Zum Tod von Jean-Luc Nancy

Am 23. August starb der französische Philosoph Jean-Luc Nancy. Ihn als Schüler Derridas zu bezeichnen mag zwar richtig sein, greift aber angesichts der originären Arbeit von Nancy, sei es zur Kunst, zur Religion oder zum Körper, deutlich zu kurz. Die sogenannte Dekonstruktion geht sicherlich nicht ihrem Ende entgegen – wenngleich einer ihrer letzten Vertreter nun tot ist und wenngleich seit einiger Zeit studentische Idioten solche Dekonstruktion der Lächerlichkeit preisgeben, aber das geschieht leider und meist, wie auch bei der Kritischen Theorie und beim sogenannten „Marxismus“, wenn Texte nicht gründlich gelesen, sondern auf unmittelbare politische Anwendbarkeit heruntergerotzt und auf eine Mechanik reduziert werden.

4106fmGu5cL._SX367_BO1,204,203,200_Von der eher anekdotischen Evidenz einmal abgesehen, daß mancher ein Buch wie „Es gibt – Geschlechtsverkehr“ vom Titel her bereits spannend finden könnte – quasi: zu lesen und nichts zu tun, Voyeur alter Schule – finden wir bei Nancy das Denken über den Körper ausgeprägt, was bis in die Fragen der Kunst reicht: „Die Haut der Bilder“, so lautet einer seiner Buchtitel (zusammen mit Federico Ferrari). Während jenes „Es gibt – Geschlechtsverkehr“ zunächst einmal eine Auseinandersetzung mit Lacan, Derrida und implizit auch mit jenem Heideggerschen „Es gibt“ ist, Körper über Umwege. Und dabei dachte ich, als mir damals der Titel in die Hände fiel und ohne das Buch gelesen zu haben, sofort an einen der großen Schlußsätze der Weltliteratur, an Kafkas „Das Urteil“, wo es mit einem Male, als es, vom Vater verkündetes Urteil, in den Tod und hinab in die große Vereinigung ging, zugleich laut wurde: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“ Während Herr Bendemann dies nicht mehr zu hören vermochte, weil er einige Sekunden zuvor, das Geländer festhaltend, wie ein Hungriger die Nahrung, sich über diesen letzten Halt hin zu Welt schwang, ausgezeichneter Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Baisemoi, Baisers volés. Davon also abgesehen, gibt es solche Essays wie „Noli me tangere“, darin Nancy jene in den Evangelien geschilderte Szene der Auferstehung des Jesus und der Begegnung mit Maria Magdalena im Friedhofsgarten, die in Tizians, Correggios und vor allem Rembrandts Gemälde Sujet der Malerei war, deutet und nicht nur in eine schöne Sprache von Fragmenten der Liebe bringt, sondern auch jenes Moment von Zeigen und Nicht-Zeigen, von Sichtbarem und Nichtsichtbarem ortet:

„In dieser Hinsicht bildet Noli me tangere die subtilste Szene und die (man muss es sagen) verhaltenste: Deshalb verstanden es die Maler auch, hier nicht ekstatische Schau eines Wunders auszumachen, sondern eine delikate Intrige zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, die einander anrufen und zurückstoßen, einander berühren und jeweils auf Distanz halten.“

Daß die Dekonstruktion bzw. das Denken Nancys zu einem wesentlichen Teil von der Phänomenologie herkommt, mag man in solchen Passagen ahnen, wo es einerseits um Blicke geht, aber zugleich auf das Feld des Berührens und der zarten Gesten verweisen wird. Es sind Hände, es ist Haut, es sind Worte und ins Bild gebracht wird zugleich das leere Grab. Der tote Leib, der mehr als tot ist und es eben doch nicht ist. Blicke zugleich, die sich täuschen, denn Maria Magdalena vermeint und glaubt, den Gärtner zu sehen. Erscheinen, Nähe und Distanz. Die Wirkung jenes Mannes aus der Ferne. Nancys „Noli me tangere“ ist zugleich eine Reaktion auf das Buch seines Lehrers Derrida „Berühren – Jean-Luc Nancy“, wie Benoît Peeters in seiner Derrida-Biographie ausführlich darlegt.

Während meines Studiums ist mir Nancy leider nicht in der Philosophie untergekommen, sondern in den 1990er Jahre in den Germanistikseminaren von Ulrich Wergin, und zwar über Nancys Buch „Undarstellbare Gemeinschaft“ und über jenen legendären Sammelband „Nietzsche aus Frankreich“, darin auch von Nancy ein Essay sich befand. Vor allem aber verwies Wergin immer wieder auf jenes zentrale Werk, das Nancy zusammen mit Philippe Lacoue-Labarthe herausgegeben und geschrieben hatte: „Das Literarisch-Absolute. Texte und Theorie der Jenaer Frühromantik“ – dankenswerterweise von turia + kant 2016 in Verlag genommen und übersetzt. Wer sich mit der Jenaer Frühromantik beschäftigt, wird im Kontext von Philosophie um dieses Buch nicht herumkommen. Es ist eine hervorragende Einführung ins philosophische Denken der Romantik wie auch in deren Literatur; parallel zu den Essays von Lacoue-Labarthe und Nancy werden die einzelnen Texte dargeboten: etwa das Älteste Systemprogramm, die Athenaeum-Fragmente sowie Texte von Schelling, Novalis und vor allem von Friedrich Schlegel – etwa das „Gespräch über Poesie“. Solches Darbieten von Primärliteratur ist fürs Studium zentral, denn wer die Originaltexte nicht kennt, hat am Ende auch von einer Einführung wenig. Lacoue-Labarthe und Nancy entfalten in diesem Buch kenntnisreich jenes Szenario um 1800 herum, welches jener bereits neuen Zeit von Frühaufklärung, Lessing, Wieland, Kant, Herder, Jacobi, Fichte und Goethe, Spinozastreit, Aufklärung, Sturm und Drang einen weiteren Dreh versetzte: das Neue, das Interessante als Formen einer Literatur, die mal Philosophie, mal Dichtung sein wollten. Wegmarken zum Absoluten, und wer dabei auf geistreiche Art angeregt werden möchte, der lese, so möchte ich hinzufügen, unbedingt Friedrich Schlegels „Lucinde“ und dazu noch das „Gespräch über Poesie“.

Insbesondere hielten Lacoue-Labarthe und Nancy in ihrem Buch fest, daß das zentrale Projekte des Jenaer Romantikkreises und der Gebrüder Schlegel jene Zeitschrift „Athenaeum“ bildete, sowie überhaupt das Projekt, Zeitschriften zu machen, darin Diskussionen stattfinden und der Geist der Zeiten einen Ausdruck finden kann – was bis heute verbreitet ist und was einen wesentlichen, aber leider nie realisierten Ausdruck in jenem Zeitschriftenprojekt von Walter Benjamin und Bert Brecht fand: „Krise und Kritik“. Gleichsam vom Titel her bereits die kluge Signatur eines Zeitalters, das wir Moderne nennen. Der Historiker Reinhart Koselleck drehte diesen Titel für sein legendäres Buch dann gleichsam um.

Zudem ist, so Lacoue-Labarthe und Nancy, diese Zeitschrift ein Projekt der „Verbrüderung der Kenntnisse und Fertigkeiten“ so hieß es im Athenaeum, wofür der Begriff des Symphilosophierens stand, welches freilich einer gewissen Wahl unterlag: „Man soll nicht mit allen symphilosophieren wollen, sondern nur mit denen die à la hauteur sind.“ (Fr. Schlegel, Athenaeumsfragment Nr. 264) Es handelt sich bei solchem Denken um eine in Gemeinschaft stattfindende Arbeit, ein ästhetischer wie auch philosophischer Gemeinsinnn, der sich über Nähe konstituierte und zuweilen auch Ähnlichkeit bei aller Unähnlichkeit hervorbrachte. Nähe im Denken, um einer Sache willen. Eine Form von Gemeinschaft mithin, die Nancy etwa mit Derrida und mit Lacoue-Labarthe pflegte. „Das Literarisch-Absolute“ ist schöner und gelungener Ausdruck solcher gemeinsamen Arbeit. Eben auch ein Aspekt, den das Absolute ausmacht und umfaßt, nämlich jenen Weg überhaupt zu gehen und wenn es gut läuft in Gemeinschaft. Gegebenenfalls auch eine Gemeinschaft mit anderem Denken, und so verwundert es in solchem Kontext nicht, daß es von Jean-Luc Nancy zwei Aufsätze zu Hegel gibt, nämlich „La remarque speculative“ (1973) und „Hegel. Lʼinquiétude du négatif“ –  beide 2011 beim diaphanes Verlag erschienen.

Im Athenaeum manifestierte sich zudem jene für die Romantik wesentliche Schreibweise, die auch für bestimmte Formen des poststrukturalistischen Denkens zentral werden sollte (man nehme nur Derridas „Postkarte. 1. Lieferung): die Verwendung unterschiedlicher Gattungen, der Rückgriff auf das Fragment und es werden das literarische Eigentum und die Autorität des Autors in Frage gestellt. Wild wurde ausprobiert, was auch mit der Epochen- und Zeitenwende um 1800 zu tun hatte. Textformen als Versuche. Allerdings ist all dies nicht von Dauer und kann sich nur über eine kurze Phase durchhalten. So zumindest schildern es Lacoue-Labarthe und Nancy. Solches Befragen und das Infragestellen von Grenzen macht sicherlich eine gewisse Nähe auch zu den Autoren des sogenannten Poststrukturalismus und der Dekonstruktion aus.

