Robert Gernhardts Dialektik, Adornos Kritische Theorie, Pohrts Witz und die Elche

Zum Jahresbeginn vielleicht eine kleine Kanzelrede vom Weltgebäude herab. Denn kürzlich las ich bzw. entdeckte ich im Internet ein Gedicht von Robert Gernhardt wieder, das den schönen Titel „Theke, Antitheke, Syntheke“ trägt. Es ist in dem Gedichtband „Reim und Zeit“ enthalten. Es geht, sozusagen, um den vermeintlichen dialektischen Dreischritt, der hier aber bei Gernhardt in seiner Fülle ausgefahren wurde:

Theke, Antitheke, Syntheke

Beim ersten Glas sprach Husserl:
»Nach diesem Glas ist Schlusserl.«
Ihm antwortete Hegel:
»Zwei Glas sind hier die Regel.«
»Das kann nicht sein«, rief Wittgenstein
»Bei mir geht noch ein drittes rein.«
Worauf Herr Kant befand:
»Ich seh ab vier erst Land.«
»Ach was«, sprach da Marcuse,
»Trink ich nicht fünf, trinkst du se.«
»Trinkt zu«, sprach Schopenhauer,
»Sonst wird das sechste sauer.«
»Das nehm ich«, sagte Bloch,
»Das siebte möpselt noch.«
Am Tisch erscholl Gequietsche,
still trank das achte Nietzsche.
»Das neunte erst schmeckt lecker!«
»Du hast ja recht, Heidegger«,
rief nach Glas zehn Adorno:
»Prost auch! Und nun von vorno!«

Eine schöne, illustre, philosophische Gesellschaft, die den angenehmen Dingen frönt. Das ist in der Philosophie meist so. Allerdings ist sie wie auch die Dialektik mit Arbeit verbunden. Und nun komme ich heute aus dem Lachen gar nicht mehr heraus, trotzdem es in Berlin trüb ist, denn ich lese gerade in Wolfgang Pohrts „Der Staatsfeind auf dem Lehrstuhl“. Dies ist ein Vortrag, den Pohrt 1984 auf dem Adorno-Symposion in Hamburg hielt und der sich zum Teil auf den sozusagen offiziellen Adorno-Kongreß von 1983 in Frankfurt mit all denGroßkopfeten bezieht. Pohrts Vortrag ist immanent adornitisch gedacht zwar und vielleicht nicht unbedingt gemäß philosophischer Kritik, aber dafür doch unnachahmlich lustig und teils auch treffend. Es schrieb Pohrt dieses:

„Insofern aber, als es ein vernünftiges Ding mit dem Namen Frankfurter Schule gar nicht geben kann, darf man einen philosophischen Sachbearbeiter Schnädelbach oder eine unter dem Namen Habermas publizierende vollautomatische Textverarbeitungsanlage durchaus als Frankfurter Musterschüler bezeichnen. Insofern auch ist es ganz falsch, hier dem Frankfurter Adorno-Kongreß vom letzten Jahr eine verbesserte Version entgegensetzen zu wollen, denn wenn es der Zweck solcher Veranstaltungen ist, den Ruhm des Toten, dem sie gewidmet sind, im hellsten Glanz strahlen zu lassen, dann war jener Kongreß einfach unübertrefflich in der Art, wie er tätig aufopfernde Selbstverleugnung praktizierte, wie er das Funkeln ausschließlich Adorno überließ und dessen Leuchtkraft noch erhöhte durch den Kontrast zur Blässe derer, die pedantisch über ihn nachdachten. Insofern auch ist vielleicht die oft als unglücklich beklagte Personalpolitik Adornos eher das Produkt einer maliziösen Strategie gewesen. Vielleicht im Bewußtsein dessen, daß man sein Werk kaum würde verbessern, sondern nur verwalten können, hat er auch Sachbearbeiter herangezogen und dabei möglicherweise tagträumend die Vision genossen, wie man ihn nach seinem Tod um so schmerzlicher vermissen wird, wenn dann solche Sachbearbeiter am Ruder sind. Sie dienen seinem Andenken mit ihrer Unfähigkeit mehr, als es andere mit ihren Fähigkeiten können, und deshalb sollten wir ihnen dankbar sein, statt ihnen kleinliche Gehässigkeiten nachzutragen.“

Kritische Theorie ist vielfach zu einer Angelegenheit von universitären Verwaltungsbeamten an geworden. Oder aber man erforscht und referiert jene Kritische Theorie, um sie zu verstehen und auch, um sie historisch einzuordnen. Philologie kann manchen Sonnenschein und Glück allein bringen. So wie es geschieht, wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist; es beginnt dann der Flug jener wunderbaren Eule der Minvera. Immerhin ist es nicht falsch, um Herkunft und Geschichte des eigenen Tuns zu wissen, diese Geschichte zu kennen, auch wenn man sie nicht mehr zu können vermag. Und in diesem Sinne ist Kritische Theorie Geschichte – die Zeiten Adornos sind nicht die unseren.

Dennoch: anstatt Symposien und Kongresse über Kritische Theorie zu veranstalten, wäre es Zeit und angebracht, sie insofern lebendig werden zu lassen, indem man sie am Gegenstand betreibt: nicht nachmachend und die hunderste kulturkrititsche Volte und Wendung schlagend, noch einmal und noch einmal: again and again, sozusagen: der Geist der schnarchenden Kritik aus dem Zeitalter der  Reproduzierbarkeit, sondern in einer originellen Form. Witz, so heißt das Zauberwort, und Gedächtnis. Und ein  feuilletonistisch-philosophischer Esprit. Mit Adorno, gegen Adorno, über Adorno, mit Adorno. Und insofern warte ich dringend auf DAS Adorno-Buch von Rüdiger Safranski. Es wird, so vermute ich, zum Niederknien gut sein.

Aber all diese Esprit-Witz-und-Denker-Wünsche: es ist leichter gesagt als getan: vielfach findet sich nur laues Genöle, das sich für Kritik hält, oder ein nachgerade antiadornitisches Antideutschtum oder „kritische Kritik“ wie Marx witzelte, die verkennen, wie sehr Adorno immer an diesem Land hing. Oder aber einfach eine Leerlauf-Kritik, die bei weitem ihren Gegenstand unterbietet. Entweder eine Ideologiekritik, die noch ihre eigenen Grundlagen unterläuft und bereits gescheitert ist, wenn man sie in Selbstanwendung auf den Kritiker bringt, um ihm seine intellektuellen Unzulänglichkeiten vorzuhalten. Oder aber eine längst als Phrase leerlaufende Kritik an dit und an dat. Solche Kritik hat etwas Freudloses, Unfrohes, Unerotisches, Langweiliges und Lustloses. Ein Modus, den man im Gestus wiederholt und in imitatio betreibt, wird zum Zombie, zum Untoten. Dann lieber ein fröhlicher Epikureer, der gärtnert oder sich ein leckeres Suppenhuhn kocht.

Geisterhafte Wiedergänger sind so problematisch wie universitäre Verwaltungsbeamte. In Horkheimers Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ wurde jene Kritische Theorie noch kleingeschrieben: denn es war dies keine Lehre und keine traditionelle Schule, zu der man sich zählte, sondern vielmehr eine Tätigkeit des Denkens, die zum einen sich von herkömmlicher, eben traditioneller Theorie und einem herkömmlichen Methodenideal unterscheiden wollte: eine Kritik der Vernunft mit ihren eigenen Mitteln – was auch gar nicht anders geht, denn es stehen dem Denken lediglich diese Mittel zur Verfügung; und zum anderen stand sie dennoch in der Tradition, nämlich der Kants und Hegels, Marx‘ und Freuds und auch Husserls: Abhub der Erscheinungswelt und ein kritisches Denken zu betreiben, das sich dabei auch auf die Gesellschaft bezog und Oberflächenphänomene bzw. das, was zunächst ins Auge sticht und als unmittelbar erscheint, auf ihre Tiefenstrukturen zu untersuchen. Eine Philosophie, die sich von ihrer materialen Basis nicht ablöste, aber dabei dennoch nicht ins positivistische Erbsenzählen glitt. Eine Philosophie, die den Idealismus – im Sinne Adornos und Horkheimers als Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft – beim Wort nahm, indem sie sich auf dessen Texte bezog (wenngleich die philologische Gründlichkeit der beiden oftmals zu wünschen übrigließ) und die dennoch auf eine veränderte Gesellschaft abzielte, oder wie Horkheimer es 1937 in jenem Text in einer Fußnote formulierte:

„Die kritische Theorie erklärt: es muß nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden.“ (Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie)

Das ist ein interessanter Gedanke. Und er wird in der Demokratie auf eine eher prozessuale Weise eingeholt.

