Abschied vom Jetzt – Zum Tod Karl Heinz Bohrers

Gestern ist der Literaturwissenschaftler und Essayist Karl-Heinz Bohrer in London gestorben. Die Stadt war seine spätere Wahlheimat, zuvor lebte Bohrer lange Jahre mit der im Oktober 2002 verstorbenen großartigen und leider relativ vergessenen Schriftstellerin Undine Gruenter in Paris. Doch bereits in den 1970ern wohnte Bohrer schon einmal in London und schätzte diese Stadt und das englische Lebensgefühl wie auch die britische Mentalität: man merkte eben, daß man in einem ehemaligen Empire und nicht in einem Provinznest zu Hause war – doch Zeiten ändern sich. Von jener Zeit in London, jenen 1980er Jahren und seinem Umzug von Bielefeld nach Paris berichtete er in seiner Autobiographie „Jetzt. Mein Abenteuer mit der Phantasie“ – bereits vom Titel her herrlich und es zeigt sich darin diese Lust am Denken, das immer auch auf den Einschlag des Sinnlichen angewiesen bleiben will.

Bohrer war ein kölscher Jung, geboren 1932, und dort auch aufgewachsen. Diese Kriegs- und Nachkriegszeit beschrieb Bohrer in seiner ersten Autobiographie „Granatsplitter. Erzählung einer Jugend“: Wir lesen von der NS-Zeit, vom Krieg und wie das Kind jene Jahre sah und wie man sich verhielt, wenn die Bomben fielen und was man danach mit dem, was von der Stadt übrigblieb, alles anstellen konnte. Bereits früh keimt, wenngleich ein Stück weit sicherlich ex post gebaut, jene Schönheit im Schrecklichen:

„Man tauschte Granatsplitter […] Die Granatsplitter waren das schönste, was man sich ausdenken konnte. Manche waren von dunkel leuchtendem Rot und schwarz an den Rändern, andere hatten eine bläulichweiße Färbung und wieder andere waren von gleißendem Gelb oder Silber. Es war wie ein Märchen – man war der Held eines Märchens, der etwas Wunderschönes, sehr Fremdes, sehr Seltsames fand, das ihm das Gefühl gab, fortan Glück zu haben. Der Junge war regelrecht entzückt von dieser Schönheit.“

Jene „Ästhetik des Schreckens“, die dann Ende der 1970er Jahre den gleichnamigen Titel seiner Habilitation an der Universität Bielefeld bilden sollte, deutet sich in solchen Gedanken bereits an. Hier aber sind es zunächst einmal die Sinneseindrücke eines Kindes. Träumen in Ruinen. Wir lesen vom Reiz, den die Trümmer der zerbombten Stadt auf Bohrer ausübten. Das Zerstörte brachte ihn zum Träumen – auch eine Form, den Druck und das Grauen fruchtbar zu machen, zumindest auf der individuellen Ebene, auf die es Bohrer immer ankam, auch was seine Vorlieben und Idiosynkrasien anbelangt:

„Alles war in Gedanken möglich. Die Trümmer bildeten gewaltige Gebirge. Endlos an einer Stelle, sodass der Blick festsaß. Ihn zogen die Trümmer an. Man sprach von Trümmerlandschaften. Aber die sah er nicht.“

„Granatsplitter“ und später dann auch „Jetzt“, jener für Bohrers Denken des ästhetischen und lebensweltlichen Augenblicks paradigmatische Titel, die Plötzlichkeit als säkular-literarische Epiphanie, lieferten ein wunderbares Panorama jener alten BRD, eine Art Erzählstunde in Geschichte und zwar auf anregende Art, und sie zeigten den intellektuellen Werdegang eines Jugendlichen bzw. jungen Mannes. Vom Wiederaufbau der BRD, bis hin zu Bohrers Zeit im Internat Birklehof im Schwarzwald, wo der Philosoph Georg Picht als Schulleiter wirkte. Bei solchen Betrachtungen einer Stück für Stück wiederaufgebauten Stadt im Nachkriegsdeutschland der rheinischen Republik mag auch eine gewisse Nachträglichkeit eine Rolle spielen und so wird ex post jene Ästhetik der Ruinen, die Poesie des Verfalls sowie ein Stück weit benjaminsches Trauerspielbuch ins Erinnern importiert:

„Je mehr Neubauten zu sehen waren, umso häßlicher wurde die Stadt. Die Ruinen brachten einen dagegen zum Denken.“

Solche Ruinen und Brüche können Anlaß, Phantasie und ein Augenblick sein, den es auszufüllen galt. Aus jenem Jetzt eine Geschichte zu machen. So wie in unterschiedlichen Konstellationen jener Augenblick, jenes Jetzt in Bohrers Ästhetik und Kunstbetrachtung später dann eine zentrale Rolle spielen sollten, kulminierend etwa in dem Band „Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins“.

Bohrer beschreibt die literarische Funktion dieser Art des persönlichen, non-fiktionalen Schreibens als Bildungsprozeß und als eine Frage der Perspektivierung:

„Das ist nicht Teil einer Autobiographie, sondern Phantasie einer Jugend. Der Erzähler sagt nicht das, was er über seinen Helden weiß, sondern das, was sein Held selbst wissen und denken kann – je nach seinen Jahren. Die Neugier des Lesens wird auch nicht durch eine biographische Identifizierung der übrigen Charaktere und Schauplätze befriedigt, sondern ausschließlich durch die Darstellung der Atmosphäre und der Gedanken einer vergangenen Zeit.“

Wie sich im Empfinden des Kindes, etwa beim Singen eines Weihnachtsliedes, bereits jene ästhetischen Verzückungen einstellen, die aus der Zeit des Alltags herausführen, zeigt Bohrer ebenfalls in „Granatsplitter“. Solche Passagen sagen insofern auch etwas über die biographische Herkunft bestimmte Denkmotive von Bohrers ästhetischen Überlegungen etwas aus – wenngleich Denken und Motive sich darin nicht erschöpfen:

„Der Refrain ‚Heissa! Heut ist Weihnachtstag!‘ entzündete einen dramatischen Impuls, der auf etwas gewartet hatte. Das schöne, altmodisch klingende Wort ‚Heissa‘ war ihm das Ereignis, das nun gekommen war, ein leuchtendes Zeichen. nicht das Fröhliche daran, sondern das Heftige zog ihn an. Das Allerwichtigste am Heiligen Abend und der Zeit davor aber war, dass die normale Zeit eine nichtnormale Zeit, in eine andere Zeit versetzt wurde. Er wusste, dass es eine andere Zeit war.“

Mit Bewußtsein wahrnehmen und auch später noch, wenn, wie im Erwachsenenblick diese Dinge verstellt sind, sie doch wieder einzuholen und ästhetisch-philosophisch fruchtbar zu machen, ist insbesondere in „Granatsplitter“ die große Leistung Bohrers. Ähnliches finden wir auch in Adornos Beschreibungen, etwa in seinen „Meditationen zu Metaphysik (und überhaut in all jenen Passagen seiner Texte, wo er die Kindheit beschwört, so in „Vierhändig, noch einmal“). In den „Meditationen“ ist es die Reflexion darauf, was ein Kind bei Namen wie Luderbach und Schweinestiege empfunden haben mag und wie solcher Moment für eine unverstellte und umfassende Erfahrung, die Gesellschaft und eigene Vita umfaßt, wieder zu vergegenwärtigen seien – auch in der Philosophie. Als erkenntnisstiftendes Moment:

„Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Daß das vergessen wird; daß man nicht mehr versteht, was man einmal vorm Wagen des Hundefängers empfand, ist der Triumph der Kultur und deren Mißlingen. Sie kann das Gedächtnis jener Zone nicht dulden, weil sie immer wieder dem alten Adam es gleichtut, und das eben ist unvereinbar mit ihrem Begriff von sich selbst. Sie perhorresziert den Gestank, weil sie stinkt; weil ihr Palast, wie es an einer großartigen Stelle von Brecht heißt, gebaut ist aus Hundsscheiße.“ (Adorno, Meditationen zur Metaphysik)

Ähnliche Schreckenserfahrungen wird auch Bohrer gemacht haben, aber er perspektiviert sie völlig anders und er hätte in dieser Erfahrung vielleicht sogar jenem Reiz nachgespürt: woher diese Lust an Grausamkeit und Gewalt kommt und wie man sie in Kunst darstellt: Kleist etwa mit seinen Erdbeben, der Wut, dem Findling und der Verlobung, aber auch jener Augenblick des Eselsschreis und der stürzenden Kutsche, was Kleist einem Brief an Karoline von Schlieben vom 18. Juli 1801 schilderte: ein Moment, der den Tod hätte bringen können:

„Und an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, rätselhaften, irdischen Leben gewollt, und weiter nichts -? Doch für diesmal war es noch nicht geschlossen,- wofür er uns das Leben gefristet hat, wer kann es wissen?“

All diese Szenen und Geschichten sind ideale Bohrer-Kandidat. Bohrer lädt freilich solche Szenen niemals mit irgendeiner Moral auf, geschweige mit einem politischen Imperativ – was im übrigen auch Adorno niemals tat. Insofern sind beide Sichtweisen eine schöne Ergänzung. Bohrer faszinierte vielmehr jenes Moment, das quer zu Moral und zur üblichen Ordnung steht und was gar solcher üblichen Moral widerspricht, zumindest im Reich der Kunst und in der ästhetischen Reflexion: „Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hass-Effekt“, wie sein letztes Buch hieß, darin er sich mit jener Gewalt- und Haßsprache in der Literatur befaßte. (Meine Rezension findet sich an dieser Stelle)

Und ebenso faszinierte ihn jene „Imagination des Bösen“, wie eine seiner Essaysammlungen hieß. Fruchtbar machte er an Adornos Ästhetik, auf die er sich immer wieder bezog, jenen Begriff des ästhetischen Scheins, freilich um den Preis, daß dabei der Bezug des gelungenen Kunstwerkes zur Utopie, wie dies Adorno ausmachte, und ebenso die geschichtsphilosophische Perspektive Adornos von Bohrer ausgeblendet wurde. Die Ekstase des ästhetischen Augenblickst wird ums messianische Moment gekappt. Was er mit Adorno ebenfalls teilte, war der Vorbehalt gegen eine allzu simple moralisch aufgeladene Kunst.

„Abschied. Theorie der Trauer“ hieß eines seiner Bücher, das 1996 erschien und das ich 1997 erstand. Bohrer begleitete mich insofern mit gehöriger Intensität und als Augenblicksfanal, als daß jenes Jahr, als ich in diesem Buch las, mit dem Ende meines Studiums im Jahr 1997 zusammenfiel. Und da gab dieser Buchtitel jener Phase des Bruchs im Juni 1997 eine entsprechende Melodie. Das Abtauchen in die andere Wirklichkeit, in die Welt der Texte und Gedanken, der Philosophie, der Kunst, der Literatur hatte ein Ende oder konnte nur noch dosiert und in der Freizeit stattfinden. Aber wie es mit der Entfremdung und der in der Entfremdung geleisteten Arbeit ist: sie bildet. Lernen kann man auch ex negativo, und es gehört jene Entäußerung in die Welt dazu. Der Abschied mußte sein. Um später verwandelt zurückzukehren. Bohrer war in diesen Dingen ein Begleiter über die Jahre.

Es gab aber nicht nur den Bohrer, der sich mit den Fragen von Kunst und Ästhetik befaßte, sondern ebenso den politischen und feuilletonistischen Publizisten, Bohrer war von 1991 bis 2011 gemeinsam mit Kurt Scheel Herausgeber des Merkur – eine Glanzzeit dieser Zeitschrift, mit Sonderheften zu Themen wie der Postmoderne, der „Frage nach der Religion“ oder den „Grenzen und Wirksamkeit des Staates“. Bohrer schimpfte auf den Provinzialismus der Ära Kohl, trat für einen starken Nationalstaat ein. Seine Texte zum Falkland-Krieg und zu Deutschland schienen mir in den 1990ern zwar befremdlich, aber ich fand diese andere Perspektive spannend. Man hätte gerne Bohrers Volte gegen die Faschingsverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gelesen. Wer Truppen nach Afghanistan schickt – unabhängig davon, ob diese Entscheidung richtig oder falsch war –, der hat diese Soldaten öffentlich mit allen militärischen Ehren zu verabschieden, wenn sie zurückkehren. Ein Trauerspiel, was Kramp-Karrenbauer und Merkel da veranstalteten. Ich hätte gerne die Pfeile gelesen, die Bohrer da abschösse, wie er „mit Dolchen“ spräche und seine Polemik dazu, wie etwa in seinem Band „Provinzialismus“. Ein Titel, der bereits manches über die alte BRD und das neue Deutschland anzeigt. (Erschienen ist der Band mit Aufsätzen aus dem politischen Feuilleton passenderweise im Jahr 2000. Auch eine Art von Rückblick auf das andere, größere untergegangene Land.)

41jy4R6WPML._SX293_BO1,204,203,200_Unbedingt auch zu lesen und wiederzuentdecken sind Bohrers frühen Aufsätze in „Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror“. Etwa zu den „68ern“ und jenem „Flugblatt Nr. 8. Wann brennen die Berliner Kaufhäuser“ der Kommune I und der Renaissance surrealistischer Motive darin; und dazu einer Bewegung zwischen Kunstform einerseits und dem zu wagenden Ausgriff in die Realität, dem, was man die Souveränität der Kunst nennt. Bohrer zeigte sich für solche Horizonte offen, eben weil es zugleich auch um Ästhetisches und ebenso um einen (dezisionistischen) Augenblick ging und ebenso war er offen für das Denken von Ulrike Meinhof, was ihm in der Redaktion der FAZ Ende der 1960er Jahre manche Mißbilligung eintrug. In bezug auf jenes Flugblatt, das mit jenem Motiv von Brand und Bomben spielte, um auf die Gewalt der USA in Vietnam aufmerksam zu machen, heißt es:

„Das Flugblatt enthält jene Aggressivität, die auch die beschriebene Fotografie vom Attentat in Saigon vermittelt. Es hat vor allem aber jenen Widerspruch von Literatur und Leben in sich aufgenommen, der das wesentliche Merkmal des surrealistischen Traktats gewesen ist. Der vermutliche Urheber des Flugblattes wurde denn auch wegen Aufrufs zur Brandstiftung verhaftet, und der Berliner Philosoph Jacob Taubes hat dann diese Anklage durch ein Gutachten entkräftet, dem zufolge es sich bei dem Flugblatt um eine »surrealistische Provokation« gehandelt habe. Die Widersprüchlichkeit des Textes zeigt sich an den beiden gegensätzlichen Reaktionen. Gewiß waren die Angeklagten im Sinne der Anklage nicht schuldig, aber es wäre eine sehr oberflächliche Sicht des Vorgangs, begriffe man die schützende Formel »surrealistische Provokation« im Sinne der überkommenen Exzentrik einer libertineusen Boheme. Das Flugblatt war in dem Grade ernst, das heißt wortwörtlich gemeint, wie eine literarische Formel das sein kann, die nicht Befehl, Aufruf und Kommando ist, vielmehr auf literarische Weise versucht, politische Zusammenhänge darzustellen; dabei aber nicht nur mit Information arbeitet, sondern gleichzeitig mit dem unterschwelligen Reiz, dadurch einen »surrealistischen« Vollstreckungsbefehl zu erteilen, der weiß, daß er nicht vollstreckt werden kann: Der surrealistische Zynismus terrorisiert die Nerven der moralisch Ansprechbaren.“

Solche Sätze fand ich damals in den frühen 1990ern stark, als ich sie zum ersten Mal las, und ich finde sie bis heute spannend.