„Es sei hier also noch einmal gesagt, dass es hier nicht um das Bild von der Romantik geht, das man sich gemeinhin von ihr macht. Madame de Staël hat dies auf ihre Weise durchaus bereits vorausgeahnt. Trotz ihres etwas allzu kurz gegriffenen (…) Widerstands gegen Theorie hatte sie zumindest verstanden, dass das Neue in Deutschland um 1800 nicht die ‚Literatur‘, sondern die Kritik oder wie sie es auch nannte, die ‚literarische Theorie‘ ist.“ (Lacoue-Labarthe/Nancy, Das Literarisch-Absolute, S. 27 f.)

Was mich – aber das ist ein rein subjektives Moment – an Nancys Texten zur Religion und zur Auslegung von Bildern der Religion,  wie eben in „Noli me tangere“, faszinierte, ist jener für einen nichtreligiösen Menschen, der doch, wie ich es bin, religiös gestimmt ist, ästhetische Zugang zur Religion über Bilder. Einerseits. Und zugleich ein über Begriffe wie das Absolute, das Spekulative und über die Unruhe des Negativen laufender Zugang des Denkens: ein Weg, der freilich nicht als System läuft, sondern in Ausfaltungen und im Detail abschreitet. In der Hingabe an eine Sache. Das Absolute ist nicht einfach ein Behälter, wo alles irgendwie darin ist und das man mit Stecken und Stangen, wie Hegel bereits spottete, dingfest machen könnte. Mit Jean-Luc Nancy ist ein Philosoph verstorben, der Ästhetisches, Politisches und die Philosophie selbst im Denken zu versammeln vermochte.

Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht,
Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen,
Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.
Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe
Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maß,
Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden,
Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann
(Fr. Hölderlin, Brod und Wein)

Roland Barthes, zum 100. Geburtstag. Das fragile Subjekt

„Man scheitert stets, wenn man von dem spricht, was man liebt“
(R. Barthes, auf einem Notizblatt vom 25. März 1980,
das in seiner Schreibmaschine steckte. Wenige Stunden
später wurde er nahe seiner Pariser Wohnung
von einem LKW überfahren und starb am 26. Mai
im „Hôpital de la Pitié-Salpêtrière“.)

„Schreiben heißt, den Sinn der Welt erschüttern,
eine indirekte Frage in ihr aufwerfen, auf die zu antworten
der Schriftsteller wie in einem letzten Aufschub
sich untersagt.“
(R. Barthes)

Auf den ersten Blick sind es insbesondere die Buchtitel, die verheißend hervorstechen und neugierig auf Barthesʼ Text machen: „Am Nullpunkt der Literatur“, „Kritik und Wahrheit“, „Mythen des Alltags“ (das Buch, mit dem Barthes einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde), „Die Lust am Text“, „Im Reich der Zeichen“, „Fragmente einer Sprache der Liebe“, jenes Buch, das ob des Titels zum Topseller geriet und sein letztes, 1980 erschienenes Buch: „Die helle Kammer“. Eine Elegie, ein Abschiedsbuch. Es handelt vom Tod, vom Verschwinden des geliebten Menschen, der in einem Bild verlöscht, unsichtbar fast wird, in die Ferne des Vergessens treibt und dort in der Photographie ebenso wiedergefunden wird. Die Photographien bilden in diesem Sinne für Barthes ein Ausdrucksmedium, an dem er sich entlangschreibt, um Verschwinden zu bannen, zu begreifen auch, etwas an ihr zu evozieren, insofern der Proustschen Madeleine ähnlich, aber ebenso geht es ihm darum, diesen Zustand des Entzuges in eine Sprache zu versetzen, aufzuschreiben, ihm eine ästhetische Form zu verleihen: auf dem Einzigartigen zu beharren, es in diesem So-Sein zu belassen und mit den Mitteln von Essay, Zeichenlehre, Bedeutungsanalyse und einer an Montaigne ausgerichteten Weise der Meditation, einer Erfahrung teilhaft zu werden. Differenz und Wiederholung, Einmaliges und Struktur, Reproduktion und Aura zusammenzudenken.

Jene eine Photographie, die in diesem Buch nicht gezeigt wird – es ist das Bildnis der Mutter als Kind. Barthesʼ Text berührt und rührt auf eine eindringliche Weise an,  ein Rest an Glück und ein Blick des Melancholikers im Akt des Erinnerns. Es paart sich in dieser Schrift das Ausmaß an verschachtelter Subjektivität und Empfindungsfähigkeit mit dem Willen zur Analyse, auch der des Selbst. Kehrt Barthes mit seiner letzten Schrift nicht vielmehr dem Poststrukturalismus endgültig den Rücken, reist wieder an die Anfänge zurück, hin zur Bewußtseins- und Subjektphilosophie, zu Bergson, zu Sartres „Transzendenz des Ego“, zum „Imaginären“? Wäre da nicht ebenso die Tendenz, jegliche Fixierung aufzubrechen und eine neue Schreibweise auszuprobieren, in einer neuen Maske aufzutreten, an Nietzsche geschult, wie auch an Brechts distanzierendem, Schnitte legenden Verfremdungseffekt, könnte man sicherlich eine Art Revozierung annehmen. Dennoch bleibt bei Barthes dieser unauflösbare Rest – Anlaß seiner Sprache und seines Schreibens.

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Wie kann man sprechen, wie schreiben von dem, was sich jedem Diskurs entzieht? Subjekt, Liebe, jenes Dies-da und was es ist, dies-da zu sein. Barthesʼ Thema waren, in diskontinuierlichen Wendungen und differierenden, umkreisenden Text-Anläufen, einerseits die Strukturen von Gesellschaft, ihre Lebenswelt samt den daran gekoppelten Bedeutungssystemen, ihre zur Natur geronnenen Projektionen, die Barthes als Mythen benannte. Ideologiekritik setzte sich bei ihm mit den Mitteln des Strukturalismus fort. Andererseits und damit korrespondierend das lesende und vor allem das schreibende Subjekt wie auch das Subjekt als Schrift, als Texteffekt, wie man es in den neumodern-postmodernen Zeiten einer wilden Sprache in flapsigem Slogan der 80er Jahre zum besten gab, diese Effekte des Diskurses und der Macht auf dem Marktplatz neuer Theorien in der BRD, hochpreisig im Jargon gehandelt, und in wilden Träumen wie Textszenen, die manchmal nach einem Seminar als Sexszenen sich erwiesen, taumelten manche als fragmentierte Subjekte und hockten, wenn der Sprachrausch auf hartem Boden aufschlug, trauernd hinterm Bartresen oder verschimmelten in den Bibliotheken der öden, sozialdemokratischen, aus Beton gebauten, bundesdeutschen Universitäten.

Barthes gehörte nicht zu den in ihrem Habitus und Auftritt schillernden Figuren wie Lacan, Foucault, Derrida oder Deleuze, und er pflegte, anders als diese, keine extravagante Theorie-Sprache. Sprache stach bei Barthes zwar ebenfalls heraus, und es blieben Wendungen wie die der Écriture, des Diskurses, die Rede vom „Tod des Autors“ oder vom „Nullpunkt des Schreibens“ im kollektiven Gedächtnis haften, doch am Ende stand Barthes immer ein wenig im Schatten seiner Kollegen. Die Kontinuität eines Différance-Geschehens fehlte – man könnte fast sagen, daß Barthes in manchen seiner Textrandzonen noch mit dem Spiel dieses Spiels sein Spiel trieb. Der Machtbegriff war in Barthesʼ Theorie zwar tragend, blieb aber, sieht man von seiner 1977 am „Collège de France“ gehaltenen Antrittsvorlesung „Lektion/Lecon“ ab, eine von vielen philosophischen denkerischen Antriebswellen in seinem Theoriebau. Anders als Foucault, der Macht bis in die kleinste Pore hinein ausbuchstabierte. (Dabei ebensowenig die positiven Aspekte von Macht ausklammernd.)

Barthes war in den Seminaren bundesrepublikanischer Philosophie der 80er und 90er Jahren als Theoretiker deutlich weniger präsent als die oben genannten Recken (post)strukturalistischer Philosophie, denen regelmäßig komplette Veranstaltungen gewidmet waren. Und anders als in Derridas oder Foucaults Texten fiel sein Ruf nach dem Tod des Subjekts verhaltener aus. Daß der Autor tot sei, schuldete sich bei Barthes nicht primär dem Umstand agonaler Subjekte, die im Zuge postheideggerscher französischer Metaphysikkritik am dualen Denken untergingen, sondern dieser mortale Effekt sollte schlicht Platz für den Leser schaffen. Wenn nicht sogar für eine emphatisch verstandene Subjektivität, die den Begriff des Ichs durchaus im Titel zu führen gewillt war. Barthesʼ  Ästhetik ist zu großen Teilen eine der Rezeption – erweitert freilich um das Vokabular des Strukturalismus, der Semiologie wie der Psychoanalyse. Was dann im Kontext von Barthesʼ  Text-Gewebe ebenso dem Subjekt eine andere Form verleiht.