„Das bürgerliche Denken ist so beschaffen, dass es in der Reflexion auf sein eigenes Subjekt mit logischer Notwendigkeit das Ego erkennt, das sich autonom dünkt. Es ist seinem Wesen nach abstrakt, und die als Urgrund der Welt oder gar als Welt überhaupt sich aufblähende, vom Geschehen abgeschlossene Individualität ist sein Prinzip. Der unmittelbare Gegensatz dazu ist die Gesinnung, die sich für den unproblematischen Ausdruck einer schon bestehenden Gemeinschaft hält, wie etwa die völkische Ideologie. Das rhetorische Wir wird hier im Ernst gebraucht. Das Reden glaubt, das Organ der Allgemeinheit zu sein. In der zerrissenen Gesellschaft der Gegenwart ist dieses Denken, vor allem in gesellschaftlichen Fragen, harmonistisch und illusionär. Das kritische Denken und seine Theorie ist beiden Arten entgegengesetzt. Es ist weder die Funktion eines isolierten Individuums noch die einer Allgemeinheit von Individuen.“ (Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie)

24 Jahre später: Adorno ergänzt diesen doch noch irgendwie optimistischen Blick Horkheimers mit einer Art von ästhetischer Melancholie :

„Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm.“ (Adorno: Versuch, das Endspiel zu verstehen)

Von jenem Programm kritischer Theorie, das Horkheimer, Adorno und Marcuse Ende der 1930er Jahre formulierten und gleichsam programmatisch in Anschlag brachten und mit der „Zeitschrift für Sozialforschung“ praktisch auch wirkmächtig werden ließen, ist nach Adornos Tod lediglich die denkende Besinnung auf eine Sache namens Gesellschaft übrig geblieben. Und auch die Schwierig- oder besser geschrieben die Unmöglichkeit, jenes dumme Ding, das man Gesellschaft nennt, mit sogenannten revolutionären Mitteln zu ändern, müssen im Sinne Kritischer Theorie mitgedacht werden – wobei gegenwärtig eher zu fürchten ist, daß – weltweit betrachtet – diese Revolution eine von rechts sein wird. Kritische Theorie ist problematisch geworden und das formulierte auch Wolfgang Pohrt implizit mit, wenn er vortrug:

„Wie jeder Gesellschaftskritiker oder Philosoph, der seine Sache gut gemacht hat, so hat auch Adorno seinen Schülern und Amtsnachfolgern nichts als Arbeitslosigkeit hinterlassen. Was es über diese Epoche zu denken und zu sagen gibt, kann man in seinen Büchern lesen, und eine andere Epoche, in welcher Adorno veraltet oder überflüssig sein würde, ist leider nicht in Sicht.“

Dieser Satz mag polemischer Zuspitzung geschuldet sein und er mag einer gewissen Einseitigkeit im Blick entsprungen sein, denn auch an sogenannten kulturindustriellen Produkten wie dem Unterhaltungsfilm kann einem Zuschauer etwas aufgehen, und die besten „Tatorte“ in der ARD werfen, trotzdem sie eine für viele produzierte Unterhaltung sind, zugleich gesellschaftliche Fragen in die Diskussion (und das in Einzelfällen sogar besser als manches Zeigefingersozialdrama aus der Rubrik High-brow-Film mit Hang zur Berlinale), und in diesem Sinne bleibt hinreichend Arbeit übrig – auch um andere Verzweigungen nur als die negative Kritik zu entdecken. Denker wie Foucault mit seinem, wie er es in bezug auf bestimmte Phasen seines Denkens halbironisch, halbernst nannte, „fröhlichen Positivismus“ und Deleuze (aber auch Lyotard und der mittlere Derrida) zeigen hier andere Wege.

Dennoch bringt dieses Pohrt-Zitat eine Tendenz gut auf den Begriff: daß Adorno in seinen Analysen zentrale Aspekte der spätkapitalistischen Gesellschaft mit marxschen Mitteln zur Darstellung brachte: ihre Mechanismen und auch die Art, wie Bewußtsein in Beschlag genommen werden kann, bis hin zu seiner These, daß Arbeit und Freizeit ineinander übergegangen sind – auch im Sinne jener Selbstoptimierung, die nicht dem Gnothi seauton, sondern dem marktgerechten Verhaltung und der unternehmensorientierten Selbstdarstellung und damit der Performance dient.

Einen solchen Blick in die Welt optimierter Selbste und der Wahl des Liebespartners nach Portfolio-Kriterien entwirft Ute Cohen in ihrem Anfang des Jahres erschienenen Roman „Poor Dogs“, und wir finden schon lange vorher in Guy Debords „Die Gesellschaft des Spektakels“ etwas davon. Auch in bezug auf diese Selbstperformanz, und darin ist Pohrt recht zu geben, finden wir bei Adorno zahlreiche Texte: die „Minima Moralia“ sind gleichsam ein Brevier und Handorakel der Negativität und was nicht zu tun sei. Es bleibt in diesem Sinne tatsächlich viel Nacharbeit, wie es Schiller in den Xenien über „Kant und seine Ausleger“ dichtete: „Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.“ Aber in der Position des Kärrners zu verharren ist eben doch langweilig – außer man heißt Nena und ist noch so fresh wie in den 1980er Jahre, als die Unmittelbarkeit noch unmittelbar war. Unmittelbar naiv.

Solche Kritik des Projekts Frankfurter Schule als Projekt und planbare Veranstaltung universitärer Verwaltungsbeamter gedacht, äußerte unlängst auch Peter Trawny in seinem Buch „Was ist deutsch?“:

„Habermas‘ Projekt, die aktuelle Frankfurter Schule überhaupt, ist ein Diskurs von Professoren, der sich nur insofern ein besonderes Profil verleihen kann, als er in Exzellenz-Initiativen erfolgreich ist. Theorie um ihrer selbst willen wird ausgestattet mit großzügigen Posten. Damit aber erlangt der Diskurs noch keine gesellschaftspolitische Relevanz. Im Gegenteil. Er wird nicht weniger esoterisch als das von Habermas so häufig abgekanzelte Heideggersche Denken. Was universitätspolitisch äußerst effektiv funktioniert, ist ‚lebensweltlich‘ irrelevant geworden.“

In diesem Sinne bleibt vielleicht nur jenes Ausweichen vor falschen Alternativen und dogmatischen oder sophistischen Festlegungen oder dem Festzurren auf eine linke Identitätspolitik als ungetriggerter Hallraum der Woken: jene Echokammer, die sich kritisch dünkt und sich doch nur narzißtisch spiegelt: dies Leute haben nicht einmal mehr ihre französischen Gewährsmänner und -frauen, auf die sie sich frech berufen, auch nur halbwegs erfaßt. Da können sie sich mit Gumbrechts Postmoderne-Kritik zusammentun. Zwei Lager, ein Denken.

Adornos Stärke lag nicht da, wo er sich in die Fallstricke der Ideologiekritik verhedderte, sondern da, wo er ungedeckt und frei von solchen Konstrukten sich in die Philosophie warf: das Denken des Nichtidentischen, jene Freiheit zum Objekt und des Eingedenkens der Natur: „Im Eingedenken ans eigene Naturwesen entragt es [das verfallene Dasein] seiner Naturverfallenheit.“ (Adorno, Zur Schlußszene des Faust)

Was bleibt, als kritische Theorie, gegen all diese Tendenzen, das ist die Philosophie als Kritik und Denken, als Arbeit am Text, als gründliche intensive Lektüre und genaue Deutung von Texten. Close reading. Das also, was Philosophie seit Heraklit, Parmenides und Platon schon immer tat. Das Denken denken.

