Assoziationen – Grenzen der Gemeinschaft (2)

kafka5jahreDer Journalist Nils Markwardt wies vor einigen Wochen bei Facebook auf einen Text von Franz Kafka hin, der im „Merkur“-Heft Oktober/November 2013 mit dem Thema „Wir? Formen der Gemeinschaft in der liberalen Gesellschaft“ abgedruckt wurde.

Gemeinschaft

„Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht, wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: ‚Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.‘ Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Ellbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder.“

Die Prosa bringt das Prinzip der Gruppenbildung in eine bündige Miniatur. Dieser Mechanismus der Exlusion leuchtet – zunächst – intuitiv ein. Kafkas Parabel ist auf den ersten Blick einfach, sie reduziert das Komplexe auf ein deutliches Bild und führt in dieser Weise den Dezisionismus ad absurdum. Solches Verhalten fängt im Kleinsten an, im Kindergarten nämlich, wenn sich Kids zusammentun und wenn sie andere zugleich ausschließen. Du nicht! Und wird, wie der Erzähler richtig feststellt, zu lange über Gründe diskutiert, käme ein Gespräch fast einer Aufnahme gleich. Willkür dient als Prinzip, um die Identität einer Gruppe auszubilden. Das strikte Nein und niemand begründet.

Genausogut ließe sich diese Parabel aber völlig anders lesen. Daß in eine intakte Gruppe, in einen sinnvollen Zusammenhang etwas Fremdes eindringt. Ein Etwas, das jenes Zusammenspiel sabotiert. Zwar ergab sich diese gelungene Konstellation durch einen Zufall, aber da sie nun einmal besteht und funktioniert, scheint es fahrlässig, solches Gelingen zu stören. Kafka selbst war empfindlich gegen Eindringlinge, was seine Situation in der elterlichen Wohnung betraf. Die Schwestern lärmten, die Eltern rumorten. Man lese in „Die Verwandlung“, wie dort die Zimmer angeordnet sind und gleiche es – sozusagen Binder-positivistisch – mit Kafkas Wohnsituation in Prag ab. Und auch seine späte Erzählung „Der Bau“ findet starke Bilder für den Solipsismus. Ein grabendes Tier, das daran frickelt, sich abzuschotten. Gemeinschaft mit sich, seinen Sinnen und seinem ungeteilten Selbst. Ein untrennbares Konglomerat. Der Mensch ist ein Widerspruch in sich.

Gruppen können, wenn sie länger Bestand haben, Gemeinschaften bilden. So wie jene fünf Gesellen in Kafkas Parabel. Solche Allianz impliziert die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden. Was bildet die vereinende Klammer, das Band, was ein- und ausschließt?

Zunächst kann man festhalten, daß Gemeinschaftsbildungen für komplexe Gesellschaften unabdingbar sind. Entsprechende Theorien dazu sind Legion, sie finden sich bei Hegel in seiner Rechtsphilosophie, in Ferdinand Tönnies Standardwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“, stark beeinflußt durch das „Marxische System, das mitbestimmend auf ihren Inhalt gewirkt hat“, so Tönnies. Wir lesen sie in Max Webers zum Werk gefügten Aufsatzsammlung „Wirtschaft und Gesellschaft“, bis hin zu Luhmann und Habermas legendärer Kontroverse Anfang der 70er Jahre, eine Art Soziologen-Battle. „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“ fragte Habermas im Titel seines Aufsatzes polemisch. Am Ende läuft der unheilvolle Zusammenhang der Immanenz spätbürgerlicher Gesellschaft auf die „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ hinaus. Der gesellschaftliche Kitt bei Habermas verlagert sich, weg von der politischen Ökonomie und einer materialen kritischen Theorie der Gesellschaft, ins rationale Prozedere der Argumentationsfiguren bzw. in eine „Rekonstruktion des historischen Materialismus“. Sabbelkommunismus, wie wir damals witzelten.

Es gibt keine Gesellschaft ohne Gemeinschaften. Der Begriff „alle Menschen“ taugt nur bedingt, nicht einmal im religiösen Kontext funktioniert er. Die Gruppe der Rechtgläubigen schließt alle anderen aus. Insofern ist jede Religion orthodox. Der Mann Moses, der gewaltig vom Berg schreitet: Du sollst keinen anderen Gott neben mir haben. Diese Satzung gilt für alle monotheistischen Religionen. Man müßte schauen, ob solche Gemeinschaftsbildung qua Ausschluß nicht vielmehr eine anthropologische Konstante ist. Laut der Ethnologie kennen Naturvölker nur zwei Gruppen von Fremden: Gäste, die wieder gehen, und Feinde, die geschlachtet werden. Homers Ilias singt das grausame Lied vom Tod Hektors. Dazwischen bleibt nicht viel Platz für anderes.

Johannes Fried schreibt in seiner Biographie zu Karl dem Großen:

„Der Fremde, war er nicht Händler, Gesandter oder Gast, wurde in seinem Fremdsein kaum geachtet, eher als Bedrohung empfunden. Jede Kommunikation mit ihm fiel schwer und mißlang nur allzuhäufig. Es fehlten angemessene Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, um die Anderen in ihrem Anderssein erfassen und würdigen zu können.“

Solche Möglichkeiten der Referenzierung sind entscheidend. Und das prägt bis heute sich ein, auch in einer komplex ausdifferenzierten Gemeinschaft wie dem modernen Staat, der das Individuum und dessen (formal-bürgerliche) Freiheit zum Gegenstand hat.

Ganz anders konzipiert ist jene Phase von Individualität und Gemeinschaft bei Friedrich Hölderlin, wie er sie in „Brot und Wein“ dichtete:

„…immer bestehet ein Maß
Allen gemein, doch jeglichem auch
ist eignes beschieden;

Dahin gehet und kommt jeder,
wohin er es kann.“

Das Gemeinsame wird aufs Eigene zurückgeführt. Mit Heideggers Andenken-Vorlesung zu Hölderlin ließe sich vom „freien Gebrauch des Eigenen“ sprechen, den es zunächst einmal überhaupt zu erlernen gilt.

Jene kleine Kafka-Parabel ist insofern als Auftakt zum Thema gut geeignet, weil sie Basales deutlich macht, aber zugleich in einer eigentümlichen Schwebe verharrt. Zudem ist das Motiv der Gemeinschaft zentral für Kafkas Literatur. Es durchzieht sein Werk in einer vielfachen Bündelung: In den drei großen Romanen „Der Verschollene“ – man denke an das „Naturtheater von Oklahama – in „Der Prozess“, wo ein Einzelner aus der Gemeinschaft entfernt und am Ende wie ein Hund getötet und abgelegt wird. Oder in „Das Schloß“, wo jener anonyme Einzelne namens K ins Dorf und damit in das mysteriöse Wesen Schloß Aufnahme begehrt. Im Naturtheater von Oklahama zeigt sich die Form der Gemeinschaft in einem Plakataufruf:

„‚Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Teater in Oklahama aufgenommen! Das große Teater von Oklahama ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!‘“

Ein Feuerwerk an Ausrufezeichen und es wird ein Leben geboten, wo im Sinne einer gesellschaftlichen Utopie jeder nach seiner Façon und an seinem Platz, seinen Fähigkeiten gemäß, wirken kann; herausgelöst aus der gesellschaftlichen Entfremdung. Fast fühlt man sich beim Lesen dieses Aufrufes an das Diktum des jungen Marx in der „Deutschen Ideologie“ erinnert: eine Gemeinschaft der Freien, wird uns offeriert. Aber nicht bloß in literaturästhetischer Absicht:

„Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, und eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit, aber stets auf der realen Basis der in jedem Familien- und Stamm-Konglomerat vorhandenen Bänder, wie Fleisch und Blut, Sprache, Teilung der Arbeit im größeren Maßstabe und sonstigen Interessen – und besonders, wie wir später entwickeln werden, der durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen, die in jedem derartigen Menschenhaufen sich absondern und von denen eine alle andern beherrscht.“

Eine Passage, die Kafkas Unbehagen an der Moderne ex ante auf den Punkt bringt. Nicht die Seinsvergessenheit bestimmt die Existenz, sondern die Ökonomie und noch genauer: das Konzept von Arbeit. Nach solcher Arbeit suchte Karl Roßmann, als er in Amerika ankam, und gerät in die seltsamsten Tätigkeiten, etwa als Page im „Hotel Occidental“. Abendländischer geht nimmer. Kafkas „Der Verschollene“ exerziert diese unfreie Existenz im „Stahlgehäuse des Kapitalismus“ bis zum Ende durch. Seine Erzählung deutet auf Entfremdung. Und auf eine wundersame Aufhebung in einer obskuren Gemeinschaft, die etwas von der Existenz des fahrenden Volkes hat. (Wir erinnern uns bei Kafka an die Zirkus-Szenen und die merkwürdigen Artisten.) Eschatologie zuckt am Himmel auf. Vor allem, wenn Kafka diese Zugfahrt ins Nirgendwo beschreibt. (Fortsetzung in Teil 3)

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Teil 1 findet sich hier.

Bild 1: Wikipedia, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kafka5jahre.jpg
Bild 2: Franz Kafka‘ by Hans Fronius, qua wikipedia, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AKafka-fronius.jpg

Beim Betrachten der Photographien – ein kurzer Reflex auf Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“

„Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause.“
(Novalis, Heinrich von Ofterdingen)

Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ gestaltet sich bereits auf den ersten Seiten als ein ausnehmend spannendes Schreib-Projekt. Nicht nur, weil es schon zum Beginn von Photographien handelt, sondern dieses Buch ist ein wunderbares, erinnerungstolles Hybridwesen, geschrieben zwischen Theorie und Literatur bzw. autobiographischem Schreiben (als Form von Literatur), zwischen Soziologie und Recherche. Hinab in die Heimat. Wir lesen eine Suche nach der eigenen Herkunft. Eine Reise nach Hause, denn von dorther kommen wir trivialerweise, und das, was war, nehmen wir unweigerlich als Gepäck mit – ob wir es wollen oder nicht. Diese Heimat ist bei Didier Eribon die französische Provinz. Eribon entstammt dem französischen Arbeitermilieu, für einen Akademiker in Frankreich eine eher untypische Herkunft angesichts der Klassenschranken und den Zugängen zur den Grandes écoles. Eribon ist Soziologe und er ist schwul. In der BRD wurde er durch seine Foucault-Biographie bekannt.

Jahrelang war Eribon vom Zuhause, bzw. von dem Ort, der in der Kinderzeit einmal das Zuhause war, abwesend. Nach dem Tod des ungeliebten, ja gehaßten Vaters reist Eribon zwar nicht zu dessen Begräbnis, wohl aber zur Mutter, zurück in die Provinz. Sie reden miteinander, sie kramen Photographien aus einem Schuhkarton, die die Zeit zeigen, als Eribon noch ein Junge war:

„Ich hatte plötzlich wieder – aber war es nicht die ganze Zeit in meinem Kopf und in meinem Leib eingeschrieben gewesen? – dieses Arbeitermilieu vor Augen, dieses Arbeiterelend, das aus den Physiognomien der Häuser im Hintergrund spricht, aus den Inneneinrichtungen, aus den Klamotten, aus den Körpern selbst. Es ist immer wieder bestürzend, wie unmittelbar fotografierte Körper aus der Vergangenheit, viel mehr noch als bewegte oder leibhaftig vor uns stehende, einen sozialen Körper darstellen, den Körper einer Klasse. Und wie sehr die fotografische Erinnerung jeden Einzelnen, indem sie ihn (in diesem Falle mich) an seine Klassenherkunft erinnert, in seiner sozialen Vergangenheit verankert. Das Private und Intime, wie es aus diesen alten Bildern spricht, schreibt uns wieder in unsere ursprüngliche gesellschaftliche Kategorie ein, in Orte der Klassenzugehörigkeit, in eine Topografie, die unsere scheinbar persönlichsten Erfahrungen und Beziehungen innerhalb einer kollektiven Geschichte und Geografie verortet, ganz so, als hinge jede individuelle Genealogie von einer sozialen Archäologie oder Topologie ab, die ein jeder als eine seiner tiefsten Wahrheiten, vielleicht als die bewusste, überhaupt in sich trägt.“ (Didier Eribon, Rückkehr nach Reims)

Wie mit einem Male, wenn wir eine alte Photographie betrachten, uns die abgelebte Phase eines Lebens in den Kopf schießt. Verdrängtes, schamvoll zur Seite Geschobenes. Bilder, die einmal da waren, denn das auf der Photographie sind ja wir oder sind es zumindest einmal gewesen, dieses Wesen da auf dem Photo: das bin ich, das war ich, so kreist es uns beim Anschauen im Kopfe herum. Beim Betrachten alter Photos realisieren wir die Zeit, insbesondere die Zeit, die verging. Bilder, die eindringen und wie Madeleine-Gebäck, das wir in eine Tasse mit Tee tauchen, blitzartig etwas hervortreten lassen: ein Gefühl, eine Regung, einen Reflex, manchmal auch der Schreck und Erschüttern. Diese besondere Bedeutung, die die Photographie fürs Erinnern besitzt, hatte bereits Roland Barthes in „Die helle Kammer“ in einer Art Semiotik und Phänomenologie der Photographie entfaltet. Eribon schreibt die Geschichte einer Herkunft als (biographische) Literatur, die zugleich eine Sozialstudie über Habitus und Milieu ist.

Photographien bannen, sie fesseln – in mehrfachem Wortsinn. Das Private und Individuelle, das was wir als unser einmaliges Eigentum betrachten, unser Selbst, ruht auf einer Ordnung. Photographien zeichnen die Klassen – ob bei Proust die Kreise des Adels und das alte französische Bürgertum oder das französischen Arbeitermilieu bei Eribon. Aber die Authentizität des Augenblicks in der Photographie – gibt es die überhaupt? Können die in einer Photographie festgehaltenen Momente authentisch sein, echt also, mit Aura versehen, ganz entgegen Benjamins Konzept der Photographie? Bilden Photographien wirklich ein So-Sein ab, oder kontaminieren wir sie nicht vielmehr nachträglich mit den Erinnerungen und sie dienen uns als Muster und Ressonanz-Verstärker? Was bleibt, sind die sozialen Bedingungen, die sich durch die Kleidung und die Räumlichkeiten oder die Umgebung ablesen lassen.