Karl Heinz Bohrer war nicht nur ein Literaturwissenschaftler, dessen Texte mich begeisterten, weil man sich an ihnen abarbeiten konnte, sondern ebensosehr ein streitbarer Essayist und zuweilen auch ein Polemiker, Polterer und scharf im Urteil. Solche Stimmen fehlen. Am 4. August nahm Karl Heinz Bohrer endgültig seinen Abschied vom so geliebten Jetzt. Ein Leben ging zu Ende.

Walter Benjamin – 26. September 1940, Spanien, Port Bou

„daß ich unterm Saturn zur Welt kam – dem Planeten der langsamen Umdrehung, dem Gestirn des Zögerns und Verspätens …“ (Benjamin, Agesilaus Santander)

„In einer aussichtslosen Lage habe ich keine andere Wahl als Schluß zu machen. In einem kleinen Dorf der Pyrenäen, in dem mich niemand kennt, wird mein Leben sich vollenden. Ich bitte Sie, meine Gedanken meinem Freunde Adorno mitzuteilen, ihm die Lage, in die ich mich versetzt sehe, zu erklären. Es bleibt mir nicht genügend Zeit, all die Briefe zu schreiben, die ich gerne geschrieben hätte.“ (Benjamin, Gesammelte Briefe VI, S. 483)

Eine philosophische Sichtung, eine Kritik oder ein Kommentar zur Philosophie Walter Benjamins, die nicht fragmentarisch ausfallen will und die das Ganze seines Werkes zum Inhalt hat und nicht – je nach Gusto – lediglich einzelne Aspekte wie die Aura und die neue Kunst, die veränderten Weisen der Kunstwahrnehmung, die Magie der Sprache, den Erfahrungsverlust, das Übersetzen, das Mystische sowie das Messianische, den Akt der Namensgebung, die Möglichkeiten der neuen Medien oder das Materialistische hervorhebt, weitete sich zu einem unendlichen Buch aus, türmte Bezug auf Bezug. Benjamins Text und damit sein Denken sind vielfältig. Vielleicht gar ergäbe sich ein kabbalistischer oder ein literarischer Text eines unendlichen Zusammenhangs und zugleich einer der Verzögerungen und Brüche und der Aufschübe: Solches Buch müßte die zeit- und geistesgeschichtlichen Strömungen der ausklingenden Kaiserzeit, der Weimarer Republik, das Judentum sowie das Paris der Volksfront und das der Besatzung durch die Deutschen samt den Europäischen Migrationsbewegungen aufgreifen und sozialgeschichtlich wie auch philosophisch darstellen, um diese Aspekte dann in Bezug zu Benjamins heterogenem Werk bringen; ein sicherlich nicht uninteressantes, jedoch mühevolles Unterfangen – als Buchprojekt reizvoll.

Man könnte dieses Buch an einer beliebigen Stelle aufschlagen und darin lesen. So hatte ich es mir einmal gedacht. Aber solche systematische Nicht-Systematik ist kompositorisch schwierig durchführbar, zumal im Augenblick andere Arbeiten anstehen. Wie dem auch sei: in Benjamins Werk laufen zahlreiche Stränge zusammen, verbinden sich, gehen dann wieder auseinander und verwinden sich ineinander. Benjamin war in der Weimarer Republik Essayist und Literaturkritiker, er schreib zur Radiotheorie, dem neuen Medium seiner Zeit, er war ein Philosoph, den sowohl materialistische wie auch metaphysischen bzw. theologische Fragen umtrieben. Was diese Verbindung von Materialismus und Theologie betrifft, dürfte insbesondere jene letzte Arbeit von ihm bekannt sein, die unter dem Titel „Über den Begriff der Geschichte“ veröffentlicht. Darin heißt es gleich zur Einleitung in der ersten geschichtsphilosophischen These in bezug auf das Verhältnis von Theologie und Materialismus:

„Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe· an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ‚historischen Materialismus‘ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.“

Ein herrlicher Illusionsaufbau und zugleich ein wunderbarer Zaubertrick. Denn der wahre Materialismus ist eben der höchst lebendige Zwerg.

Dicht und verflochten gebaut ist das Werk dieses außerordentlichen Philosophen, als daß man es referieren könnte: man sollte es lesen; und ein solcher Essay kann allenfalls Lust aufs Lesen machen oder aber zeigen, weshalb es noch heute sinnvoll ist, Benjamin zu lesen. Erst dieser Tage ist im Suhrkamp Verlag eine umfangreiche Biographie  von Howard Eiland und Michael W. Jennings erschienen: „Walter Benjamin – Eine Biographie“ so der lakonische Titel.

Von der äußersten Theorie – in der „Eiswüste der Abstraktion“, wie es Benjamin nannte oder an anderer Stelle auch, daß die Philosophie eine Zuhältersprache sei, was ich ein schönes Bild finde: Philosophie ist eine Sprache, die man sprechen muß und in die man hineinwachsen muß, sonst versteht man sie nicht – bis hin zu den politischen Motiven und den eingreifenden, rettenden Momenten, die insbesondere in seinen späteren Schriften dem Historischen Materialismus eine ganz neue Gestalt gaben, reicht die Facette seines Denkens. Ebenso aber Beobachtungen und Aphorismen (etwa die zu bestimmten Orten wie Neapel oder Marseille, und ebenso ein Blick auf die Zeit seiner Kindheit in Berlin um 1900), Reisebilder, Denkbilder – Illuminationen eben: da, wo mal ein grelles, dann wieder ein sanftes und verzauberndes Licht auf die Dinge fällt und Räume beleuchtet. Erhellungen. Bei solcher Sichtung fallen derart viele Aspekte an, die kaum noch in eins zu bringen sind. Das Lesen in seinen Texten lädt zum Assozziiren ein – was nicht heißt, daß seine Text assoziativ wären. Sondern vielmehr schichten sie verschiedene Ebenen. Insofern auch das Plädoyer für ein Denken in Fragmenten.

Sein letztes großes Werk zum Paris des 19. Jahrhunderts, das Passagen-Werk, ist dann auch – Tücke der tragischen Biographie – Fragment geblieben und wurde von George Bataille in der Nationalbibliothek versteckt. Gernot Böhme schildert es in seinem Buch „Ästhetischer Kapitalismus“ in einer luziden  Weise, die es auf den Punkt bringt:

„Durch die Laterna magica der Passagen sieht er die Ware tanzen im prächtigen Kleid, tanzen auf der Bühne der Devanturen. In den Passagen waren sie schon, was sie werden sollten: Bestandteil der Bühne selbst, auf der das Leben spielt. Ihr Gebrauchswert schon dort, was er durch die Entfaltung des Kapitalismus sein würde: ihr ästhetischer Werk, ihr Wert in der Inszenierung, ihr Beitrag zur Ausstattung des Lebens, zu dessen Steigerung.

Passagen: Allegorie der ästhetischen Ökonomie, das Passagen-Werk ein Proönimum des 20. Jahrhunderts.“

Im Grunde setzte Benjamin hier fort, was er in seiner wunderschönen, traurigen, melancholischen und bezaubernden  autobiographischen Schrift „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ begonnen hatte: das sozialgeschichtliche, aber auch lebensweltliche Interieur einer Großstadt und einer vergangenen Welt aufscheinen zu lassen – eine Welt, die eben doch noch die seine war und bis heute, wenn auch mit erheblich mehr Abstand, immer noch die unsere ist, zu verstehen und nicht einfach untergehen zu lassen, sondern zu zeigen, wie darin bereits das enthalten ist, was uns bis heute hin bestimmt und unsere Strukturen erzeugt. Jean-Michel Palmier schreibt in seiner monumentalen Studie zu Benjamin:

„Die Kindheitserinnerungen verwandeln sich in Symbole, Allegorien, Glücksversprechen, die das Leben nicht erfüllt hat, ganz wie die beschädigten Spielsachen Zeugen der Trauer um eine stumme und verschüttete Welt sind. Jedes Ding läßt in seiner Textur die Tiefe einer historischen Erfahrung durchscheinen, die der Rettung bedarf.“

Jenes Motiv der Rettung ist dabei zentral. Benjamin schließt sein Buch „Goethes Wahlverwandtschaften“ mit diesen Satz: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns Hoffnung gegeben.“ Man kann dies mit jenem Satz Kafkas zusammenbringen, daß es unendlich viel Hoffnung gebe. Nur eben nicht für uns. Und leider traf eben genau das auf die traurige Vita von Benjamin zu, der sich – so kann man mutmaßen – in der Nacht vom 26. September auf den 27. auf der Flucht nach Spanien und von dort weiter nach Lissabon, das Leben nahm.

Ich möchte in diesem Text keinen Abriß zu Benjamins Leben und seinem Werk liefern. Wer etwas darüber erfahren will, der sei auf die sehr gute Rowohlt-Monographie von Bernd Witte verweisen. Auch der Artikel bei Wikipedia ist brauchbar. Er enthält zudem einige gute Verweise auf Sekundärliteratur. Und vor allem die oben genannte und kürzlich erschienene Biographie von Howard Eiland und Michael W. Jennings.

Kein Text aber vermag Benjamin mehr Ehre zu erweisen als sein eigener. Deshalb stelle ich hier einige Zitate zusammen.

„Ich aber bin entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist. Ich hauste so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr“ (Berliner Kindheit um Neunzehnhundert)

„Unter den Karyatiden und Atlanten, den Putten und Pomonen aber, die mich damals angesehen hatten, waren mir nun die liebsten jene angestaubten aus dem Geschlecht der Schwellenkundigen, die den Schritt ins Dasein oder in ein Haus behüten. Denn sie verstanden sich aufs Warten. Und so war es ihnen eins, ob sie auf einen Fremden warteten, die Wiederkehr der alten Götter oder auf das Kind, das sich vor dreißig Jahren mit der Mappe an ihrem Fuß vorbeigeschoben hat. In ihrem Zeichen wurde der alte Westen zum antiken, aus dem die westlichen Winde den Schiffern kommen, die ihren Kahn mit den Äpfeln der Hesperiden langsam den Landwehrkanal heraufflößen, um be der Brücke des Herakles anzulegen. Und wieder hatten, wie in meiner Kindheit, die Hydra und der Nemeische Löwe Platz in der Wildnis um den Großen Stern.“ (Berliner Kindheit um Neunzehnhundert)

„Wahrheit tritt nie in eine Relation und insbesondere in keine intentionale. Der Gegenstand der Erkenntnis als ein in der Begriffsintention bestimmter ist nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein. Das ihr gemäße Verhalten ist demnach nicht ein Meinen im Erkennen, sondern ein in sie Eingehen und Verschwinden. Die Wahrheit ist der Tod der Intention.“ (Ursprung des deutschen Trauerspiels)

„Es ist das Einmalige der Dichtung von Baudelaire, daß die Bilder des Weibs und des Todes sich in einem dritten durchdringen, dem von Paris. Das Paris seiner Gedichte ist eine versunkene Stadt und mehr unterseeisch als unterirdisch. Die chthonischen Elemente der Stadt – ihre topographischen Formationen, das alte verlassene Bett der Seine – haben wohl einen Abdruck bei ihm gefunden. Entscheidend jedoch ist bei Baudelaire in der ‚totenhaften Idyllik‘ der Stadt ein gesellschaftliches Substrat, ein modernes. Das Moderne ist ein Hauptakzent seiner Dichtung. Als spleen zerspellt er das Ideal (‚Spleen et Ideal‘). Aber immer zitiert gerade die Moderne die Urgeschichte. Hier geschieht das durch die Zweideutigkeit, die den gesellschaftlichen Verhältnissen und Erzeugnissen dieser Epoche eignet. Zweideutigkeit ist die bildliche Erscheinung der Dialektik, das Gesetz der Dialektik im Stillstand. Dieser Stillstand ist die Utopie und das dialektische Bild also Traumbild. Ein solches Bild stellt die Ware schlechthin: als Fetisch. Ein solches Bild stellen die Passagen, die sowohl Haus sind wie Straße. Ein solches Bild stellt die Hure, die Verkäuferin und Ware in einem ist.“ (Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts)

„Im Flaneuer begibt sich die Intelligenz auf den Markt. Wie sie meint, um ihn anzusehen und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden. In diesem Zwischenstadium, in dem sie noch Mäzene hat, aber schon beginnt, mit dem Markt sich vertraut zu machen, erscheint sie als bohème. Der Unentschiedenheit ihrer ökonomischen Stellung entspricht die Unentschiedenheit ihrer politischen Funktion. Diese kommt am sinnfälligsten bei den Berufsverschwörern zum Ausdruck, die durchweg der bohème angehören. Ihr anfängliches Arbeitsfeld ist die Armee, später wird es das Kleinbürgertum, gelegentlich das Proletariat. Doch sieht diese Schicht ihre Gegner in den eigentlichen Führern des letzteren. Das kommunistische Manifest macht ihrem politischen Dasein ein Ende. Baudelaires Dichtung zieht ihre Kraft aus dem rebellischen Pathos dieser Schicht. Er schlägt sich auf die Seite der Assozialen. Seine einzige Geschlechtsgemeinschaft realisierte er mit einer Hure.“ (Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts)

„Die Phantasieschöpfung bereitet sich vor, als Werbegraphik praktisch zu werden. Die Dichtung unterwirft sich im Feuilleton der Montage. Alle diese Produkte sind im Begriff, sich als Ware auf den Markt zu begeben. Aber sie zögern noch auf der Schwelle. Dieser Epoche entstammen die Passagen und Interieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen. Sie sind Rückstände einer Traumwelt. Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schullfall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt ihr Ende in sich und entfaltet es – wie schon Hegel erkannt hat – mit List. Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind.“ (Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts)

„Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene. So Strindberg – in ‚Nach Damaskus‘? –: die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier.“ (Passagenwerk)

„Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten. Die Rettung, die dergestalt – und nur dergestalt – vollzogen wird, läßt immer nur an dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar verlornen (sich) vollziehen. (…)

Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie zu setzen zu können, ist das Entscheidende.“ (Passagenwerk)

„Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ (Notizen zu den Geschichtsphilosophischen Thesen)

Ich schreibe diesen Text in Verehrung für einen der bedeutendsten und vor allem vielschichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Ich danke ihm, auch für alle diese dunklen, „wolkigen Stellen“, für die Rätselschriften, die Umschriften, welche mich ein Studium lang und darüber hinaus begleiteten und die immer noch wirken.