Vielleicht läßt sich als eine der Bestimmungen der unterschiedlichen Ausprägungen kritischer Theorie jener Satz von Herbert Marcuse festhalten, den er in Anschluß an Horkheimers Essay und als Antwort schrieb:

„Das Interesse der kritischen Theorie an der Befreiung der Menschheit verbindet sie mit bestimmten Wahrheiten, die sie festhalten muß. Daß der Mensch mehr sein kann als ein verwertbares Subjekt im Produktionsprozeß der Klassengesellschaft, durch diese Überzeugung ist die kritische Theorie am tiefsten der Philosophie verbunden.“ (Herbert Marcuse, Philosophie und kritische Theorie)

Vielleicht ist diese Neue Frankfurter Schule, vielleicht ist jener Humor, jener Witz als Ingenium eine Möglichkeit, im Modus der Kritik zu bleiben und dennoch nicht freudlos und moralinsauer aus der Welt zu blicken oder Kunstwerke daran zu messen, ob darin auch die richtigen moralischen und haltungsmäßigen Standpunkte vorkommen und ob darin bloß keine der Figuren „Neger!“ oder „Zigeuner“ ruft oder aber als Ideologiekritiker den Leuten ihr vermeintlich falsches Bewußtsein vorzunölen und im Unterbewußten der Massen zu poppeln: Freud für Freudlose gleichsam, wobei ich nichts gegen Freud gesagt haben will. Solchen digressiven Takt als entferntes Verstehen und Koppelung von Ungleichzeitigem und Inkompatiblem zeigten Dichter wie Laurence Sterne, Jean Paul, Heinrich Heine, Eckhard Henscheid und überhaupt die Dichter und Spötter der Neuen Frankfurter Schule – man nehme nur Standardwerke wie „Reim und Zeit“, die schon vom Titel her mit der Größe des Denkens spielen (der Anklang an Heideggers „Sein und Zeit“ ist unüberhörbar) und die dennoch das Gedicht als Effekt auch der Zeit sehen. Womit ich wiederum bei jenem Gedicht von Robert Gernhardt vom Anfang des Textes angelangt bin.

Und vielleicht auch für all die Orakel und Debakel, die haltlosen Auslegungen und für die Mutmaßungen, die am Ende doch nicht so wie gemaßt und gemutet zutreffen,  sei mit Spott, mit Witz und deshalb mit Robert Gernhardt geendet, der dieses Jahr seinen 15. Todestag hat, und zwar mit Gernhardts „Deutung eines allegorischen Gemäldes“

Fünf Männer seh ich inhaltsschwer;
wer sind die fünf?
wofür steht wer?

Des ersten Wams strahlt blutigrot;
das ist der Tod
das ist der Tod.

Der zweite hält die Geißel fest;
das ist die Pest
das ist die Pest.

Der dritte sitzt in grauem Kleid;
das ist das Leid
das ist das Leid.

Des vierten Schild trieft giftignaß;
das ist der Haß
das ist der Haß.

Der fünfte bringt stumm Wein herein;
das wird der Weinreinbringer sein.

In diesem kritischen Sinne einen guten Start ins Jahr 2021.

Adorno zum 50. Todestag. Von der Theorie als Lebensform: Grandhotel Abgrund und die bestimmte Negation

Es sind Aporien, gesellschaftliche, soziale, die sich übers Leben wälzen: „Das Leben lebt nicht“, so geht der Anfang von Adornos „Minima Moralia“ mit einem Zitat von dem weitgehend vergessenen österreichischen Schriftsteller Ferdinand Kürnberger – einer jener Sprachartisten, die Karl Kraus zum Vorbild dienten.

Todestage geben Anlaß zum Denken, besonders die runden. 50, 100, 200: wir kennen das aus dem Feuilleton. Blicke zurück, je nach Person geschieht das mal philosophisch, mal biographisch, mal literarisch oder eben als eine Mischung, indem Aspekte aufeinander bezogen werden, ohne freilich ein Werk in Biographismus zu ersticken – besser istʼs. Nun könnte ein gewiefter Leser, wenn er sich Adornos „Minima Moralia“ zur Hand nähme und sich an der Methode dieses Buches orientierte, mit dem Vergrößerungsglas zu arbeiten und Ungesehenes freizulegen, solche Form von Gedenken durchaus skeptisch hinterfragen: etwa weil die Sache zum Ritual wird: Gedenken verschließt sich zu einer Kranzabwurfstelle, wo Übliches abgesondert wird. Der Rückblick erledigt die Sache, statt sie leuchten zu lassen. Die bürgerliche Aura, die in solchen Veranstaltungen immer noch wirkt: undsoweiterundsofort.

Die Frage, was von einem Philosophen bleibt, ist in der Tat falsch gestellt und Ausdruck unphilosophischen Bewußtseins, wenn sie sich am Fortschrittsmodell naturwissenschaftlicher Erkenntnis orientiert und meint, bestimmte Aspekte zu den Akten legen zu können, weil sie inzwischen abgegolten sind. Mit Kopernikus mag das alte geozentrische Weltbild zu seinem Ende gekommen sein, in der Philosophie gehen die Uhren anders.

Philosophen und ihrer Philosophie jedoch sind nicht so leicht zu erledigen – und im Grunde auch nicht jene Naturphilosophien und Naturforscher, deren Theorien nicht mehr funktionieren. Ein Nachruf auf Aristoteles, Platon, Parmenides oder Anselm von Canterbury vermag es immer noch, Schätze zum Glanz zu verhelfen und Vergessenes hervorzuschürfen. Veraltet ist nichts, denn wir finden Fragen, um deren Lösung sich bis heute Philosophen streiten – alle Philosophie sei im Grunde nichts als ein einziger ontologischer Gottesbeweis, wie Hegel einmal gesagt haben soll – und gerade dazu, für die veränderte Konstellation und um eine vielleicht andere und ebenfalls originelle Perspektive zu finden, kann ein Blick zurück hilfreich sein, auch als Kritik – immer etymologisch zu lesen vom griechischen krinein, also dem Unterscheiden. Indem man eine Sache auftrennt und neu anordnet, kann solches Unterscheiden ebenso bedeuten, ihr eine andere Form zu geben und dadurch einen anderen Fokus zu liefern. Das, was als irgendwie naturgegeben und unvermeidlich erscheint, was scheinbar fest ist, wird liquid. Wird also liquidiert und damit flüssig. Dialektische Beweglichkeit. Adornos „Minima Moralia“ machen genau diese Bewegung. Sie zeigen uns etwas. Im Modus der Polemik, der Übertreibung, der Anekdote, ebenso aber als philosophische oder literarische Reflexion.

„Longtemps, je me suis couché de bonne heure.“

„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal fielen mir die Augen, wenn die Kerze ausgelöscht war, so schnell zu, daß ich keine Zeit mehr hatte zu denken: ‚Jetzt schlafe ich ein.‘ Und eine halbe Stunde später wachte ich über dem Gedanken auf, daß es nun Zeit sei, den Schlaf zu suchen; …“

Was Proust da im Auftakt minuziös beschreibt, den Schlaf nicht nur zu finden, sondern ihn auch zu schreiben, jenes Hineindenken ins Fremde und jene Kraft zur Phantasie,  – „es kam mir vor, als sei ich selbst, wovon das Buch handelte“ – kommt dem recht nahe, was auch Adorno in den „Minima Moralia“ umtreibt: die Dinge und das, was uns umgibt, zu betrachten – bis hinein in ihre verborgenen Winkelzüge und ihre gesellschaftlichen Mechanismen, denen sie unterliegen. Evident wird dies in zahlreichen Aphorismen dieser philosophischen Prosa, etwa in jener Passage mit dem Titel „Nicht anklopfen“. Wenn Adorno aus den inzwischen durch Schiebetüren ersetzten Türklinken oder an den schönen Flügelfenstern, die durch Kippfenster ersetzt werden, zeigt, wie uns der Umgang mit Welt prägt und formt:

„Am Absterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, daß die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuß, sei’s an Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion.“

Wenn Adorno freilich Vergangenes zitiert und jene Verlusterfahrung konstatiert, so bedeutet solcher Rückblick nicht, in den Modus der Regression zu gleiten und sich nun mit all den mehr oder weniger schönen Dingen aus dem Manufactum-Catalog zu umgeben. Genau solchen falsch verstandenen Konservatismus kritisierte Adorno. Es ist Ideologie und es zeigt das Nachgemachte nur umso mehr, wie sehr eine Epoche versunken ist und unwiederbringlich vorbei: die letzten Bürger ruhen. Grandhotels sind untergegangen und selten gut ausgebucht.