Gut, diese Fragen zum „Wesen“ der Photographie will Eribon nicht beantworten. Vielmehr geht es ihm darum, daß sich in der Photographie der soziale Status verdichtet und festgeschrieben hat, geronnen und als Bild fixiert. Daß die gesellschaftliche und die symbolische Ordnung jenes sich ausbildende Ich maßgeblich strukturieren und daß es uns zuweilen dennoch gelingt, gegenüber einer übermächtigen Umwelt Formen des Widerstands auszubilden und anders zu werden. Oder mit Nietzsches Schrift „Ecce homo“ gesagt: wie man wird, was man ist. Aber in dieser Sozialübung steckt mir wiederum zu viel Ontologie. Mehr noch kann man es bei der Selbstwerdung mit jenem Diktum des – manchmal freilich seichten – Ernst Bloch aus seiner „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ halten: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Vielleicht müßte man Bloch ein Stück weit wiederentdecken – als poetische, fabulierende Form der Philosophie und gegen deren restaurative Tendenzen. Denn das immerhin können Leser und Denker von Bloch lernen: Philosophie ist mehr als nur eine akademische Übung in Logik. Sie geht aufs Ganze, sie geht aufs Leben. So vom Hölzchen aufs Stöckchen, von Eribon zu Bloch. Und immerhin finden sich in dieser blochschen „Einleitung“ ein paar Zeilen weiter Passagen, die unbedingt mit Didier Eribons anregendem Buch korrespondieren, auch wenn beide aus ganz anderen Traditionen des Denkens kommen. Denken ist immer eine Weise der Entäußerung, ein Ritt hinaus, große Fahrt, manchmal mit Schiffbruch und Zuschauern. [Hinter Hegel führt kein Weg zurück, Baby, so könnte mein neuer Diskurspopsong gehen.]

„Vom puren Innen ist kein einziges Wortbild gekommen, das uns übers innerste sprachlose Ansich hinaus sprechen läßt und eben äußert. (…) So merkt sich alles Innen erst über das Außen; gewiß nicht, um sich dadurch zu veräußerlichen, wohl aber, um sich überhaupt zu äußern.“ (Ernst Bloch,  Tübinger Einleitung in die Philosophie)

In den Kältekammern der Moderne – Max Weber zum 150. Geburtstag

Von der Geburtsstunde der Soziologie läßt sich in bezug auf Max Webers Schriften sicherlich nicht sprechen, trotzdem er der Soziologie eine ganz andere Richtung verpaßte als bisher. Und Weber ist im Sinne all der faktenfummelnden Bindestrichsoziologien, die es heute gibt und die sich bis zur Bedeutungslosigkeit in der quantitativen Sammelwut verstrickten, ebenso wenig ihr Ahnherr – wenngleich Weber in seiner vergleichenden Methode durchaus auch auf der Ebene der Fakten, im Gebiet des Empirischen verschiedene Kulturen in den Blick nahm, um die Gesellschaft der Gegenwart, unsere Moderne des 20. Jahrhunderts in eine Analyse zu bringen. Denn nur vor dem Hintergrund des Fremden tritt die Form der eigenen Gesellschaft sowie deren Ausprägung wesentlich hervor. Fakten und soziale Tatsachen, Handeln, Regeln, Rituale, Beziehungen oder Umstände zu sammeln und in eine Ordnung zu bringen, ist die Aufgabe der Soziologie. Es bleibt allerdings die Frage, ob dieses Geschäft in einer banal-positivistischen Variante der bloßen Verdoppelung oder aber in weiterführender Perspektive betrieben wird.

Max Weber gab jener Wissenschaft mit seinen zahlreichen Aufsätzen eine andere Wendung. Die gesammelten Fakten verdichtete Weber zu den verschiedenen Idealtypen sozialer Ordnung. Bei dieser Idealtypisierung handelt es sich um einen Beherrschungs- und zugleich um einen Verfremdungseffekt des Gesellschaftlichen. Im Idealtypus erscheint die bestehende Ordnung in einem anderen Gewand, transformiert sich. (Nicht immer zum besten, allerdings, wenn dieses Verfahren in unidirektionaler Weise verübt wird.) Materie wird zugänglich gemacht und gerät aufgrund ihrer Transformation in eine Art von Reinheit und dadurch dennoch in eine andere Konstellation: „Je schärfer und eindeutiger konstruiert die Idealtypen sind; je weltfremder sie also, in diesem Sinne sind, desto besser leisten sie ihren Dienst, terminologisch und klassifikatorisch sowohl wie heuristisch.“ (M. Weber, Soziologische Grundbegriffe)

Insbesondere das Moment des Heuristischen scheint mir dabei für eine qualitativ ausgerichtete Sozialforschung von Bedeutung. Das Starre und Schematische der Weberschen Methode ist freilich ihr großer Mangel. Am Modell des Idealtypus läßt sich dennoch eine Analyse gewinnen, die darüber hinausgeht, das, was sowieso schon ist, als das, was ist, genau so festzuhalten wie es ist. Linke Politik, Gesellschaftskritik von links bedarf der Analyse und der Theorie, ansonsten bleibt sie blinde Praxis oder ganz einfach leeres Gestammel oder bloße Bestandsaufnahme dessen, was sowieso der Fall ist. Die meisten scheuen leider die Theorie wie der Hoeneß die Steuerbehörden. Und insofern bleibt ihre Praxis wirkungslos, im reinen Aktionismus oder im pseudolinken Jammersound hängen.

Handeln innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, als Rationalität, der zugleich das Maß des Irrationalen dieser Gesellschaft innewohnt, ist objektiv verstehbar, und es lassen sich die Motive dieses Handelns aufzeigen. Dies ist die Aufgabe einer (qualitativen) Sozialforschung, die sich von der Philosophie als kritischer und den Einzeldisziplinen eben nicht abkoppelt. Und in diesem Sinne ist solche qualitative Sozialforschung – auf eine vermittelnde Weise freilich – ebenso eingreifend konzipiert. Solche Kritik allerdings ist mit dem bloßen Text Max Webers, selbst wenn man ihn nicht in schlechter Hermeneutik so nimmt wie er ist, nicht mehr zu haben. Seine Ordnung ist die bürgerliche des 19. Jahrhunderts – so wie sie ist, in ihrer liberalen Variante. (Liberal war damals übrigens noch kein Schimpfwort. Zu einem solchen haben es die marktliberalen Strömungen des 20. Jhds vom Nationalökononomie-Darwinisten Friedrich August von Hayek bis Friedman und weiter erst gemacht – beide Laufburschen und Büttel des Geldes, nein: des Kapitals. Ökonomie als Ideologie.)

Über die idealtypische Konstruktion gelingt es Weber, eine Kette von soziologischen Grundbegriffen aufzuziehen: Vom Sinnbegriff über den des sozialen Handelns bis hin zu den Begriffen von Ordnung sowie den verschiedenen Herrschaftstypen. Worin Webers Ansatz schult: sich einem Forschungsfeld in einer bestimmten begrifflichen und strukturierenden Ordnung zu nähern. Das kann man allerdings – nebenbei geschrieben – noch viel besser bei Marx in seinem „Kapital“ lernen: wie der Funktionszusammenhang einer Gesellschaft bis ins Innerste aufgebaut ist, und zwar – anders als bei Weber – anhand der dialektischen Begriffsentwicklung, immanent aus der Sache heraus, anstatt daß vom abstrakten Ordnungsschemata her gesichtet wird. Webers „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ liefert eine verkürzte Variante, wie Kapitalismus zu analysieren ist und was seine Prinzipien sind, auf denen er gründet, gleichsam eine Fußnote zum Text von Marx

Interessant am Webers Schriften mag zudem erscheinen, daß es zwar eine Flut von Texten gibt, jedoch nichts, was man im klassischen Sinne als sein Hauptwerk bezeichnen kann. Der fulminante Band „Wirtschaft und Gesellschaft“ besteht aus verschiedenen gesammelten Aufsätzen. Weber schrieb besessen Aufsätze – ein Werk im Fragment.

Tragender Aspekt in Webers Werk und Wirken ist seine Auseinandersetzung mit der okzidentalen Moderne: dem „Stahlgehäuse des Kapitalismus“, der „Entzauberung der Welt“ sowie die westliche moderne Rationalität, die auf eine solche der Zwecke hinausläuft und auf der die kapitalistische Gesellschaft fußt. Weshalb konnte gerade diese Form von Gesellschaft alle übrigen Formationen und Varianten überwuchern und bezwingen? In diesem Sinne scheint mir Max Webers Reise in die USA im Jahre 1904 bedeutsam – jenes Land, das die Moderne in nuce verkörpert und das 20. Jahrhundert wie kein anderes in seiner technischen, politischen, industriellen und kulturellen Entwicklung bestimmen sollte. Jenes Land, in dem der Kapitalismus für das 20. Jahrhundert in seiner härtesten und brutalsten Ausprägung angelegt ist. Ausführlich schildert Lawrence A. Scaff in seinem Buch „Max Weber in Amerika“ die Reise von Max und Marianne Weber durch die USA. (Eine Besprechung gibt es hier in der FAZ.)

Ein ungeheuer instruktives Buch, so zum Beispiel wenn die Webers die Schlachthöfe Chicagos besuchen, das Phantasmagorische der Stadt, seiner Bevölkerung und insbesondere die Massen der Arbeiter wahrnehmen. (Unvorstellbar immer noch, wie diese Masse der Arbeiter auf Dauer ruhig gestellt wurde, ohne das Haus samt Fundament in Stücke zu hauen und sich nicht nur den Kuchen, sondern sogleich die gesamte verdammte Bäckerei zu nehmen. Insofern ist es im Sinne Michel Foucaults durchaus angebracht, ebenso einen soziologischen Blick auf die Mechanismen der Macht zu werfen, die das Handeln noch bis ins Denken und in die Regungen der Körper hinein besetzen.)

Weiter geht die Reise der Webers nach St. Lous zum „Congress of Arts and Sciences“ am 19. September 1904, dabei fällt Webers Blick ebenso auf den Rassismus der USA, als er deren Süden bereist. Im 2 Teil widmet sich das Buch dann der Weber-Rezeption in den USA. Es ist als Überblick also unbedingt zu empfehlen – zumal es, was für viele ein Lese-Kriterium abgibt, sehr lebendig erzählt ist.

Max Weber ist einer der Theoretiker der Moderne, der ihre Ausprägungen von Rationalität, Herrschaft und Handlung in den Blick nahm und der die Komplexität derselben eben nicht in jener holistischen Theorie zu fassen vermochte, sondern in Ansätzen und Aufsätzen fragmentarisch umkreiste: eine Moderne, die mit dem Ersten Weltkrieg die Ordnung der Welt massiv änderte, mikrologisch bis ins Detail hinein umpolte. Eine Moderne, die unter dem Titel des Kapitalismus unsere Lebens- und Systemwelten noch heute bestimmt. Max Weber erlebte diese Wucherungen – bis hinein in den Stalinismus und Auschwitz als Zivilisationsbruch sowie der Bedrohung durch die Atombombe – nicht mehr. Er verstarb 1920 an der Spanischen Grippe. Seine Texte, insbesondere die in „Wirtschaft und Gesellschaft“ entfalten Sichtungen und Aspekte, geben deskriptiv darüber Aufschluß, wie es in der Kältekammer der Moderne zugeht, sie kreisen darum, wie sich jenes Stahlgehäuse konstituierte und auf welche Weise seine Begrifflichkeiten in der Praxis wirken.

[Im Zusammenhang mit jener Pandemie, die als Spanische Grippe zwischen den Jahren 1918 und 1920 weltweit rund 50 Millionen Todesopfern forderte, sei auf eine Darstellung von Wilfried Witte verwiesen: „Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe“. Ein Buch, in dem Soziologie, Sozial- und Medizin- und Kulturgeschichte sowie Politik sich durchdringen und das eine ungewöhnliche Sicht auf diese Pandemie liefert.]

Liebe als Passion. Liebe als eine Art von Übung

Es läßt sich, was ich Anfang der Woche zum Lesen schrieb, ebenfalls auf den Begriff der Liebe übertragen. Es ist das Lesen von Literatur wie auch die Romanform an gesellschaftliche Bedingungen gebunden. Und ebenso knüpft Liebe sich an solche Konditionierungen. Gefühle und Intimität sind codiert. Und wer den Code kennt, der weiß zwar nicht die Lösung oder wie es geht, und genauso wenig ist diese Kenntnis eine Garantie dafür, am Geheimnis teilzuhaben. Aber die Beobachter zweiter Ordnung sehen zumindest das, was die Beteiligten selber nicht sehen können (oder wollen), weil sie zu nahe dran sind

Niemand liebt bedingungslos, was nichts weiter bedeutet als: ohne Bedingungen. Dennoch empfinden wir dieses Sich-Verlieben wie einen Tunguska-Impaktor – dieser eine Mensch, an diesem einen Ort, während dieses einen Moments. Jenes Dies-da, das als Augenblick und in seiner Einmaligkeit wirkt und funktioniert und das dennoch sehr unterschiedlich sich ausbildet: Liebe in der Zeit der Antike liebt anders als zu Zeiten der Aufklärung oder im 21. Jahrhundert. Anders als die Liebe zu den Menschen im Kreuzestod: dort, wo sich das Opfer innerhalb der Religion, als letztes Opfer dargebracht, selbst abschafft. Liebe als die Passion Christi verdichtet sich hier als ein religiöser Text, transportiert sich in Text und mündlicher Wiedergabe, die dann fixiert wird, und Liebe als Leidenschaft vermittelt sich medial:

„In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird. Schon im 17. Jahrhundert ist, (…), bei aller Betonung der Liebe als Passion völlig bewußt, daß es um ein Verhaltensmodell geht, das gespielt werden kann, das einem vor Augen steht, bevor man sich einschifft, um Liebe zu suchen; das also als Orientierung und als Wissen um die Tragweite verfügbar ist, bevor man den Partner findet, und das auch das Fehlen eines Partners spürbar macht, ja zum Schicksal werden läßt.“
(Niklas Luhmann, Liebe als Passion)

Um sich nach Kythera einzuschiffen, muß man den Fahrplan ebenso wie die Bekleidungs- und Schicklichkeitsregeln kennen. Es gibt keine Unmittelbarkeit. Das was als das Unmittelbarste und Direkteste am Individuum gesetzt wird, das Gefühl, auch und zuweilen genannt: das Bauchgefühl oder die Intuition, ist dasjenige, was zutiefst vermittelt, durchdrungen und konditioniert ist.