„Auf meinen Knien Geheim in diesem Tanzlokal
Im Kopf die Wirrkopfmelodien
Zum hundertsten Mal
Von Walter Benjamin
Das ist nicht normal!
Und Du bist mein Ruin.“

So sang es in den frühen 1980ern F.S.K. Und ich kenne das aus dem Studium gut, dachte damals, Walter Benjamin sollte man nur zusammen mit jener einen schönen blonden Frau lesen. Kann aber auch zur Einbahnstraße geraten. So als Tip. Heute ist man weiter.

Heute vor achtzig Jahren nahm sich der Philosoph, Essayist, Übersetzer, Literaturkritiker, Flüchtling, Migrant, einer von vielen in einer unendlichen Kette, die bis in die Gegenwart reicht, Walter Benjamin in Port Bou das Leben, indem er sich eine Überdosis Morphium injizierte.

Sich das Leben nehmen: der Punkt an dem sich das Leben vollendet; an dem jede Dialektik aussetzt bzw. zu einer negativen wird. Der Tod als die Grenze, von der aus Wahrheit zu gewinnen wäre. Doch dieser Ort ist erfahrungslos – so steht zumindest zu vermuten: es sei denn, man glaubt an jenen kleinen und buckeligen Zwerg.

Unter der Sonne Satans – Charles Baudelaire zum 150. Todestag

Die „Fleurs du Mal“ als Gründungstext moderner Lyrik zu bezeichnen, dürfte nicht falsch sein. Formal, weil sich in dieser Dichtung traditionelles Versmaß wie der Alexandriner und althergebrachte Gedichtform wie das Sonett mit neuem Sujet mischte: die Lichter der Großstadt glitzern im Innenleben des Dichters, sie gleiten als Schrift in den Korpus. Ebenso im inhaltlichen Sinne: Die kalte Apperzeption, sofern man Dichtung als eine Weise diskursiver und zugleich poetischer Reflexion begreift. Dieser Nexus deutet aufs Phänomen des Modernen: die Sprachgestalt und ebenso die Weise, wie Dichtung ihren Stoff bearbeitet. Den Lyriker, den Beobachter und das Beobachtete zu konfigurieren, in einem Bild zusammenschießen zu lassen, mal als Photographie, die eine Straßenszene bannt, die vorbeieilende Unbekannte in der Menge, aus der Masse heraus im Augenblick wahrgenommen und schon wieder vorüber („A une Passante“ etwa), der Dichter registriert und phantasiert einer Gestalt hinterher, die Flüchtigkeit des Moments. Oder ein anderes Mal die Innerlichkeit eines Exzesses, im Erinnern des Degoutanten, verfallenes Phänomen, das da am Wegesrand beim Spazieren in den Blick kommt, Wesen und Verwesen, nämlich ein Aas als Bild unserer Vergänglichkeit und simultan perspektiviert als Schönheit des Verfalls.

Das Ideal als unvergängliches Wesen und der Spleen (Stefan George übersetzt ihn mit Trübsinn und das Ideal mit Vergeistigung), also ein subjektives Befinden, diese neue Seltsamkeit des Gemüts, aufgesteigert zu höchster Wahrnehmung, zu Intensität und Idiosynkrasie – all dies dichtete Baudelaire, erschrieb es in Notizen und Essays zur Kunst, vor allem aber gestaltete er dieses Szenario antiker Moderne ästhetisch gelungen in seiner Lyrik. Sujet dieser Gedichte ist zum ersten Mal, in komplexer Ausfaltung und nicht bloß in Randnotiz, das Treiben in einer Großstadt. Die Menschenmassen, die Geräusche, die Pferdefuhrwerke, Droschken, Karren, Bettler und Geschäftige. Nicht irgendeine Großstadt, nicht bloß Vetterchens Eckfenster, sondern es war die Metropole des 19. Jahrhunderts: Paris – Stadt des Ereignisses, von der jener Stoß nicht nur in die ästhetische Moderne ausging. Dieses bildgebende Verfahren moderner Lyrik reicht bis zu dieser genialen Passage in Kafkas „Das Urteil“, der Schlußsatz, nachdem oder als Georg Bendemann sich, ausgezeichneter Turner, der er war, so das Kameraauge Erzähler, übers Geländer der Brücke in den Fluß schwang: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“ Ejakulation und das Wesen der Technik in ein einziges und luzides Bild geschoben.

Nichts anderes bereitete Baudelaire vor. Eben das machte diese Lyrik außerordentlich modern, enthält sie doch einer der ersten Schilderungen des Großstadtlebens als Gedichtzyklus: „Tableaux Parisiens“, wie der zweite Teil der „Fleurs du Mal“ heißt. Modern ist diese Dichtung, weil sie Ideal, Ewigkeit und Moment in der Schönheit als sozialem Topos konfiguriert und ästhetisch zugleich konfligiert:

„Das Schöne wird aus einem ewigen unveränderlichen Element gebildet, dessen Qualität außerordentlich schwierig zu bestimmen ist, und aus einem relativen, bedingten Element, das, wenn man will, nacheinander oder zugleich von der Epoche der Mode, dem geistigen Leben, der Leidenschaft dargestellt wird.“ (Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens)

In diesem Sinne koppeln sich bei Baudelaire in den „Blumen des Bösen“ Mode und Moderne. Dieses Verquicken ist für die Kunst bis heute geblieben. Am Phänomen des Pop deutlich zu sehen. Um jedoch diese gesteigerte Schönheit auch sinnlich, mithin ästhetisch zu erfahren, ist es unbedingt erforderlich, die Gedichte der „Fleurs du Mal“ laut im Original zu lesen. Um den Klang der Wörter, um jede Silbe wahrzunehmen und weil dieser Rhythmus des Sonetts dich Leser spüren läßt, weshalb Lyrik auch eine körperliche Sache ist:

„Que nos rideaux fermés nous séparent du monde,
Et que la lassitude amène le repos!
Je veux m’anéantir dans ta gorge profonde,
Et trouver sur ton sein la fraîcheur des tombeaux!“

Ich lege mir für solche Zeilen die Interlinearübersetzung von Friedhelm Kemp daneben.

Baudelaires legendärer Gedichtband erschien 1857, im selben Jahr wie auch Flauberts „Madame Bovary“ und Adalbert Stifters „Der Nachsommer“. Gleichsam die verschiedenen Schreibformen der klassischen Moderne in drei Werken in nuce, im selben Jahr. Es erweckten jedoch die „Blumen des Bösen“ – wie auch „Madame Bovary“ – sogleich den Zorn der Öffentlichkeit, es wurde noch im selben Jahr prozessiert. Die träufelnde „verderbliche Wirkung der Bilder“ und die „Verhöhnung der öffentlichen Moral und der guten Sitten“, derentwegen Baudelaire zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Er mußte sechs Gedichte aus dem Band tilgen.

Die Stadt als Sujet, mit all ihren Tücken und Makeln, den Huren, Lumpensammlern, den Apachen und Säufern, den Straßenszenen und den schweifenden Imaginationen des wilden Poeten. Unter Rausch, unter Opium, unter Haschisch in den „künstlichen Paradiesen“ oder aber bei kaltem klaren Bewußtsein des beobachtenden Schlenderers. Die Moderne bricht sich Bahn, weil es die Stadt als neue Lebensform gibt und vor allem, weil neue Technik die Welt radikal ändert. Doch Charles Baudelaire haßte die Ausprägungen dieser Moderne. Das Gaslicht von Paris und auch das Neue der Stadt, das sich mit der Haussmannschen Architektur Bahn brach, war ihm suspekt:

„Das alte Paris ist nicht mehr (die Gestalt einer Stadt wechselt rascher, ach, als das Herz eines Sterblichen);
Nur im Geiste seh ich noch dieses ganze Barackenlager vor mir, …“

Und weiter:

„Paris verändert sich! nichts aber hat in meiner Schwermut sich bewegt! neue Paläste, Gerüste, Steinböcke, alte Vorstädte, alles wird mir zur Allegorie, und meine liebsten Erinnerungen lasten schwerer als Felsen.“ (Baudelaire, Le Cygne)

In die Lumpen gedichtet, dem Rotwein, den Drogen zu, der Dichter ein Albatros oder einfach ein loser Vogel, der durch die Stadt streift. Walter Benjamin assoziierte in seiner großen Baudelaire-Studie den Dichter mit dem Lumpensammler zusammen. Über jene verstoßene Klasse schreibt Benjamin:

„Lumpensammler traten in größerer Zahl in den Städten auf, seitdem durch die neuen industriellen Verfahren der Abfall einen gewissen Wert bekommen hatte. Sie arbeiteten für Zwischenmeister und stellten eine Art Heimindustrie dar, die auf der Straße lag. Der Lumpensammler faszinierte seine Epoche. Die Blicke der ersten Erforscher des Pauperismus hingen an ihm wie gebannt mit der stummen Frage, wo die Grenze des menschlichen Elends erreicht sei.“

Pauperismus ist in diesem Kontext das entscheidende Wort. Eine immer verfügbare Reservearmee der Arbeit.

„Lumpensammler oder Poet – der Abhub geht beide an; beide gehen einsam ihrem Gewerbe nach, zu Stunden, wo die Bürger dem Schlafe frönen; selbst der Gestus ist der gleiche bei ihnen beiden.“ (Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire)

In dieser Analogie freilich steckt auch ein Stück weit Idealismus: doch das Leben der Bohème (Aki Kaurismäkis großartiger s/w-Film auch dazu) und das der Pauper unterscheiden sich gravierend, wenngleich man sich heute über ein Stück weit die Solidarität zwischen Kulturalisten von Links und jenen da unten wünschen würde.

„Der Lumpensammler kann natürlich nicht zur Boheme zählen. Aber vom Literaten bis zum Berufsverschwörer konnte jeder, der zur Boheme gehörte, im Lumpensammler ein Stück von sich wiederfinden. Jeder stand, in mehr oder minder dumpfem Aufbegehren gegen die Gesellschaft, vor einem mehr oder minder prekären Morgen. Er konnte zu seiner Stunde mit denen fühlen, die an den Grundfesten dieser Gesellschaft rüttelten. Der Lumpensammler ist in seinem Traum nicht allein.“ (Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire)

Der Poète maudit ist ein Stück weit Projektion, die Solidarisierungen ins Armenhaus sind dem literarischen Reflex oder einer Wunschverschiebung geschuldet. Der Dichter arbeitet am Ende auf eigene Rechnung – Baudelaire wußte dies. Dennoch ist es im Sinne der bildgebenden Verfahrensweise geboten, auf den Zusammenhang zwischen dem Lumpensammler und dem Dichter zu deuten, und es ist die Arbeit der Literatur, jene verdrängten, vergessenen Schichten zum Sprechen zu bringen. Wobei darin freilich die Analogie erhebliche Brüche aufweist. Und auch Adornos Kritik an Benjamins idealisierender bzw. vulgärmarxistischer Deutung sollte man in bezug auf Baudelaire im Kopf haben.

„Die Dichter finden den Kehricht der Gesellschaft auf ihrer Straße und ihren heroischen Vorwurf an eben ihm. Damit scheint in ihren erlauchten Typus ein gemeiner gleichsam hineinkopiert. Ihn durchdringen die Züge des Lumpensammlers, welcher Baudelaire so beständig beschäftigt hat.“ (Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire)

Nicht durch Willkür von Parteinahme und Politik – zumindest nicht beim Künstler als Künstler, wenn er seine Sache nicht verraten will –, sondern weil ins ästhetische Material das Gesellschaftliche gleich einer mémoire involontaire sich sedimentiert, gelingt es dem Dichter, jene Straßen, die Stadt und ihre Gefallenen zum Sprechen zu bringen. Intention entsteht durch Intentionslosigkeit. Auch dies konnte man bei Baudelaire lernen und lesen. Baudelaires Protest war ästhetisch motiviert, entlud sich in der Dichtung. Und doch entstand gerade dadurch das Bild von Gesellschaft, gleichsam im Nebensatz. Der Dichter stöbert, sucht, sammelt bei Baudelaire. Er mit dem angereichert, was er einst auflas:

„Ich habe mehr Erinnerungen, als wär ich tausend Jahre alt.

Ein großes Möbel mit Schubfächern, voll Abrechnungen, Versen, Liebesbriefen, Prozessakten, Romanzen und schweren Haaren, die man in Quittungen gewickelt hat, birgt weniger Geheimnisse als mein trauriges Hirn. Eine Pyramide ist es, eine ungeheure Gruft, die mehr der Toten als das Massengrab enthält.

J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans.

Un gros meuble à tiroirs encombré de bilans,
De vers, de billets doux, de procès, de romances,
Avec de lourds cheveux roulés dans des quittances,
Cache moins de secrets que mon triste cerveau.
C’est une pyramide, un immense caveau,
Qui contient plus de morts que la fosse commune.
(Baudelaire, Spleen, Übersetzung Kemp)

Aber mit diesem Sammeln ist eine Melancholie verbunden, die Melancholie als Todesbewußtsein. Die Metapher der Pyramide als Erinnerungsschacht – wir denken dabei an Hegels Pyramide und Derridas Lektüre jenes Hegelsatzes, der auf die Arbeit des Dichters deutet: „Das Zeichen ist irgend eine unmittelbare Anschauung, aber die eine Vorstellung von ganz anderem Inhalt vorstellt, als sie für sich hat; – die Pyramide, in welche eine fremde Seele versetzt und aufbewahrt ist.“ (Hegel, Enzyklopädie)

Ohne auf die Frage von Signifikat und Signifikant dekonstruktiv sich zu kaprizieren, kann man ähnliches von der Dichtung sagen. Sie wirkt in einem analogen Sinne, hebt auf und verwahrt: eine Pyramide, in der ein Fremdes versetzt und aufbewahrt ist.

Aus der natur belebten tempelbaun
Oft unverständlich wirre worte weichen ·
Dort geht der mensch durch einen wald von zeichen
Die mit vertrauten blicken ihn beschaun.