Es ist vorbei: eine Welt starb. Unaufhebbar muß man dazu sagen, denn Adorno neigte in solchen Fragen nicht zur Restauration und zu einem damit verbundenen Essentialisierung, der Wesenheiten annimmt und in diesem Sinne unterscheidet sich sein Blick von dem Heideggers, wenn man seine Texte „Aus der Erfahrung des Denkens“ nimmt. So sehr Adorno sein Amorbach und die dort verlebte Kindheit in Ferienzeit als Hort von Erfahrung schätzte, war jene Zeit, die der beschleunigten und funktionalen Moderne wich, immer schon durchzogen von Zerstörung und damit bereits im Augenblick des Erfahrens eine abgelebte Zeit. Dem Kind schien, was doch realiter niemals war. Lediglich im Moment blitzte etwas auf und weist auf anderes: als Erinnerung eben, darin ist Adorno Proust in der Methode verwandt. Und dieses Konzept eines nicht-essentialisierenden Konservatismus – ohne dabei im politischen Sinne konservativ zu sein, muß man dazu sagen – unterscheidet Adornos Blick von dem Heideggers, wie wir ihn etwa in seinem Aufsatz „Schöpferische Landschaften: Warum bleiben wir in der Provinz“ finden – nebenbei ein durchaus lesenswerter Text Heideggers, trotz Adornos harschem Diktum dagegen in seiner „Philosophischen Terminologie“.

In diesem Sinne ist Konservatismus ein unspezifischer Begriff – er findet sich im linken, wie im rechten Lager, und nimmt man Adornos Begriff von Heimat, dann zeigt sich gut, wie sehr man solches Denken genauso für eine Sicht von links nutzen kann. In der Emigration, mitten in der Fremde nämlich, ging Adorno auf, was das Zu-Hause-sein bedeutet, und dies ohne Ressentiments gegen sein Gastland zu entwickeln oder in Heimattümelei zu verfallen. Sehr wohl zwar kritisierte Adorno das Leben in den USA, aber er haßte es nicht und schrieb nicht mit dem Ressentiment des vermeintlich Überlegenen darüber. Genau diese Haltung kulturkonservativer USA-Kritiker verfiel regelmäßig dem Verdikt Adornos. Kritik heißt eben: Unterscheiden, trennen, sichten:

„Schönheit der amerikanischen Landschaft: daß noch dem kleinsten ihrer Segmente, als Ausdruck, die unermeßliche Größe des ganzen Landes einbeschrieben ist.

In der Erinnerung der Emigration schmeckt jeder deutsche Rehbraten, als wäre er vom Freischütz erlegt worden.“

Diese beiden Aphorismen stehen direkt untereinander, sie verweisen aufeinander und zeigen unterschiedliche Lebensmodelle. Sicherlich war Adorno ein deutscher (Groß)Bürger, er gehörte einer Klasse an, die es eigentlich schon lange nicht mehr gibt. Man kann dem heute nachtrauern. Aber der Ort des denkenden Intellektuellen, jener Denker, die nicht im tagesaktuellen Betrieb die Lieder singen, die gerade gefragt sind, ist und bleibt das Exil. Was Adorno über jene Jahre in der Emigration schrieb, mag zuweilen auch fürs Hiersein gelten und klingt nicht gar so fremd:

„Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will. Er lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muß, auch wenn er sich in den Gewerkschaftsorganisationen oder dem Autoverkehr noch so gut auskennt; immerzu ist er in der Irre. Zwischen der Reproduktion des eigenen Lebens unterm Monopol der Massenkultur und der sachlich-verantwortlichen Arbeit herrscht ein unversöhnlicher Bruch. Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog. Die Isolierung wird um so schlimmer, je mehr feste und politisch kontrollierte Gruppen sich formieren, mißtrauisch gegen die Zugehörigen, feindselig gegen die abgestempelten anderen.“ (Adorno, Minima Moralia)

Adorno schrieb jene „Minima Moralia“ Mitte der 1940er Jahre im US-Exil, sie erschienen 1951. Er konzipierte sie, in Anspielung auf Nietzsche, als die „traurige Wissenschaft“ und er nannte sie im Untertitel „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Allerdings sollte man das, was Adorno angesichts von Faschismus, Stalinismus und einem hermetischen totalisierenden Kapitalismus sah, als einen Ausdruck seiner Zeit nehmen: insofern ist unreflektiertes Parallelisieren problematisch. Mag unsere Gegenwart, die wir als Zeitgenossen erleben, nicht minder durchdrungen sein von Verdinglichung und sind es immer noch die ökonomischen Verhältnisse, die gesellschaftliches Sein mit bestimmen, so gleichen sich Zeiten nicht. Man kann selbst heute, und das macht in der Tat den Reiz von Adornos wie auch Walter Benjamins mikrologischem Blick aus, durch die neuen Welt der Einkaufspassagen streifen oder den Potsdamer Platz in Berlin durchwandern, um zu entdecken, wie abgelebt bereits 20 Jahre später eine solche Art von Spätmoderne in Architektur ist. Dennoch haben sich entscheidende Parameter verschoben. Technik ist nicht nur Tücke, was freilich auch Adorno und Heidegger gut wußten, sondern immer auch eine Chance um die Produktionsverhältnisse zu ändern.

Ob dafür freilich zugleich generell eine Änderung in unserem metaphysischen Wesen und im Denken selbst erforderlich ist, das eben, was in Adornos Philosophie das Movens ist, nämlich die Fähigkeit zur Erfahrung, ist eine ganz andere Frage. Nicht eben bündig zu beantworten, denn darum kreist auch Adornos Denken und solche Frage nach dem scheinlosen Schein des Absoluten übersteigt bei weitem die bloß soziale Frage. Hält sie aber andererseits auch nicht schlicht draußen zugunsten höherer Dignitäten. Bei Adorno zumindest, nimmt man seine „Meditationen zur Metaphysik“ im besonderen, und als unsystematisches System dazu noch die „Negative Dialektik“, darin jene Meditationen den Schluß bilden, so zeigt sich im Text, daß jene beiden Bereiche eng aneinander gekoppelt sind. Das terminiert in jenem bekannten Schlußbild, mit dem das Buch endet:

„Die kleinsten innerweltlichen Züge hätten Relevanz fürs Absolute, denn der mikrologische Blick zertrümmert die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Vereinzelten und sprengt seine Identität, den Trug, es wäre bloß Exemplar. Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes.“

Diese Aufgabe ist bis heute unabgegolten und dies sowie die Frage nach den Möglichkeiten von Kunst in Zeiten der Spätmoderne macht Adornos nach wie vor währende Aktualität aus. Zu leisten zumindest mit den Mitteln der Philosophie wie auch der Kunst ist eine phänomenologische Aufgeschlossenheit nicht nur hin zu den Dinge, sondern ebenso für die soziale Welt. Die „Minima Moralia“ zeigen uns, das ließe sich bis heute an diesem Text lernen, ganz in der Tradition von Marx und seinem Fetischismuskapitel aus dem „Kapital“, daß jene Verhältnisse, die uns naturwüchsig erscheinen, dies keinesfalls sind, sondern daß sie vielmehr gesellschaftlich verfaßt und gemacht sind – freilich ohne sich in einen halbgaren Kulturalismus aufzulösen und auf der Spielwiese identitärer Beliebigkeit zu zerfransen. Das gilt vom Phänomen der Sexualität, über die Liebe bis hin zu Institutionen und ebenso einem Begriff wie dem Volk, das von Rechtsaußen gerne essentialisiert wird. Kulturräume jedoch sind komplexe und wandelbare Gebilde – was freilich auch bedeuten kann, sie zu bewahren. Nicht alles Neue ist per se gut, nur weil es neu ist.