Weshalb um alles in der Welt glauben Menschen beständig an die Macht der Gefühle und der unmittelbaren Regungen, verteidigen die Annahme, diese Zugangsweise zum anderen sei eine direkte und unverstellte, mit Händen, Klauen und Zähnen? Was wirkt da? In seinem kleinen Büchlein „Liebe. Eine Übung“, das 1969 entstand, zeigt Luhmann unter dem Blickwinkel einer funktionalisierten Soziologie sowie einer sich ausbildenden Systemtheorie, wie sich der Liebesbegriff, wie sich die Semantik der Liebe, wie sich Liebe als Kommunikationsmedium im geschichtlichen Prozeß entfaltet u nd wandelt und wie dieser Wandel zu deuten sei. Obwohl Liebe ein sozialer Tatbestand mit weitreichender Bedeutung ist, sei‘s im Leben, sei‘s in der Literatur, zog das Phänomen Liebe kaum die soziologische Forschung auf sich, so Luhmann. Was fehlt, ist eine anspruchsvolle theoretische Behandlung dieses Themas. 13 Jahre später, im Jahre 1982, lieferte Luhmann dann dieser Bestimmung: es erschien jenes hochkomplexe, grandiose Werk „Liebe als Passion. Zur Codierung der Intimität“, das in seiner Abstraktion und in seiner Gelehrsamkeit – Luhmann war ein Freund der großen Zettelkastensammlung – weit ausholt.

Dieses Büchlein „Liebe. Eine Übung“ nun kommt mit weit weniger aus. Es liest sich auch für die, welche nicht unbedingt mit allen Wassern systemtheoretischer Soziologie gewaschen sind, gut. [Um mal wieder ein Zugeständnis an die Lesbarkeit zu machen. Wenngleich mir Bücher lieber sind, die nicht ganz einfach und direkt zugänglich sind.]

Lange war dieses Manuskript zu diesem Buch in Luhmanns Nachlaß verschollen, es verschwand im Konvolut seiner Notizen. Erst im Jahre 2008 fand man dieses Manuskript und publizierte es sofort.

Wer sowohl einen kleinen Einblick in die Welt der Systemtheorie (und das heißt hier: in Luhmanns Textwelt) geboten bekommen möchte, wer etwas über Liebe im Feld der Soziologie wissen möchte, der lese dieses Buch. Es ist ein Gewinn, wenngleich man dieses Buch zugleich gegen den Strich lesen muß, um die teils gesellschaftsaffirmativen Passagen in eine angemessene andere Lesart zu bringen. Jedoch birgt dieses kleine Buch auf der Ebene der Beschreibung – im Sinne eines Foucaultschen „fröhlichen Positivismus“ – reichlich Potential für Überlegungen und Andockpunkte. Was wollen Leserin und Leser, die begierig auf die Tücken und Freunde der Liebe sind, mehr? Zuweilen soll und kann ein solches Buch sogar den Bewohnerinnen von Zauberbergen Erkenntnisse verschaffen, derer sie ansonsten nicht teilhaft werden. Ausgenommen natürlich, sie haben eine hochkomplex-klugen Geistes- und Denkpartner an ihrer Seite. Was selten vorkommt. Geist und Körper als Passion.

Niklas Luhmann, Liebe. Eine Übung, erschienen im Suhrkamp Verlag

Nine-Eleven – Bilder des Terrors, „Krieg gegen den Terror“, Gegenterror. Bilder und Biopolitik (1)

„Mach mal den Fernseher an!“

Es weiß fast jede oder jeder, was sie an jenem Tag getan und gemacht haben. Zumindest ab dem Moment, seit der Minute, wo die Betrachter erfuhren oder vielmehr: ersahen, daß da Flugzeuge in das World Trade Center rammten, als die beiden Türme einstürzten und diese Bilder in endlosen Wiederholungsschleifen um die Welt liefen. Dazwischen die Bilder von Rennenden, aus den Fenstern springenden, herabstürzenden Menschen, Menschen im arabischen Raum, die jubelten, Menschen mit fassungslosen Gesichtern, der ausdruckslose Blick George W. Bushs, aber auch jene Photographie von Thomas Höpker, die um einiges später erschien, auf der man ruhig und gelassen plaudernde Menschen sieht, während auf der anderen Seite des Flusses Manhattan in Rauch gehüllt ist. Bilder zu 9/11 von der Photoagentur Magnum gibt es hier.

Ich selber bekam dieses schnitthafte Ereignis relativ spät mit: erst um 16 Uhr 45 MEZ, als ich das Geschäft meines Tabakhändlers/Zeitungsverkäufers betrat und der mir, als ich so unbeteiligt und sachlich-kalt, wie es meine Art ist, Zigaretten orderte, aufgeregt erzählte, daß die USA mit Flugzeugen angegriffen wurden. Ich fragte ihn halb witzelnd, ob Kuba oder Putin-Rußland den USA nun den Krieg erklärt haben, doch der Händler hatte keinen Sinn für dergleichen und sagte: Nein, die USA wurde mit Passagierflugzeugen attackiert. Ich wußte nicht genau, was er damit meinte, sagte „Aha!“ und ging des Weges nach Hause in meinen gemütlichen bürgerlichen Altbau. Sein Gerede erschien mir wirr und undeutlich. Bereits vordem und zuweilen äußerte der Händler sich eigenwillig. In jenem Refugium angekommen, schaltete ich – entgegen meiner Gewohnheit – bereits am späten Nachmittag den Fernseher an. Dann habe ich gesehen, was der Zigarettenhändler meinte und zündete mir eine seiner Zigaretten, die nun die meinen waren, an, griff zum Telephon.

Worauf ich hinaus will: Gesehen. Fast alle saßen oder standen vor den Fernsehgeräten. Deutschlandradio oder andere Radiosender hörte kaum einer. Es war nicht nur eine Macht, sondern auch ein Reiz der Bilder, welcher verschiedene Modi der Rezeption aktivierte, was sich am sinnfälligsten womöglich in dem umstrittenen Ausspruch des Komponisten Stockhausen manifestierte: „Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat …“ (zitiert nach Wikipedia). Im richtigen Zusammenhang besitzt dieser Satz, bei allem Zynismus und Pseudoästhetizismus, der auch darin stecken mag, seine Wahrheit.

Man kann sich den allseits bekannten Bildern von 9/11 und denen, welche dem Umkreis von 9/11 entstammen, auf vielfältige Weise nähern, so wie diese Bilder auf die vielfältigste Weise Reaktionen hervorriefen und immer noch hervorrufen: Von Abscheu, der gepaart war mit einer Faszination – denn warum sonst gäbe es dieses Bild der zwei Türme, in die Flugzeuge einbrechen und die dann einstürzen, die aufsteigenden, sich über New York legende Staubwolke, in dieser unendlichen Schleife der Wiederholung bis hin zur extremen Zeitlupe, wie da das Flugzeug, langsam und langsam, Sequenz für Sequenz in den ersten Turm steuert, wie innerhalb der Sekunden ein Feuerball durch die Fenster sich frist, schleichend, in Bildpunkten, die rot herausspringen? Und weshalb schalteten nur wenige die Apparate nach der dritten Wiederholung aus? Der Hinweis auf Kants Erhabenes scheint mir bei diesen Bildern des Einschlags nicht ganz verfehlt zu sein. Die Zeitlupe des Vorlaufes bannt den Moment, als wollte sie ungeschehen machen. An dieses „Urbild“, das ein Doppelbild war, dockten zahlreiche weiter Bilder an. Von den Kampfbildern aus Afghanistan, dem schnellen Sieg über die Taliban, über das Bild der gestürzten Statue von Saddam Husseins, über jene „Mission Accomplished“, der gehängte Saddam Hussein und den Photographien und Fernsehbildern aus dem US-Folterlager Guantanamo, bis hin zu den Bildern aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis, die ikonographisch noch einmal einen gesonderten Status einnehmen, über den zu sprechen sein wird. Eine Photographie jedoch, die in diesen Kreis der Bilder unbedingt hineingehörte und in der klassischen Erzählweise und wie in fast jedem konventionellen Film eigentlich den Abschluß, die Klimax böte, fehlt, ist abwesend: die Photographie des getöteten, erschossenen, gerichteten, hingerichteten (wie immer man es nennen mag) Osama Bin Laden. Überbordende Strukturen lassen sich gut in Bildern handhaben und eingrenzen. Hier aber bleibt eine Leerstelle, eine Kluft.

Das „Urbild“ dieses Geschehens an 9/11, diese Ikone des 21. Jahrhunderts, war ein Doppelbild in mehrfachem Sinne: es waren zwei Türme, es rasten in diese Türme zwei Flugzeuge, wir haben es (mindestens) zweimal gesehen: diesen Einschlag, den Tod von Tausenden. Sicherlich handelt es sich auf dieser Ebene des Faktischen um kein Kunstwerk. Aber die gesamte Choreographie, das Geschehen trägt Züge, die einen Blick erfordern, der Ästhetik, Philosophie samt der Phänomenologie, Soziologie und Psychologie sowie die Politik zusammenschließt.

Ich schreibe keinen explizit politischen oder moralisch-ethischen Diskurs über die Folgen, die Implikationen, die Wahrheit des 11. September, die Unschärfen, die Fragen, welche bleiben. Allenfalls werden diese Aspekte implizit mitschwingen. Vielmehr ist dieser Text eine ästhetische Annäherung, einerseits, und es ist eine Art von philosophischer (Buch)-Kritik, andererseits. Es läuft – gleichsam als Film – das Ende August auf Deutsch erschienene Buch „Das Klonen des Terrors. Der Krieg der Bilder seit 9/11“ des US-amerikanischen Kunsthistorikers William John Thomas Mitchell in diesem Beitrag mit. Es wird sicherlich Leserinnen und Leser geben, die diese Sicht mitleidlos oder apolitisch, gar antipolitisch nennen. Mag sein. Theorie denkt aber nicht dessen, was ist und nicht sein sollte, ein, indem sie Bekenntnisse und Losungen an die Wand sprüht, sondern indem sie denkt und in diesem Denken analysiert. Wir sehen, und es ist die Frage, was wir sehen und wie wir sehen.

Diesen Bildern vom 11. September sowie den Folgebildern, die daran anknüpfen (etwa die von Abu Ghraib, welche ich für ebenso gewichtig halte) sich zu nähern, funktioniert nur bedingt über die Systeme der Psychologie, der Politik, der Sozialwissenschaften. Wesentlicher trägt hier die Bildwissenschaft ihren Teil dazu bei – jene Wissenschaft, die sich zusammensetzt aus der Kunsttheorie, Kunstgeschichte, aus Medienwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Psychologie, Philosophie. Ursprünglich sich aus der Ikonographie und der Ikonologie Aby Warburgs und Erwin Panofskys entwickelnd, befaßt sie sich mit allen Arten von Bildern (selbst den banalen) sowie ihren kulturellen Codierungen und Interpretationsmustern. Für Deutschland seien in der Forschung stellvertretend die Namen der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, Hans Belting (Bildanthropologie) sowie Gottfried Boehm genannt, welcher die Wendung des Iconic Turns prägte; für Frankreich lese man Georges Didi-Huberman.

Hintergrund für eine solche Bildwissenschaft ist zudem jene, für meinen Geschmack etwas unglückliche Wendung vom Pictorial Turn, die Mitchell prägte. Es orientiert sich dieser Begriff an jenem Buch „Linguistic Turn“, welches Richard Rorty 1967 herausgab – eine Wendung, die als Terminus technicus einschlug. Philosophisch gesehen ist jene Rede vom Pictorial Turn sicherlich ein wenig zu hoch gehängt, aber als Teilaspekt innerhalb einer philosophisch-ästhetischen Betrachtung besitzt er einiges Recht. Man sollte ihn freilich nicht verabsolutieren.Und dazu neigt sich solches Vorgehen leider häufig: aus dem Körnchen Wahrheit wird eine große Blase gefertigt.

Als wesentliche Momente des pictorial turns werden von Mitchell die Erfindung der Zentralperspektive und die der Photographie genommen. Bilder gab es vor Erfindung der Photographie nur als gemalte, gezeichnete oder radierte. Mit dem Übergang vom analogen zum digitalen Bild in den 90er Jahren setzte noch einmal eine gesteigerte Stufe ein. Mit diesem pictorial turn gehen dann Felder wie visual culture und visual studies einher. Richtig ist, daß das Bild in der Moderne des 20. Jahrhunderts einen ganz anderen Stellenwert erhalten hat als vordem. Dazu trug im wesentlichen die Verbreitung von Photographien (seit dem 19. Jhd.) und das Fernsehen als Fortschreibungsmedium des Kinos bei, welches als neue Qualität einen Wandel ums Ganze einbrachte. Die Bilder werden auf eine Weise lebendig und erhalten – metaphorisch gesprochen – ein eigenes Leben und erlangen damit eine besondere Macht, die es in den Blick zu nehmen gilt. Innerhalb der Spätmoderne eröffnete sich noch einmal ein qualitativer Sprung ums ganze. Bilder jeder Art (und überhaupt Nachrichten) verbreiten sich mittlerweile mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit durch die Welt, gelangen über die Datenleitungen in Sekundenschnelle von A nach B.

Daß es hinter diesen Bildern kein gesellschaftliches Leben mehr gibt und diese Welt des sogenannten Realen (hier nicht im Lacanschen Sinne genommen, denn da bedeutet es das Gegenteil) eine Simulation ist, so daß Reales als Weise des Seins nicht mehr existiert, so weit ginge Mitchell sicherlich nicht. Aber das, was sich gesellschaftliches Sein nennt, ist geprägt durch einen Kanon von Bildern und Metaphern und wird genau dadurch überformt und in der Interpretation strukturiert. Es existiert kein unverstellter Zugang, immer ist, um es in anderen Worten zu formulieren, die Ideologie abzutragen.

Diese Durchdringung und diese Ubiquität von Bildern motiviert eine neue Form von Wissen und damit Wissenschaft, die diese Aspekte in einem Kontext sistiert. Diese Arbeit leistet die Bildwissenschaft. Wir können, wie Mitchell in seinem Buch „Das Leben der Bilder“ schreibt, diese Bilder nicht hinter uns lassen, um dann eine authentische Beziehung zum Sein, zum Realen, zur Welt zu entwickeln (Das Leben der Bilder, S. 12). Insofern geht es darum, solche Bilder und Metaphern in die Reflexion zu nehmen.