„La Nature est un temple où de vivants piliers
Laissent parfois sortir de confuses paroles;
L’homme y passe à travers des forêts de symboles
Qui l’observent avec des regards familiers.“
(Baudelaire, Correspondance, Übersetzung: Stefan George)

Himmelstürzende, verdrehte Dichtung oder wie wir schon bei Büchner und Celan sahen: Wer auf dem Kopf geht, hat den Himmel unter sich als Abgrund:

„Race de Caïn, au ciel monte,
Et sur la terre jette Dieu!“

Von den Kulturräumen. Der freie Gebrauch des Eigenen

„Was ist deutsch?“ lautete jüngst der Titel eines Buches von Peter Trawny. Darin ging es um das Verhältnis Adornos zur Frage der nationalen Identität. Adorno betitelte seinen Aufsatz aus dem Jahre 1965 derart: „Auf die Frage: Was ist deutsch“. Also inmitten der Auschwitzprozesse, zwei Jahre nach deren Beginn. Eine Frage zudem, auf die sich umstandslos kaum antworten läßt, weil in der Art, wie sie überhaupt formuliert wird, bereits ein Problematisches liegt. Diese Schwierigkeiten thematisiert Adorno: nicht einfach auf eine Frage zu antworten, sondern überhaupt erst die Frage und deren Sinn zu reflektieren. Und genau dieses Verfahren meint immanente und dialektische Kritik. Die aus der Pistole geschossene Antwort ist meist falsch: Deutsch oder Englisch oder Französisch als eine Ansammlung von Eigenschaften oder historischen Fakten.

„Die Bildung nationaler Kollektive jedoch, üblich in dem abscheulichen Kriegsjargon, der von dem Russen, dem Amerikaner, sicherlich auch dem Deutschen redet, gehorcht einem verdinglichenden, zur Erfahrung nicht recht fähigen Bewußtsein. Sie hält sich innerhalb jener Stereotypen, die von Denken gerade aufzulösen wären. Ungewiß, ob es etwas wie den Deutschen, oder das Deutsche, oder irgendein Ähnliches in anderen Nationen, überhaupt gibt. Das Wahre und Bessere in jedem Volk ist wohl vielmehr, was dem Kollektivsubjekt nicht sich einfügt, womöglich ihm widersteht. Dagegen befördert die Stereotypenbildung den kollektiven Narzißmus.“ (Adorno, Auf die Frage: Was ist deutsch)

Darin liegt einiges an Wahrheit. Kollektivsingulare sind zwar bequem, aber auch problematisch. Manchmal aber sind sie ebenso nötig. Auschwitz gab es, weil auch Esten, Litauer, Franzosen, Niederländer und insbesondere Polen mittaten. Dennoch ist Auschwitz-Birkenau ein deutsches Vernichtungslager, kein polnisches. Trotz des erheblichen Antisemitismus der Polen. Dennoch mordeten in Auschwitz und anderswo wesentlich Deutsche. Sie organisierten diesen Massenmord, er ging von Deutschland aus. Insofern sind solche Kollektivsingulare zugleich nötig, um Zuschreibungen vorzunehmen und Dinge zu benennen. Man sieht: Es ist nicht ganz einfach. (Auf den Aspekt Adorno und die Frage, was deutsch sei, gehe ich demnächst noch genauer ein.)

Was also ist Kultur? Eine Frage von ähnlicher Sprengkraft, zumal wenn darin der eigene Referenzrahmen (mit)gemeint ist, von dem her gedacht wird, gleichsam als blinder Fleck, und nicht bloß ein abstrakter Kulturbegriff angenommen wird – heute gerne in der nichtssagenden Floskel von der Kulturwissenschaft geronnen, die es sogar bis hin zu einem eigenen Studiengang geschafft hat. Mit der eigenen Kultur ist es nicht viel anders als mit dem Körper – um es in ein Bild der Analogie zu fassen: Wer keinen Bezug zum eigenen Körper hat, wird keinen zum fremden herstellen können. Das ist – ich wiederhole es: im Sinne einer Analogiebildung – mit der eigenen Herkunft nicht anders. Im Begriff der Kultur stecken einerseits notwendige Momente, ein Ensemble von Regeln, Ritualen, Denkmustern, die sich herausgebildet haben, ebenso gehört eine gemeinsame Sprachform dazu. Doch dem Reich der Notwendigkeiten gesellt sich zugleich ein Reich der Freiheit bei. Jenseits dieser rahmenden und regelnden Zwänge und also darüber hinaus.

Mit dem Begriff Kultur ist gleichzeitig ein Versprechen von Freiheit assoziiert. Zwänge, Regeln und Konventionen erzeugen Enge, im Feld der Kunst aber hat jede Kultur die Möglichkeiten, solche Regelwerke frei zu erweitern, indem in einem fiktionalen Rahmen andere Möglichkeiten erzählerisch oder bildlich vergegenwärtigt werden und vermittels solcher Permanenz in eine Gesellschaft einsickern. Tragend wäre hier etwa der Liebesbegriff seit der Goethezeit, der wesentlich vom „Werther“ und den „Wahlverwandtschaften“ konstituiert wurde.

Die Betonung beim Begriff Kultur liegt auf dem Wort „frei“. Zu rekurrieren wäre in diesem Kontext auf die antiken Griechen, die mittels ihrer Philosophie und Kunst (wie auch der Wissenschaft) zum ersten Mal in der Geschichte ein solches Ensemble freier Menschen heraus- und auszubilden versuchten. In diesem Sinne finden wir in der griechischen Antike bis heute den Maschinenraum Europas. Das aber, im Hinblick auf das Griechentum, bedeutet zugleich: in einem emphatischen Sinne von Kultur ist diese Kultur noch gar nicht, sondern wäre erst herzustellen – Adornos Vorbehalte gegen den Kulturbegriff, insbesondere in seinem Essay Kulturkritik und Gesellschaft, sind bekannt. (Wobei dieses Moment aktiven Herstellens qua Geschichte wiederum eine teleologische Perspektive impliziert, den geschichtsphilosophischen Blick vom Heute aus: daß das, was ist, nicht vollkommen ist und seinen Zweck bisher nur marginal erreichte. Ob diese Zielperspektivierung ebenso aus einem anderen Blickwinkel heraus und weniger teleologisch gedacht, im Sinne eines blinden Spiels von Kräften in dieser Weise zu betrachten ist, scheint mir fraglich. Dialektik des Kulturbegriffes. Nietzsche und die Griechen.) Der „freie Gebrauch des Eigenen“, so formulierte es Martin Heidegger in seiner Interpretation von Hölderlins Gedicht „Andenken“.  Diesen freien Gebrauch zu lernen, dieses „Eigene eigentlich anzueignen, war für die Griechen das Schwerste.“ So schreibt Heidegger in seiner Andenken-Vorlesung (GSA 52). Und weiter heißt es da:

„Dieses Eigene und die Art seiner Aneignung kann nicht das Eigene sein, das ‚der deutsche Dichter‘ im heimatlichen Lande finden muß. Dieses Finden verlangt ein eigenes Suchen und dieses ein eigenes Lernen. Im Finden, Aneignen und Gebrauchenkönnen des Eigenen besteht die Freiheit eines Menschentums zu sich selbst. Darin ruht die Geschichtlichkeit der Geschichte eines Volkes.“ (Heidegger, Hölderlins Hymne ‚Andenken‘)

Komplex sicherlich und schwierig zu durchdringen. Aber wer seine eigene Kultur nicht begreift und zu ihr kein Verhältnis entwickelt: da bin ich skeptisch, daß er andere Kulturen bzw. andere Kulturräume angemessen schätzen kann. Es ist lediglich eine Flucht (über deren Gründe man sich Gedanken machen sollte) sowie ein Anhimmeln und Beschwärmen des Fremden als Fremdes. Paradox ist dabei, daß diese fremdgeschätzten Kulturen meist ein sehr ausgeprägtes Selbstwertgefühl besitzen. Nie kämen jene Kulturen auf die Idee, die Präferenz fürs Eigene zu leugnen. (Zu solchem nämlich ist erst der kritische Geist der Moderne fähig.) Das Andere ist deshalb ein Anderes, weil es ein Eigenes gibt. Simple Hegelsche Anerkennungsdialektik. Der Knecht ist Knecht, weil der Herr existiert. Ohne den Begriff vom Herrn ist auch der Begriff des Knechtes sinnlos.

Der von mir geschätzte Blogger und Kommentator che schrieb hier in einem Kommentar:

„Das Problem ist, dass mir bestimmte fremde Regionen nicht fremd sind. Aufgrund der Dinge die ich dort erlebt habe empfinde ich bei bestimmten Alpenregionen aber auch beim Duft ägyptischen Tees oder bei bestimmten Winkeln von Kairo ein Vertrautheitsgefühl das Heimatgefühlen zumindest ähnlich ist. Es gibt hingegen durchaus Gegenden Deutschlands, da, wo die männliche Jugend kahlköpfig einhergeht, die für mich Feindesland sind. Und grundsätzlich sehe ich mich als Weltbürger. Nicht nur Internationalist sondern auch Kosmopolit, um da zwei alte Gegensätze miteinander zu versöhnen.“

Die Art des Denkens, die hier beschrieben wird, ist in der Tat die des Historikers. Aber auch die eines Weltbürgers. Ob man einer ist, hängt sicherlich zu einem guten Teil von der eigenen Mentalität ab. Goethe war ein Weltbürger (einerseits, andererseits eben doch ein weimaranischer Frankfurter), sein Westöstlicher Divan ist das Dokument dazu, wie Kulturen sich durch den Austausch befruchten könnten. Dieses Weltbürgertum kann man so oder in anderer Art leben. Ästhetisch oder reisend. Doch ist es zugleich, wie auch der global vergleichende Blick des Historikers, eine Spezialperspektive, die die wenigsten einnehmen. Und daran scheitern dann auch – das freilich ist nebenbei gesprochen – die von der Sozialphilosophie bemühten Konstrukte einer postnationalen Konstellation, die uns Europa als Quasi-Nation ans Herz legen, wie dies etwa Jürgen Habermas Bestreben ist und wie es Karl Heinz Bohrer nicht müde wird zu kritisieren. Überdehnte Kulturräume funktionieren nur bedingt – auch wenn uns Europäer manches in der Geschichte eint. Um solche Überdehnungen zu stabilisieren bedarf es eines überzeugenden Narrativs oder einer starken medialen Inszenierung. Stichwortesind hier: Populär-Pop und Hollywood.

Interessant bei dieser Fokussierung aufs Europäische, daß die Lage Europas sich ändern kann. Wer in die Welt der Antike blickt, sieht ein Europa, das sich um den Mittelmeerraum gruppiert. Erst jüngst schlug der Carl Schmitt-Leser und Philosoph Giogio Agamben diese Umpolung von Kulturräumen vor, um sich von jenem nordischen Merkel-Europa positiv abzusetzen und an Tradition anzuknüpfen. Und auch ein Buch von Wolf Lepenies dreht die Perspektive nach Frankreich und läuft in diese Richtung eines lateinischen Reiches, der levantische Kulturraum: Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa.

Die eigene Kultur und Herkunft zu durchdenken und sich als Teil dieses Prozesses zu begreifen, bedeutet nicht, die Teilnehmer der eigenen Kultur allesamt zu schätzen, wie che dies kritisch anmerkte. Unangenehme Menschen gibt es in Kairo nicht minder als in Berlin. Mir sind deutsche Glatzkopf- und Stiernackennazis nicht minder fragwürdig – und doch sind sie der schlechte Bestandteil einer Kultur, wie auch die aggressiven Macho-Allüren in südlichen Kulturräumen. Solches ist mir genauso suspekt wie mir Islam-Fundamentalisten und Burka-Frauen in Paris suspekt sind.

Kultur ist ein Komplex aus langsam Gewachsenem, man legt ihn nicht einfach ab wie eine Sommerjacke an schlechten Tagen, zumal dann nicht, wenn man sich mit kulturellen Phänomenen wie Literatur, bildender Kunst, Philosophie und eben auch Geschichte beschäftigt. Dieses Bewußtsein für Kultur mag bei einem kosmopolitisch Reisenden sicherlich anders ausgeprägt sein als bei jemandem, der seine Region weniger gerne verläßt und zuweilen gerne durch Weimar, Jena, Bayreuth oder Bamberg spaziert Und ein Gräzist wird sicherlich ein anderes Verhältnis zum antiken Griechentum besitzen als einer, der sich intensiv mit der Epoche um 1800 in Deutschland befaßt. (Mit Glück geht beides.)

Keineswegs handelt es beim Denken der eigenen Kultur zwangsläufig und primär um identitäre Konstrukte, wie man es als Kritik und Hebel gerne ansetzt. Ganz gut kann man das an Brechts Text der Kinderhymne sehen. [Wobei man immer fragen kann: Wozu Nationen? Eine relativ moderne „Erfindung“. Ich selbst plädiere eher für Kulturräume. Deshalb auch meine Präferenz für ein Deutschland, wie es im 17. und 18. Jhd existierte. Denn Kultur in einem emphatischen Sinne ist eine plural verfaßte Sache, die sich aus Diversem zusammensetzt. Dazu gehört eben genauso die WM 1954, wie auch die 68er, wie auch Bratwurst mit Sauerkraut – wir denken da an ein schönes Rammstein-Lied wie „Pussy“ –, die Loreley, der wunderbare deutsche Rhein. Schön übrigens, daß im Badischen in den 70ern erstmals bei Anti-AKW-Protesten Franzosen und Deutsche gemeinsam kämpften. Walter Mossmann singt davon in seiner „Anderen Wacht am Rhein“.]

Zu dieser Kultur gehören der Kyffhäuser, die Externsteine genauso wie die Proteste in Wackersdorf, genauso wie der Deutsche Herbst und Gelsenkirchener Barock (wunderbare, schöne Möbel übrigens), von Auschwitz nicht zu schweigen und ebenso von der deutschen Romantik. Vor allem aber gehört dazu die gemeinsam erlebte gegenwärtige Geschichte wie auch die Vergangenheit. Interessant zu diesem Komplex Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen (auf den Komplex Mythos, Narrativ und Erzählung wäre genauer noch einzugehen, auch als Literaturwissenschaftler) und ebenso in Ausführlichkeit Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? Der Germanist Borchmeyer will den Wandel von kultureller Identität begreifen. Eine, wie ich finde spannende Frage. Denn die nationale oder regionale Kultur ist einerseits nichts Starres und bedeutet andererseits doch Tradition. Interessant in diesem Sinne sind die Briten, die sich niemals als Briten verstehen, sondern als Waliser, Schotten, Engländer und Nordiren, und zugleich doch ein ausgeprägtes Nationalbewußtsein besitzen. (Karl Heinz Bohrer berichtet in seiner Biographie „Granatsplitter“ und insbesondere in „Jetzt“ über dieses seltsame Konstrukt, das vor allem von Engländern gepflegt wird. Schotten sind da schon sehr viel widerständischer. Sie sehen sich als eigenständige Kultur, teils sogar unter der Zwangsherrschaft der Engländer geraten.)