Mit diesem Aufschließen der Dinge und der sozialen Verhältnisse werden wir auch unserer selbst gewahr: nicht in einem absoluten Sinne und schon gar nicht in der Phrase von vermeintlicher Authentizität gedacht, aber doch in Zügen, in Ausprägungen und in immer neuen Schattierungen. In diesem Sinne sind die „Minima Moralia“ ein Buch im Geiste Prousts: der genaue Blick aufs Selbst und die Umgebung, das Verfahren ist ästhetisch inspiriert und doch erschöpft es sich nicht im Ästhetizismus oder im reinen Beobachten, und noch viel weniger ist es Literatur, selbst wenn Adorno immer wieder Anleihen von dort nimmt und der Stil Adornos literarisch zu nennen ist. Dieses Spiel von Literatur, Kunst und Philosophie zeichnet das Denken Adornos bis heute aus. In seiner Zueignung des Buches an Max Horkheimer heißt es zur Methode:

„Der spezifische Ansatz der Minima Moralia, eben der Versuch, Momente der gemeinsamen Philosophie von subjektiver Erfahrung her darzustellen, bedingt es, daß die Stücke nicht durchaus vor der Philosophie bestehen, von der sie doch selber ein Stück sind. Das will das Lose und Unverbindliche der Form, der Verzicht auf expliziten theoretischen Zusammenhang mit ausdrücken. Zugleich möchte solche Askese etwas von dem Unrecht wieder gutmachen, daß einer allein an dem weiterarbeitete, was doch nur von beiden vollbracht werden kann, und wovon wir nicht ablassen.“

Das Lose und Unverbindliche der Form mag so zu lesen sein, als schriebe sich hier ein Text, der aus der streng akademischen Philosophie fiele. Das ist einerseits richtig. Andererseits findet sich gerade im Überschuß solcher Reflexion das wieder, was wir mit dem Begriff Theorie bezeichnen: Geistig anschauen, betrachten und erkennen. Philosophie mithin. Theorie als Überschuß, ebenso übers rein Diskursive, ist eine Variante auch der akademischen Philosophie. Sie kann uns durch ein spielerisches, ein experimentierendes oder literarisches Verfahren Aspekte von Welt und von Selbst aufschließen, die in der bloßen Ratio verschlossen bleiben. Experimente im Denken – was allerdings kein Freibrief fürs Irrationale oder den Jargon poststrukturaler Eigentlichkeit ist, dessen sich langweilige Epigonen befleißigen, die in vermeintlicher Freiheit doch nur das Gleiche produzieren, was sie als Experiment tarnen, kulturindustrielles Gewäsch nämlich oder genauer gesagt die inzwischen eingeschliffene Phrase. Es kommt aber in der Theorie auf einen Blick an, der mehr auffaßt als das Arrivierte – schwierig zu leisten ist dies allemal, und es erfordert Anstregung, Arbeit und Formbewußtsein:

„Exakte Phantasie eines Dissentierenden kann mehr sehen als tausend Augen, denen die rosarote Einheitsbrille aufgestülpt ward, die dann, was sie erblicken, mit der Allgemeinheit des Wahren verwechseln und regredieren. Dem widerstrebt die Individuation der Erkenntnis. Nicht nur hängt von dieser, der Differenzierung, die Wahrnehmung des Objekts ab: ebenso ist sie selber vom Objekt her konstituiert, das in ihr gleichsam seine restitutio in integrum verlangt. Gleichwohl bedürfen die subjektiven Reaktionsweisen, deren das Objekt bedarf, ihrerseits unablässig der Korrektur am Objekt. Sie vollzieht sich in der Selbstreflexion, dem Ferment geistiger Erfahrung.“ (Adorno, Negative Dialektik, S. 56 f.)

Oder anders gedacht:

„Subjektiv befreite und metaphysische Erfahrung konvergieren in Humanität. Jeglicher Ausdruck von Hoffnung, wie er von den großen Kunstwerken noch im Zeitalter ihres Verstummens mächtiger ausgeht als von den überlieferten theologischen Texten, ist konfiguriert mit dem des Menschlichen; nirgends unzweideutiger als in den Augenblicken Beethovens. Was bedeutet, nicht alles sei vergebens, ist durch Sympathie mit dem Menschlichen, Selbstbesinnung der Natur in den Subjekten; allein in der Erfahrung der eigenen Naturhaftigkeit entragt der Genius der Natur.“ (Adorno, Negative Dialektik, S. 389)

Kunst kann der Statthalter solcher Wahrheit sein. Und auch darin, im ästhetischen Verfahren, mithin im Sinne des Formbegriffs, wie ihn Adorno auch in den „Minima Moralia“ praktiziert, liegt jene Hoffnung, die uns, wie es in Benjamins Wahlverwandtschaften-Buch heißt, gerade um des Hoffnungslosen willen gegeben ist. Am Ende eine Frage der ästhetischen Praktik. Adornos Gang ins Gebirg endete tödlich.

***

Manche sagen, es hätte Adorno das Busen-Attentat den Rest gegeben. Andererseits können doch, so denke ich, diese Paare germanischer Titten kaum solchen Effekt zeitigen. Späte Rache des deutschen Ariers am jüdischen Intellektuellen. Germanische Brunftstuten, die sich als Erinnyen gebärden. Jene Studentinnen und Studenten zumindest, die aufs unmittelbar Praktische setzten, auch der heutige FR- und BLZ-Journalist Arno Widmann soll an der Planung dieses Angriffs beteiligt gewesen sein, hatten nichts, aber auch gar nichts von Adornos Denken begriffen und daß erotische Lust mehr ist als ein entblößter und bloßer Körper. Adorno tat gut daran, das Institut für Sozialforschung von der Polizei räumen zu lassen. Sein Schaudern und Erschrecken über solchen Auftritt bleibt bis heute wahr. Auch eine Lektion, die wir aus den „Minima Moralia“ herauslesen können. Idiosynkrasien können Seismographen sein. In einem ästhetisch geschulten Bewußtsein kommen sie zum adäquaten Ausdruck.

Zeiträume zeitraffen: Seiffen – Neuhaus, Nußknackermuseum

Ich bin arg, so arg in Zeitnot, so muß es statt der Texte Bilder geben. Aus dem Innenraum. Heimat und Provinz. Orte als Reisender zu sichten: My oh my: a song  to say good buy. Kaufen Sie Holzfiguren! ! Für unsere Kaltzonen, auch im Sommer. Anmut der Schieferzonen. Ich mag das.

Konsens der Vernunft oder Differenz der Ästhetik? Jürgen Habermas zum 85. Geburtstag

Bei Habermas‘ Philosophie handelt es sich um eine solche, der ich zu großen Teilen widerspreche. Ich halte vom Prinzip der Kommunikation nicht viel, zumal, wenn sie unter entstellten Bedingungen stattfindet und auf Identität statt auf die Differenz hinausläuft – noch der zwanglose Zwang des besseren Arguments ist in seinen Tiefen ein Zwang und als quasi-moralisches Direktiv dem Prinzip der Herrschaft abgeborgt. Läßt sich das ganz Andere, das Fremde, das der Vernunft Entgegenstehende im Akt der Vernunft, im kommunikativen Moment auflösen oder gibt es andere Modi, es zu explizieren, wenn es sich denn überhaupt diskursiv explizieren läßt? Können wir die Ästhetik, das ästhetische Urteil, die Struktur des Kunstwerkes, seinen Wahrheitsanspruch im kommunikativen Konsens bzw. in der ästhetischen Debatte auflösen oder zur Bestimmung treiben? Genauso wenig lassen sich die Aporien und Widersprüche in einer Gesellschaft einfach in Kommunikation oder in vernünftige Argumentation überführen. Denn die gesellschaftlichen Antagonismen sind objektive und keine des bloßen Denkens, die sich dadurch aufheben lassen, indem die Denkbestimmungen in die Reflexion genommen werden, so daß am Ende der Widerspruch als ein bloßer Fehler im Denken sich erweist oder indem wir in lauter Harmonie und Gefühligkeit kuscheln. Vielfach gibt es insbesondere in den feministischen Varianten der Gesellschaftskritik Positionen, die der Habermasschen Konsensphilosophie recht nahe sind – nur daß die kommunikative Verflüssigung der Vernunft dort ins kommunikative Verkuschelte sich auflöst. Das Negative bleibt jedoch negative, bis es verging. Jeglicher Freiraum ist nur ein geborgter und tentativ situiert.