Ursache dafür, daß Barthes am Ichbegriff festhielt, mag sein, daß es ihm darum ging, jenes abendländische Subjekt nicht tilgend durchzustreichen, sondern zu transformieren: es als Diskurseffekt und als leere Stelle zwar zu markieren, aber es zugleich in einer anderen Sprache wieder in die Rede zu bringen: ein immer neu sich erfindendes und sich den Zuschreibungen entwindendes Subjekt, das kein Subjectum kennt. Barthesʼ Essays beginnen häufig in der ersten Person Singular. Fast wie ein Auftakt von Proust Recherche (ein Referenzautor Barthesʼ  nebenbei) nimmt sich der Anfang von „Die helle Kammer“ aus: „Eines Tages, vor sehr langer Zeit, stieß ich auf eine Photographie des jüngsten Bruders von Napoleon, …“. Oder der Beginn von „Im Reich der Zeichen“: „Wenn ich mir ein fiktives Volk ausdenken will, kann ich ihm einen erfundenen Namen geben, kann es erläuternd als Romangegenstand behandeln, …“

Aber wer spricht in den Texten Barthesʼ , und wer ist dieses Ich, das da spricht, schreibt, beobachtet und Aussagen formuliert? Zu behaupten, es wäre der Autor „Roland Barthes“ macht es zu einfach. Roland Barthes verstand sich selber primär zwar als Schriftsteller, was in Anbetracht der doch umfangreichen Produktion an theoretischen Texten zunächst erstaunt. Liest man aber seine Ausführungen zur Kunst des Romans, seine Vorlesungen über Literatur wie auch seine „Mythen des Alltags“ und seinen ersten freien Text „Im Reich der Zeichen“ scheint dieser Befund nicht mehr ganz so phantastisch anzumuten. Immer wieder sind es diese Beobachtungskontexte, die er, sei es auf Reisen oder in Paris, seiner Lebensstadt, fruchtbar machte und mit dem Blick eines schreibenden Ichs auflud. Ihn an bestimmten Theoremen festzumachen, verfehlt das Theoriespiel Barthesʼ wie auch seine Vielstimmigkeit im Schreiben. Selbst das Schlagwort der Semiologie, der Lehre von den Zeichen, greift bei Barthes zu kurz.

Die Figuration der (Autor)Figur, des Schreibsubjektes Barthes, des Roland Barthes, der sich als Barthes in jenem Eigennamen „Roland Barthes“ ebenfalls niederschlägt, entfaltet sich als semantischer und schriftstellernd-philosophischer Trick wohl am wirkungsvollsten in seinem Text „Roland Barthes par Roland Barthes“. Bereits die Kombination von Autorenname und Buchtitel, der uns auf zwei Funktionen des Eigennamens verweist, illustriert dieses Gleiten und die Brüchigkeit von Zuschreibung. Ist dies noch eine klassische Autobiographie, ein Essay oder bereits eine Form von Literatur?

Schreiben heißt tilgen. Nicht nur eine Schuld oder gar die monetären Schulden zu begleichen, wie dies beim ständigen klammen Honoré de Balzac der Fall war, der in Paris heimliche Verstecke und Fluchtwege vor seinen Gläubigern suchte, sondern Schreiben bedeutet einen Prozeß radikaler Transformation, der bis zur Auslöschung, bis zum Tod hin reicht, dem der Sprache, dem des Schreibenden: „Der Roman ist der Tod; er macht aus dem Leben ein Schicksal, aus der Erinnerung eine nützlichen Akt und aus der Dauer eine gelenkte bedeutungsvolle Zeit.“ (R. Barthes, Am Nullpunkt der Literatur) Literatur setzt in diesem Sinne nicht nur frei, sondern ihr wohnt ebenso die Fähigkeit inne, zu fixieren und stillzustellen. Ihr Todesmoment, ihr degré zero. Das, was in Deutschland die literarische Romantik in Bilderfunken, in Transzendentalpoesie, im unendlichen Poetisieren und Fragmentierungen aufzubrechen gewillt war.

Unter dem Kapitel „Die Lektüre“ schreibt Barthes im Schluß von „Kritik und Wahrheit“: „Und schreiben heißt, auf eine bestimmte Weise die Welt (das Buch) zerspalten und wieder zusammensetzen.“ Dieser Bezug mag von der Überschrift her zunächst widersprüchlich anmuten, denn Lektüre bedeutet gerade nicht: zu schreiben, sondern sich einem Text im Lesen auszusetzen, sich ihm über-lassen, auch mit seinem eigenen Körper. Was uns auf den Akt des Lesens selbst und damit auf „Die Lust am Text“ verweist. Doch ebenso muß man, um schreiben zu können, gelesen haben. Also dem Textkörper anheimgegeben.

Texte reagieren – bewußt wie auch in einem sozial Unterbewußten – auf eine Welt als Text- und Zeichensystem, auf andere Texte, zerlegen sie, setzen sie neu zusammen, so wie ich zersetzend im Text Kafkas lese, Tagebücher, die Literatur sind, Briefe als Romane wahrzunehmen, um eine Schrift des Weiblichen wie auch der Abstoßung zu erhalten. Nicht den reinen Sinn eines Texten evozieren, schon gar nicht den vom Autor gemeinten Sinn – Derrida zeigt dieses Verfahren anhand von Nietzsche, indem er diesem ein Schreiben als Frau attestiert –, sondern Konstellationen aufzeigen, ein Moment explizieren, das ins Auge sticht. Jenes punctum der Photographie siedelt sich ebenso im Text, oder genauer, beim Lesen des Textes erzeugt es sich im Leser. Interpretieren und Lektüre sind in der Diktion Barthesʼ  Akte der Konstruktion. Es gibt nicht die eine Wahrheit der Lektüre. Aber es ist ein Text ebensowenig im Reigen der Deutungen relativ. Kriterium solcher Lektüren bleibt, wie auch im Kunstwerk selbst, die Stimmigkeit wie auch die Anordnung der Elemente.

Eine Frage der Lust, einer Lust, die sich dem bloßen Begehren wie auch der dyadischen Beziehung entzieht.

„On échoue toujours à parler de ce quʼon aime“

Am 12. November 1915 um 9 Uhr morgens wird Roland Barthes in einem Krankenhaus in Cherbourg geboren.

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Lesen heißt: Kannibalisieren. Ein Plädoyer für textuelle Autoerotik

Lektüren sollten aktiv sein, sie können einem phantasievollen Akt entspringen – nicht bloß sich aussetzend passiv. Kannibalisieren ist ein kreativer Vorgang, denn die Speise muß zubereitet werden. Fleisch von unserem Fleisch ist die Literatur. Bei dieser Einspeisung hängt freilich einiges davon ab, wieviel ästhetische, gestalterische und spielerische Kraft der Lesende aufzubieten vermag, um sich einem Text gewachsen zu zeigen. Viel liegt auch am Text selber.

Den in Phantasie, in Abschweifung, Blüten-, Frucht- wie auch Dornenstücke austreibenden Jean Paul zu lesen, bedeutet zunächst einmal, sich überwuchern zu lassen, sich einem Strom, einem Sturzbach auszusetzen, der das Herz verletzt, schmerzhaft schneidet, die Einbildungskraft herausfordert, lustvoll bestehendes Bewußtsein aufweicht, wenn nicht tötet. Nein, nicht das vielzitierte, gefrorene Herzenzspackeismeer und die Steinschichten aufbrechend, die wollen wir so lassen wie sie sind, denn die Kältekammer ist Schaffensprozessor, sondern es setzt sich in der Lektüre dieser Jean-Paul-Texte ein Überschuß frei. Dieses herrliche Textspiel parieren zu können, das manchen zunächst paralysiert, es sich gar einzuverleiben, sich ihm anzuschmiegen, in einer Form essayistischer, treibender, treidelnder Denkbewegung wie auch flanierender Mimesis (ein Widerspruch in der Diktion – fürwahr), erfordert die Künste der Dekonstruktion, gleichsam auch eine Art von Schnittkunst, wie wir sie ansonsten nur mit den feinen japanischen Filetiermessern zustande bringen, dessen harter und doch biegsamer Stahl das Fleisch wie auch die Frucht schneidet und zerteilt.