Darin liegt die Spannung und zugleich die Dialektik des Kulturbegriffes und für die Kulturräume. Und dies macht es wiederum so schwierig, in diesem Feld zu denken. In dieser Dialektik von Kultur sind wiederum ein Münchener und ein Bayer unterschiedlich in der Prägung. Bei allem anderen, was sie zugleich eint. Angefangen bei den geschichtlichen Daten der letzten 100 Jahre. Die Einheit und Differenz des Verschiedenen und eine prinzipiell funktionale Offenheit. Kulturen sind veränderbar und beruhen zugleich auf Traditionen und Überlieferungen.

In diesem Sinne von pluraler Einheit oder aber von einheitlicher Pluralität scheint mir übrigens die neue Biographie zu Maria Theresia von Barbara Stollberg-Rillinger interessant und ebenso von Pieter M. Judson: Habsburg, Geschichte eines Imperiums. Ein Kulturraum, der es über hunderte von Jahren vermochte, unterschiedlichste Gebiete und auch unterschiedlichste Kulturen in einem nationalen Raum zu vereinen. Mal zusammenzuhalten, mal zusammenzuschweißen mit der Gewalt von Waffen. Nicht jeder übrigens in Galizien war glücklich darüber, daß das Reich der Habsburger zerbrach. Wie die Geschichte zeigt, sind solche Identitäten fragil.

Assoziationen – Grenzen der Gemeinschaft (2)

kafka5jahreDer Journalist Nils Markwardt wies vor einigen Wochen bei Facebook auf einen Text von Franz Kafka hin, der im „Merkur“-Heft Oktober/November 2013 mit dem Thema „Wir? Formen der Gemeinschaft in der liberalen Gesellschaft“ abgedruckt wurde.

Gemeinschaft

„Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht, wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: ‚Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.‘ Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Ellbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder.“

Die Prosa bringt das Prinzip der Gruppenbildung in eine bündige Miniatur. Dieser Mechanismus der Exlusion leuchtet – zunächst – intuitiv ein. Kafkas Parabel ist auf den ersten Blick einfach, sie reduziert das Komplexe auf ein deutliches Bild und führt in dieser Weise den Dezisionismus ad absurdum. Solches Verhalten fängt im Kleinsten an, im Kindergarten nämlich, wenn sich Kids zusammentun und wenn sie andere zugleich ausschließen. Du nicht! Und wird, wie der Erzähler richtig feststellt, zu lange über Gründe diskutiert, käme ein Gespräch fast einer Aufnahme gleich. Willkür dient als Prinzip, um die Identität einer Gruppe auszubilden. Das strikte Nein und niemand begründet.

Genausogut ließe sich diese Parabel aber völlig anders lesen. Daß in eine intakte Gruppe, in einen sinnvollen Zusammenhang etwas Fremdes eindringt. Ein Etwas, das jenes Zusammenspiel sabotiert. Zwar ergab sich diese gelungene Konstellation durch einen Zufall, aber da sie nun einmal besteht und funktioniert, scheint es fahrlässig, solches Gelingen zu stören. Kafka selbst war empfindlich gegen Eindringlinge, was seine Situation in der elterlichen Wohnung betraf. Die Schwestern lärmten, die Eltern rumorten. Man lese in „Die Verwandlung“, wie dort die Zimmer angeordnet sind und gleiche es – sozusagen Binder-positivistisch – mit Kafkas Wohnsituation in Prag ab. Und auch seine späte Erzählung „Der Bau“ findet starke Bilder für den Solipsismus. Ein grabendes Tier, das daran frickelt, sich abzuschotten. Gemeinschaft mit sich, seinen Sinnen und seinem ungeteilten Selbst. Ein untrennbares Konglomerat. Der Mensch ist ein Widerspruch in sich.

Gruppen können, wenn sie länger Bestand haben, Gemeinschaften bilden. So wie jene fünf Gesellen in Kafkas Parabel. Solche Allianz impliziert die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden. Was bildet die vereinende Klammer, das Band, was ein- und ausschließt?

Zunächst kann man festhalten, daß Gemeinschaftsbildungen für komplexe Gesellschaften unabdingbar sind. Entsprechende Theorien dazu sind Legion, sie finden sich bei Hegel in seiner Rechtsphilosophie, in Ferdinand Tönnies Standardwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“, stark beeinflußt durch das „Marxische System, das mitbestimmend auf ihren Inhalt gewirkt hat“, so Tönnies. Wir lesen sie in Max Webers zum Werk gefügten Aufsatzsammlung „Wirtschaft und Gesellschaft“, bis hin zu Luhmann und Habermas legendärer Kontroverse Anfang der 70er Jahre, eine Art Soziologen-Battle. „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“ fragte Habermas im Titel seines Aufsatzes polemisch. Am Ende läuft der unheilvolle Zusammenhang der Immanenz spätbürgerlicher Gesellschaft auf die „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ hinaus. Der gesellschaftliche Kitt bei Habermas verlagert sich, weg von der politischen Ökonomie und einer materialen kritischen Theorie der Gesellschaft, ins rationale Prozedere der Argumentationsfiguren bzw. in eine „Rekonstruktion des historischen Materialismus“. Sabbelkommunismus, wie wir damals witzelten.

Es gibt keine Gesellschaft ohne Gemeinschaften. Der Begriff „alle Menschen“ taugt nur bedingt, nicht einmal im religiösen Kontext funktioniert er. Die Gruppe der Rechtgläubigen schließt alle anderen aus. Insofern ist jede Religion orthodox. Der Mann Moses, der gewaltig vom Berg schreitet: Du sollst keinen anderen Gott neben mir haben. Diese Satzung gilt für alle monotheistischen Religionen. Man müßte schauen, ob solche Gemeinschaftsbildung qua Ausschluß nicht vielmehr eine anthropologische Konstante ist. Laut der Ethnologie kennen Naturvölker nur zwei Gruppen von Fremden: Gäste, die wieder gehen, und Feinde, die geschlachtet werden. Homers Ilias singt das grausame Lied vom Tod Hektors. Dazwischen bleibt nicht viel Platz für anderes.

Johannes Fried schreibt in seiner Biographie zu Karl dem Großen:

„Der Fremde, war er nicht Händler, Gesandter oder Gast, wurde in seinem Fremdsein kaum geachtet, eher als Bedrohung empfunden. Jede Kommunikation mit ihm fiel schwer und mißlang nur allzuhäufig. Es fehlten angemessene Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, um die Anderen in ihrem Anderssein erfassen und würdigen zu können.“

Solche Möglichkeiten der Referenzierung sind entscheidend. Und das prägt bis heute sich ein, auch in einer komplex ausdifferenzierten Gemeinschaft wie dem modernen Staat, der das Individuum und dessen (formal-bürgerliche) Freiheit zum Gegenstand hat.

Ganz anders konzipiert ist jene Phase von Individualität und Gemeinschaft bei Friedrich Hölderlin, wie er sie in „Brot und Wein“ dichtete:

„…immer bestehet ein Maß
Allen gemein, doch jeglichem auch
ist eignes beschieden;

Dahin gehet und kommt jeder,
wohin er es kann.“

Das Gemeinsame wird aufs Eigene zurückgeführt. Mit Heideggers Andenken-Vorlesung zu Hölderlin ließe sich vom „freien Gebrauch des Eigenen“ sprechen, den es zunächst einmal überhaupt zu erlernen gilt.

Jene kleine Kafka-Parabel ist insofern als Auftakt zum Thema gut geeignet, weil sie Basales deutlich macht, aber zugleich in einer eigentümlichen Schwebe verharrt. Zudem ist das Motiv der Gemeinschaft zentral für Kafkas Literatur. Es durchzieht sein Werk in einer vielfachen Bündelung: In den drei großen Romanen „Der Verschollene“ – man denke an das „Naturtheater von Oklahama – in „Der Prozess“, wo ein Einzelner aus der Gemeinschaft entfernt und am Ende wie ein Hund getötet und abgelegt wird. Oder in „Das Schloß“, wo jener anonyme Einzelne namens K ins Dorf und damit in das mysteriöse Wesen Schloß Aufnahme begehrt. Im Naturtheater von Oklahama zeigt sich die Form der Gemeinschaft in einem Plakataufruf:

„‚Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Teater in Oklahama aufgenommen! Das große Teater von Oklahama ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!‘“

Ein Feuerwerk an Ausrufezeichen und es wird ein Leben geboten, wo im Sinne einer gesellschaftlichen Utopie jeder nach seiner Façon und an seinem Platz, seinen Fähigkeiten gemäß, wirken kann; herausgelöst aus der gesellschaftlichen Entfremdung. Fast fühlt man sich beim Lesen dieses Aufrufes an das Diktum des jungen Marx in der „Deutschen Ideologie“ erinnert: eine Gemeinschaft der Freien, wird uns offeriert. Aber nicht bloß in literaturästhetischer Absicht:

„Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, und eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit, aber stets auf der realen Basis der in jedem Familien- und Stamm-Konglomerat vorhandenen Bänder, wie Fleisch und Blut, Sprache, Teilung der Arbeit im größeren Maßstabe und sonstigen Interessen – und besonders, wie wir später entwickeln werden, der durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen, die in jedem derartigen Menschenhaufen sich absondern und von denen eine alle andern beherrscht.“

Eine Passage, die Kafkas Unbehagen an der Moderne ex ante auf den Punkt bringt. Nicht die Seinsvergessenheit bestimmt die Existenz, sondern die Ökonomie und noch genauer: das Konzept von Arbeit. Nach solcher Arbeit suchte Karl Roßmann, als er in Amerika ankam, und gerät in die seltsamsten Tätigkeiten, etwa als Page im „Hotel Occidental“. Abendländischer geht nimmer. Kafkas „Der Verschollene“ exerziert diese unfreie Existenz im „Stahlgehäuse des Kapitalismus“ bis zum Ende durch. Seine Erzählung deutet auf Entfremdung. Und auf eine wundersame Aufhebung in einer obskuren Gemeinschaft, die etwas von der Existenz des fahrenden Volkes hat. (Wir erinnern uns bei Kafka an die Zirkus-Szenen und die merkwürdigen Artisten.) Eschatologie zuckt am Himmel auf. Vor allem, wenn Kafka diese Zugfahrt ins Nirgendwo beschreibt. (Fortsetzung in Teil 3)

kafka-fronius

Teil 1 findet sich hier.

Bild 1: Wikipedia, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kafka5jahre.jpg
Bild 2: Franz Kafka‘ by Hans Fronius, qua wikipedia, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AKafka-fronius.jpg

Chausseestraße: Schuß und Gegenschuß – Urbane Räume (12)

Wer noch vom alten Schlage ist und sich für Dissidenten, Dichter und Liedermacher der DDR interessiert, wird diesen Sound von Straßengeräuschen im Ohr haben. In den Gleisen quietscht und kreischt die Tram im Stahl, entfernt heult ein Motor, ein Wagen brummt undefinierbar, biegt um die Ecke, die Monotonie der Fahrbahngeräusche summt sich in die Gitarre. Der Straßenklang der alten DDR. Dazu die intonierende, hochfahrende, schreiende Stimme des Wolf Biermann auf seiner LP „Chausseestraße 131“, als könne er mit Lautstärke die Repression des vermieften Staates übertönen, und er nahm mit einem Tonband seine Lieder auf, bei offenem Fenster, denn ein Tonstudio gab es für ihn nicht. War gerade keines frei. „So oder so“ und „Frühling auf dem Mont-Klamott“, dem Trümmerberg Ostberlins. Da, wo der Wolf wohnte und wo die sich schmiegenden Frauen mit schneidender Stimme zur Tine sagten, den Wolf, den kann nie eine nur für sich allein haben, steht immer noch dieses Haus, und es sieht – eines von wenigen in der Chausseestraße – noch immer so aus wie es früher ausschaute: verwohnt, grau, staubig, tristesse-schön. Das bunkert Vergangenheit in sich. Steht da, aber wie lange noch? Denn der Rest von Stadt und Straße ändertet sich rasant. „Es steht in Berlin eine Straße, die steht auch in Leningrad, die steht genauso in mancher andern schönen Stadt.“ Nicht mehr lang. Dieses Haus aber, wie eine Photokulisse für Melancholie, wie eine Reise in die DDR-Vergangenheit, wie überhaupt die Häuser der DDR zur Melancholie und zum Photographieren des Verfalls einluden. Ideale Kulisse auch für die Mode-Photographen der  „Sibylle“.

Ein Stück des Weges weiter, nach Norden hin, liegt der Dorotheenstädtische Friedhof, auch Hugenottenfriedhof gescholten, über den Biermann eines seiner wohl schönsten Lieder sang. Immer wenn ich zu Hegels oder zu Brechts Grab schlendere – gleich neben Hegel das Grab Fichtes, sein in den verwitterten Stein geschlagener Name kaum noch lesbar – und Bechers Hybris-Inschrift lese, summe ich dieses Biermann-Lied vor mich hin: die Vergänglichkeit, daß irgendwann alles vorüber ist, mit uns und mit allem, was wir lieben, die sich jagenden Spatzen, die Platanen, paar welke Blätter und Frühlingssaat. Unwiederbringlichkeit, um Fontane in den Nominalstil zu wuchten. „Wie nah sind uns manche Tote …“ Die Haltbarkeit des Sandsteins. Und des Küssegebens für den Moment. Innehalten und memento mori, was bin ich doch für ein verdammter Vanitasplünderer. Das geht alles mal davon. Und danach ist nichts mehr als diese eine Grabstätte, die da ungepflegt oder als Ehrengrab dürftig geschmückt, auf Ewigkeit lungert. Hegels wilde hochfahrende Theorien. Wie Geist die Welt prägt. Es bleibt nur die Schrift. Kein Körper, keine Stimme, kein Leben.

Den Friedhof als Ort von Ruhe als auch Tradition und das Brecht-Haus werden sie wohl nicht abreißen, auch wenn sie es gerne möchten, da der Grund für Immobilien lukrativ ist. Andererseits sind beide Objekte qua alter guter Zeit Standortfaktoren für weitere Bauten. Aber für was noch? In einer mittlerweile leblosen Gegend. Da, wo ungleich weiter der Bundesnachrichtendienst in einer absurd-gigantischen und monotonen, monolithischen Betonwucht seine Zentrale baut. Rasant änderte sich dieses Viertel seit einigen Jahren, und nichts ist mehr von dem, was dort einmal war. Mit einer Freundin machte ich 2012 Photographien – ich zeige auch diese demnächst, um den Kontrast zu veranschaulichen. Wo damals noch Brandmauern standen und in Hinterhöfen Trödler und Autoschrauber ihre Garagen betrieben, prangen nun die Baugerüste.