Ebenso wenig halte ich etwas von Begriffen wie Verfassungspatriotismus – allerdings in anderer Weise, als seine konservativen Kritiker insbesondere aus der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie. Daran könnte man nun aus aktuellem Anlaß eine Theorie zu Nationalismus, Nationalstaat und Fußball aufziehen, aber dieses ganze Fußballthema: es wird alle vier Jahre aufgekocht, hochgehängt und ein Gewese um deutsche Flaggen gemacht, als gäbe es nichts anderes. Nein, ich mag die Schlandrufe ebenfalls nicht, sie nerven – selbst in ihrer Harmlosigkeit. Und wenn ein Staat nichts mehr anzubieten hat, kommt er mit dem tumben Nationalismus als Quelle und Nahrung: wohlfeile Sinnstiftung auf der Ebene des Symbolischen, Symbole kosten schließlich nichts, außer Blut und das Leben, wenn man am Ende Pech hat und wie Hans Castorp nach sieben Jahren „Zauberberg“, das schöne Lied vom Lindenbaum singend, irgendwo in den Schlachtfeldern Flanderns oder sonstwo im Westen sich hingibt und vermutlich hinsinkt. (Thomas Mann läßt das auf eine herrliche Weise offen, der Erzähler, der raunende Beschwörer des Imperfekts, ergeht sich in den Vermutungen. Diese Differenz zwischen einer zu Extrem verschärften Vernunft der Aufklärung und den Gärungen der Anders-Vernunft oder gar des untergründig Irrationalen, das sehr wohl seine Notwendigkeit und seine Berechtigung mit sich führt, trägt sich dann ebenfalls in den wunderbaren Gesprächen zwischen Settembrini und Naphta aus, die zum krönenden Abschluß in einem Duell mit Pistolen münden. Man könnte dazu auch sagen: typisch männliche Kommunikation.)

Andererseits existieren auf dieser Welt wichtigere Probleme und Nöte als die Fußball- und Deutschlandphobie, und es gibt politisch sicherlich Schrecklicheres als Menschen, die sich Fußball betrachten und mit idiotischen Deutschlandflaggen an ihren Autos durch die Gegend fahren. Über das Verhältnis Heimat, Deutschland, Verfassung und was man liebt oder nicht läßt sich sicherlich debattieren. Oder wie Gustav Heinemann es in einem Interview sagte: Ich liebe nicht mein Land, sondern meine Frau. Recht hat er. Womit wir wieder bei Habermas, beim Verfassungspatriotismus und auf Abwegen zudem beim Projekt Europa wären, für das Habermas zusammen mit Jacques Derrida 2003 vehement eintrat.

Die Frage, was einem Heimat bedeutet, ist damit aber lange nicht abgegrast: Wie kann sich ein Bewußtsein von Heimat von Regionalität entäußern, ohne provinzhaft oder volkstümlich zu werden? Eigentlich bleibt nur der Modus des Ästhetischen übrig, um dieses Denken in Sprache, in Bilder oder Töne zu bringen. Das Ästhetische fällt nun freilich innerhalb der Skala der Habermaschen Vernunft spärlich aus. Es bleibt eigentümlich blaß.

Dennoch: es lohnt sich – trotz alledem und trotz aller Kritik an der Philosophie von Habermas –, mit seinen Texten sich auseinanderzusetzen: Sei es jener eher mißlungene „Philosophische Diskurs der Moderne“, wo Habermas – freilich in Verkennung der Philosophie des sogenannten Poststrukturalismus – die Positionen Foucaults oder Derridas als Neokonservatismus brandmarkt, oder seine umfangreiche „Theorie des Kommunikativen Handelns“. Und „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ist noch heute ein lesenswertes und durchaus aktuelles Buch – insbesondere angesichts der Debatten um die neuen Medien und das Internet. Anschaulich kann man da lesen, wie heute zunächst neu und innovativ erscheinende Positionen der Berlin-Mitte- oder Kreuzberg-Hipster und der Medienbohème doch als mehr oder weniger alter Wein in neuen Schläuchen sich erweisen – aufgehübscht nur um eine kecke, verwegen Begrifflichkeit, die internet-technizistisch und hypermodern klingt, aber doch bloß wiederholt, was wir bereits wußten bzw. die am Ende Triviales bloß ins aufgehübschte Gewand verfrachtet.

Egal wie: Habermas bleibt kontrovers und eben das macht eine Philosophie zugleich anregend, weil man sich an ihr arbeiten kann. Ich schrieb seinerzeit im Jahre 2009 bereits zu Habermas‘ 80. Geburtstag einen Text. Zudem sistierte ich das Verhältnis von Kritischer Theorie und der Philosophie von Habermas in einem kleinen Text.

Damit diese Essays aus vergangenen Tagen im Textgestrüpp eines Blogs nicht untergehen und sich im Rhizom der Gedanken verlieren und verflechten, so daß nichts mehr bleibt, verweise ich auf diese älteren Texte, die ich heute vielleicht ein wenig anders schreiben würde. Dennoch: weshalb sich zum Geburtstagsgruß wiederholen oder lediglich ein wenig sich im Text abwandeln, wenn es auch so geht? Auf bereits Geschriebenes zu verweisen. Insofern empfehle ich diese beiden Texte den geneigten philosophisch inspirierten und interessierten Leserinnen und Lesern zur Lektüre.

Beim Suhrkamp Verlag ist zudem von Stefan Müller-Doohm eine umfangreiche, allerdings auch sehr affirmative Biographie über Jürgen Habermas erschienen. Müller-Doohms Biographie zu Adorno, die 2003 anläßlich Adornos 100. Geburtstag erschien, war zumindest in großen Teilen lesenswert und kann gut als Einführung in das Denken Adorno dienen. (Sofern man bei solchen Büchern dann nicht stehenbleibt, sondern sich an die Primärtexte macht.)

Hinweis in eigener Sache. Kritische Theorie und Praxis

 Welcher Schelm suchte heute „titanic frauen wm“ bei mir? Ich kenne das dazugehörige Bild sehr wohl, werde es hier aber aus verständlichen Gründen nicht präsentieren. 

Auch fein, was einer hier im Blog ansonsten recherchiert: „ganz junge muschis“. Die gibt‘s hier nicht. Hier gilt‘s der Theorie und der Kunst. Vielleicht finden diese jungen Muschis sich ein, wenn ich eine Besprechung der Bilder von Balthus mache. Und als Kontrastprogramm im Reigen dieser erotischen Suchbegriffe dann „derrida scharlatan“. Für morgen erwarte ich mindestens noch ein „foucault betrüger“ oder „The great diskursschwindel“. Ich möchte aber der Ordnung halber schreiben, daß die meisten der Suchbegriffe durch und durch anständiger und vor allem: theoretischer Natur sind.

Aber ich schreibe nicht, um zu belustigen oder zu sexualisieren, sondern bloß deshalb, weil ich ankündigen muß, daß ich diesen Blog über Pfingsten nicht betreiben kann, daß es erst in der nächsten Woche mit dem dritten Teil von „Wozu Kunst?“ weitergeht, da die Sowjetische Kommandantur Karlshorst Besuch bekommt. Listig wie ich bin, werde ich für den Samstag einen Ausflug nach Eisenhüttenstadt vorschlagen, um in Berlin nicht shoppen zu müssen und durch sämtliche Geschäfte in Mitte zu ziehen, obwohl ich mir eigentlich im Converse-Shop ein paar Converse besorgen möchte. In Eisenhüttenstadt wird es die sicherlich nicht geben, aber es gibt dort auch keine Geschäfte, wo der Besuch hinein möchte, um endlose begehrliche Blicke auf die dort ausgestellten Objekte zu werfen. Die freie Objektwahl ist sowieso nicht ganz einfach. An den übrigen Tagen haben die Geschäfte dann geschlossen. 