Wenn man diese Türme des World Trade Center als Urbild und als Ikone begreift – Ikone etwa der Wirtschaftsmacht – so stellt der Angriff auf die Twin Towers einen klassischen Akt des Bildersturmes dar, wie wir ihn aus dem Byzantinischen Bilderstreit oder vom reformatorische Bildersturm her kennen. Damit einher geht ebenfalls das Bilderverbot („Du sollst Dir kein Bildnis machen …“) der drei monotheistischen Religionen, die Europa prägten und prägen. Wie die Taliban die Buddha-Statuen von Bamiyan im März 2001 medienwirksam – also unter dem Einsatz von Bildern – zerstören, da es sich für sie um bloßes Götzenwerk handelte, so waren auch das World Trade Center, das Pentagon und eines der Regierungsgebäude in Washington Götzen: verbotene Bilder, um die herumgetanzt wurde, wie ums goldene Kalb. Wer auch immer diese Inszenierung, den Krieg der Bilder, den Bildersturm und die Dramaturgie startete, die Regie führte, er führte sie gut und erzeugte mit der Zerstörung des Götzen eine bedeutsame Gegenikone, die allerdings, und dies ist ihr interessanter Status, in beide Richtungen hin brauchbar zu machen ist, in zwei Richtungen funktioniert. Der Einschlag und der Einsturz lösten ja beides aus: Entsetzen und Jubel zugleich. Der Sinn dieser Taten liegt in der Produktion von Worten und Bildern, in der Erzeugung von symbolischen Formen der Gewalt und weniger in der unmittelbar physischen Gewalt. (Mitchell, Das Klonen und der Terror, S. 101. Seitenangaben im laufenden Text, die nicht anders gekennzeichnet sind, beziehen sich auf dieses Buch.)

„Strategische Formen von Gewalt wie Krieg oder Polizeiaktionen spielen in ihrem Repertoire keine herausragende Rolle. Die wichtigste Waffe des Terrors ist das gewalttätige Spektakel, das Bild der Zerstörung oder die Zerstörung eines Bildes oder beides, wie beim eindrucksvollsten Spektakel dieser Art, der Zerstörung des World Trade Center, bei der die Vernichtung einer weltweit erkennbaren Ikone ganz bewußt ihrerseits als Ikone eigener Art inszeniert wurde. Die mit dem Bild vernichteten Menschen sind Kollateralschäden.“ (S. 101 f.)

Diese Sätze mögen zunächst zynisch klingen, es erweist sich dies aber als die Quintessenz dieser Anschläge. Die Flugzeuge wurden nicht in irgendein Gebäude einer beliebigen US-Amerikanischen oder europäischen Stadt gelenkt, um möglichst viele Menschen zu töten, sondern zielten auf die drei zentralen Systeme der USA (und damit des westlich-kapitalistischen Systems) ab: Wirtschaft, Militär, Politik. Die Dramaturgie, der Ablauf war perfekt organisiert. Erst der Flug in das eine Gebäude, in der Gewißheit, daß sämtliche Kameras der Fernsehstationen nun auf die Twin Towers gerichtet sind, um nach diesem werbenden ersten Akt, den zweiten einzuleiten: nun unter den Augen der ganzen Welt. Bevor ich im zweiten Teil zum Buch von Mitchell selbst komme und in die Details einsteige, einige subjektive Wendungen:

Meine persönliche Mutmaßung zu 9/11: Es wurde innerhalb der Regierung der USA gewußt, daß sich etwas ereignen wird, ob man auch genau wußte, was sich exakt ereignen würde, ist schwierig zu beurteilen. Das Grundrauschen vor den Anschlägen in den digitalen Netzen nahm merkliche Ausmaße an und war deutlich zu vernehmen, wenn man es wollte. Geheimdienste (auch in der BRD, dort u.a. die Landesämter für Verfassungsschutz) tickten auf Hochtouren. Es wurde in den USA abgewartet, um zu sehen, was sich ereignen wird. Einige Monate nach der „Wahl“ Bushs dachte ich: merkwürdig ruhig geht es in den USA zu. Sollte ich mich in diesem Mann getäuscht haben? Die Ruhe trog. Man ließ diese Aktion sehenden Auges zu, um reagieren zu können – die Pläne für den Nahen und Mittleren Osten lagen bereits in den Schubladen. Von den Neocons gut ausgearbeitet, denn die wußten schon vorher, wer die Wahl 1999 gewinnen wird. Das, was sich an 9/11 ereignete, hätte für diese Planer besser nicht sich abspielen können. Vor den Augen aller Welt. Bilder besaßen immer schon eine ungeheure Macht, und es gibt diese Urangst, daß ein Bild lebendig wird. Die Zwillingskonstellation des Dorian Grey ist bekannt, auch die Figur des Golem. An 9/11 haben die Bilder sich verselbständigten, gerieten zum Leben, und es wurden alle Register gezogen, die man in das Lexikon der Politischen Ikonographie eintragen kann.

Bilder dienen der psychologischen Kriegsführung, „um das kollektive Nervensystem über die Massenmedien zu traumatisieren und die Phantasie gegen sich selbst zu wenden.“ (S. 120). Terrorwarnungen werden hoch und wieder heruntergefahren. Der Mann, welcher neben einem in der Metro sitzt, ist prinzipiell verdächtig, wenn er dieses Quäntchen des Anderen an sich trägt. Bilder erzeugen die Urängste, greifen in die symbolische Ordnung ein, und es verhält sich dabei wie in jener Radierung aus Goyas „Caprichos“: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Aber Bilder können, wie Goya es zeigt, genauso die Gegenkraft abgeben.

Diese Dramaturgie an 9/11 übertraf alles, was die Macher je sich hätten erträumen können.

Was bleibt, ist der Opfer in diesem unerklärten Krieg, der im klassischen Sinne der Politikwissenschaften keiner ist, einzugedenken: sei es in den USA, in Afghanistan, im Irak, in Pakistan. An zahlreichen Orten. Aber es reicht der Gedenkkitsch nicht hin. Bilder strukturieren das Denken und erzeugen Formen von Gewissen. Diese Mechanismen der Erzeugung nimmt die Philosophie in die Kritik.

Am 11. September 1973 wurde der demokratisch gewählte Präsident Salvador Allende durch die Armeejunta unter Führung des Generals August Pinochet aus dem Amt geputscht, unter anderem mithilfe der USA, maßgeblich durch die CIA und den Kriegsverbrecher Henry Kissinger. Wenig später zogen in das Land die Chicago Boys um Milton Friedman herum ins Land ein, damit Chile nach ihren theoretischen Bedürfnissen gestaltet werde. It‘s not a trick. It‘s capitalism. Als das „Wunder von Chile“ bezeichnete Friedman diese (neo-)liberal strukturierte Tötung von Menschen, welche freilich als Wohlstandsmehrung sich gut verkaufen ließ.

In der Nähe des World Trade Centers, das heute als Ground Zero existiert, was auf der Ebene der Metaphern ein beeindruckendes Bild auch in bezug auf den Kapitalismus liefert, „befand sich im 18. Jahrhundert einer der ersten Friedhöfe für Afro-Amerikaner. Durch Zufall stießen Bauarbeiter hier 1991 auf Skelette, doch die Bauverwaltung wollte weiter bauen. Schließlich wurde nur ein Bruchteil des Friedhofs ausgegraben und eine Gedenkstätte errichtet. Der Rest sind Regierungsgebäude, erbaut auf Sklaven-Gräbern.“ So berichtet der Schriftsteller Teju Coles in der Sendung vom 8.9.11 bei „Kulturzeit“. Über den postkolonialen Umgang mit den Orten der Erinnerung schreibt er in seinem Debüt-Roman „Open City“. Zentrales Moment der Bildwissenschaft ist die Unsichtbarkeit, das, was als Verdrängtes hinter den Bildern steht, womit wir am Ende sehr viel dichter an einer Freudschen oder Lacanschen Psychoanalyse uns befinden.

Es kann kein Leid und kein Ereignis gegen das andere ausgespielt werden. Die rund 3000 Toten, die dieser Tag am 11. September 2001 forderte und die von denen, welche diese Anschläge, planten, durchführten, in Kauf genommen wurden, haben keinen höheren, aber auch keinen niedrigeren Wert als die anderen Toten, die im Namen der verschiedenen (idiotischen) Religionen, des Faschismus, des Kapitalismus, des Stalinismus, des Maoismus et al. fabriziert wurden, und es kommt hier nicht auf quantitative Aufrechnungen an. Worum es aber geht, ist, in den Blick zu bekommen, daß es willkommene, d. h. staatlich geförderte und unwillkommene Erinnerung gibt, die kultiviert werden oder eben nicht.

Erinnerungskultur funktioniert über Bilder und über den Ausschluß von Bildern, indem man bestimmte Bilder annulliert und gar nicht erst zu Ikonen geraten läßt. Dies impliziert den Begriff der Macht. Am Ende hin gilt, wenn auch nicht normativ, aber so doch faktisch der eigenwillige Satz des Goggelmoggel aus „Alice hinter den Spiegeln“:

„‚Wenn ich ein Wort gebrauche‘, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, ‚dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.‘ ‚Es fragt sich nur‘, sagte Alice, ‚ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.‘ ‚Es fragt sich nur‘, antwortete Goggelmoggel, ‚wer der Stärkere ist, weiter nichts.‘“

Im zweiten Teil geht es dann in die Bilder und in die Lektüre von Mitchells Buch hinein.

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W.J.T. Mitchell, Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11, Berlin 2011. (Suhrkamp Verlag)

Weiterhin: W.J.T. Mitchell, Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008 (Beck Verlag)

Harald Welzers „Klimakriege“ (3. Teil)

Warum wir das, wogegen wir vor 20 Jahren
protestiert haben, mittlerweile normal finden

„Aus der Völkermordforschung wissen wir, wie schnell
die Lösung sozialer Fragen in radikale Definitionen
und tödliche Handlungen übergehen kann,
und so etwas abzuwenden, wird eine Probe darauf sein,
ob Gesellschaften aus der Geschichte lernen können oder nicht.“

Harald Welzer

IV Shifting baselines

Woher kommt diese „Apokalypseblindheit“? Weshalb wissen wir in unserer westlichen Moderne (oder Spätmoderne, Transmoderne, Postmoderne?), die wir eigentlich über das Potential kritischer Reflexion verfügen, die Zeichen der Zeit nicht nur nicht zu deuten, sondern wollen sie gar nicht erst bemerken? Wollen wir das nicht sehen, was momentan vor sich geht; können wir das womöglich gar nicht sehen? Vom Standpunkt des Futurum exactum betrachtet, (Welzer widmet ihm ein kleines Kapitel), den wir als denkende Wesen einnehmen können – und auch die Option des Möglichkeitssinns steht uns zu Gebote, um erweiterte Perspektiven zu gewinnen – sollten wir darüber nachdenken, ob wir eine Welt in diesem Lichte wirklich wollen. Vielleicht können dieser Blick vom Futurum exactum her und der Möglichkeitssinn Mittel abgeben, unsere Referenzrahmen zu überprüfen und zu hinterfragen. Es erfordert dies freilich einen Raum und Resonanzboden für Reflexion sowie einen öffentlichen Diskurs. Diesen könnten die Medien zwar liefern, doch scheint ihnen nicht viel daran gelegen. Ich rede hier nicht einmal vom Privatfernsehen oder den öffentlich-rechtliche Medien, dem „Spiegel“ (dem Sturmgeschütz der Akklamation) und ihren bewußt eingesetzten Narkoseprogrammen. Hier ist nichts zu erwarten. Aber wenn nicht einmal mehr Zeitungen wie die „Zeit“ oder Tageszeitungen wie die „Süddeutsche“ oder die „Berliner Zeitung“ einen leisen warnenden Ton anstimmen können, dann liegt etwas im argen. Ach, so schlimm wird es schon nicht kommen, so hört man allenthalben sagen. Na, mal sehen. Eine Wette möchte ich darauf nicht eingehen. „Du mußt Dein Leben ändern“, wie das neue Buch von Sloterdijk heißt? Möglicherweise nein, sondern: „Du mußt nur die Laufrichtung ändern!“vielleicht eher und mit Kafka ganz pessimistisch in den Raum gesprochen. Doch hierzu zum Ende hin mehr.

Wann eigentlich beginnen soziale Katastrophen? Welzer beschreibt in Anlehnung an Jared Diamonds „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“, jedoch mit ganz anderer Zielrichtung, die soziale Katastrophe auf der Osterinsel und wie es möglich ist, daß eine Kultur Dinge veranstaltet, die bis zur Selbstpreisgabe desaströs sind, ohne daß in der Gesellschaft ein Bewußtsein darüber herrscht oder sich Widerstand regt. Wenn im öffentlichen Diskurs bemerkt wird, daß Dinge sich geändert haben und schwerwiegende Folgen sich einstellen werden bzw. bereits eingestellt haben, ist es meist zu spät.

„Die soziale Katastrophe der Osterinsel beginnt nicht, wenn der letzte Baum gefällt wird, sowenig wie der Holocaust mit der Installierung der ersten Gaskammer in Auschwitz anfängt. Soziale Katastrophen beginnen dort, wo falsche Entscheidungsrichtungen eingeschlagen werden – also dort, wo Distinktions- und Statusregeln auf den Osterinseln den Verbrauch von Holz für die Skulpturenproduktion fordern oder dort, wo wissenschaftlich begründete Annahmen über die Ungleichheit von Menschen in Deutschland den Rang von Gesetzen und Verordnungen erhalten.“

Genau dieser Aspekt ist es, den Welzer auf den Punkt bringt und wo er, vollkommen richtig, insistiert: Wir müssen einen (sozialen) Blick entwickeln für solche Angelegenheiten, und wir benötigen ein Sensorium für soziale Katastrophen. Es ist hierbei eine ganze Gesellschaft gefordert. Dies kann man vollkommen neutral festhalten, ohne in Alarmismus und Angstkommunikation zu verfallen.