Was bedeutet dies für die Lektürepraktiken im Referenzenfeld von Theorien? Über Roland Barthes schreibt Ottmar Ette:

„Führt S/Z den Tod des Autors vor Augen, dann geschieht dies in Form einer Kannibalisierung, die freilich Stil und Methode hat. Wie in der japanischen Küche, die Barthes in Das Reich der Zeichen auf seine Weise fand und erfand, wird Honoré de Balzac fein säuberlich kleingeschnitten und, in feine Einzelteile zerlegt, dem literarischen Gaumenfreund vorgesetzt. Dabei steht weniger das Ausgangsmaterial als dessen friktionale Einverleibung als Lebensmittel im Vordergrund.“

Nun ist es zwar der „Schulfall von Banausie“ (Adorno) und Ausdruck amusischen Verhaltens, Kunst als kulinarischen Gaumenkitzel zu begreifen – Romane, die prickeln, sind lediglich Ausweis einer restringierten Empfindungsästhetik auf seiten des Rezensenten. Und Kunst in die Reihe von Nahrungsaufnahme und damit dann zwangsläufig verbunden ebenso der Nahrungsausscheidungen, mithin der Scheiße, einzureihen, um das gelangweilte konsumistische Subjekt mit möglichst delikaten und sublimen Formen bei Laune zu halten, zielt an der Kunst vorbei – funktionalisiert und entschärft sie damit. Dennoch hat der Akt des Einverleibens wie des Zerlegens (auch im Sinne von Analyse und Kritik), der oralsadistischen Autoerotik im Lesen und insbesondere im Schreibprozeß, wenn wir uns an einem fremden Text entlangschreiben, etwas Bestechendes und Einnehmendes. Es ist ein phantastischer Akt, erfordert Einbildungskraft und dissoziative Synthesis. Zumindest, wenn ich mir dieses kannibalisch-autoerotische Wirken als Metapher nehme und diese Einverleibung angemessen und gerissen konstruiere. Die Gefahr eines hybriden Narzißmus freilich, die konsumistische Sphäre innerhalb einer Kunst als kulinarisches Spektakel im Sinne von „Pomp Duck & Circumstance“ ist nicht gebannt. Es hängt am Ende immer an der Schreibpraxis: Plädoyer für einen radikalen Essayismus. Zum Essen gehört das Gefrierfach. Eine Zerstückelung des Textes, um die Teile neu zu ordnen. Bereits zu Dionysos, jener Kraftform von Kunst, gehörte die Zerstückelung.

Die Kunst anhand von Kunst zu erfinden oder Phänomene zu sichten. Mit dem Namen Roland Barthes verbinden wir jene Wendung vom „semiologischen Abenteuer“, und es weht uns beim Lesen der „Mythen des Alltags“ immer ein Hauch von Paris an, Texte, an bestimmten Orten gelesen, werden sinnlich besetzt. Relativistische Anmutungen freilich. Mit der Bartheschen „Lust am Text“ – ich werde auf diese Form des Überstiegs von Begehren, hin zur unsublimierten Lust am Donnerstag in meinem Barthes-Text zu sprechen kommen – kann man  spielerisch, aber leider auch relativ unbezüglich umgehen, und leicht läßt sie sich auf die Seite beliebigen Posierens und Possierens schlagen, fungibel, wie alle Objekte. In den „Mythen des Alltags“ schrieb Barthes über die Begründung einer semiologischen Wissenschaft wie auch seine Methode, beliebige Gegenstände und Szenen einer Gesellschaft herauszugreifen, um anhand der Weise, wie sie in diese eingebettet sind, etwas über ihren Status wie auch ihr gesellschaftlich vermitteltes Moment herauszufinden:

„Die Entwicklung der Werbung, der großen Zeitungen, des Rundfunkgs, der Illustireten, ganz abgesehen von dem Fortleben zahlloser Kommunikationsriten (Riten des sozialen Auftritts), macht die Begründung einer semiologischen Wissenschaft dringlicher denn je. Wie viele wirklich bedeutungsleere Bereiche durchlaufen wir während eines Tages? Sehr wenige, manchmal gar keinen. Ich bin am Meer: Gewiß, es enthält keinerlei Botschaft. Doch am Strand, wieviel semiologisches Material! Fahnen, Werbesprüche, Schilder, Bekleidungen, sogar Sonnenbräune – sie alle sind Botschaften, sie alle teilen mir etwas mit.“ (R. Barthes, Mythen des Alltags)

Bricolage und objet trouvé, Barthes überführt die surrealistische Sammlungstechnik im unwillkürlichen Modus in ein kreatives, kritisch sichtendes System, das die bloße Aleatorik hinter sich läßt und die Zufälle einer Struktur zuordnet. Eine Art von Sammlungs- und Montagetechnik. (Man müßte Barthes hier mit dem späten Benjamin zusammenlesen.) So auch in der Lektüre. Eine überbordende, gleitende, spielende Struktur freilich.

Die Nähe zu einer literarischen Dekonstruktion liegt auf der Hand.

Ich hätte, wenn ich schon in meinem Kopf in Paris, in Frankreich weile, etwas zu André Glucksmanns Tod schreiben müssen. Allein – es fällt mir dazu nicht viel ein. Glucksmanns Totalitarismuskritik bleibt für mich der Ausdruck falschen Bewußtseins und damit: der Ideologie verhaftet. Renegatentum tut nie gut. Besser: sich keiner Seite zuschlagen und anschließen. Draußenbleiben: Tatbeobachtung. Das läßt einen freilich nicht aus der von Kafka konstatierten Totschlägerreihe ausscheren – dem Immanenzzusammenhang ist nicht zu entgehen. Kafka wußte dies, schrieb diesen düsteren Traum. Kafkaeinverleibung des Käfersammlers.
 
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Das Subjekt ist ein Diskurseffekt und im Sand ein Gesicht – Michel Foucault zum 30. Todestag

458_Michel_FoucaultDer Name des Autors Michel Foucault wird derzeit viel im Munde geführt (auch von denen, die keine drei Zeilen von ihm gelesen haben), und insbesondere in den Zeiten des Überwachens unserer im Raum des Internets getätigten Äußerungen, unserer digitalen Diskurse scheint eine Renaissance seiner Philosophie, die in der BRD in den 80er Jahren ihren Zenit erreichte und ein wenig noch in die 90er als Mode abstrahlte, nicht ganz ausgeschlossen. Es geht der Weg von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft, wie es Deleuze formulierte, von den Praktiken der Subjektkonstitution des 17. und 18. Jahrhunderts und vor allem auch der Konditionierung des Subjekts hin zu einer Internalisierung des Zwangszusammenhangs. Wie dieser Zwang der (Subjekt-)Beobachtung (und -Konstituierung) ausschaut und wie jene anonyme Gesellschaftsmacht wirkt, zeigte Foucault unter anderem in „Überwachen und Strafen“ anhand des Benthamschen Panoptikums: Jener Beobachtungspunkt in einem Gefängnis, von dem aus eine für den Gefangenen anonyme, aber durchaus legitimierte Funktions- Instanz namens Wärter Einblick nehmen kann, ohne dabei aber selber gesehen zu werden und ohne daß die vereinzelten Gefangenen wissen, wann sie gesehen werden.

Eine subtile Form von Kontrolle also. Einerseits kann man zwar sagen, daß dadurch das System der drakonischen Körperstrafen sowie der Marter, wie wir sie aus dem Mittelalter und früheren Zeiten kennen, im Sinne der europäischen Aufklärung in eine neue Form des Bestrafens transformiert wurde, die – zumindest was das unmittelbar Schmerzhafte am Körper betrifft – als sehr viel weniger grausam sich erweist. Andererseits setzte durch diese Form des Strafens eine Weise der Selbstüberwachung und Konditionierung ein, die noch bis ins Innerste dieses Subjekts ragte. Der Panoptismus als durchaus humanes Moment, dem aber zugleich die Destruktion und die dunkle Seite innewohnt, denn er erzeugt jene gewünschte Konformität des Individuums, das sich dabei aber zugleich in seiner Individualität als ungemein einzigartig, als authentisch eben, glaubt. Der menschliche Körper und seine Regungen sind jedoch nicht an sich und unveränderlich, irgendwelche ontologischen Daseinskonstanten, sondern er ist einem Spiel der Kräfte und Diskurse ausgesetzt, die am Ende erst diesen Körper samt seiner mal mehr, mal weniger konformen Regungen hervorbringen. Der aufstrebende Kapitalismus des 17. und 18. Jahrhunderts benötige diese Körper als Arbeitskraft.

Insbesondere der Foucault der 70er und der 80er Jahre beschäftigte sich intensiv mit diesen Praktiken der Bio-Politik, die bis tief in den Körper des Menschen sich einschreibt. Wie jene haarfeine Sichel- und Nadelschrift in Kafkas „Strafkolonie“, die man ebenfalls einmal im Zusammenhang mit den Texten Foucaults lesen könnte. Nicht mehr ein anonymes Außen wird unter den Bedingungen einer post-modernen Kontrollgesellschaft im Grunde mehr benötigt. Es reicht hier die bloße Androhung, daß da ein anonymer Beobachter sein könnte, ohne daß da übehaupt noch jemand ist, und so vollziehen im vorauseilenden Gehorsam die Subjekte die Unterdrückung von ganz alleine, üben die Kontrolle über sich selber aus, wie der Zen-Meister seinen Körper trainiert und mental im Griff hat. Die schöne neue Welt der Arbeit: Insbesondere in all den Internet- und Softwarefirmen oder in den diversen Agenturen oder der Welt der Banken und der großen Konzerne zeigt sich dieses System der Internalisierung, die uns steuert. (Und aus diesem Grunde sind Zen und Japan in dieser schönen neuen Welt so derart beliebt.) Diese Kontrolle geschieht bis in die intimen Regungen des Körpers und dessen Sexualität hinein.