Aber was für einen Kontrast bietet Berlin immer noch: Gegenüber von einem der am besten gesicherten Gebäudekomplexe der Stadt – sieht man einmal von geklauten Wasserhähnen auf der Baustelle ab, die fast wie ein Mafiazeichen wirken, wie der Pferdekopf auf dem Bettkissen: seht her, wir kommen auch an diese feine diskrete Stelle – ragen verkommene Altbauten oder aber der soziale Wohnungsbau der 50er Jahre. Nein, nein, dieses Unveränderliche und die Disparität sind kein Zeichen stummen Protestes, sondern das BND-Gebäude zeigt und verdeutlicht den alteingesessenen Bewohnern eher: Auch ihr seid nicht lange mehr an diesem Platze. Es steht in Berlin eine Straße …

 

Pour Gilles Deleuze – Postskriptum

„Mit Danone kriegen wir sie alle“
(Werbeslogan der 80er Jahre)

Gestern stand in einem Interview der Zeitschrift „Télérama“, das mit dem französischen Herausgeber der Texte von  Gilles Deleuze, David Lapoujade, geführt wurde:

„Natürlich hat sich der Kapitalismus seit zwanzig dreißig Jahren entwickelt, aber ihre [Deleuzes und Felix Guattaris] Reflexion über ‚Kontrollgesellschaften‘ ist aktueller denn je – als hätten sie die Umrisse des heutigen Kapitalismus bereits definiert. Sie haben gesehen, dass wir in eine Gesellschaft eingetreten sind, in der die Indivduen weniger einer permanenten Disziplinierung unterworfen sind. Kontrolliert werden sie eher über das Mittel von Informationen, die sie selber aussenden.“ (Quelle: Perlentaucher)

gilles_deleuze_2_h-672x372Gilles Deleuze, der sich vor 20 Jahren das Leben nahm, indem er am 4. November aus dem Fenster sprang (was heißt überhaupt: sich das Leben zu nehmen? Ist dies nicht eigentlich ein erobernder Akt? Sich das zu holen, was jedem Menschen zusteht: das Leben. Hier aber und in unserem Kontext der Sprache meint es genau das Gegenteil – auch dies ist bezeichnend und nicht ohne Bedeutung), schrieb in dem bis heute hin lesenswerten und nach wie vor aktuellen Aufsatz „Postskriptum über die Kontrollgesellschaft“:

„Die idiotischsten Spiele im Fernsehen sind nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie die Unternehmenssituation adäquat zum Ausdruck bringen.

(…)

In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht.

(…)

Zum Zentrum oder zur ‚Seele“ des Unternehmens ist die Dienstleistung des Verkaufs geworden. Man bringt uns bei, daß die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte Schreckensmeldung der Welt ist. Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle und formt die schamlose Rasse unserer Herren. Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.“

Zwang wird schon lange nicht mehr von außen, von einer anonymen oder auch sichtbaren Macht ausgeübt, schon gar nicht von personifizierten Gestalten oder dem zweifachen Körper eines Königs, sondern, ganz im Sinne von Foucaults Konzept einer Biomacht internalisieren wir die Kontrollmechanismen, die sich damit zu einer Disziplinarmacht samt Selbstoptimierung transformiert. Vom Veganer, über den sinnlosen Gesundheitsfetischismus, die Überbehütetheit von Kindern und einem absurden Vernetzungwahn bis hin zum internalisierten Zwang, den wir nicht umhinkommen, uns anzutun, wenn wir noch irgendwie dabeisein und Arbeit haben wollen. Das Unternehmen ist der Ort schlechthin geworden. [Und wie hieß es schon in Fechners/Kempowskis „Tadellöser & Wolff“: „Die Firma, die Firma, die Firma!“]

Tja – die immer gleiche Klage, die immer selben Sätze, die Wiederkehr des Immergleichen im Theorem. T(h)eorema oder die Geometrie der Warenbeziehungen. Wie es so ist, wenn die immer selbe Scheiße unter dem identitären Bann die immerselbe Scheiße bleibt. So wie sie ist und der Betrieb von uns allen es verlangt, den wir mit unserem Wirken, unserem Tun und Texten, dem Schreiben am Dampfen halten. Aber nein, es dampft nichts mehr: wir sind inzwischen im digitalen Zeitalter. Schauen wir mal, wann Sascha Lobo das postdigitale ausruft. Nein keine Klage: Anklage!

Auch die Differenzspiele taugen allenfalls in ihrer Glasperlenform. Kunst etwa, die einmal als widerständig sich konzipierte, ist Teil des Betriebes. Selbst dort, wo sie als hermetisch sich erweist, ist ihre Kritik, ihre Opposition, ihr kalter Blick auf die Struktur häufig bereits vom System integriert und eingekauft, wenn nicht einkalkuliert. Kein Ort – nirgends. Allenfalls die Fluchtorte der Ästhetik oder in den winzigen Lücken und Falten bleiben Reste. Im stillen Winkel, weit ab von den Großstädten, den Theatern, den Museen. Vielleicht doch die Uckermark? Nur bitte ohne dieses dumm Deutschtümelnde.

La vie/la vide

Salute Gille Deleuze!

Indianerherz kennt keinen Wahrheitsschmerz. Kein Scherz! Jürgen Habermas und die transversale oder mit Nietzsches Schleiern durchwirkte Vernunft sowie ein Ausflug zu Herzdame und eine Anekdote aus Weimar

Auf „Perlentaucher“ schrieb ich einige Kommentare zu einer Debatte um Jürgen Habermas.

Einen dieser Kommentare möchte ich (an einigen Stellen überarbeitet und ergänzt) hier im Blog einstellen, weil er – häufiges Thema auch bei „Aisthesis“ – auf ein Konzept von Vernunft samt deren Kritik verweist, das sich nicht bloß im Entweder-Oder eines rationalistischen Procedere oder aber in den Ausprägungen Nietzscheianischer Überästhetisierung von Welt und im Gestus unvermittelter Subjektdestruktion verfängt Zudem lesenswert, ausgesprochen klug und witzig dort der Kommentar von Dieter Kief vom 28.8. (Leider zeigt der „Perlentaucher“  nicht Zeiten und Tage an, sondern nur „vor 15 Stunden“, „vor zwei Tagen“. Fluktuation und Fluß der Zeit – sozusagen. Panta rhei des Digitalen.)

Nur kurz und knapp: „Der philosophische Diskurs der Moderne“ von Jürgen Habermas, erschienen 1985, ist ein Buch, das lehrreich zu lesen ist und einen einerseits klugen Blick auf die Tücken und Chancen der Moderne uns eröffnet. Wieweit die Rettung der Moderne als immanente Kritik der Moderne, ohne dabei ihre Gehalte preiszugeben und zugleich aus ihrem Geist heraus, überhaupt gelingen kann, ist eine schwierig zu beantwortende Frage. Habermas‘ Rekonstruktion ist in vielen Punkten durchaus inspirierend und wer einen Blick auf den Geist jener 80er Jahre (jene Periode, wo der Begriff Zeitgeist gespenstisch auftauchte) werfen möchte , der von vernunftbetontem Denken getragen ist, der scheint in diesem Buch gut aufgehoben. Dennoch enthält dieses Buch Thesen, die falsch sind; wo Habermas in den Gefechten der 80er, als der gallische Hahn einmal wieder laut in der langsam krepierenden BRD krähte, sich vergaloppiert. Von seiner Lesart Foucaults, Batailles und Derridas angefangen, von denen Habermas so gut wie nichts verstanden hat, etwa wenn er diese als Neokonservative bezeichnete. Das mag aber jener Rebekka (Habermas) geschuldet sein, die ihm, wie er in der Widmung formulierte, „den Neostrukturalismus nähergebracht hat“. Das tat sie nicht sonderlich gut, wenn wir uns die Resultate betrachten. Wobei Derrida und Foucault alles Mögliche sind – auf alle Fälle sind sie Kritiker des modernen Subjekts –, aber eben keine Neostrukturalisten. Doch das mag Streit um des Kaisers Bart sein, wenn es darum geht, Namen in die Schubladen zu bringen: ebenso die Frage, ob Habermas Kantianer oder Hegelianer sei. (Wie damals bei einem Philosophiekongreß in Stuttgart die dümmliche Fragestellung „Kant oder Hegel?“  lautete Als ob wir in der Cafeteria einer Studi-Mensa wären.)

Zudem möchte Habermas das Projekt der Moderne dahingehend fortschreiben, daß er die vermeintlich subjektiven Aporien, in die Adornos/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ sich manövrierte (so die Sicht Habermasʼ nicht meine) zugunsten einer kommunikativ angereicherten Vernunft aufzulösen trachtete. Beide haben sich einer „hemmungslosen Vernunftskepsis“ überlassen, auf die Adorno mit Ästhetik und bestimmter Negation reagierte. Nun muß man hier Habermas freilich entgegenhalten, daß diese Aporien keine subjektiven sind, die der Adornoschen subjektiven Vernunft entsprangen oder einer irgendwie grummelnden Adornoschen Willkür geschuldet waren, sondern daß diese Widersprüche in die Vernunft, gut kantisch genommen, sich objektiv in bestimmten ökonomischen Verhältnissen gründen. Keine Theorie des kommunikativen Handelns ersetzt nun einmal die Kritik der Politischen Ökonomie sowie die negative Dialektik von Gesellschaft. (Womit wir in diesem Sinne bei der 11. Feuerbachthese sind, die Adorno gleich zum Beginn seiner „Negativen Dialektik“ aufgreift.)

Wie es im Philosophieren so ist: es erweist sich diese Bestimmung Habermasschen Philosophierens als eine Frage der Definition und der Perspektive – ohne solche Sicht im Relativismus auflösen zu wollen. Darin gerät Denken dann in einem schlechten Sinne flüssig – sprich: es liquidiert sich. Andererseits kann es Sprengkraft haben, wenn Denken sich liquidiert und damit eben: liquid wird. [Davon ab sind Liquidität und Liquidation natürlich die Themen der Moderne: Vom Geldfluß samt den Arbeitsverhältnissen bis zum „Lager als dem Nomos der Erde“, wie es bei Giorgio Agamben heißt.]

Womit wir bei Nietzsches Perspektvismus angelangt sind. Dieter Kief schreibt über Nietzsche:

„Irgendwo auf diesem strahlenden Pfad in den irdischen Himmel aus lauter Glück wandelt dann auch Nietzsche und bejaht und bejaht, bis er leider den Verstand verliert. Lou-Andreas Salomé ist ihm ein Weilchen nahe und sieht, dass der Nietzschesche Höhenrausch im Kern hoffnungs- und aussichtslos ist; sie entlässt ihn mit einem Klaps in die eiskalten Sphären seines einsamen Weltverdrusses mal schreibenden Selbstgenusses. Für sein Leiden an sich selbst rächte er sich mit der Verachtung der anderen: Der wertlosen Masse der Schwachen. Wer Nietzsches forciertes Übermenschentum gut findet, kann eventuell sagen: Er konnte nicht anders, er war eben verdreht und brillant…

Zugleich könnte man in Nietzsche die auf ihren geistesheroischen Kern reduzierte Aufklärung verkörpert sehen.“

Herrliche Passage! Hätte von mir sein können. War es leider nicht. (Ich kasteie mich für solche Versäumnisse dann abends selber, indem ich einige Gläser vom schrecklichen Chardonney statt vom köstlichen Riesling mir aufzwinge. Ich habe für solche Fälle immer einige Büßerfläschchen in der Kühle: Chardonney, du Strafgericht. Ich weiß es noch wie heute, als ich vor drei Jahren in Weimar einen Vortrag über „Hölderlin, Lukács, Adorno“ hielt und eine mich begleitende Freundin und ich abends, nachdem alle Geschäfte schon geschlossen hatten und alle Lieder gesungen, auf der Suche nach etwas Brauch-, Rausch- und Trinkbarem waren. So gerieten wir an einen Weimarer Späti. Ich fragte nach Riesling, der Verkäufer empfahl mir einen der besten Chardonneys: ich würde, selbst als Skeptiker, so der findige oder eher windige Geschäftsmann, während seine jugendliche Freundin mir immer huldvoll und fast ein wenig verschmitzt zulächelte, daß es mich leicht unangenehm berührte,  mir aber dann doch auch schmeichelte, von diesem Tropfen mehr als begeistert sein. Am Ende des Trinkprozesses jedoch – nachts, nach dem Vortrag, auf der Dachterrasse der Unterkunft, als wir zwei der Flaschen geleert hatten und ich in sinnlosen Celan-Paraphrasen: Lallen-lallen-immerzu, Pallaksch Pallaksch herbrachte doch zum Glück noch nicht herausbrach – bestand die Begeisterung am nächsten Morgen in unsäglichem Kopfschmerz. Die Wahrheit des Weins ist manchmal der Schmerz.)

Man kann, unter einer bestimmten Optik, über Nietzsche lachen, und wir müssen uns Nietzsche am Ende als einen traurigen Menschen vorstellen: Bis zu dem Moment in Turin vielleicht, wo er einer geschundenen Mähre um den Hals fiel. Von da ab aber war Nietzsche kein Subjekt mehr, wie wir es in der Philosophie benötigen, um in sinnvollen oder auch in poetisch inspirierten Sätzen zu philosophieren, zu denken, zu schreiben, sondern er trat in den anderen Zustand, der eine sichtbare Produktivität nicht mehr zuließ. (Wie es im Geiste, im Innern aussah, wissen wir freilich nicht. Dies wäre wohl eine Frage, die wir ebenfalls in Korrespondenz zum Begriff des Subjekts bringen müßten.)