Zum Schluß noch dieses: 

„SPIEGEL: Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung …
ADORNO: „Mir nicht.“ 

Der Spiegel 19/1969 

Auch zum Verhältnis von Theorie und Praxis ist dieses Interview interessant: 

„Auf die Frage ‚Was soll man tun‘ kann ich wirklich meist nur antworten ‚Ich weiß es nicht‘. Ich kann nur versuchen, rücksichtslos zu analysieren, was ist. Dabei wird mir vorgeworfen: Wenn du schon Kritik übst, dann bist du auch verpflichtet zu sagen, wie man‘s besser machen soll. Und das allerdings halte ich für ein bürgerliches Vorurteil. Es hat sich unzählige Male in der Geschichte ereignet, daß gerade Werke, die rein theoretische Absichten verfolgen, das Bewußtsein und damit auch die gesellschaftliche Realität verändert haben.“

Schopenhauer und die kritische Theorie der Gesellschaft

Einen interessanten Nachtrag möchte ich zum Schopenhauertext liefern, und zwar ein Zitat aus dem Aufsatz von Heinz Paetzold „Schopenhauers Motive in der Ästhetik des Neomarxismus“. Diese Passage deutet noch einmal darauf, daß es durchaus Verbindungsglieder gibt zwischen Schopenhauer, dem vermeintlichen Philosophen des behaglichen Bürgertums, welches den Spiegel nicht wahrnahm, den Schopenhauer ihm entgegenhielt, und der Kritischen Theorie. Nebenbei bemerkt wird ja auch Wilhelm Busch, der Schopenhauer samt seinem Pudel als Skizze zeichnete, vom behaglichen Bürgertum in Anspruch genommen. Ein wenig zu unrecht, wenn man bedenkt, daß die Zeichner der Neuen Frankfurter Schule diesen Wilhelm Busch, trotz seines Antisemitismus und seiner Spießbürgerlichkeit, illustratorisch nicht gering schätzten.

Doch nun zum Text von Paetzold:

„Die Lektion, die jede sich auf Marx berufende Philosophie der Praxis von Schopenhauer erhält, besteht darin, die Bedingungen mißlingender Befreiung schärfer ins Auge zu fassen. Schopenhauer macht hellsichtig für einen Verlauf der Welt am Rande der Katastrophe. Die Lektion, die ein in der Fluchtlinie Schopenhauers sich bewegendes Denken vom Neomarxismus erhält, besteht darin, daß die Wahrscheinlichkeit der Katastrophe dann nicht zur Resignation oder zu heroischem Zynismus führt, wenn zugleich die Möglichkeit umwandelnder Praxis zugestanden wird. Als Statthalter dieser Möglichkeit fungiert bei Adorno wie Marcuse, Bloch und Benjamin die Kunst. Man muß allerdings hinzusetzen: Eine Kunst, die aus den Avantegardebewegungen gelernt hat. Das Scheitern der klassischen Avantgarden in dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bei ihren Versuchen, die ästhetische Erfahrung in das gesellschaftliche Leben zu übersetzen, beruhte darauf, daß den künstlerischen Avantgardebewegungen keine sozialen Bewegungen zur Seite standen. Mit der Bürokratisierung der Arbeiterbewegung durch Stalin und seine Nachfolger war die Sprengkraft der Politik gefesselt.“ (S. 172, in: Schopenhauers Aktualität, Wien 1988)

„Von Schwelle zu Schwelle“

Viel nimmt sich dieser Blog vor, plant und reißt dieses und jenes Projekt an, ohne es dann zum Ende zu bringen. Nietzsche, Postmoderne, Adorno und die Musik … . Ja, von jedem etwas und immer nur in Stücken dargeboten, die dann erst im Abstand folgen, nach langer Zeit sich mehr oder weniger zusammensetzen. Die Texte geraten da zuweilen oberflächlich, verfransen, dissoziieren, sind zu kurz gefaßt, treiben auseinander, ohne daß eine Einheit des Textes sich herstellte. Aber dies mag vielleicht das Wesen eines Blogs sein: Unsystematisch denken.

Dieses Jahr über möchte „Aisthesis“ einen Philosophen, Schriftsteller, Literatur- und Medientheoretiker in den kritischen Blick nehmen und würdigen, der sich den Kategorisierungen entwindet, der in seiner Theorie schwer festzumachen ist, dem Adorno manches verdankte, die sich gegenseitig in ihrem Denken befruchteten, sich um der Sache willen stritten; befreundet war er mit so gegensätzlichen Denkern wie Brecht und Scholem, ein brillanter Essayist, der erst aus Deutschland, dann aus Frankreich emigrieren mußte, gehetzt, der zur Passage hin nach Amerika, in der beschwerlichen Passage von Frankreich nach Spanien seinen Tod fand, von Schwelle zu Schwelle, weil er nicht mehr weiter wußte und konnte. Ja, es dreht sich dieses Jahr hier sehr viel um Walter Benjamin, der sich am 26. September (das Datum ist nicht ganz gewiß) im Spanischen Port Bou das Leben nahm: Sich das Leben nehmen, eine eigentlich merkwürdige doppeldeutige Wendung. Nach solch einem Akt des Nehmens müßte etwas Großes herauskommen, aber es bleibt weniger als das Nichts übrig.

Wo genau die Reise dieses Jahr über in dem Benjamin-Projekt hingeht, das kann ich eigentlich noch gar nicht so genau formulieren. Ich hoffe, daß ich einige Dinge schaffen werde; versprechen mag ich jedoch nichts. Wieder einmal wird es eher unsystematisch denn geordnet werden. Sicherlich berücksichtige ich auch die vielfältige Sekundärliteratur, so etwa das in der „Berliner Zeitung“ vom 13.1.2010 besprochene Buch von Jean-Michel Palmier zu Walter Benjamin, das wohl ein Standardwerk darstellt, wenn man dem Rezensenten Dirk Pilz folgt. Schon der Untertitel klingt vielversprechend: „Lumpensammler, Engel, bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin“ Ja, das liest sich erst einmal interessant: all die bekannten Figuren der Benjaminschen Texte versammeln sich da. Es fehlt da eigentlich nur noch die Mummerehlen aus der „Berliner Kindheit“, die eine Figur des (konstitutiven) Mißverstehens darstellt, aus dem Erkenntnis erwächst.

„In einem alten Kinderverse kommt die Muhme Rehlen vor. Weil mir nun ‚Muhme‘ nichts sagte, wurde dies Geschöpf für mich zu einem Geist: der Mummerehlen. Das Mißverstehen verstellte mir die Welt. Jedoch auf eine gute Art; es wies die Wege, die in ihr Inneres führten. Ein jeder Anstoß war ihm recht.“ (GS IV/1, S. 260 f.)

Der Blick des Kindes auf die Welt, welcher in der – an Proust orientierten – rückblickenden Reflexion der „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ wieder evoziert und in eine – freilich reflektierte – Prosa eingeholt wird, dient als Medium; in der Unmittelbarkeit geht dem Kind in seinen Wahrnehmungen etwas Nichtsprachliches auf, es erfährt die Dinge in der Offenheit, bringt sie in sich hinein. Erst die rückwärtsgewandte, zeitlich sich viel später einstellende essayistisch-aphoristische Reflexion vermag es, das, was an sich bereits ist, in Sprache freizulegen: Einzelnes, das die absolute Singularität beansprucht (und damit eben nicht aussagbar ist), an dem dennoch etwas aufgeht, und das zugleich auf ein Allgemeines deutet. Diese dialektische Methode Benjamins, die dann Adorno in den „Minima Moralia“ und in den „Meditationen zur Metaphysik“ kompositorisch ausbaute, ist nicht nur im Hinblick auf eine Hermeneutik der Lebenswelt interessant, sondern impliziert genauso Erkenntnistheoretisches; in der „Berliner Kindheit“ verdichtet sich eine Figur der Benjaminschen Theorie literarisch: „Die Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen …“ (S. 261), wobei hierzu eben genau dieses „Verhören“ und das Mißverstehen ein konstituierendes Moment abgeben.