All diese Aspekte einer kritischen Aufklärung, die sich über sich selber aufzuklären vermag – in der Tradition von Kants Konzept von Aufklärung und Adornos/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ – versammeln die großartigen und verschlungenen Schriften dieses Philosophen, sie umkreisen in immer neuen Anläufen und Varianten ein Bündel an Themen: Wissen, Macht, Körper, Subjekt, Wahrheit. Aber ohne die Positionierung – darin dem ästhetischen Denken verwandt. „Ich bin nicht da, wo ihr mich sucht, sondern hier, von wo aus ich Euch lachend ansehe“ schrieb Foucault – jener Philosoph mit der Maske, der sich nicht gerne festnageln oder festlegen ließ.

Gerade dieses Proteushafte macht Foucaults Reiz aus. Das gesellschaftliche Draußen war für Foucault nicht nur bloßer Text oder der Innenraum einer vertrackten Immanenz, sondern es gab bei Foucault zugleich das ästhetische Spiel als den unendlichen Möglichkeitssinn, der das, was der Fall ist und doch durch und durch gesellschaftlich Gemachtes, in die Transgression bringen konnte. Zumindest für den aufscheinenden Moment, in jenen wunderbaren flüchtigen Augenblicken. Als Perspektive und Fluchtpunkt. Ohne daß dabei aber diese Ästhetik gleich zur Kontingenzbewältigung der Moderne und zur Überforderungskompensation instrumentalisiert wurde – eine Position der Kunst, die ihr die konservativen Entlastungs-Ästhetiker in vielfältiger Couleur gerne als ihre Daseins-Möglichkeit in den Rahmungen der verfehlten Moderne zuweisen wollen. Kunst als Korrektiv des lästigen Alltags und als Narkotikum. Aber am Ende ohne Konsequenz. Anästhetisch-anästhesistische Ästhetiker. Foucault machte alle diese Festschreibungen nicht mit. Sein Denken changierte vom französischen Hegelianismus, vermittelt durch die Vorlesungen Alexandre Kojèves, in denen sowohl Sartre, Raymond Queneau, Derrida, Barthes, Lacan und eben auch Foucault saßen. Über Heidegger und Nietzsche bis hin zur antiken Philosophie.

Gleichzeitig gehörte Foucault, ebenso wie Sartre, zu den engagierten Intellektuellen, die Partei ergriffen, die auf die Straße gingen, die sich tagespolitisch einmischten. Dieses Vielschichtige und Schimmernde reichte bis hin zur Lektüre der Kunstwerke: sei es sein Blick auf Manet als dem Maler der Moderne oder in jener großartigen Einleitung von „Die Ordnung der Dinge“, wo er eine für die Kunstgeschichte bahnbrechende Lektüre von Diego Velázquez‘ „Las Meninas“ lieferte, indem er anhand der Ordnung und der Strukturierung der Blicke und der Blickachsen in diesem Bild die Geschichte und die Positionierung des neuzeitlichen Subjekts aufzeigte, das an jenem unsichtbaren Ort seine zentrale Stelle hatte: jene empirisch-transzendentale Doublette.

Das Subjekt ist ein Diskurseffekt und insbesondere ist in der Literatur die Instanz des Autors eine durch und durch von der Moderne gezeitigte Erscheinung. Wer um die Möglichkeiten der Diskurse, ihrer Grenzen und ihrer Disziplinierungsstrategien erfahren möchte, der lese unbedingt „Die Ordnung des Diskurses“. Darin heißt es über die Instanz des Autors:

„Ich glaube, es gibt noch ein anderes Prinzip der Verknappung des Diskurses, welches das erste bis zu einem gewissen Grade ergänzt. Es handelt sich um den Autor. Und zwar nicht um den Autor als sprechendes Individuum, das einen Text gesprochen oder geschrieben hat, sondern um den Autor als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts. […] In den Bereichen, in denen die Zuschreibung an einen Autor die Regel ist – Literatur, Philosophie, Wissenschaft –, kann man sehen, daß sie nicht immer dieselbe Rolle spielt. Im Mittelalter war die Zuschreibung an einen Autor im Bereich des wissenschaftlichen Diskurses unerläßlich, denn sie war ein Index der Wahrheit. Man war sogar der Auffassung, daß ein Satz seinen wissenschaftlichen Wert von seinem Autor beziehe. Seit dem 17. Jahrhundert hat sich diese Funktion im wissenschaftlichen Diskurs immer mehr abgeschwächt: die Rolle des Autors besteht nur mehr darin, einem Lehrsatz, einem Effekt, einem Beispiel, einem Syndrom den Namen zu geben. Hingegen hat sich im Bereich des literarischen Diskurses seit eben jener Zeit die Funktion des Autors verstärkt: all die Erzählungen, Gedichte, Dramen oder Komödien, die man im Mittelalter mehr oder weniger anonym zirkulieren ließ, werden nun danach befragt (und sie müssen es sagen), woher sie kommen, wer sie geschrieben hat. Man verlangt, daß der Autor von der Einheit der Texte, die man unter seinen Namen stellt, Rechenschaft ablegt; man verlangt von ihm, den verborgenen Sinn, der sie durchkreuzt, zu offenbaren oder zumindest in sich zu tragen; man verlangt von ihm, sie in sein persönliches Leben, in seine gelebten Erfahrungen, in ihre wirkliche Geschichte einzufligen. Der Autor ist dasjenige, was der beunruhigenden Sprache der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre Einfügung in das Wirkliche gibt.“

Den letzten Satz begreifen nur die wenigsten, insbesondere manche Schriftsteller:innen scheinen vor ihm eine extreme Furcht zu hegen und versuchen, diesen Satz durchs Verschließen der Augen zu neutralisieren. Aber wer häufig genug „Ich“ sagt oder schreibt und das Authentische herbeiredet, ist deshalb noch lange kein Autor. Von Foucault zumindest können wir manches über die Hybris des modernen Subjekts und seine trughaften Wahrhaftigkeitsansprüche lernen.

Aber es geht natürlich das Lob ebenso in den privaten Rahmen über und ich sage „Danke, Michel Foucault“: Für jene unendlichen Stunden und Tage in den Bars, in jenem Zimmer mit jener Frau, mit den Büchern und dem Text als Instanz, und wie sehr wir jene Subjekte als Fragmente waren und blieben und wie wir auf diese Weise immer weitermachen wollten. Die Gesichter im Sand, die vom Meer fortgespült werden und wie wir am Ostseestrand mit unseren Fingern ein Foucault-Gesicht in den Sand zeichneten und darunter „Pour Michel“ schrieben, wie vermutlich bereits hunderte vor uns an anderen Stränden, anderen Meeren, anderen Orten, während irgendwann die Wellen über das Bild trieben, als wir bereits weiter in den Dünungen und gegen den Wind schlenderten. Deine schwarzen Lackstiefel und Dein schwarzes Höschen. Ostfrauenunterwäsche. Nachts, die Sommernächte, mit dem Fahrrad durch die Straßen fahrend. Mein Blick unter Deinen Minirock, oder während Du dasaßt und die Beine auseinander legtest. Philosophie bietet manchmal tiefe Einblicke. Körperpolitik. Mit unseren Zigaretten, „Lucky Strike“ Du mit, ich ohne Filter, den Flaschen Wein. Sie auf der Seite Hegels und im Malina-Sound um die Vermittlungen bemüht, während der junge Mann in der schwarzen Lederjacke und mit der schwarzen Jeans, den damals feingliedrigen Fingern, zwischen denen die Zigarette glühte, die Dissoziation predigte und jegliche Vermittlung ins dialektisch Negative zu überführen trachtete: Archäologie und Wahnsinn, Genese und Struktur, manchmal auch die Striktur oder die Transgression des Sinns als Instanz. Kein Ort nirgends. Bis zuletzt ins Schweigen. Mon amour. Die Erotik des Textes.

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Aleatorik, Identitätspolitik und Literatur – samt kurzem Blick zu Kafka: Wovon schreibt die Literatur?

„Der Eigenname ist bedeutungslos. Doch gibt es verschiedene Weisen, bedeutungslos zu sein.“(Jacques Derrida)

Von Nietzsche zum Beispiel wissen wir, daß er als Frau schrieb. Unter all den Schleiern und in all den Stilen, die manchmal einem Stilett gleichkamen. Wenn ich von meinem heutigen Ich herschreibe, bemerke ich an mir selber, grippal und das heißt krank auf dem Sofa liegen zu müssen. Und wenn ich diesen Satz mit meinem Eigennamen unterschriebe, wäre das dann tatsächlich mein eigener Name, mein Ich als Körper, das da beteuert, schwört und tätigt und kränkelt? Jenes eine Ich, das daliegt? Oder nicht vielmehr eine andere Instanz, die da (in meinem Namen) schreibt, die Krankheit und Identität in einen Text einwebt, in dem der Eigenname erlischt und zugleich deutlich hervortritt? Jenes einzige Mal, an jenem einzigen Ort. Einzigartig. Unbeschrieben.