Als Genealoge unserer Begriffe  – wenngleich im Tone immer auch Ästhetiker – und vor Turin, in seiner montaignesches Skepsis gegen das Subjekt ist Nietzsche unnachahmlich genial. Man lese nur Nietzsches (verstreute) Texte/Aphorismen zur Wahrheit und zum Weib: Die Wahrheit ist ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen. Metaphern und Schleierspiele, Nähe und Ferne in einem. Enthüllen und verhüllen – all die Spiele eines reizvollen und wunderbaren Fetischismus: die Haut des Körpers und jener Stoff, der diese wunderbare Haut verbirgt und entzieht. Und dazu eben das Bildnis zu Sais. Es ist ein Spiel mit Schleiern und mit Segeln. (Ich schrieb hier im Blog an verschiedenen Stellen über Nietzsches Spiel mit Wahrheit und Weib. Ihn rein misogyn auszulegen, halte ich für eine verfehlte Lektüre. Übrigens geschieht dies auch in dekonstruktiv-feministischen Lesarten, die sich an Derridas Nietzsche-Lektüre orientierten, nicht. Die lesen lustvoll Nietzsche.) Diese sich bei Nietzsche verschränkenden Komponenten, dieses Überborden des Stils in seinem Text ist literarisch-ästhetisch-philosophisch nicht gering zu schätzen. Und da zeigt es sich doch wieder, wie gut es manchmal sein kann, wenn ein Philosoph wie Nietzsche die Dame seines Herzens nicht zu erringen vermag. Dennoch möchte ich mit Herrn Nietzsche nicht tauschen. Mir ist die Herzensdame näher als alle philosophische Weisheit  und Wahrheit, denn darin allein ergibt sich ein Mehr, das alle Philosophie übersteigt.

Hegel und Nietzsche: Dies ist der unhintergehbare philosophische Diskurs der Moderne. Nietzsches Texte sollte man zudem auf der Ebene des Rhetorischen lesen. [Insbesondere im „Zarathustra“, der zunächst und bei der ersten Lektüre etwas unsagbar Verklemmtes oder Schwülstiges hat (so zumindest erging es mir beim ersten Lesen im 18. Lenz meines Lebens) und der doch eine geniale Parodie des Luther ist.] Literatur und Philosophie und nicht, wie Habermas es in „Der philosophische Diskurs der Moderne“ vermutet: Philosophie als Literatur. Eine ebenso irrige Annahme, die er in jenem Buch gegenüber Derrida hegt. Um freilich den Platz des Perspektivismus angemessen zu bestimmen, halte ich, gegen die Willkür und die Beliebigkeit des Meinens, immer noch Hegel für wesentlich. Den ich dann wieder mit Nietzsche gegenlese. Denn in Nietzsche finden wir, wie bei de Sade und Schopenhauer, die schwarzen Schriftsteller des Bürgertums, wie es Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ schrieb, die jene Schattenseiten einer Aufklärung zeigen, die mit den Geistern und dem Obskurantismus zugleich jenes Geheimnisvolle, jenes Verschlierte ausschied. Ob sich in der Schwärze freilich und in ihrer Bewertung Hegel und Nietzsche einig wären, darf man bezweifeln.

Die Kritik an der Unmittelbarkeit sowie die an einem simplen Subjektivismus, der mit Freiheitsparolen operiert, die als Monstranz, ritualisiert und liberalala vor sich hingesungen werden, können wir ebenfalls sehr gut bei Hegel lernen. In der Tat.

Denn ohne Hegel UND ohne Kant
fahren Begriff und Erkenntniskritik gegen die Wand.
So lernen wir vermittelt lesen
nämlich dialektisch sind Geist und Wesen.

Wer freilich die Vernunft nicht rettet, verspottet sich selbst. Kann man machen, führt aber nicht allzuweit. Womit wir wieder bei Nietzsche wären. Vielleicht doch eine transversale Vernunft? Nietzsche UND Hegel UND Kant.

Indianerherz kennt keinen Wahrheitsschmerz.
Kein Scherz!

Literaturkritik oder der Eigensinn von Kunst (2). Against Interpretation?

„In dem Maße aber, in dem die philosophischen und die literarischen Werke, Kunstwerke überhaupt, für den Markt hergestellt und durch ihn vermittelt werden, ähneln sich diese Kulturgüter jener Art Information an: als Waren werden sie im Prinzip allgemein zugänglich. Sie bleiben nicht länger Bestandteile der Repräsentation kirchlicher wie höfischer Öffentlichkeit; genau das ist mit dem Verlust ihrer Aura, mit der Profanierung ihres einst sakramentalen Charakters gemeint. Die Privatleute, denen das Werk als Ware zugänglich wird, profanieren es, indem sie autonom, auf dem Wege der rationellen Verständigung untereinander, seinen Sinn suchen, bereden und damit aussprechen müssen, was eben in der Unausgesprochenheit solange autoritative Kraft hatte entfalten können.“(J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit)

Kritik und Kunst sind Schlüsselbegriffe der Moderne – aufeinander verwiesen, und das eine nicht ohne das andere zu haben, nachdem sich die Kunst von ihrer Zweckgebundenheit, vom Sakralen sowie vom Handwerklichen löste; von dem Punkt an als sie nicht mehr nur im Dienste von Fürsten und Kirche stand und in diesem Rahmen mehr oder minder deutungslos ins Korsett gezwängt repräsentierte, sondern Autonomie ausbildete. Wobei andererseits auch diese Autonomie in einem Kontext steht und damit im bürgerlichen Paradigma wiederum als zweckgebunden sich erweist. Zumindest jedoch verschob sich spätestens im ausgehenden 18. Jahrhundert, dem Beginn jener Sattelzeit, die Funktion der Kunst. So stand das Werk für sich, und es bedurfte einer Instanz, um das, was sich als Literatur zeigte und auf den Markt trat, zu sichten und dem Bürger (oder der lesenden Bürgerin) einsichtig zu machen. Die Geburt der Kunstkritik aus dem Geist des Salonsessels, um in Assonanz an jenen Nietzsche-Titel diesen in endloser Phrase und Paraphrase ein weiteres Mal zu variieren. Das bürgerliche Zeitalter als Motor einer Lesekultur, die als Instanz ebenso und notwendig die Literaturkritik etablierte.

„Der bedeutsamste Raum im vornehmen bürgerlichen Hause wird dagegen einem ganz neuen Gemach zugeteilt … Der Salon dient aber auch nicht dem ‚Hause‘, sondern der Gesellschaft; und diese Gesellschaft des Salons ist weit entfernt, gleichbedeutend zu sein mit dem engen, festgeschlossenen Kreis der Freunde des Hauses.“ So zitiert Habermas W.H. Riehl, Die Familie und fährt fort: „Die Linie zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit geht mitten durchs Haus. Die Privatleute treten aus der Intimität des Wohnzimmers in die Öffentlichkeit des Salons hinaus; aber eine ist streng auf die andere bezogen.“ (Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit)

Als notwendig erwies sich für die erstarkende bürgerliche Öffentlichkeit samt ihrem Ideal von Bildung diese neue Art der Kritik auch deshalb, weil ein Werk nicht mehr nach den strengen Regeln eine verbindlichen Poetik konstruiert zu sein hatte, sondern vielmehr traten andere Kriterien wie die künstlerische Freiheit, ein Sujet so oder anders zu gestalten, die Ende des 18. Jhds im Begriff des Genies terminierte, oder binnenästhetische Aspekte wie die Beziehung von Form und Inhalt in den Vordergrund. Diese „Offenheit des Kunstwerkes“ führte notwendigerweise dazu, daß das Bedürfnis nach Deutung anwuchs. Was dann in der Kunst der Modernen des 20. Jahrhunderts zu der These führte, daß ein Kunstwerk – da von seiner Konstitution in Abstraktheit meist unverständlich – unweigerlich auf Interpretation angewiesen sei. So traten einerseits die Theorie als Werkerklärer (am pointiertesten sicherlich in den hermeneutischen Methodenlehren) und die Kritik der Feuilletons als Kunstvermittler auf den Plan. Doch zeigten sich die Schwierigkeiten frei operierender Kunst, nach eigenem Gesetz nun angetreten, bereits viel früher.

Ein prominentes Beispiel für eine allgemeine Kunstkritik jenseits der Regelpoetik in den Anfängen jener bürgerlichen Epoche findet sich in Lessings „Laokoon“ aus dem Jahr 1766, deren Untertitel lautete: „Über die Grenzen der Malerei und Poesie“. Darin fragt Lessing nach der Eigenart des Poetischen und wie dieses in seiner Verfahrensweise insbesondere im Hinblick darauf, wie das Schöne darzustellen sei, von der bildenden Kunst sich abgrenzt.

Zwar terminieren Lessings Ausführungen wiederum in eine Art von Regelpoetik, insofern er Bestimmungen der Kunst liefert, wie ein Dichter im Unterschied zu einem Bildhauer vorzugehen habe. Doch gründen sich diese Kriterien nicht auf einer bloßen Abstraktion, in der – gleichsam als ontologische Bestimmung von Kunst – Schmerz und Leid der einzigen und einen Weise gemäß abzubilden seien, sondern Lessing arbeitete – als Schriftsteller und Dramatiker, als Künstler eben – ein spezifisches Moment von Kunst heraus. Es ist nämlich der Gegenstand selbst, der in seiner jeweiligen Verfaßtheit dem Künstler das Maß liefert, statt daß abstrakte und der Sache am Ende äußerlich bleibende, gesetzte Regeln den Kanon konstituieren. Das Kunstwerk erlangt binnenästhetisch eine Eigendynamik, darin der Rezipient ebenso eine Stelle zugewiesen bekommt wie auch das Werk selber, welches einerseits als Rätselgestalt, andererseits als zu Deutendes auf eine Sichtung angewiesen ist. Dies eben bringt sowohl Literatur- und Kunstkritik auf den Plan. Wie überhaupt Lessing beide Tätigkeiten in sich band: die des Kritikers wie man etwa in seinen Abhandlungen „Briefe, die neueste Literatur betreffend“ nachlesen kann und die des Dramatikers.

Dieses Spezifische, die Möglichkeiten und Grenzen, wie Künstlerinnen und Künstler Stoff und Material formen, wird für die unterschiedlichen Kunsttheorien als auch für die Praktiken der Kunst des 19. und 20. Jahrhundert einen wesentlichen Maßstab abgeben. In diesen Fragen der Form samt des Inhalts gründet ebenfalls jenes Moment, das ich als Eigensinn der Kunst bezeichnete. Sprache eines Anderen, vom anderen Ort her, autonom, nur dem Gesetz der Form folgend, parteinehmend, realistisch, verrätselt, politisch, symbolisch, impressiv, tragisch, verspielt, harsch, streng, Slang, dialektisch und verdreht, manchmal sogar wunderbar kontraproduktiv, ambivalent, Kauderwelsch aus Kannitverstan, musikalisch, fremd, faszinierend, hermetisch. Ein gleichsam subjektiv-objektives Merkmal des Entzuges, das es (in Kritik und Essay oder aber in der Kunst selber als selbstreferentiellem Bezug) zu bewahren und gleichzeitig einzuholen gilt, dieses Etwas innerhalb von Ästhetik und Rezeption, was sich in der Tradition der Philosophie mit jenem individuum est ineffabile ausdrücken läßt, ohne dabei freilich im Modus des Unbestimmbaren und Vagen entschärft zu werden, und wofür in der wesentlich in Frankreich sich ausbildenden Geschmacksästhetik des ausgehenden 17. Jahrhunderts jene Wendung des „Je ne sais quoi“ stand. Eine Ästhetik nebenbei, die ebenfalls mit der Strenge der Regeln und der Vorschriften brach, nach denen ein Werk gefertigt sein mußte, und ein subjektives Moment sowohl innerhalb der Komposition von Kunst als auch in der stilvollen, formvollendeten Betrachtung von Kunstwerken zu installieren suchte, ohne derart freilich ins Beliebige eines Geschmacks abzugleiten, der seine repressive Toleranz in jenem „De gustibus non disputandum“ findet. Denn in der Kunstbetrachtung, da habe jeder seine Meinung. Kunstrezeption sozusagen als kontemplative Komplexitätsreduktion gesellschaftlicher Wirklichkeit, Kunst als Entlastung von einer immer verhärteter sich gestaltenden gesellschaftlichen Wirklichkeit und um die Widersprüche umso besser ertragen zu können. Kunst als Kompensationsmodus, wie dies, durchaus positiv konnotiert, die Gehlens der Kunstbetrachtung gerne sähen. Ästhetisches Urteilen in einem irgendwie noch auf die Sache gehenden Sinne stört in dieser Selbstimmunisierung des Rezeptionswesen, das sich gerne als ästhetische Erfahrung verkauft, nur. Emphatische Kunst und ihre Kritik machen diese Bescheidung freilich nicht mit. Sie bleiben im Modus des Destruktiven, der Dekonstruktion und des Widerständigen, sie entziehen den Sinn. Das „De gustibus non disputandum“ bildet den ästhetischen Kitt einer deformierten Gesellschaft.

Adorno übertitelte einen seiner Aphorismen in den „Minima Moralia“ prägnant und um der Sache der Kunst willen De gustibus est disputandum:

„Auch wer von der Unvergleichbarkeit der Kunstwerke sich überzeugt hält, wird stets wieder in Debatten sich verwickelt finden, in denen Kunstwerke, und gerade solche des obersten und darum unvergleichlichen Ranges, miteinander verglichen werden und gegeneinander gewertet. Der Einwand, bei solchen Erwägungen, die eigentümlich zwangshaft zustandekommen, handle es sich um Krämerinstinkte, ums Messen mit der Elle, hat meist nur den Sinn, daß solide Bürger, denen die Kunst nie irrational genug sein kann, von den Werken die Besinnung und den Anspruch der Wahrheit fernhalten wollen. Der Zwang zu jenen Überlegungen ist aber in den Kunstwerken selber gelegen. So viel ist wahr, vergleichen lassen sie sich nicht. Aber sie wollen einander vernichten.“

Diese Bewegung gälte es nachzuzeichnen. Susan Sontag formulierte in ihrem Essay „Gegen Interpretation“ – freilich ohne Fragezeichen – die Kritik an einem Lektüreansatz, der das Kunstwerk in den Deutungen erstickt und damit ebenso den Eigensinn eines Kunstwerkes unterm Wust begräbt. Ich wies im ersten Teil dieses Essays darauf hin, inwiefern sich die sogenannten Diskurse des Sekundären an die Stelle des Werkes setzen. Leichtsinnig und sicherlich contrecœur verfällt Sontag damit jedoch dem Reflex amusischer Kunsterschlürfung, den „Anspruch der Wahrheit“ in Kunst preiszugeben. Richtig liegt Sontag zwar in ihrer Intuition darin, wenn sie den Umstand kritisiert, daß der Gehalt eines Kunstwerkes nicht nur verfehlt wird, sondern ebenfalls verloren geht, wenn ein Werk auf den je eigenen Referenzrahmen des Deuters reduziert und dort eingespannt wird, indem der Interpret externen Faktoren in Anschlag bringt oder aber die eigenen Theoriekonstruktionen ins Werk preßt. Ebenso verfehlt eine solche Interpretation das Werk regelmäßig, wenn in der Lektüre die Intention des Autors ermittelt werden soll. Was Dante oder Shakespeare uns als empirische Subjekte sagen wollten, sofern sie uns denn überhaupt etwas sagen wollten und es nicht vielmehr begehrten, daß die Dichtung selber beredt werde, läßt sich sinnvoll kaum ermitteln.