Bei solchem Wandel in den Werthaltungen und solcher Veränderung von Normen innerhalb einer Gesellschaft handelt es sich um sozialpsycholgische Mechanismen, für die Welzer den Begriff der „shifting baselines“ verwendet, welchen er der Umweltpsychologie entnimmt (S. 214). Menschen halten immer jenen Zustand ihrer Umwelt für den „natürlichen“, der mit ihrem Lebens- und Erfahrungshorizont zusammenfällt (S. 214), und Menschen verändern sich mit mit ihrer Umwelt in ihren Wahrnehmungen und Werten gleitend, ohne daß sie dies jedoch selber bemerken (S. 16). Shifting baselines sind insofern auch dafür verantwortlich, was wir für normal halten und was nicht (S. 217). Man denke etwa an die Systeme der Überwachung: Die Generation, welche in diesem Jahrzehnt Kind ist, wird Videokameras, Gentests und biometrische Daten für ein normales Prozedere halten, und die Abfrage persönlichster Daten ist für diese Generation selbstverständlich. Wissen und Wahrnehmen hängen auf das engste zusammen:

„Denn Einmaligkeitsereignisse werden in der Regel gerade deshalb nicht wahrgenommen, weil sie neu sind, man also das, was geschieht, mit den verfügbaren Referenzrahmen zu erfassen versucht, obwohl es sich um ein präzedenzloses Geschehen handelt, das selbst erst eine Referenz für spätere vergleichbare Ereignisse liefert.“ (S. 219)

Hierin eben liegt eine Erklärung dafür, warum wir nicht wissen, daß wir nichts wissen; wir schauen mit unserem uns zur Verfügung stehenden Blick und sehen ohne zu sehen. (Ein ganz aktuelles Beispiel für ein Sehen ohne zu sehen, sind die gegenwärtigen Umwälzungen und die Weltwirtschaftskrise. Bei einigen scheint noch rein gar nichts angekommen zu sein.)

Kann man dieses Verhalten als moralischen Vorwurf an die Subjekte und die Diskurse herantragen? Man kann diese Dinge zunächst einmal nur konstatieren und muß sich überlegen, was dies als Konsequenz bedeutet. Welzer zitiert hinsichtlich dieser Problematik den Soziologen Norbert Elias, welcher es als „eine der schwierigsten Aufgabe der Sozialwissenschaften bezeichnet, die Struktur des Nichtwissens zu rekonstruieren, die zu anderen Zeiten vorgelegen hat.“ (S. 220) Ich halte diese Rekonstruktion (nicht nur in bezug auf die anderen, vergangenen Zeiten, sondern auch hinsichtlich der unseren Zeit) für extrem wichtig, um dadurch ein Begreifen dessen, was gegenwärtig geschieht, vermittels Analogieschluß zu forcieren und den blinden Fleck sichtbar zu machen. Foucaultsches und Luhmannsches Instrumentarium schadet dabei als Rüstzeug und als Zusatz zu dem bereits verwendeten Mitteln keineswegs. Man müßte nur (insbesondere bei Luhmann) die Perspektive ein wenig variieren.

Welzer zeigt anhand des Ausgrenzungs- und Verfolgungsprozesses der Juden im nationalsozialistischen Deutschland (Welzer hat zu diesem Feld umfangreiche Forschung geleistet) und an anderen Beispielen ausführlich, wie Mechanismen der Wahrnehmung und Interpretation von sozialen Tatsachen funktionieren und die Beteiligen dabei nicht einmal merken, was vor sich geht. Diskursive Moralphilosphie, in solcher Perspektive, kann nur scheitern und appelliert ins Nichts hinein, was schon Schopenhauer wußte. Aber auch individualistische, auf moralischer Intuition oder die Kraft des Subjekts beruhende Positionen werden es schwer haben, ein Korrektiv abzugeben. Insofern stellt Welzer fest:

Angesichts des Phänomens der gleitenden Referenzpunkte wird man sich auch angesichts ganz anderer Problem- und Veränderungslagen nicht der Illusion hingeben wollen, ihre moralischen Überzeugungen würden Menschen schon an irgendeiner Stelle eines gegenmenschlichen Prozesses innehalten und zum Besseren zurückkehren lassen. Das geschieht oft selbst dann nicht, wenn dieser Prozess selbstzerstörerisch zu werden droht.“ (S. 230 f.)

Für eine Moralphilosophie sind dies allerdings düstere Aussichten. Es haben sich die Ethik und die Philosophie überhaupt diesen Einsichten jedoch zu stellen. Allein schon aus dem Grund, daß unsere Zukunft und die Art und Weise, wie wir und nachfolgende Generationen zukünftig leben wollen, davon abhängt. Hier ist das Projekt der Aufklärung absolut weiterzutreiben. Welzer insistiert darauf, und sein Buch ist hierzu ein gewichtiger Beitrag.

V. Ökologische Kommunikation

Die ökologischen Probleme sind nicht neu: Bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Bericht des „Club of Rome zur Lage der Menschheit“, den „Grenzen des Wachstums“ gab es erste Warnungen und Hinweise (S. 110). Daß die sozialen Folgen der ökologischen Probleme bis heute kaum oder zu wenig diskutiert werden, steht in krassem Gegensatz zum Alter der ökologischen Debatte, so Welzer. Und dies ist richtig: Selbst in den frühen 80er Jahren auf dem Höhepunkt der Ökologiebewegung in der BRD bis hin zu Tschernobyl wurde zwar sehr viel über die Probleme und ihre Folgen gesprochen, doch weder in der internen Debatte der verschiedenen Gruppierungen und Strömungen, noch in jenem medialen Grunddiskurs, der etwa Begriffe wie Smog und Waldsterben ubiquitär machte, tauchten die sozialen Folgen richtig auf.

Mit Luhmann könnte man hier natürlich (systemtheoretisch) einwenden, daß ein System eben nur das kommunizieren kann, was es aufgrund seiner Differenzierung zur Umwelt und seiner systemimmanenten Binnenunterscheidung kommunizieren kann. Alles andere wäre eine Überforderung des entsprechenden Systems. So wird, vereinfacht gesagt, niemand vom System des Rechts Kunstwerke erwarten und vice versa. Doch ist es nur bedingt hilfreich, wenn es um Lösungen geht, ex negativo zu argumentieren, was nicht geht. Wenngleich die Luhmannsche Position schon eine erste Erklärung darüber abgeben mag, warum bestimmte Themen eben nicht kommuniziert werden können. Hier gilt es, Dinge fruchtbar zu machen.

Was die ökologische Debatte betrifft, sei nur auf seine Arbeit „Ökologische Kommunikation“ von 1986 hingewiesen. Ich wäre gerne noch intensiv darauf eingegangen, doch kann hier nicht der Raum dafür sein. Lesenswert ist dieses Buch jedoch, wenngleich es nicht unumstritten ist und problematische Punkte enthält. Ein Zusammen- und Gegenlesen mit Welzer wäre aber spannend. (Eine Luhmann dekonstruierende und gegen den Strich verfahrende Lektüre allemal.) Und es wäre für die hier skizzierten Probleme womöglich eine Ergänzung um Luhmann sinnvoll, wenngleich dies nicht unbedingt im Theorieansatz Welzers gegründet liegt und Luhmannsches Theoriedesign dem Denken Welzers eher entgegensteht: Sind es doch für Welzer nicht Strukturen und Diskurse, sondern es muß aus jener Welt der Strukturen zurückgefunden werden zu Strategien, mit denen „soziale Wesen“, mithin Subjekte, versuchen ihr Dasein zu bewältigen. (S. 44) Hier gilt es nach Welzer, die Potentiale des Subjekts zu entfalten. (Inwieweit in solchem Ansatz auch Probleme liegen, kann ich hier nicht weiter behandeln; dies ist ein Aspekt für sich, der unter dem Titel „Subjektphilosophie“ besprochen werden müßte; es wird aber in diesem Jahr Aufsätze zur Postmoderne und zum Poststrukturalismus geben, zumal anläßlich des 25. Todestages von Michel Foucault in diesem Jahr. Dieser darf nicht unkommentiert bleiben.)

Ich halte, um es kurz zu fassen, diesen teils sehr subjektzentrierten Ansatz Welzers, wenn man ihn verabsolutiert und als Königsweg begehen möchte, für eine Verknappung, denn es beraubt sich eine umfassende Theorie doch durch das Abschneiden der strukturellen und diskurstheoretischen Elemente ihres besten Instrumentariums zur Analyse, wenn es darum geht Zusammenhänge erst einmal deskriptiv zu erfassen oder gar Erklärungen dafür zu finden, warum bestimmte Themen von bestimmten gesellschaftlichen Subsystemen wie Recht oder Wirtschaft eben nicht oder erst unter bestimmten Bedingungen kommuniziert werden können. Hier bietet die Systemtheorie durchaus Erklärungen an, ohne daß man beim Nachdenken darüber sogleich zum Strukturfunktionalist werden müßte.

VI. Ausblicke

Vielfach wirft „Klimakriege“ bezüglich seiner Themen die Netze sehr weit aus. So werden Themenfelder wie der Nationalsozialismus und (islamischer) Terrorismus unter dem Kapitel „Veränderte Menschen“ sehr ausführlich behandelt, um die hier wirkenden Mechanismen der Verschiebung von Wahrnehmung und Interpretation der sozialen Realität aufzuzeigen. Dies geschieht, um die oben skizzierte Theorie der „shifting baselines“ und deren Implikationen zu verdeutlichen und so bei (möglichen) Zukunftsszenarien Handlungsmuster zu antizipieren. Welche Optionen würden gewählt, wie sehen Möglichkeiten des politischen Handelns aus, wenn der Westen einem noch mehr ansteigenden, unaufhaltsamen Strom von Umweltflüchlingen ausgesetzt sein wird und der Druck an den Außengrenzen der EU zunehmend steigt? Noch mögen wir es als unmenschlich empfinden, Flüchtlinge in kaum schwimmtauglichen Beförderungsmitteln im Meer einfach ertrinken zu lassen, anstatt sie zu retten (obwohl dieses Ertrinkenlassen schon vielfach geschieht); noch erscheint es uns als absurd und dem europäischen aufgeklärten Geist widersprechend, daß Patrouillenboote der Grenztruppen auf Flüchtlingsboote schießen, um sie zur Umkehr zu bewegen, und bewußt den Tod von Menschen in Kauf nehmen. Bei einem veränderten Referenzrahmen jedoch, wenn der Druck im Kessel steigt, erscheinen solche Lösungen gar nicht mehr so abwegig. Schnell setzt die Gewöhnung und Erleichterung über diese endlich ergriffenen Maßnahmen ein. Und es werden sich ausreichend Journalisten sowie Intellektuelle finden, die dieses Vorgehen nicht mehr nur beschweigen, sondern explizit gutheißen werden.

 Natürlich sind diese Annahmen erst einmal spekulativer Natur, und der wohlmeinend Abwägende, für den Ruhe die erste Bürgerpflicht und Tugend ist, wird entgegnen, daß diese Szenarien und die daraus resultierenden Handlungsfolgen nicht zu beweisen seien und der Hypothesencharakter des Konstruktes (und auch des Buches von Welzer) doch sehr stark sei. Es werde hier zudem sehr Unverbundenes und Disparates wie der Genozid in Ruanda und der Holocuast zusammengebracht mit der Wahrnehmung von Südkalifornischen Fischern bezüglich der Überfischung des Pazifiks. Es mögen diese von Welzer geschilderten Zukunftsaussichten so sein oder auch nicht, wir wissen es eben nicht, was in der Zukunft geschieht, das ist vollkommen richtig. (Korrekt muß man sagen: die möglichen Aussichten, denn Welzer antizipiert nichts und stellt nichts als soziale Tatsache dar, was nur spekulativer Natur ist.) Daß aber Menschen auf Freiheitsrechte verzichten zugunsten von Sicherheit, kann man bereits an der gegenwärtigen Debatte über die Gesetze zur Bekämpfung von Terrorismus ablesen.

Solches läßt sich zunächst einmal ganz neutral konstatieren. Denn daß ein Staat Maßnahmen gegen terroristische Bedrohungen trifft, ist legitim, da es die Pflicht eines Staates ist, seine Bürger gegen Terrorismus zu schützen (siehe Teil 1 dieses Essays, am 30.3.). Zu Fragen bleibt aber dabei, was solche Maßnahmen für die Formen sozialen Zusammenlebens und für die Art, wie Gesellschaften Dinge zukünftig wahrnehmen und bewerten, bedeuten.

Es sollte nicht zu viel Vertrauen in die Stabilität von Werten sowie in Normalitäts- und Zivilisierungsstandards gelegt werden (S. 239). Denn mit der Zuspitzung von Problemlagen geht meist ein schleichender Wandel dieser Werte und der Gewichtung von Werten einher. Bestes Beispiel ist hier der Umgang mit persönlichen Daten, mithin das Recht auf informationelle Selbstbestimmung: Brach bereits Jahre vor der Volkszählung von 1987, die im Vergleich zum Umgang mit Daten in der heutigen Zeit harmlos zu nennen ist, noch ein Sturm der allgemeinen Entrüstung auch bei denjenigen aus, die nicht unbedingt „links“ zu nennen sind, so bleibt in unserer Zeit eine Reaktion aus angesichts des heutigen Umgangs mit persönlichen Daten im Zeitalter des Internet und der verstärkten Überwachung. (Siehe hierzu etwa die Ausführungen Welzers S. 234 – 238.) Anhand solcher Beispiele zeigt Welzer sehr gut auf, wie die Theorie der „shifting baselines“ funktioniert. Wir glauben, ganz dieselben geblieben zu sein und dennoch haben sich unser Referenzrahmen und unsere Wertmaßstäbe unmerklich ein Stück verschoben.

So kann man abschließend festhalten, daß dieses Buch viel erreichen möchte und zugleich mit der Adlerperspektive über die Dinge gleitet. Insofern ist es ein wissenschaftliches Buch, welches sich nicht nur an das wissenschaftlich gebildete Fachpublikum, sondern an eine breitere Allgemeinheit wendet. Verstehen kann dieses Buch beim Lesen jeder. Es wird nicht mit Begriffen herumgeschwurbelt und epigonaler Diskursklamauk betrieben (nichts gegen Derrida, Foucault, Deleuze, Barthe: dies ist eine ganz andere Liga als jene nachbetenden Signifikantenreiter. Hier weiß ich mich gewiß mit meinem Blogkollegen Hartmut einig, dem ich manche Anregungen aus seinem Blog „Kritik und Kunst“ verdanke.)