Nun nähert es sich auf bald ein Jahr hin, als der Roman „Aléas Ich“ erschien. Auf dem Blog „Aboutsomething“ gibt es ein Interview mit der Schriftstellerin Aléa Torik. Dringend rate ich an, es zu lesen, denn es ist insofern instruktiv, weil dieses Gespräch noch einmal zentrale Aspekte von Literatur nennt, die unter den Bedingungen eines veränderten Identitätskonzeptes ihren Ort und ihren Rahmen haben. Diese Aspekte sind für manche/n, die auf eine konventionelle bzw. konservative Weise mit Literatur sich befassen, nur schwer vermittelbar: Daß nämlich empirisches Ich, erzählendes Ich, Autor, erzähltes Ich, Textfiguren nicht verschiedenerlei sein müssen und durch soziale Konvention getrennt, sondern einem bedingenden Diskurs unterliegen, der ein literarisches Feld erst anordnet und so etwas wie den Begriff des bürgerlichen Romans samt seinen Hierarchien und Figurenanordnungen, seinen Perspektiven und Wirklichkeitsweisen erst möglich macht; daß dieses Spiel der Identitäten, Personen, Figuren zuweilen die Grenze zur Realität überschreitet. Mit Derrida geschrieben, hängt dieser Wunsch nach Gegenwärtigkeit und Präsenz (des Subjekts) innerhalb der Literatur und außerhalb in ihren Darbietungsformen wesentlich mit einer Verdrängung der Schrift zugunsten der Stimme und der Verlautbarung sowie eines intakten, gegenwärtigen Körper-Ichs zusammen.

Diese Transgression der Literatur hin zum hyperbolischen, taumelnden Text mag für manche, die in den Finessen der Literatur, der Fiktionalisierungen und Maskeraden nur halb zu Hause sind, beunruhigen: Ja und diese Unruhe ist genau das, was sich ein Text, wenn er denn begehren könnte, wünscht, weil gelungene Literatur nun einmal – auch im Freudschen Sinne – viel mit dem Unheimlichen und sogar mit dem Ungeheuerlichen zu schaffen hat. Im Grunde handelt es sich bei solchen verstörten Leserinnen und Lesern um die idealen Leser:innen. Franz Kafka schrieb im Jahre 1903 an Oskar Pollak hellsichtig und ohne zu wissen, welchen „eigenen“ Text, unter seinem und in seinem Namen er einst würde schreiben müssen: „Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses.“

Und in jenem allzu bekannten Zitat über die Funktion des Buches an ebendiesen Jugendfreund Oskar Pollak heißt es in einem Brief vom 27. Januar 1904:

„Ich glaube, man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber Bücher, die auf uns einwirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tode eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder gestoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ (Franz Kafka)

Drastischer, schärfer und eindringlicher als Kafka schrieb wohl keiner gegen die Vergnügungs- und Selbstbespiegelungsleser:innen an, die sich als narzißtischer Akt mit ihrem mit sich identischen Ich in allem Geschriebenen gerne wiederlesen möchten, um darin die vielbeschworenen authentischen Erfahrungen zu machen und die am liebsten wahre Sätze finden möchten, aber am Ende des Prozesses doch nur den Dunst der allgegenwärtigen Konvention produzieren. Lesen und Schreiben haben auch (aber nicht nur) etwas mit einer – freilich unwillkürlichen – mimetischen Reaktion zu tun, die aus dem Schrecken, aus dem Unheimlichen herrührt, das dem Körper gegenübertritt und ins Denken, in den Text, in die Lebenswelt einfällt: Die Mimesis ans Verhärtete, ans Fremde, ans Andere und Unheimliche. Nietzsche fand für diese Abgrundstruktur den Begriff des Dionysischen und als „Schein des Scheins“ geschieht im Text ein Akt der Potenzierung. (Weshalb eben das mißlungene Buch impotent oder unfruchtbar ist. Je nach Lage.) Das eben ist gelungene Literatur: Sie will mehr als nur erzählen oder virtuos konstruieren.

Vor allem aber kommt in diesem Interview der Umstand zur Sprache, daß unter den Bedingungen eines postkonventionellen Erzählens im Rahmen eines Hyper-Realismus ein Roman verdeckt oder offen immer nach dem Grund von Autorinnenschaft bzw. von Autorenschaft fragt. Freilich ist es in der Literatur nicht neu, daß eine Romanfigur ihrem Schöpfer gegenübersteht. Doch in dem Roman „Aléas Ich“ geschieht dies auf eine Weise, wie es so bisher in der Literatur nicht vorkam. Der Schöpfer, die Schöpferin selbst sind als Instanz fragwürdig geworden und das heißt: in Frage gestellt. Politik der Identität: Was heißt es, eine Autorin, ein Autor zu sein? (Dies muß ebenso im Hinblick auf das Spiel und die Maskeraden des Geschlechts, auf das ich wert lege, gefragt werden.)

Ebenfalls berührt dieses Interview die moralischen Fragen, die sich an ein solches Spiel zwischen Blogwelt, Lebenswelt, Geschlecht und Literatur anknüpfen und die in dem Ton des „Darf die/der das“ mit leichter Empörung vorgetragen werden. Sind das Täuschungsversuche? Aléa Torik formuliert es in diesem Interview folgendermaßen:

„Wenn man in meinem Blog einen Text liest, passiv rezipiert, oder einen Kommentar abgibt, sich aktiv einmischt, dann erreicht man nicht die authentische Autorin. Aber wo steht, in welcher Netiquette, dass man – sei es in der U-Bahn oder sei es im Netz – mit sich identisch sein müsste? Nirgends. Hintergeht man die Menschen, die potentiellen Kommentatoren eines Blogs, wenn man nicht der oder die ist, die man zu sein vorgibt? Oder hintergeht man die Menschen, wenn man ihnen vorspielt, dass man der ist, als der man sich darstellt?“

Moral aber hat in der Kunst nicht viel zu suchen. Genau dies ist vielmehr der Aspekt, auf den es in jenem Diskurs über die Identität ankommt, in Absetzung zu eben jener Moralisierung von Kunst und Ästhetik: Virtualität und verschriftlichte Inszenierung, die simuliert, daß da hinter dem Bildschirm, hinter dem Pixelbild, hinter Autor und literarischer Figur ein lebendiger Körper vor dem Leser sich befindet, sind die Weisen, in denen die Kommunikation des Internets und auch die Arbeitsweise der Literatur abläuft. Was ist Authentizität? Einer spielt den Dandy, einer macht auf schlau, eine anderer gibt sich als Kennerin des Internets oder als Feministin aus. Ist es so, ist es anders? Keiner stößt sich daran. Unbesehen nehmen wir diese Spiele für wahr. Manche Spiele sind es, andere sind inszeniert. Die Welt der Social Media ist eine gigantische Wunschmaschine. Im guten wie im schlechten. Wenn aber auf den Grund dieses Spiels vorgestoßen wird, wie es Aléa Torik mit ihrem genialen Blog – und erweitert dann in ihrem Roman – tat, indem sie nach den Modi der Authentizität fragt und diese zugleich verwischt und ins Schwimmen bringt, dann kommt bei einigen die Empörung und die Wut. Viel interessanter aber als diese Wut selber ist es, danach zu fragen, was diese Wut erzeugte und motiviert: Man muß diese Wut beim Wort nehmen.

Aléa Torik wies zudem auf den interessanten Umstand hin, daß auf Blogs, die sich hauptsächlich mit Netzliteratur bzw. mit dem Verhältnis von Literatur und Internet befassen, nichts oder kaum über diesen Roman geschrieben wurde. Wir können dieses Schweigen damit erklären, daß in der Bloggosphäre ein paar persönliche Verquickungen herrschen: Da schreibt eine, deren Literaturbegriff über Theodor Fontane nicht hinauskam und für die vermutlich selbst das Spiel der Geschwister Brontë intellektuell unverständlich erscheint, dem einen und auch dem anderen eine Mail usw. und schwups und haste-nicht-gesehen ist jemand aus der Autorenliste oder aus dem Raum der Diskussion in bestimmten Literaturblogs verschwunden. So geht das manchmal: Der Literaturbetrieb im Netz ist nicht viel anders als der offizielle, vom Feuilleton beglaubigte, in den jede/r am Ende hinein möchte. [Dies ist in der Philosophie übrigens nicht sehr viel anders.] Doch über diesen Umstand zu klagen, ist sinnlos und kontraproduktiv.

Ein Text – egal ob es sich um einen literarischen oder einen philosophischen handelt – wird von verschiedenen Bedingungen getragen: Bedingungen, über die niemand Herr ist und die von keiner Instanz kontrolliert werden können. Manche dieser Bedingungen bleiben sogar vollständig im Unlesbaren. Insofern gibt es nicht den Text als Singular, der als freischwebende Instanz, unverdorben, rein und statisch in seinen Buchstaben unter oder am ewigen Ideenhimmel hängt, wie manche/r in einem verkürzen Begriff von Derridascher Textualität annehmen. Sondern vielmehr schreibt sich jeder Text von einem Ort oder von verschiedenen Orten her, von einem Körper, von einem Ereignis, von einer Identität her, die nicht mit sich selber identisch sein muß. Diese disparaten Elemente strukturieren oder, etwas weniger emphatisch formuliert, beeinflussen den Text und entziehen sich zugleich der Lesbarkeit. Oder aber es wird in solchen Texten, wie im Falle der beiden Romane von Aléa Torik, die Frage nach der Identität Bestandteil des textuellen Spiels.

