung der Elemente des Textes hindurch. Kritik der (festschreibenden) Identität mag dabei ein Stichwort sein. Und mit dem belgischen Literaturtheoretiker Paul de Man könnte man ebenso von „Blindness and Insight“ sprechen.
Trotz seines philosophischen Überbaus ist „Das Geräusch des Werdens“ ein sinnlicher, teils sogar anrührender Text, ohne daß es aber in den Kitsch abgleitet. Märchenhaft, surreal, mit den Blicken, den Weisen von Wahrnehmung spielend, was sich deutlich am Ende des Romans in jener schönen Szene zeigt, als die genial konzipierte Figur des asexuellen, leicht neurotischen, körperübersteigert ängstlichen, unkonventionell lebenden Maddox am Ende der Vernissage zu seiner Freundin Tilli von Dingen spricht, die Marijan in der Rede über seine Herkunft angeblich gesagt haben soll. Hat er es, hat er es nicht? Tilli bestreitet: „Marijan hat kein Wort von seinem Vater oder dessen Zwillingsbruder erzählt. Das bildest Du Dir ein.“ Der Fluß von Rede: Fast wie ein Traum.
Der Schluß des Buches, als Leonie und Marijan den Abend in der Galerie ausklingen lassen, bewegt sich einerseits auf einer Grenze, daß man den Kopf leicht schräg legen möchte. Aber wie es bei großer Literatur so ist: es kippt nicht über, das Sinnliche bleibt sinnlich, das Zarte zart, die Wörter werden genau getroffen und das wirkt an keiner Stelle überstrapaziert, sondern als Moment des Ausdrucks äußerst genau beobachtet. Ganz so wie es bei großer Literatur der Fall ist und womit sich immer wieder zeigt: das Leichte ist zuweilen das am schwersten herzustellende oder mit Hugo von Hofmannsthal gedacht: es ist die schwierigste Kunst, in der Oberflächlichkeit die Tiefe zu verstecken. Es handelt sich um eine anmutige Liebesgeschichte mit einem eigenwilligen Ende, wie sie – wenn wir denn in den identitären Zuschreibungen der Autorenlogik agieren wollen – nur von einer Frau geschrieben werden kann. Aléa Torik ist ein großer Roman geglückt.
Dieser Tage erschien zudem der neues Buch „Aléas Ich“, das ich auf diesem Blog demnächst besprechen möchte.
Gibt es ein Paradies? Müssen wir die Erde einmal umrunden und durchwandern, wie Kleist das in seiner Schrift zum Marionettentheater schrieb, um wieder ins Paradies gelangen zu können? Literatur ist nur im Ausnahmefall jener Ort einer wiederhergestellten Unmittelbarkeit. In der Regel verweigert sie die Identität, die Fixierungen und die Präsenz im So-Sein.