Klimawandel beschränkt sich nach Welzer nicht nur auf das Absterben von Wäldern (und damit einhergehender Bodenerosion), das Abschmelzen von Gletschern und auf andere meteorologische Phänomene, sondern es entwickeln sich daraus ganz eminente politische und soziale Folgen, die mit dem bloßen Blick auf diese klimatischen Ursachen noch lange nicht hinreichend erfaßt sind. (S. 110) Dies stellt Welzer vollkommen richtig heraus. Die Auseinandersetzung mit dem sozialen Folgen und eine politische Debatte stehen hier noch aus. Ich hatte dies im zweiten Teil des Essay bereits angesprochen. Ein sehr wichtiger Punkt stellt für mich dar, daß Welzer diese Probleme nicht individualisiert, wie dies von Politikern einer bestimmen Provenienz gerne getan wird. Es reicht nicht aus, auf bestimmte Produkte oder weite Flugreisen zu verzichten. Dies dient lediglich der Selbstberuhigung und ist naiv, wenn solches Verhalten nicht zugleich mit einer Reflexion auf umfassende Mechanismen begleitet ist. (Insofern ist eben kein Mensch von der Philosophie entbunden, sondern vielmehr zu ihr verpflichtet.)

Bei den im Buch angesprochenen Problemen geht es Welzer zudem nicht um monokausale Erklärungen für die neuen Klimakriege, da „Gewaltkonflikte (…) immer ein Produkt mehrerer paralleler und ungleichzeitiger Entwicklungen (sind)“ (S. 111). Das Niveau der Theorie muß hinreichend komplex sein, um das Feld zu erfassen.

Das Buch entwirft, dies muß man ganz hart sagen, Katastrophenszenarien, von denen man sich wünscht, daß sie nicht eintreffen mögen, so Welzer. Doch steht es zu vermuten an, daß diese Szenarien eintreffen werden, wenn der Schlaf der Vernunft anhält. Die Folgen des Klimawandels „werden nicht nur die Welt verändern und andere Verhältnisse etablieren, als man bislang kannte, sie werden auch das Ende der Aufklärung und ihrer Vorstellung von Freiheit sein. Aber es gibt Bücher, die schreibt man in der Hoffnung, dass man Unrecht hat.“ (S. 17, Hervorh. von bersarin.)

Es wird Kriege gegeben haben: Es bleibt zu fragen, wie dieser Punkt aussieht, von dem aus wir, nachdem diese Kriege (vielleicht) einmal zu Ende sind, sagen werden, daß es Kriege gegeben hat, falls es sich nicht um zukünftige Kriege handelt, die, wie heute schon im Kongo, von verschiedenen Kriegsindustrien auf Dauer gestellt sind, um mit ihnen beständige Profite zu erzeugen.

Welzer hat jedoch mit seinem Buch eine Spur gelegt, der es zu folgen, und einen Rahmen gesetzt, den es mit der detaillierten Forschung auszufüllen gilt. Was nun ansteht, das ist die Kärnerarbeit der Geisteswissenschaften wie der Soziologie, der Politikwissenschaften und der Philosophie (aber auch der Jurisprudenz und der Rechtsphilosophie/-theorie) und den Naturwissenschaften, auf diese Anforderungen zu reagieren und konkrete Theorien auszuarbeiten. Wir werden uns der Fragen stellen müssen, wie eine Gesellschaft aussehen wird und aussehen kann, die etwa mit massiven zunehmenden weltweiten Flüchtlingsströmen umgehen muß.

Doch diese Theorien werden allesamt nichts nützen, wenn es damit einhergehend nicht auch eine Politik gibt, die dafür sorgt und es für absolut notwendig und dringlich erachtet, daß die Erkenntnisse aus solchen Theorien zugleich umgesetzt werden müssen. Denn es genügt nicht, um hier Marx‘ 11. Feuerbachthese anzuzitiern, die Welt bloß zu interpretieren und in der Theorie die Problematik zu durchdringen, sondern diese Welt muß zugleich verändert werden. Es gilt, Praktiken zu entwickeln, ohne dabei aber die Möglichkeiten von Politik (utopistisch im schlechten Sinne) zu überfordern, denn leider ist der gleichzeitig auch ideologisch gebrauchte Satz nicht vollkommen falsch, daß Politik die Kunst des Möglichen sei, was aber nicht bedeutet, dabei den Möglichkeitssinn auszuschalten. Es geht also um ein Konzept der kleinen Schritte. (Hoffen wir nur, daß für diese noch die Zeit reicht.) Wie Veränderungen trotzdem möglich sein können, wenngleich nur langsam, hat die Entwicklung hinsichtlich des ökologischen Bewußtseins gezeigt. Heute haben auch die Parteien, die früher nicht gerade als Vorreiter ökologischer Themen bekannt waren, ökologische Themen im Programm. Diese sind, bei aller Oberflächlichkeit, doch Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses geworden. Dies hat jedoch eine lange Zeit gebraucht.

Daß sich Politik mittelfristig ändert, läßt sich für Welzer etwa über eine „Erhöhung der Kommunikations- und Teilhabechancen“ an Debatten und und Entscheidungen über zukunftsrelevante Fragen innerhalb einer Gesellschaft erreichen (S. 270). Denn eine Gesellschaft, „die größere Teilhabe und höheres Engagement erlaubt, ist besser in der Lage, dringende Probleme zu lösen, als eine, die ihre Mitglieder gleichgültig läßt.“ (S. 271) Es wird hier eine dritte Moderne gefordert, die bewußt die Strategie einer reflexiven Moderne einschlägt. Inwieweit dieses Konzept aber tragen mag und nicht bloß frommer Wunsch bleibt, dies sieht auch Welzer. Insofern gibt es noch ein zweites Kapitel „Was man tun kann und was nicht II“, das ein eher düsteres Szenario hinsichtlich der Zukunft bereithält. Der Hoffnungsraum ist hier klein wie die durch Hartz IV zugewiesenen Wohnungen.

So möchte ich zum Schluß die letzten Sätze dieses instruktiven und mehr als wichtigen Buches, das ich jedem zum Lesen empfehlen möchte, zitieren:

„Auch auf diese Weise lässt sich der Prozess der Globalisierung beschreiben ­– als ein sich beschleunigender Vorgang sozialer Entropie, der die Kulturen auflöst und am Ende, wenn es schlecht ausgeht, nur noch die Unterschiedslosigkeit bloßen Überlebenswillens zurücklässt. Das allerdings wäre die Apotheose jener Gewalt, zu deren Abschaffung die Aufklärung und mit ihr die westliche Kultur den Schlüssel gefunden zu haben glaubte. Aber von der neuzeitlichen Sklavenarbeit und der gnadenlosen Ausbeutung der Kolonien bis zur frühindustriellen Zerstörung der Lebensgrundlagen von Menschen, die mit diesem Programm nicht das Geringste zu tun hatten, schreibt die Geschichte des freien, demokratischen, aufgeklärten Westens eben doch seine Gegengeschichte der Unfreiheit, Unterdrückung und Gegenaufklärung. Aus dieser Dialektik, das zeigt die Zukunft der Klimafolgen, wird die Aufklärung sich nicht entlassen können. Sie wird an ihr scheitern.“ (S. 278)

Es ist dies eine bittere Aussicht. Doch werden wir uns ihr irgendwie stellen und uns vor allem aber zu ihr verhalten müssen.

Harald Welzers „Klimakriege“, Teil 2

 „Dunst ist die Welle
Staub ist die Quelle!
Stumm sind die Wälder
Feuermann tanzet über die Felder!“
(Theodor Storm, Die Regentrude)

 

II. Der Schlaf der Theorie und Prognostisches

Es wird Kriege und Konflikte, Morde und Genozide geben, von denen wir heute noch nichts ahnen, und dies womöglich in Regionen, wo wir es eigentlich nicht für möglich gehalten haben. „Die mit der Erderwärmung einhergehenden Raum- und Ressourcenkonflikte werden in den nächsten Jahrzehnten fundamentale Auswirkungen auf die Gestalt der westlichen Gesellschaften haben …“ (S. 22). Daß solche Klimakatastrophen wie das Ansteigen der Meeresspiegel nicht nur in (teils instabilen) Dritt- oder Schwellenländern ein ungeheures und ungeahntes Konfliktpotential entfalten können, sondern auch in den hochentwickelten Ländern zu einem Umkippen der sozialen Ordnung und der Sicherungssysteme führen kann, dies hat – zumindest im Ansatz – die Überschwemmungskatastrophe von New Orleans gezeigt. (S. 112) Eine Katastrophen wie der Hurrricane „Katarina“ und die damit verbundenen Folgen für New Orleans weisen eine Richtung: So wurde durch die Zerstörung der Stadt und die Abwanderung von 250 000 Bewohnern durch diese Katastrophe nicht nur eine neue Sozialstruktur implementiert, sondern die Stadt hat zugleich eine neue politische Geographie erhalten (S. 42 f.). Insofern ist die Bezeichnung „Naturkatastrophen“, so Welzer völlig falsch: es handelt sich hier aufgrund der Vorkommnisse um soziale Katastrophen. (Zudem ist die Natur, so Welzer, kein Subjekt,, das handeln kann und es ist ihr egal, ob der Meeresspiegel ansteigt oder nicht und ob Tier- und Pflanzenarten aussterben oder sich weiterentwickeln.)

Auch ist der Krieg im Sudan, ich nannte diesen bereits im ersten Teil des Essays, für Welzer nur ein Vorspiel und ein Vorblick in die Zukunft. Wenn nun (zukünftige) Gewalt immer häufiger als probates Mittel der Auseinandersetzung erscheint und wenn Klimakriege und soziale Katastrophen deshalb unausweichlich werden, weil mit der zunehmenden Erderwärmung eine Veränderung der Lebensbedingungen einhergeht und Ressourcen wie Ackerland und Wasser knapp werden, dann stellt sich die Frage, worauf solche Thesen basieren. Denn leicht ist der Vorwurf in der Welt, daß hier lediglich Angstkommunikation erzeugt werden soll, daß es sich um einen überspannten Öko-Fundamentalismus handelt oder lediglich ein weiteres Modethema medial hochgekocht werden soll, so wie man es in den achtziger Jahren mit den Themen Waldsterben oder Smog tat. Man kann darüber lange streiten, wenngleich dieser Streit angesichts der Situation, in welcher wir uns befinden, relativ widersinnig ist.

Die Beispiele aus der jüngsten Geschichte, die Welzer anführt, zeigen jedoch, daß die Katastrophenszenarien nicht unbedingt herbeiphantasiert sein müssen. (Doch hierzu später mehr.) Und zugleich zeigt Welzers Buch, daß das Problem ein grundsätzliches ist. Es reicht nicht aus, auf eine Flugreise zu verzichten oder weniger Auto und mehr Fahrrad zu fahren. Es ist dies nur eine (falsche) Individualisierung des Problems; solche Änderungen individuellen Verhaltens gehen nicht an die Wurzeln heran und sind insofern unzureichend, weil sie im globalen Rahmen kaum etwas bewirken. Sie sind zwar löblich, dienen aber eher dem eigenen Gewissen. Und etwas zynisch kann man hinzufügen: sie dienen auch dazu, über das Grundproblem nicht weiter nachdenken zu müssen, und so stellt solches Verhalten oft auch eine Strategie der Kompensation dar, um es sich in einer Nische gemütlich und kuschelig zu machen und die anstrengenden Mühen des Nachdenkens sowie der Theorie zu umgehen.

Was die Klimafolgen betrifft, welche Naturereignisse und ökologischen Szenarien sich auf der Erde ereignen können, wenn die globale Temperatur um 2 ° Celsius ansteigt, so mögen dies die naturwissenschaftlich ausgebildeten Experten diskutieren. Es gibt hier genug Planspiele und Modelle, die den Klimawandel simulieren, und die Naturwissenschaften sind nicht nur mitten in einer Diskussion, sondern auch in ihren Theorien äußerst produktiv.

Bei den Sozial- und Kulturwissenschaften dagegen herrscht, so Welzer, ein eigentlich unangemessenes Schweigen, als ob sie diese Probleme nichts angingen und Phänomene wie „Gesellschaftszusammenbrüchen, Ressourcenkonflikten, Massenmigrationen, Sicherheitsgefährdungen, Angst, Radikalisierung, Krieges- und Gewaltökonomie“ (S. 45) nicht in ihrem Zuständigkeitbereich liegen.

Die Geisteswissenschaften, die Anstöße vermitteln könnten, insbesondere die Disziplin der Philosophie und Soziologie hüllen sich zu dem Thema der Gewaltfolgen und den Möglichkeiten von Konflikten in Schwiegen. So sagt Welzer in einem (überhaupt sehr lesenswerten) Interview auf SpOn:

„Das ist ja das Problem, dass die zuständigen Wissenschaften solche Entwicklungen in den letzten Jahren völlig verpennt haben. Die beschäftigen sich mit Diskursen und Metaproblemen, mit hochkomplexen Foucaultschen Theorien oder mit der Kulturgeschichte des Fahrstuhls. Sie bekommen aber nicht mit, wenn eine ganze Hemisphäre unterzugehen beginnt, so wie 1989 der Ostblock. Damals ist die Gesellschaftstheorie praktisch zum Erliegen gekommen.“

In solchen Sätzen steckt leider viel Wahrheit, und es ist ein Makel, aber zugleich auch eine Herausforderung für die Theorie. Denn die Geisteswissenschaften haben, anders als die Naturwissenschaften, im Hinblick auf die Klimafolgen noch keine Konzepte in bezug auf die daraus resultierenden Konflikte. Welzer versucht nun, auf diesem Terrain mit seinem Buch „Klimakriege“ Abhilfe zu schaffen, zumindest jedoch heuristische Mittel bereitzustellen und ein Bewußtsein für diese Probleme zu vermitteln.

Ein klein wenig jedoch muß man die Geisteswissenschaften und die ihnen zu Gebote stehenden Möglichkeiten in Schutz nehmen: Sie sind nicht gut für Prognostisches angelegt und eignen sich kaum für den Blick in die Zukunft. Dies weiß natürlich auch Welzer. Doch etwas Substantielles liefern die Geisteswissenschaften in der Regel erst post festum. Die Soziologie kann deviantes Verhalten von Crash-Kids oder die plötzliche Zunahme von Suiziden bei Jugendlichen im nachhinein gut erklären, aber nicht vorhersagen, wann es wieder einmal so weit ist, daß diese Phänomene signifikant auftreten. Sehr gut kann man die Strukturen sowie die Verhaltens- und Rationalisierungsmuster von Tätern etwa während der NS-Zeit untersuchen (Welzer hat dies in seinen Büchern ausgiebig getan), schwierig jedoch ist es, zu sagen, wann solches zukünftig wieder einmal geschehen wird. Erst im zeitlichen Verzug setzt dann die Analyse ein, und so wußte schon Hegel in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, daß die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt, wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt und eine Gestalt des Lebens alt geworden ist.