In wessen Namen signieren wir einen Text, unseren Text? Was ist der Schauplatz der Schrift? Es sind dies Fragen, die wir (über das Ereignis Freud hinaus und auch über den Begriff der empirischen Instanz des Autors als Schreibfaktum) als eine Frage der Signatur und der Inschriften stellen können.

Für alle, die sich jedoch mit Literatur, mit Theorie, mit dem Medium Internet jenseits des Twittergefasels, mit der Frage nach der Bedeutung und der Identität befassen, ist dieses Interview auf „Aboutsomething“ ungemein erhellend. Es ist klug geführt, und sehr anschaulich, aber dennoch nicht unterkomplex wird die Arbeit einer Schriftstellerin vorgeführt. Zentral bleibt – für Leserin und Autorin – die Frage: „Was ist ein Autor?“ Dies schließt auch die Frage nach dem Geschlecht mit ein.

Texte und Gewebe, und dahinter. Die Schleier. Die Auslegung des Buches, die Lektüre der Schrift

Eine Kunstkritik im Sinne der literarischen, der deutschen Romantik? Zumindest heute ein Tag ohne Heideggers Verstrickungen. Text und Lektüre als Dekonstruktion und als Wirken des Werkes – freilich nicht im Sinne einer Rezeptionsästhetik.

Daß ausgerechnet ein Philosoph und Theologe mit dem Namen Friedrich Schleiermacher als Begründer der modernen Hermeneutik genannt wird, erscheint sinn- und geistreich: der Name ist ein Zeichen. Aber ich werde sicherlich nicht der erste gewesen sein, der dieses Spiel mit dem Namen, zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion treidelnd, entdeckte. Für manche mag im Hinblick auf die Lektüre von Texten bzw. von Kunst jener Satz aus Goethes Faust Richtigkeit beanspruchen: „Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch.“ Wenn man freilich Gefühl mit phronesis paart und ein Gespür für die Strukturierung, das Spielen und Schimmern des Textes aufbringt, mag der Satz Goethes sogar stimmen. Andererseits läßt sich – manchmal auch im Sinne der Onomatopoesie – das Wesen ebenso aus dem Namen lesen. Es verweist der Eigenname auf den Wiederspruch bzw. die Aporie: daß es im Feld der Auslegung kein Ende des Textes gibt, daß sich die Schichten des Texten überlagern, überdecken, einander zudecken in den verschiedenen Weisen der Lektüre. Daß jegliche Lektüre die Schleier nicht nur produziert, sondern fortwebt und als Geflecht und Spiel und Spur der Schleier diese potenziert. Stéphane Mallarmé Würfelwurf. „Toute Pensée emet un Coup de Dés“

Dieser Umstand der Schichtungen und der Umschriften bedeutet nicht, daß – ganz im Sinne des Diskurses der Hermeneutik – jegliche Auslegung vorläufig und tentativen Charakters sei, wenngleich die Wahrheit der Hermeneutik ebenso wenig abstrakt zu negieren sei, wodurch wir ins Schema der Oppositionsbildungen verfielen, sondern jegliche Auslegung ist Teil eines umfangreichen Textes. Vergleichbar vielleicht mit dem Talmud oder einem unendlichen Kommentar. Samt der Kritik. Aber solche Kritik des Kunstwerkes ist im Sinne von Walter Benjamin konzipiert; überspitzt formuliert, schreibt Benjamin die romantische These der Schlegelschen Romantik fort, daß das Kunstwerk durch die Kritik nicht nur ergänzt, sondern in der Bewegung der kritisch-sichtenden Annäherung sogar erst „eigentlich“ zu einem Kunstwerk würde – zu fragen bleibt dabei freilich, ob dies eine (asymptotische) Annäherung an ein Ideal bleibt, oder ob bereits die Bewegung des Asymtotischen das Werk selber bedeutet. Die Kritik selber ist ein Kunstwerk, zumindest dann, wenn sie sich ans Werk schmiegt, sich ihm hingibt, sich ihm über-läßt.

Walter Benjamin schreibt in seinem Text über Goethes „Wahlverwandtschaften“:

„Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt. Das Verhältnis der beiden bestimmt jenes Grundgesetz des Schrifttums, demzufolge der Wahrheitsgehalt eines Werkes, je bedeutender es ist, desto unscheinbarer und inniger seinem Sachgehalt gebunden ist.“

Insbesondere im Hinblick auf das (fundierte) ästhetische Urteil, das nicht bloß im Gefällig-Gefühlten „Find-ick-jut“ des Kunstschlürfens sich erschöpft, ist dieser Text Benjamins bedeutsam. Aus diesem Grunde auch wählte Benjamin das Eingangszitat zu seinem  Text klug: „Wer blind wählt, dem schlägt Opferdampf in die Augen.“ (Klopstock) Allerdings weist diese Eröffnung in seiner Geste bereits in mehrere Richtungen, denn auch die Liebe scheint manchmal ein seltsames Spiel, wie schon der deutsche Schlager wußte. Sie geht von einem zum anderen. Die Frage der Wahl bleibt kompliziert. Eine absolute Theorie, eine absolute Begründung gibt es nicht. Wie es keinen absoluten Text gibt. Aber es gibt Texte. Viel, ineinander geknäult. Verschlungen, als Gift und als Heilmittel träufeln sie in die Augen. Im Zwischenraum der weißen Flächen.

„Ein Text ist nur dann ein Text, wenn er dem ersten Blick, dem ersten, der daher kommt, das Gesetz seiner Zusammensetzung und die Regel seines Spiels verbirgt. Ein Text bleibt im übrigen stets unwahrnehmbar. Nicht, daß das Gesetz und die Regel Unterschlupf fänden im Unzugänglichen eines Geheimnisses – sie geben sich schlechthin niemals preis: der Gegenwart, einem solchen, das man in strengem Sinne eine Wahrnehmung nennen könnte.

In der Gefahr, stets und wesensmäßig, derart endgültig verlorenzugehen. Wer wird je um ein solches Verschwinden wissen?

Die Verschleierung der Textur kann durchaus Jahrhunderte erfordern, ihr Gewebe (toile) freizulegen. Gewebe umhüllendes Gewebe. Jahrhunderte, das Gewebe freizulegen. Es also einem Organismus gleich wiederherstellend. Endlos sein eigenes Weben (tissu) registrierend hinter der schneidenden Spur, Dezision einer jeden Lektüre. Der Anatomie oder Physiologie einer Kritik immer eine Überraschung vorbehaltend, die glaubte, Herr des Spiels zu sein, alle Fäden davon zugleich zu überwachen, sich so dem Trug hingebend, den Text erblicken zu wollen, ohne daran zu rühren, ohne an den ‚Gegenstand‘ Hand zu anzulegen, …“ (Jacques Derrida, Platons Pharmazie)

Der oder die erste, die daherkommt. Die erste, die den Text erblickt, ihn anblickt und damit in eine Form des Lebens bringt. Und es bleibt als Risiko der Lektüre immer: das Verschwinden, das Nichts. Als Spiel einer differánce. Ursprünglich, einschneidend, aber ohne Zentrum. Ich imaginiere den Rauch der Zigaretten. Es gibt keinen Herrn des Spiels und keine Frau des Spiels. Nō -Theater. Der Text verbirgt sein Antlitz. Darin liegt seine Stärke. Jeder Text ist unendlich mehr als seine Schöpferin oder sein Schöpfer. Die Utopie der Erkenntnis wäre das Intentionslose, das dennoch nicht gleichgültig bleibt und im Belieben steht, in einer Anordnung von Epitaphen und Texten aufzutun.

„Ein Würfelwurf niemals wäre er auch geworfen unter ewigen Sternzeichen aus der Tiefe eines Scheiterns niemals auslöschen wird den Zufall“ (St. Mallarmé)

Out of limits: die Rahmen des Logozentrismus, die Überwindung der Metaphysik – Lektüren Derridas (3)

I. Nach der Moderne

Innerhalb jenes Rahmens der europäischen Philosophie, den Derrida als die Epoche der Metaphysik ansetzt, also seit der Philosophie Platons, wirkt ein Zentrum, ein Punkt der Präsenz und strukturiert, ohne dabei selber in den Blick zu gelangen.

„Die Struktur oder vielmehr die Strukturalität der Struktur wurde, obgleich sie immer schon am Werk war, bis zu dem Ereignis, das ich festhalten möchte, immer wieder neutralisiert, reduziert: und zwar durch einen Gestus, der der Struktur ein Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung beziehen wollte. Dieses Zentrum hatte nicht nur die Aufgabe, die Struktur zu orientieren, in Gleichgewicht zu bringen und zu organisieren – es läßt sich in der Tat keine unorganisierte Struktur denken –, sondern es sollte vor allem dafür Sorge tragen, daß das Organisationsprinzip der Struktur dasjenige in Grenzen hielt, was wir das Spiel der Struktur nennen können. Indem das Zentrum einer Struktur die Kohärenz des Systems orientiert und organisiert, erlaubt es das Spiel der Elemente im Inneren der Formtotalität. Und noch heute stellt eine Struktur, der jegliches Zentrum fehlt, das Undenkbare selbst dar.“ (Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen, S. 422, in: Die Schrift und die Differenz)

Das Zentrum, der Ursprung besitzen eine regelnde, leitende als auch konstituierende Funktion, bleiben als blinder Fleck jedoch gleichzeitig leer. Exemplarisch ließe sich das an Kants transzendentalem Subjekt zeigen. Dieses ist bei Kant jedoch nicht nur im Sinne der „ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption“ zu fassen, wie im § 16 der K.d.r.V. entwickelt, sondern zugleich als eigentliches Selbst, wie es an sich existiert; also ein „Grenzbegriff (…), der jeder Bestimmbarkeit durch die Erfahrung entzogen bleibt.“ (Hist. Wörterb. d. Phil. Bd. 10, Sp. 399) Gleichzeitig bleibt dieser Begriff bei Kant eigentümlich leer, es ist ein bloßer Konstitutionsbegriff: Das Selbstbewußtsein wird sich erst in der Philosophie Hegels zu einem komplexen Zentrum entfalten, so daß Form und Inhalt ihren adäquaten Ausdruck finden.