Dieses Gerüst reduktionistischer Theorie mag als Schafott ein jedes Kunstwerk um sein bestes bringen, sofern Text und Theorie sich dem Werk nicht als angemessen erweisen und mindestens genauso gut sind wie die Sache selbst. Dennoch: auch die Sprachlosigkeit vorm Werk ist nicht die Alternative, allenfalls als erster Reflex des Staunens, daß solch Ungeheures ist und nicht vielmehr nichts. Zur Kunst gehören Entdeckerwille, unbändige Phantasie, in der die Gedanken gleiten und schweifen. Diese Wendung bedeutet nicht, dafür zu plädieren, daß Theorie in einem unmittelbaren Sinne ästhetisch wird. Aber trotzdem steht sie in einer direkten Beziehung zu ihrem „Gegenstand“, der kein bloßer Gegenstand und kein Objekt bloßer Reflexion sein möchte.

Sontag schreibt: „Heute geht es darum, daß wir unsere Sinne wiedererlangen. Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen.“ Heute und gegenwärtig muß wohl niemand mehr befürchten, daß ein Kunstwerk in seinen Deutungen von Reflexion oder Akademismus erstickt und erdrückt würde, staubig-trocken, gefühllos und unsinnlich, sondern es ist in der ubiquitär über Kunst quasselnden Gesellschaft genau das Gegenteil der Fall: ein Smalltalk der Bedeutungslosigkeiten, Flauberts „Wörterbuch der Gemeinplätze“ entnommen, beherrscht vielfach das Kunstgespräch. Kuschelfaktor x hoch tausend. Kunst/Literatur dienen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen auf Seiten der Rezipienten als Wohlfühlfaktor, und so nähert sich das Kunstobjekt mehr und mehr an den Design-Gegenstand an. Oder aber sie markiert, wie es Bourdieu – freilich überspitzt – formulierte, die Lage einer bestimmten Gruppe oder Klasse, die Kunst benutzen, um Unterscheidungen zu markieren. Trotzdem – ganz so absurd wie es zunächst angesichts einer auf die Sinne geeichten Kunstschau erscheint, ist der Hinweis Sontags nicht. Denn dieser Satz beinhaltet, daß wir extrem genau hinschauen müssen, und nur eine solche intensive Sicht ermöglicht eine Lektüre von Kunst, mithin Kunstkritik, die mehr als bloße Deutung und Einordnung ins Schema sein möchte. Denn bei aller Kritik an der Interpretation schließt Sontag diese eben nicht vollkommen aus, sondern lediglich eine bestimmte Form derselben verfällt ihrem Verdikt.

Diesen Blick aufs Detail und ins Innere des Werkes, auf sein Gemachtsein, seine Anordnungen, den Sinn fürs Sinnliche konterkariert allerdings – so scheint es zunächst – das Eröffnungszitat, mit dem Sontag ihren Essay einleitet: „Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild. Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.“ (Oscar Wilde). So gewitzt Wildes Dialektik der Sinnlichkeit sein mochte, wird er das Sichtbare kaum rein und als solches vor sich haben, sondern es zeigt sich gefiltert, gerastert. Hier das betrachtende Ich, da die Mannigfaltigkeit von Welt oder Werk, die roh daliegt und man brauche sie nur aufzugreifen, bleibt eine Illusion. Der Sinn des Sinnlichen liegt keineswegs im Sinnlichen, sondern an einem ganz anderen Ort. Zudem mag das Sichtbare manches Geheimnis bergen, und es mag das Geheimnis der Welt das Sichtbare sein. Doch genau an diesem Punkt fängt das Unsichtbare an. Ein für alle sichtbares Geheimnis ist eben kein Geheimnis, sondern Evidenz. Insofern scheint auch in Wildes Zitat etwas von der Vertracktheit im Kunstwerk auf. Kunstkritik löst dieses Rätsel und das Geheimnis nicht, sondern potenziert es vielmehr, indem es das Sinnliche des Kunstwerks, das sich als Schein manifestiert und verflüchtigt, Nähe und Ferne in einem, in seinem Spiel einsichtig macht.

„Als konstitutiv aber ist der Rätselcharakter dort zu erkennen, wo er fehlt: Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine. Rätsel ist dabei keine Allerweltsphrase wie meist das Wort Problem, das ästhetisch nur im strikten Sinn der von der immanenten Zusammensetzung der Werke gestellten Aufgabe zu verwenden wäre. Nicht minder strikt sind die Kunstwerke Rätsel. Sie enthalten potentiell die Lösung, nicht ist sie objektiv gesetzt. Jedes Kunstwerk ist ein Vexierbild, nur derart, daß es beim Vexieren bleibt, bei der prästabilierten Niederlage ihres Betrachters. Das Vexierbild wiederholt im Scherz, was die Kunstwerke im Ernst verüben. Spezifisch ähneln sie jenem darin, daß das von ihnen Versteckte, wie der Poesche Brief, erscheint und durchs Erscheinen sich versteckt.“ (Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie)

Diese Arbeit im Werk nötigt zur ästhetischen Theorie, zum Essay, das sich seinem Gegenüber gewachsen zeigt, ohne es zu ersticken. In diesen Passagen erweist sich Adorno als Schlegelscher Romantiker, dem die Kritik des Werkes genauso viel gilt wie das Kunstwerk. Kunst und Philosophie sind bei Adorno unabdingbar aufeinander verwiesen. Dazu nächstens mehr.

Schwarzheftig Heidegger, Jazz und Kommunismus: „Glotzt nicht so romantisch!“

Das zumindest stand auf den Plakaten, die im September 1922 in den Münchener Kammerspielen zur Uraufführung von Brechts „Trommeln in der Nacht“ im Zuschauerraum des Theaters hingen. Sowieso, es naht der Herbst. Die ersten Blätter und so weiter. Im Prater blühn nicht mehr die Bäume. Na ja, noch tun sie’s. Rosen rot, Sommer tot. Die Tage werden länger, wer jetzt kein Buch hat, liest lange keines mehr. Und deutsch ruft der Wald: ’S ist Herbst, ’s ist Herbst, auf Wegen und Stegen, den Stege des Anfangs. Bereits vor einigen Tagen sah ich das erste angegilbte Blatt in einem unserer Bäume auf der Waldwiese. Und die ersten Blätter des Weins gehen ins Rot über, oder ist es der Efeu? Vielleicht scheint es im Schimmern der Sonne bloß so. Die Sonne steht flacher, Licht gegen Ende des August. Keine staubigen, stickigen Seitenstraßen. Ich liebe die Zeit, wenn der Sommer vorbei zieht und nachts die Kühle aus den Gräsern und Gräben steigt. Und die weißen Nebel wunderbar… Eine schöne Textzeile aus einem berührenden Lied. [Aber alles, alles ist so hundertmal totzitiert, jedes Schöne wird vernutzt, weil es von Arschlöchern und Dumpfbatzen wiederkaue[r]nd (nicht käuend! Aber das vielleicht auch) im Munde gedreht wird.] Ich mag den Herbst, den Winter, und ich mag es nicht, wenn Menschen in Blogs ständig bekunden, was sie mögen oder nicht mögen. Es langweilt so unermeßlich. Kriminell gutes Schreiben ist selten. Aber es blüht immerhin noch das gute alte Kunstgewerbe und das reichlich. Der traute Ton. Am liebsten wieder das zu beleben: 100 Zeilen Haß – jene zuweilen lustige Kolumne von Maxim Biller im „Tempo“. Nichts darf gerinnen und nichts sich verfestigen. „Bücher der Unruhe“. Alles in den Malstrom ziehen, in den Spott. Ich sitze gemächlich im Café, könnte eine Geschichte anfangen. Könnte, könnte, könnte. Humorloser Lebensranz. Einige dieser Tage.

In der Kuhwärme der Blogwelt (samt Stallgeruch) grenzt die Sucht nach dem schönen Wort dicht an die Produktion des Kitschs:

Mir ist so warm und wunderlich
Doch all die Reime? Mag ich nicht!

Die dornichten Pfade der Kritik: Lieber Immanuel, laß mich niemals den Text vergessen. Diese Theorie der Erkenntnis. Die Arbeit der Urteilskraft und die Einbildungskraft als produktives Vermögen. Aber wer denkt, betet nicht.

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Der Riesling schmeckt muffig. „Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick“ läßt Goethe seinen Faust sprechen. Ich lese Heideggers „Schwarze Hefte“ und frage mich immer mehr, was das alles soll und wohin das geht. Teilweise in den schlimmen Kitsch gerinnende Afterpoesie: „Uns fügend in die Fuge des Seyns//stehen wir zur Verfügung den Göttern. Die Besinnung auf die Wahrheit//des Seyns ist das erste Beziehen/des Postens der Wächterschaft//für die Stille des Vorbeigangs//des letzten Gottes.“ Das ist lange schon kein Dichten und Denken mehr oder der Versuch in Sprache das einzubringen, was sich schwierig aussprechen läßt. („Sagt es niemand, nur den Weisen …“ kennen wir von Goethen) Gut: es sind das Notizen aus Heften, mag man verteidigend sagen. Der Versuch der Philosophie, von einer anderen Sprache her einem Gebiet sich zu nähern – ohne Karte und Kompaß: Fahrt aufs Meer und vom brandenden Ozean geschrieben. Wir kennen diese Seefahrer-Metapher insbesondere aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Können Notizen und Skizzen eine ganze Philosophie desavouieren, sofern man nicht bereits vorher mit einer großen Portion Skepsis sich Heidegger näherte? Dazu lese ich im Beipack Peter Trawnys „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“. Eine ausgewogene Kritik, was Heideggers „antisemitische Ideen“ betrifft, die „die ‚Geschichte des Seins‘ belagern“.

Das Ontologische befleckt sich am Ende sehr ontisch, und das vorgeblich reine Seyn: Kontaminiert von der kruden Empirie. Mit dieser Kritik kennzeichnete Adorno im „Jargon der Eigentlichkeit“ und in den entsprechenden Passagen in der „Negativen Dialektik“ Heideggers Denken bündig und bringt triftig den Geist der Zeit auf den Begriff, der zu dieser Zeit in bestimmten Kreisen des Anti-Modernen „Die Juden sind an allem Schuld!“ hieß: rechnende Machenschaften. Nichts Besonderes im Grunde – nur der Antisemitismus des durchschnittlichen deutschen Konservativen, der denkend dümpelt. Fast Wagnersch alliteriert. [Ich mag’s ja doch, wenn‘s funkelt. Und sei’s nur aus dem Arschloch der Geschichte.]

Heidegger ist in diesen Notizen kaum der Denker des Seins. Eher sein ontischer Schamane. Man kann, sofern man ihn liest, Heidegger einzig gegen Heidegger lesen, wer seine Werke studiert, muß einen Strang des Textes herausdestillieren, der nicht mehr der Ton Heideggers ist, sondern in einer dekonstruktiven Lektüre das Andere der abendländischen Ratio ans Licht bringen: einen Subtext, ein Ungedachtes, Unbewußtes: Heidegger, mit Freud und Lacan gelesen. Aufs Sofa gestreckt assoziierend, was freilich dann wieder in Bahnen des Begriffs kommen muß, denn schließlich sollte mit der Kur irgendwann Schluß sein, um, wenn nicht als geheilt, dann wenigstens als entlassen betrachtet zu werden. Eine Sprache, die ausgreift. Aber nicht im Nebelton gedichteter Philosophie, die keine mehr ist, sondern das Verstummen jeglicher Kritik bedeutet. Dann mag sich daraus so etwas wie ein Funke schlagen lassen. Heideggers Texte sind nicht antimodern, sondern in ihrem Ton vielfach schlicht regressiv.

Ich würde durchaus zur Lektüre der Heideggerschen Texte raten. Und ich frage mich, weshalb mich dieser Ton, dieses Denken in bestimmten Konstellationen fesselt und in den Bann schlägt. Vielleicht ist es der Funke des Geheimnisses, der schimmert. Daß im Extrem ein Moment von Wahrheit steckt. Vom Text, vom Fall Heideggers läßt sich lernen, wie man sich auf akademisch ungewöhnliche Weise in der Philosophiegeschichte bewegen kann; ebenso wie auch die Leipziger Vorlesungen zur Philosophie von Bloch oder die Frankfurter von Adorno – wenngleich von Gehalt und Struktur her ganz anders – bleibt Heidegger ein anregender Lehrer, der vorführt, auf welche Weise man sich der Philosophie nähern kann. Zugleich jedoch zeigt der Text Heideggers, wie man unter Absehen von jeglicher Geschichte auf keinen Fall philosophieren sollte. Mag die abendländische 2000-jährige Moderne durch die Seinsvergessenheit gekennzeichnet sein, so ist es die Heideggersche Philosophie durch die Geschichtsvergessenheit.

Gerade dort, wo im Denken ganz und gar gegensätzliche Strömungen sich einstellen und zusammenfließen, wie die dialektisch-kritische Philosophie von Hegel, Marx, Adorno sowie Benjamin und andererseits die dis-kontinuierliche von Nietzsche, Heidegger, Lacan, Foucault und Derrida, die beide in gewisser Weise ihren Reiz ausüben – die eine sicherlich stärker als die andere – frage ich mich, weshalb das so ist und woher das rührt. Die Gegensätze zusammen und in eins zu bringen, ohne sie unterschiedslos zu vermischen, sondern sie in ihrer Differenz zu bewahren, so riet Jacques Derrida einem seiner Schüler, um sich über diese eigenwillige Wahl ganz und gar gegensätzlicher Themen, die zueinander passen wie Fuchs zu Igel, ohne jegliche Wertung Rechenschaft abzugeben und zu befragen, weshalb und was das ist. Am Ende laufen diese Bewegungen immer auf die Frage hinaus, was die Philosophie sei: eine akademische Veranstaltung, welche die Positionen des Faches sichtbar macht, die Fähigkeit zur Kritik oder das Denken eines anderen Zustandes? In jedem Falle aber ist die Philosophie die Arbeit und nicht das Gären des Begriffes. Solche Absage ans Geschwätz heißt nicht, daß Philosophie sich der Schlichtheit verschreibt und einfache Wahrheiten postuliert, die dem gesunden Menschenverstand genehm sind oder daß sie (die Philosophie ist in der Tat ein Weib!) ein Programm hat, das gerne wahre Sätze und fromme Worte findet.

I‘m Coming Virginia.

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