Bezüglich dieses prognostischen Aspektes liegt insofern ein grundsätzliches Problem vor. Selbst eine Wissenschaft wie die Ökonomie, die zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften angesiedelt ist und die sich mathematischer Modelle wie der Statistik und der Wahrscheinlichkeitsrechnung bedient, kann nur schwer die Folgen vorhersagen, die sich aus einem bestimmtem wirtschaftlichen Handeln ergeben könnten. Es ist dieses Schweigen im Grunde Ausdruck methodischer Hilflosigkeit.

Doch trotz dieser Schwierigkeit sollte es nicht unversucht gelassen werden, den Rahmen der Geisteswissenschaften auszuweiten und zu ändern, denn hinsichtlich der Gewaltfolgen, die sich sich aus den Klimafolgen heraus ergeben, hat Welzer in seinem Buch einige handfeste Argumente und Beispiele zur Hand, um unsere Normalitätserwartungen, daß alles so bleiben möge wie es ist, und unsere Blindheiten zu erschüttern: Und man kann es nicht oft genug, litaneiartig fast, wiederholen und sagen und warnen:

Es gibt für Europa und den nordamerikanischen Kontinent kein Grundrecht darauf, in kriegsfreien Zeiten zu leben, und es ist die keine unumstößliche Gesetzlichkeit, daß für uns Frieden und (weitgehend) demokratische Verhältnisse herrschen.

Diese letzten 64 Jahre im westlichen Europa und Noramerika sind eine sehr besondere Epoche. Für uns ist sie Normalität. Im Blick der Geschichte, welche über Jahrtausende reicht, wird diese Epoche einst eine winzige Fußnote gewesen sein.

Welzer versucht, in seinem Buch einen gangbaren Weg zu finden; so geht es ihm nicht einfach darum, „eine Untersuchung über zukünftige Kriege und Gewaltkonflikte rein prognostisch anlegen zu wollen, weil sich soziale Prozesse nicht linear entwickeln – man kann heute nicht wissen, welche Wanderungen das Auftauender Permafrostböden in Sibirien in Gang setzten wird …“ (S. 15) Vielmehr beruhen die (möglichen) Zukunftsszenarien, die öffentliche Beunruhigung hervorrufen werden, auf Daten und Forschungsergebnissen über Geschehnisse aus der Vergangenheit (S. 16). Es wird also von Bekanntem auf Unbekanntes geschlossen und hochgerechnet, wodurch die Geisteswissenschaften ein methodisches Sensorium für Veränderungen entwickeln könnten. Wieweit ein solches Vorgehen wissenschaftstheoretisch legitim ist, müßte man in einer Kritik vielleicht gesondert beurteilen. Ich vermute jedoch, daß hier einige Schwierigkeiten liegen, die es verhindern, eine Theorie argumentativ „wasserdicht“ zu machen.

Was man den Sozial- und Kulturwissenschaften jedoch zumuten kann, ohne daß sie sich dabei auf ein prognostisches Terrain begeben müßten, ist, daß sie Theorien und Strategien zu entwickeln haben, wie etwa mit den Folgen von sozialen Katastrophen als Effekte des Klimawandels, wie mit Gesellschaftszusammenbrüchen oder failed states umzugehen sei. Zudem sind diese Dinge nicht rein theoretische Probleme, die im abstrakten Raum schweben und deren Lösung ästhetischer Selbstzweck ist, sondern sie sind eminent praktischer Natur, weil, etwas pathetisch gesprochen, von ihnen unsere Zukunft abhängt; insofern erfordern diese Probleme dringend Lösungen.

 

III. Sozial sinnhaftes Handeln

Für Welzer ist es absolut notwendig, aufzuzeigen, was  soziale Katastrophen für eine Theorie der Gesellschaft tatsächlich bedeuten (S. 35). Denn hier liegt ein eklatanes Mißverhältnis vor zwischen den Katastrophen, die sich im 20. Jahrhundert ereigneten, und den Theoriebildungen, die sich sich daraus ergeben haben. Geschichtstheorie und politische Theorie haben bisher, so Welzer, kaum Theoriekonzepte entwickelt, und die wenigen Denker, die sich mit dem Verhältnis von sozialen Katastrophen und Gesellschaftstheorie befaßten, sind rar. „Dabei haben gerade die sozialen Katastrophen des 20. Jahrhunderts in aller Deutlichkeit gezeigt, dass ethnische Säuberungen und Völkermorde keine Abweichung vom Pfad der Moderne darstellen, sondern als soziale Möglichkeiten mit modernen Gesellschaftsentwicklungen erst entstehen.“ (S. 35)

Solche Katastrophen sind nicht das ganz Andere der Moderne, ihr perverser Alp oder der „Zivilisationsbruch“ und „Rückfall in die Barbarei“ – Welzer zitiert hier Dan Dinners gleichnamiges Buch und aus Adornos/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ -, sondern sie sind integraler Bestandteil der Moderne, was ja bereits Adorno/Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ ausgiebig untersucht haben. Diese fatale Dialektik der Moderne muß man in den Blick bekommen, wenn man begreifen will, welche (verhängisvollen) Möglichkeiten in der Zukunft lauern.

Welzers Analyserüstzeug, um mit diesen Problemen und Anforderungen umzugehen, ist die Sozialpsychologie und die Soziologie. Und so ist ein zweiter Grundgedanke Welzers aus einer Theorie der Handlungsrationalität bzw. der Sinngebung von Handlungen abgeleitet: nämlich das Phänomen, daß es Menschen immer wieder gelingt(Völker-)Mord und Moral in eine für Außenstehende verblüffende Übereinstimmung zu bringen, ohne daß ein Rest an Scham oder Schuldgefühl bei den Tätern vorhanden wäre. Gründlich räumt Welzer dabei mit dem Vorurteil auf, daß solches kollektives Morden aus Aggression und in bestimmten Epochen auftretenden Bluträuschen geschähe und eine anthropologische, wenngleich irrationale  Konstante sei. Welzer geht es vielmehr darum, die „Herstellung sinnhafter Referenzen“ (S. 38) beim Töten zu untersuchen, die dem Genozid immanente Rationalität aufzuzeigen und dabei festzuhalten, daß Gewalt historisch und sozial spezifische Formen hat und in ebenso spezifischen Kontexten der Sinngebung stattfindet (S. 39). Diese „spezifischen Kontexte der Sinngebung“ arbeitet Welzer etwa an den Bespielen des Genozids in Ruanda oder dem Holocaust heraus. Welzer steht hier ganz in der Tradition einer Max Weberschen Soziologie, wie dieser sie in den „Soziologischen Grundbegriffen“ formuliert: 

„§ 1. Soziologie (…) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ¸Handeln´ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ¸Soziales´ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“

Es geht auch bei solch sozialen (abartigen) Prozessen wie einem Genozid durchaus um den, nach Weber, mit solchen Handlungen verbundenen subjektiven Sinn, den sich die Handelnden stiften. Insofern heißt dieses Kapitel bei Welzer völlig folgerichtig „Töten macht Sinn“. Dies mag zunächst widersinnig klingen, doch wenn man sich Welzers Untersuchungen genauer ansieht und sich mit dem Gebiet der Gewaltforschung befaßt, wird man schnell gewahr werden, daß die Täter nicht außerirdisch böse Monstren sind, sondern oftmals der nette, fette Opa oder Vater von nebenan, die ihre Handlungen in einen für sie selber und ihre Angehörigen kohärenten Referenzrahmen einbinden können. Dies eben macht ja auch die Schwierigkeit aus, zu begreifen, was geschehen ist und was noch wird geschehen können. Daß eben beunruhigt so: es ist nicht, wie es uns mancher Film darstellt, der schon äußerlich kalte und extrem böse amoralische SS-Mann, der mit den Wassern des Nietzscheismus gewaschen ist und einen Schäferhund als beständigen Begleiter hat, sondern es sind Menschen, die mitten unter uns weilen und die neben ihrer Arbeit in Polen bei den Polizeibataillonen ansonsten zu Hause treusorgende Familienväter sind.

Nicht ganz zuzustimmen ist dabei Welzers These, daß die gesellschaftswissenschaftlichen Deutungsintrumente nicht geeicht sind partikulare Sinnsysteme wie etwa ein Konzentrationslager zu erfassen, die zwar nach außen hin sinnlos erscheinen, aber in ihrer Binnenlogik in Sinnsysteme eingebunden sind, weil diese Deutungsinstrumente an rationalen Handlungsmodellen orientiert sind (siehe S. 36). Webers Soziologie etwa geht es eben um jenen „subjektiv gemeinten Sinn“, den er ganz klar von einem objektiven Sinn scheidet. (Siehe hierzu etwa „Wirtschaft und Gesellschaft“ S. 1 f.) Insofern ließe sich gerade mit Webers Konzept bestens soziales Handeln in verschiedensten Gesellschaftsformationen untersuchen und Totalitarismusforschung betrieben, insbesondere auch vermittels seiner Herrschaftssoziologie (man denke nur an seine Ausführungen zur „Charismatischen Herrschaft“).

Aber auch Adorno/Horkheimer haben, nicht nur in ihrer „Dialektik der Aufklärung“, die die Herrschafts- und Verfallsgeschichte von Subjekt und Subjektivität beschreibt, auf der Makroperspektive einiges geleistet. Und diese Liste läßt sich um einige Namen ergänzen, ob man nun so unterschiedliche Bücher wie Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ nimmt, Daniel Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“, Richard Sennets „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität“ oder „Der flexible Mensch“. Natürlich haben alle diese Autoren sich nicht mit dem von Welzer skizzierten Problemzusammenhängen auseinander gesetzt, weil diese Probleme relativ neu sind, doch liegen hier Arbeiten vor, an die die Forschung und mithin die Geisteswissenschaften anknüpfen und die sie für ihre Theorien fruchtbar machen können.

Das Schweigen der Theorie, das Welzer zu recht beklagt, ist darin gegründet, daß den Geisteswissenschaften (spätestens seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts)  systematisch jede Form kritischer Theorie ausgetrieben wurde. Sie fristet ein Nischendasein.

Im dritten und letzten Teil des Essays werde ich auf Welzers Theorie der shifting baselines eingehen und dann eine abschließende Bewertung zu Welzers Buch geben.

Zu Harald Welzers „Klimakriege“ ­– Klimakatastrophe oder Angstkommunikation? (Teil 1)

Es wird Krieg gegeben haben Oder: Die zukünftige Konjunktur des Futurum exaktum

I. Vorbemerkungen

Nein, zu warm war dieser Winter diesmal nicht. Nein, Stürme gab es das letzte Jahr auch nicht so viele wie die Jahre zuvor, und die Niederschlagsmenge, die im März fiel, war im Großraum Brandburg-Berlin ganz in Ordnung. Der Bauer kann nicht klagen. „Wenn es doch nur im Sommer nicht wieder so trocken wird, Frau Heinze.“ „Na wat denn, Frau Kruptschek, wenn sie in meinem Urlaub wieder mal nicht richtig meine Balkonpflanzen jießen und nur dit trockene Jestrüppzeuch zurückbleibt, dann kann dit ja och nüscht werden. Schiebmse dit man nich auf die Hitze.“

So richtig merken wir bei uns noch nichts von den beständig angekündigten klimatischen Veränderungen. Und Nachrichten senden ihre Berichte nur spärlich aus den Regionen, die weit entfernt liegen und wo sich (mögliche) Klimakatastrophen abspielen. Allenfalls Vorboten und Zeichen zeigen sich. Der mediale Diskurs ist momentan auf anderes gepolt. Wie sagte es einst Karl Valentin: Wie passend ist es doch eingerichtet, daß in der Zeitung immer genau das drinsteht, was in der Welt so passiert.

Wenn man aber einmal vom Modischen der Themen und des Diskurses absieht, so erschien letztes Jahr ein Buch, welches aus der Vielfalt an Stimmen und Stimmungen herausragte, weil es unaufgeregt und sachlich Wesentliches zu sagen hat und den Anstoß für eine noch völlig ausstehende Debatte in den Geisteswissenschaften gibt, und zwar insbesondere in den Politik- und Sozialwissenschaften, aber auch der Philosophie, was etwa (universalistische) Gerechtigkeitstheorien betrifft. Doch dazu später mehr. Zudem liefert dieses Buch vielfältige Argumente dafür, weshalb bei dem Thema des Klimas Natur- und Kulturwissenschaften zusammenarbeiten sollten und müssen. Das Klima, welches man für gewöhnlich als naturwissenschaftliches Phänomen betrachtet, hat eminente soziale Folgen und wird, wenn es sich verändert, Gesellschaften radikal umpolen, so eine der Grundthesen des Buches. Auf die (möglichen) Konsequenzen möchte das Buch von Welzer einen Blick werfen.

Es sei auch gleich vorweg gesagt: Es handelt sich hier um ein bemerkenswertes und fundiertes Buch, welches ein heuristisches Werkzeug abzugeben hat für weitere ausstehende Forschungen der Politik- und Sozialwissenschaften. Es werden hier Standards gesetzt, die nicht mehr unterschritten werden können, wenn es um die argumentativen Zusammenhänge und die Vorgaben, wie zu forschen sei, geht.

Dabei ist es vollkommen nebensächlich, ob es sich bei diesem zunehmenden Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur nun um einen anthropogenen, also um einen durch Menschen gemachten Effekt handelt oder ob die Klimaschwankungen auf natürliche Weise verursacht sind, so Welzer. Die Debatte darüber ist ein Scheinproblem und wird auf dem Gefechtsplatz der Nebensächlichkeiten ausgetragen. Denn die in diesem Buch beschriebenen sozialen Folgeprobleme werden so oder so auftauchen. Und deshalb ist eines sicher: Es wird Krieg gegeben haben. Allerdings muß man hinzufügen, daß diejenigen, welche eine anthropogene Verursachung der steigenden globalen Temperatur leugnen, zunehmend weniger werden. Sinnvoll ist es insofern schon, davon auszugehen, daß diese Probleme durch Menschen, insbesondere in der Vergangenheit durch die Industrienationen verursacht wurden.