In den 20er Jahren entfaltete Benjamin diese Figuren der Erkenntnis in den verschiedenen Ausprägungen noch philosophisch: so in den Aufsätzen, die von den Herausgebern der „Gesammelten Schriften“ (welche gar nicht hoch genug gelobt werden können) zu den „Metaphysisch-geschichtsphilosophischen Studien“ zusammengefaßt wurden, etwa politisch-theologisch im Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ oder in seinen zentralen Texten „Lehre vom Ähnlichen“, „Erfahrung und Armut“ sowie „Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, wo eine Theorie der Mimesis und der Sprachmagie entwickelt wurde, die sich zu einer Theorie des Namens erweiterte, um einer Sprache als bloßer Mitteilung und Kommunikation die Absage zu erteilen. Ich schlage den Bogen nun assoziativ noch ein wenig weiter (für die drei oder vier Leser, die mir überhaupt noch folgen mögen, weil diese Dinge bei Benjamin in der Tat schwere Theoriekost sind), und möchte zu Celans Meridian-Rede gleiten, denn auch dort kommt ein ganz ähnliches Motiv vor, und zwar wenn es um den Gegensatz von Kunst und Dichtung geht, denn wo von der Kunst, der bei Celan etwas Mechanisches anhaftet, die Rede ist, da gibt es, so Celan, immer jemanden, der nicht richtig hinhört. (GW 3, S. 188) (1) Aus diesem Mißverstehen erwächst das Gegenwort, das in die Dichtung münden kann. Und auch zum Schluß seiner Rede taucht dieses Motiv dann noch einmal auf: das falsche Hinhören, welches (als Utopie) Neues eröffnen kann, wenn etwa das „Commode“ als das „Kommende“ gelesen wird. Dieses Kommende, für das der Weg freizumachen ist, spielt auch bei Benjamin, insbesondere in den späteren Schriften, eine zentrale Rolle, wenn es um die „Aufsprengung der historischen Kontinuität“ geht: „Wo das Denken in einer von Spannung gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild“ (GS V/1, S. 595). Bei einer solchen „Dialektik im Stillstand“ und im Hinblick auf Celan sowie den Topos der „Sprachmagie“ werden sicher auch Rolf Tiedemanns und Winfried Mennighaus‘ Texte zu Benjamin betrachtet werden müssen. Und so wird es nicht ausbleiben, daß neben der Ästhetik dann auch die Aspekte eines Benjaminschen Historischen Materialismus analysiert werden.

Auf alle Fälle stellen wir in dieser eher losen Serie Benjamins Schriften zur Photographie vor, entfalten seine Theorie vom dialektischen Bild und geben die Texte zum Paris des 19. Jhds wieder. Der Kunstwerkaufsatz kommt ganz gewiß vor, auch die letzte Publikation von Benjamin „Über den Begriff der Geschichte“, die ja in Zusammenhang mit dem oben Ausgeführten steht, sowie seine Fragmente zum Fortschrittsbegriff müssen gelesen werden; vielleicht nehme ich zudem die Korrespondenz zwischen Adorno und Benjamin in den Blick.

Wieder ein Projekt mehr, ächzt jetzt der Leser. Ja, es wird immer viel zu viel angekündigt in diesem Blog. Aber das muß so sein. Ob solche Ankündigungen zu halten sind, zeigt sich dann ja.

Zum Schluß dieses Auftaktes ein paar Worte noch zu Walter Benjamin, ins Allgemeine gesprochen. Denn was womöglich zur Gegenwart einen Bezug aufweist und manchen, der denkt und Philosophie veranstaltet, auch heute noch umtreibt: Benjamin war ein Wissenschaftler, der sich im herkömmlichen traditionellen Wissenschaftsbetrieb schwertat, so könnte man es zunächst sehen; einer, der dort niemals richtig ankam, sich nicht zurecht fand, keine dauerhafte Stelle an irgend einer Universität erhielt, dessen Habilitation grandios scheiterte. Man kann es jedoch auch umgekehrt formulieren, daß es in einer derart versteinerten Wissenschaft, in einer solch erdrückenden Atmosphäre des zur Schau getragenen Gravitätischen für einen Essayisten und Theoretiker wie Walter Benjamin, der feingliedrig, ästhetisch, ins Weite und Ungedeckte sich treiben lassend dachte, geistig und physisch ganz unmöglich sein mußte, dort einen Platz zu finden; daß es also weniger gegen Benjamin, sondern vielmehr gegen diesen herrschenden Lehrbetrieb und seine Art, Wissenschaft zu betreiben, spricht. Und auch heute gilt es ja noch vielfach an den Universitäten: Wer setzt sich schon gerne einen Hecht in den Karpfenteich. Schon früh in den ersten Studienjahren in Freiburg/Br. stellten sich die ersten Vorbehalte gegen den akademischen Betrieb ein:

„Die Wissenschaft ist eine Kuh
Sie macht: muh
Ich sitz im Hörsaal und höre zu.“
(Gesammelte Briefe I., S. 48)

„Die Hochschule ist eben der Ort nicht, zu studieren.“ (Briefe I, S. 242)

Diese zwei Benjamin-Zitate entnehme ich der chronologisch aufgebauten Biographie von Willem van Reijen und Herman van Doorn, Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins. Sie behandelt die einzelnen Jahre im Leben Benjamins, mit 1912 beginnend, und ist mit Photographien ausgestattet, der Schwerpunkt liegt aber auf der Theorie Benjamins, einzelne Werke werden darin im jeweiligen Jahr ihrer Entstehung lokalisiert und kurz zusammengefaßt. Das ist recht instruktiv und als Überblick zu den einzelnen Texten hilfreich. Die Photographien gerieten jedoch großenteils viel zu klein, so daß wenig zu sehen ist und man sich fragt, ob diese Bilder zu irgend etwas beitragen sollen. Auch die einzelnen Etappen und Aufenthalte in der Vita Benjamins stellen sich etwas stockend, hölzern und holprig dar. Insofern empfehle ich für alle die, welche bei Benjamin noch nicht so richtig kundig sind, die sehr gute Biographie aus der bekannten Rowohlt-Reihe vom Literaturwissenschaftler Bernd Witte. Sie ist maßgeblich.

Die Philosophie Benjamins treibt in viele Richtungen aus, dies macht sein Denken interessant und erschwert zugleich die Darstellung, da die in Theorie gebannten Bilder, die man sich von ihm macht, im gleichen Augenblick durch einen anderen Text kaleidoskopisch wieder zerfallen. Manchmal sogar kann dies in ein und demselben Text geschehen. Die „wolkigen Stellen“, die Benjamin in Kafkas Prosa ausmachte, sind auch in seinen Texten enthalten.

Spannend bleibt bei Benjamin, daß sich in seinem Denken so gegensätzliche Pole wie Theologie und Materialismus, Mythos und Logos, Mimesis und Ratio, Religiöses und entzauberte Moderne miteinander paaren und duchdringen. Ich möchte also  versuchen, einiges von diesem Vielfältigen unsystematisch ins Bild zu bekommen, um einen etwas in Vergessenheit geratenen, dennoch für das 20. Jhd. ungemein bedeutenden Philosophen dem Leser nahezubringen bzw. Diskussionen zu eröffnen. Auch kann man mit Benjamin womöglich eine Kritische Theorie fortschreiben, die Medien wie  Film und Photographie gerecht wird. Schauen wir mal, was sich hier alles bewerkstelligen läßt.

Enden wir mit einem Zitat und einem Lied von F.S.K.

„Auf meinen Knien,
geheim in diesem Tanzlokal,
im Kopf die Wirrkopfmelodien,
zum hundersten Mal,
von Walter Benjamin,
das ist nicht normal,
und du bist mein Ruin“

Ja, dieser Rausch, der Spleen, dieses Adrenalin, diese Droge Benjamin: Sie wuchert und wirkt hoffentlich auch in den kommenden (und nicht bloß kommoden) Texten, die hier demnächst folgen.

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(1) Es ist die Lucile aus „Dantons Tod“, die das eigenwillige Gegenwort spricht. Celan entfaltet hieran virtuos eine Konzeption von Dichtung als Gegenwort und Atemwende, (wie auch einer seiner Gedichtbände heißt), er entwickelt ein Poetik des Datums und der Singularität, denn jedem Gedicht ist sein 20. Jänner eingeschrieben; wir schreiben uns von einem solchen Datum her, wir müssen dieser Daten eingedenk bleiben.