Eine zusätzliche Ungerechtigkeit (und eine Fortsetzung unseres kolonialen Erbes) ist es, daß dabei, diejenigen Länder, die am meisten zu den Emissionen beitragen, in der Regel den geringsten Direktschaden davontragen bzw diesen sehr viel besser abfedern können, wenn etwa Überschwemmungen oder Waldbrände auftreten, während umgekehrt die ärmsten Länder kaum zu Emissionen beitragen, aber dennoch am meisten unter den Folgen zu Leiden haben. (S. 10)

Welzers Buches setzt als Hauptthese einen direkten Zusammenhang von Klimawandel und neuen Kriegen1 an und will sich mit der zentralen Frage beschäftigen, wie Klima und Gewalt zusammenhängen (S. 14). Denn häufig werden uns Kriege, Auseinandersetzungen und Konfliktherde in anderen Teilen der Welt unkritisch als etwas dargestellt, was sie gar nicht sind. Systematisch findet in vielen Medien eine Verschleierung und ein Verschweigen von Ursachen statt. So wie etwa die Schiffsentführungen in den Gewässer am Horn von Afrika bzw. vor Somalia unkritisch als kriminelle Akte organisierter Banden dargestellt werden. Selten wird auch der Grund hierfür erwähnt. Denn tatsächlich handelt es sich bei den Entführern teils um Fischer, deren Fanggründe von ausländischen Fischflotten leergefischt wurden. Diesen Menschen wurde, mit anderen Worten, ihre Lebensgrundlage entzogen. So haben sie sich – ganz kapitalistisch – auf eine lukrative andere Tätigkeit verlegt,woraus dann – auch ganz kapitalistisch angegangen – gleich ein ganzer Wirtschaftszweig wurde. Oder ein Krieg wie im Sudan wird uns als Auseinandersetzungen von Ethnien oder von religiösen Gruppierungen nahegebracht. Es handelt sich bei diesem Konflikt/Krieg in Darfur aber nicht, wie die Medien vielfach glauben machen wollen, um einen Konflikt von verschiedenen Ethnien (dies ist nämlich nur ein sekundärer Aspekt), sondern aufgrund der Versteppung und der Ausbreitung der Südsahara im Westsudan geht es um den Zugang zu Ressourcen wie Land und Wasser. Dieser Konflikt, welcher das Resultat klimatischer Veränderungen ist, gibt ein pars pro toto ab, denn: „Der Blick in den Sudan ist ein Blick in die Zukunft“, schreibt Welzer (S. 25).

Es werden die Welt noch viele solcher Kriege erwarten, erst recht dann, wenn der Druck im Kessel steigt und Ressourcenknappheiten nicht mehr am Verhandlungstisch gelöst werden können, weil kaum noch Ressourcen vorhanden sind. „Gewalt findet unter Handlungsdruck statt und fordert Erfolge. Bleiben diese aus, werden neue Gewaltmittel ersonnen, die immer wieder angewendet werden, wenn sie sich als effizient erwiesen haben. Und Gewalt ist innovativ, sie schafft neue Mittel und Verhältnisse.“ (S. 12) Diese ganz wesentlichen Ausführungen Welzers zum Gewaltdiskurs pointieren eine Entwicklung, die uns erwarten kann und deren Folgen für uns noch unabsehbar sind.

Mit den zunehmenden Konflikten kann weiterhin eine Veränderung einhergehen, die für uns wohlstands- und demokratieverwöhnte Europabewohner nur schwer vorstellbar und erträglich ist: daß nämlich aus der Sicht eines Historikers des 22. Jahrhunderts „das ganze westliche Gesellschaftsmodell mit all seinen Errungenschaften von Demokratie, Freiheitsrechten, Liberalität, Kunst und Kultur …“ (S. 13) nur noch als deplaziert erscheint, ein seltsames, gestrandetes Relikt aus grauer Vorzeit: Es wird Demokratie gegeben haben. Dies sei schwer vorstellbar? Nein, das ist es leider nicht.

Demokratie in der westlichen Welt ist nicht durch ein unverrückbares Naturgesetz garantiert und verbrieft. Und die Annahme ist irrig, daß Demokratie, nur weil sie schon so lange da ist, wohl nicht so schnell verschwinden wird. Ihr Verschwinden kann schneller gehen, als wir es denken können. Denn anhand der Theorie von sich verschiebenden Referenzrahmen und shifting baselines zeigt Welzer an zahlreichen Beispielen sehr eindringlich, wie sich Wert- und Moralvorstellungen unmerklich verschieben können, ohne daß die Bewohner einer System- und Lebenswelt dies überhaupt wahrnehmen. Nicht nur die Klimawirkungen durch die „schrankenlose Vernutzung fossiler Energie“ erzeugen Unwägbarkeiten in der Entwicklung, sondern auch die „Grenzen des Wachstums“ bringen das westliche Modell an seine Grenzen. Es entstehen Konsequenzen, mit denen keiner gerechnet hat.

Es ist dazu nicht einmal der große böse Unbekannte von außen nötig, um diese Abschaffung zu leisten. Die Teilnehmer einer Gesellschaft betreiben dies vielfach selbst und betrachten die Verschiebungen als selbstverständlich. Worum es sich hierbei handelt, sind Prozesse, die sich einerseits intrinsisch abspielen und andererseits einem kollektiven Impuls folgen. Harald Welzer ist nicht umsonst Sozialpsychologe, und er schildert diese Prozesse, die zu einer Veränderung von Wahrnehmung führen, sehr präzise. Als Beispiel für solche unmerklichen Verschiebungen sei hier nur im Zusammenhang mit dem 11.September 2001 der Verzicht auf Freiheitsrechte zugunsten von Sicherheit genannt. Wir haben uns schleichend an Dinge gewöhnt, gegen die mancher vor 20 Jahren mit Vehemenz protestiert hätte.
 

Zwischenspiel Terrorismus: „Keep on Rockin‘
in a Free World“ 

Nebenbei bemerkt: es geht hier nicht darum, gegen einen (durchaus existenten) Terrorismus (dieser ist kein Simulacrum, die Türme sind, unabhängig von der medialen Inszenierung und Vernutzung, durchaus real eingestürzt, und [islamischer] Terrorismus ist auch nicht das Resultat und Konstrukt einer jüdisch-amerikanischen Weltverschwörung) sich wehrlos zu zeigen. Im Gegenteil: Ein Staat steht in der absoluten politischen Pflicht, seine Bürger so weit wie möglich und auch bestmöglich zu schützen. Die Frage ist nur, wie dies geschieht und wie sich hierbei Wahrnehmungsmuster ändern und Dinge aufgrund einer Güterabwägung aufgegeben werden, die vorher als erstrebenswert erschienen. Der Terrorismus und der Anti-Terror-Kampf haben den Blick verändert.

Doch hinsichtlich dessen,wie sich die Spirale der Gewalt weiter hochschrauben wird, können sich westliche Gesellschaften einer Sache gewiß sein, und diejenigen, die im Umgang mit den Systemen der Überwachung und dem Einsickern dieser Systeme in unsere Gesellschaft als Selbstverständlichkeiten – teils zu recht – das allerschlimmste befürchten, ohne dabei die Dialektik von Notwendigkeit, Demokratieverlust und Möglichkeiten der Bewahrung von Demokratie in den Blick zu bekommen: ihnen sei gesagt: Diese (radikal-islamischen) Kräfte, die absolut zu bekämpfen sind, werden keine einzige Regung, keinen Aspekt unserer Lebens und unsres Systems dulden. Die, denen unsere tolerante Gleichgültigkeit, unser analytisches Verständnis, unsere desinteressierte Toleranz gilt, warten vielleicht nicht unbedingt darauf, aber sie werden keine sich bietende Gelegenheit ungenutzt lassen.

Wer „die“ sind? Der politische Islam, aber auch weitgehend säkulare arabische Staaten wie Syrien und der (damalige) Irak sowie die palästinensischen Autonomiegebiete haben jene Menschen mobilisiert: Die Bilder der Jubelnden und Feiernden aus den arabischen und persischen Großräumen, die gezeigt wurden, als jene Türme im September einstürzten, sind eben keine Ausnahme, wie manche es darstellen wollen. Auch die Kundgebungen in Ländern, in denen ansonsten keine Demonstration erlaubt ist, zum damaligen Karikaturenstreit zeigen ein leicht zu mobilisierendes Potential; und sie zeigen zudem, wie schnell und blitzartig Themen, die in westlichen Medien verhandelt werden, umgepolt und benutzt werden können, um Konflikte zu erzeugen, und zugunsten eines Gewaltdiskurses umgelabelt werden. Diese instrumentell mobilisierten Massen meinen es nicht nur ernst, sondern machen es auch, wenn es sein muß und man sie läßt. (Es muß aber gar nicht einmal so weit aus Europa heraus gegangen werden, sondern es reicht die teilnehmende Beobachtung bei einer palästinensische Anti-Israel-Demonstration in Berlin oder Paris, um die Potentiale an Haß zu sehen, die sich leicht instrumentalisieren lassen.)

Daß ihr Haß Gründe hat und die andere (düstere) Seite der westlichen Moderne ist und mit dem kolonialen Erbe zusammenhängt, das wir mit uns tragen, sei geschenkt. Wir werden diese Gründe so schnell weder aufklären noch beseitigen können. Die Carl Schmittsche Freund/Feind-Unterscheidung, die von jenen islamischen (politischen) Kräfte gezielt benutzt wird und die der politischen Linken Anathema ist, obgleich sie selber damit implizit und ungewußt beständig operiert, spiegelt sich automatisch zurück und muß zwangsläufig zum symmetrischen Bestandteil westlicher Handlungsrationalität werden. Hierin liegt das aufschaukelnde Element solcher Konflikte, selbst dann, wenn man versucht, ihnen pragmatisch zu begegnen. Diese Aporie stellt auch Welzer korrekt heraus, so daß Gewalt zunehmend als (selbstverständliche) Lösungsmöglichkeit von Problemen fungiert. Doch wird sich seine Sichtweise vermutlich von einem strategischen-politischen Blick, welcher sich mit der Terrorismusforschung und -bekämpfung beschäftigt, unterscheiden, da es Welzer um Lösungen gehen wird, die konfliktvermeidend sind.

Insofern ist hier auch – am Rande gesagt – der Ansatz, der bei der Ausstellung „Embbeded Art“ (in der Berliner Akademie der Künste) gewählt wurde, zu kritisieren. Er simplifiziert in seinen Thematisierungen des Überwachungs- und Strafdiskurses die Problematik dieser Techniken. Die meisten der Werke sind (politisch-philosophisch gesehen) unterkomplex. Und darin gerade besteht ja die Schwierigkeit zwischen Scylla und Charybdis hinduchzusegeln und jene Dialektik ausbalanciert zu bekommen: Eine (gewollte?) schleichende Erodierung von Freiheitsrechten, die zu einem unmerklichen Abgleiten ins Totalitäre führt (als erodierende europäische Demokratie sei hier Italien paradigmatisch genannt), zu vermeiden und gleichzeitig einer terroristischen Bedrohung zu begegnen, die es gleichfalls darauf anlegt, Modelle von Demokratie (auch sozialistischer Demokratie!) insgesamt in den Orkus zu jagen vermittels Selbstmordattentätern, auf die im Paradies dann 72 Jungfrauen warten, was für viele Männer eine lockende Versuchung darstellen mag. (Und diese Denkmuster sind nicht von einer „transzendentalen Obdachlosigkeit“ angefressen, was sich – zunächst einmal – als Handlungsvorteil erweist.)

Zu recht erwähnt Welzer hier, daß das Selbstmordattentat im Diskurs der arabischen Welt eine Neuerung darstellt, die es vor zwanzig Jahren in diesem Extrem noch nicht gab und an die sich die Bewohner dieser System- und Lebenswelt gewöhnt haben. Auch eine Form der shifting baselines. Die betroffenen Familien haben für diesen Tod Weisen der Rationalisierung gefunden. Neben dem Geld und dem gestiegenen Sozialprestige für die Familie wird, so Welzer, die Todesnachricht über das Ableben des Selbstmordattentäters (Welzer nennt diese zu recht „menschliche Bomben“) nicht bei den Todesanzeigen, sondern unter der Rubrik Hochzeitsanzeigen verbreitet. So haben in der arabischen Welt menschliche Bomben die Flugzeugentführung sowie das klassische Sprengstoffattentat (als Gewaltdiskurs der siebziger und achtziger Jahren) abgelöst, ohne daß dieser Paradigmenwechsel groß in den Blick gerückt ist. Und auch der Westen hat seine Reaktionsmuster angepaßt und an dieser neuen Form von Terrorismus ausgerichtet. Dazu gehört auch die Erzeugung von Angstdiskursen durch (konstruierte) Bedrohungsszenarien. Diesen Punkt zu konstatieren, heißt wiederum und im Umkehrschluß nicht, daß alles an Terror staatlich inszeniertes Simulacrum ist. Terroristische Bedrohung ist real. Es gibt Terrorismus.

 Ich werde mich in nächsten Essay weiter mit Welzers Buch beschäftigen und eine Darstellung und Analyse geben. Ich bitte diesen kleinen Exkurs zum Terrorismus zu entschuldigen, aber er stand bezüglich der Ausstellung „Embedded Art“ noch aus.

 

(1) Dabei sei es in diesem Zusammenhang erst einmal in der Diskussion hintenangestellt, ob die Unterscheidung zwischen neuen und alten Kriegen, wie sie etwa Mary Kaldor in ihrem Buch „Neue und alte Kriege“ und Herfried Münkler in seinem interessanten Buch „Die neuen Kriege“ ansetzen, triftig ist oder nicht. Ich werde wohl demnächst noch einiges zu den Begriffen Krieg und Gewalt veröffentlichen. Es ist dies aber ein Themenblock für sich, den ich nicht auch noch und zusätzlich in den umfagngreichen Welzer-Essay mit aufnehmen möchte.

 

Harald Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Fischer Verlag, 19,90 EUR, 336 Seiten, ISBN 978-3-10-089433-5

Für ein Sachbuch im allgemeinen Wissenschaftsbereich hat dieses Buch ein sehr hervorragendes Register (ausführliches Sachwort- und Personenverzeichnis) und vor allem ein gutes Literaturverzeichnis. Dies ist leider bei vielen Büchern nicht selbstverständlich. Lediglich die Gliederung der Kapitel ist zu rügen, weil sie unzureichend strukturiert ist. (Man hätte besser in der Form I., 1. a) usw. strukturiert.)