Es spielen diese Sätze Derridas möglicherweise auch auf Foucault „Die Ordnung der Dinge“ an, wo es in der einleitenden Analyse von Velázquez‘ „Las Meninas“ um eine Achse der Blicke und die Frage des Zentrums geht (beide Texte erschienen 1966), und es sind diese Sätze Derridas zugleich Passagen, die den Strukturalismus als herrschende Strömung der französischen Philosophie auf einen Punkt zusammenfassen: „das Spiel der Elemente im Inneren der Formtotalität“, was man einerseits als kreative Permutation, andererseits aber auch als mechanistisches Geklapper des Strukturalismus ansetzten kann. Mit dieser Anwesenheit und dem Zentrum ist jedoch zugleich der Gegenpart konnotiert: Die Abwesenheit, jenes nicht mehr da, der Verlust (des Zentrums), aber auch Formen der Aneignung, der Enteignung (durch die Schrift) und des Begehrens, und so kreuzen sich im Text Derridas zuweilen philosophische, literarische und psychoanalytische Bestimmungen.

In diese Opposition, gleichsam als Leerstelle, die nicht vermittelt, sondern im Modus des Aleatorischen verfährt, schiebt sich das Spiel, welches, sozusagen verborgen wirkend, dezentriert. Inspiriert ist dieses Spiel bei Derrida einerseits durch Nietzsche, auf den Derrida sich in jenem Text über den Begriff der Bejahung explizit bezieht, aber auch durch Mallarmés Gedicht „Un coup de dés …“/“Ein Würfelwurf niemals auslöschen wird den Zufall.“ Die Strategie Derridas ist es, jedes Denken von Präsenz, jede Zentrierung und Fixierung darauf hin zu lesen, wo das Zentrum überbordet, es zu überführen, indem die Lektüre zeigt, daß dieses Zentrum nicht das ist, was es zu sein vorgibt – es seines illusionären Charakters zu überführen.

„Das Spiel ist Zerreißen der Präsenz. Die Präsenz eines Elementes ist stets eine bezeichnende und stellvertretende Referenz, die in einem System von Differenzen und in der Bewegung einer Kette eingeschrieben ist. Das Spiel ist immerfort ein Spiel von Abwesenheit und Präsenz, doch will man es radikal denken, so muß es der Alternative von Präsenz und Abwesenheit vorausgehend gedacht werden. Wenn Lévy-Strauss, besser als irgendein anderer, das Spiel der Wiederholung und die Wiederholung des Spiels sichtbar werden läßt, so nimmt man bei ihm doch eine Art Ethik der Präsenz, Heimweh nach Ursprung, nach der archaischen und natürlichen Unschuld, nach einer Reinheit der Präsenz und dem Sich-selbst-Gegenwärtig-sein in der Rede wahr. (…)

Der verlorenen oder unmöglichen Präsenz des abwesenden Ursprungs zugewandt, ist diese strukturalistische Thematik der zerbrochenen Unmittelbarkeit also die traurige negative, und nostalgische, schuldige und rousseauististische Kehrseite jenes Denkens des Spiels, dessen andere Seite Nietzsches Bejahung darstellt, die fröhliche Bejahung des Spiels der Welt und der Unschuld der Zukunft, die Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist. Diese Bejahung bestimmt demnach das Nicht-Zentrum anders denn als Verlust des Zentrums. Sie spielt, ohne sich abzusichern. Denn es gibt ein sicheres Spiel: dasjenige, das sich beschränkt auf die Substitution vorgegebener existierender und präsenter Stücke. Im absoluten Zufall liefert sich die Bejahung überdies der genetischen Unbestimmtheit aus., dem seminalen Abenteuer der Spur (l‘aventure séminale de la trace). (Derrida SuD, S. 441)

Dieses affirmative Moment findet sich – über Nietzsche – in der französischen Philosophie des sogenannten Poststrukturalismus vielfach: sei es bei Foucault („fröhlicher Positivismus“), bei Deleuze, der in seinem Nietzsche-Buch explizit gegen Hegel und die Dialektik arbeitet, bei Lyotard („Affirmative Ästhetik“) bis hin zu Derrida, der eine vorbehaltlose große, allerdings auch maliziöse Bejahung der Hegelschen Philosophie betreibt, so u.a. in seinem Text über Bataille. Diese Affirmation ist einerseits zwar als Gegenbewegung zur Dialektik bzw. zur teleologischen Konzeption Hegelscher Geschichtsphilosophie zu lesen. Aber Derrida ist reflektiert genug, dabei nicht stehenzubleiben.

Das Nietzscheianische große Lachen, assoziiert mit dem spielenden Kind des Heraklit sowie dem Dioysischen, ist zugleich eines des Schauderns, es haftet im Mythos und hat viel mit dem zu tun, was Apollon dem Marsyas antat. Derrida dürfte derjenige sein, welcher dieses so grausame Wissen am ehesten in die Reflexion nahm. Das Denken der Gewalt spielt in der Philosophie Derridas eine zentrale Rolle, freilich ohne dabei auf eine Figur wie die vom Nomos des Lagers zu rekurrieren. Der Einsatz in diesem Spiel ist hoch und freigiebig, der Ausgang offen. Diese offene Ökonomie, welche der ästhetischen Moderne geschuldet ist, steht im Gegensatz zu einer beschränkten Ökonomie, die ihren Einsatz strategisch genau plant. (Adorno und Horkheimer prägten dafür den Terminus der instrumentellen Vernunft.) Derrida stellt diese Modelle von Ökonomie – etwa im Hinblick auf Hegels Figur der Aufhebung – in seiner Bataille-Lektüre dar. Interessant wäre es, im Zusammenhang mit der Ökonomie der Gabe, die sich vorbehaltlos gibt und nichts zurückbehält, an diesen Stellen mit Baudrillards „Der symbolische Tausch und der Tod“ gegenzulesen. Aber diese Lektüre liegt zu weit zurück, um das hier leisten zu können.

II. Heideggers Moderne – Dekonstruktion

In Derridas Sicht sind die Begriffe Zentrum und Präsenz durchzustreichen, umzupolen und gegenzulesen (wofür dann der Begriff der Dekonstruktion steht), und zugleich lassen sie sich nicht ohne Umstände durchstreichen oder aufheben. Das Denken des Anderen kommt, um es analog zu Hegels Begriff des absoluten Wissens in der „Phänomenologie“ zu formulieren, nicht aus der Pistole geschossen. Von der Struktur in Derridas Text her, die dann in der Différance kulminiert, verhält es sich wie bei Heideggers durchgestrichenem Begriff vom Sein. Heidegger versucht zwar, so Derrida, in seiner Philosophie die Metaphysik und das daran gekoppelte Denken von Einheit sowie die konventionelle Vorstellung von Subjekt/Objekt zu „entwinden“. Insofern ist Heidegger – wie auch Adorno, wenngleich in einer völlig anderen Weise – bereits ein Philosoph, welcher dem Denken der „Differenz“ zuzuordnen ist. (Paradigmatisch ließen sich für die Leserinnen und Leser, welche diese Dinge auch im Rahmen der Diskussion um die Postmoderne weiterlesen möchten, hier Heideggers zwei Aufsätze aus „Identität und Differenz“ zugrunde legen. In diesem Kontext kann man das dann mit Gianni Vattimo „Das Ende der Moderne“ weiterlesen. Es findet sich bei Vattimo ein Postmoderne-Bezug, der explizit auf Nietzsche und Heidegger fußt.)

Doch auch Heideggers Metaphysikkritik bleibt im Bann des Logozentrismus stecken, so Derrida. Die „Verwindung“ der Metaphysik – als Gegenwort zur Überwindung konzipiert, das die Opposition unterlaufen soll – gestaltet sich schwierig.

„Der Logozentrismus ginge also mit der Bestimmung des Seins des Seienden als Präsenz einher. Auch im Denken Heideggers fehlt dieser Logozentrismus nicht ganz: er hält es vielleicht noch in der Epoche der Onto-Theologie, jener Philosophie der Präsenz: eben der Philosophie, gefangen. Das könnte bedeuten, daß man aus einer Epoche, deren Abschluß (clôture) umrißhaft sich bereits abzeichnen läßt, doch nicht herauszutreten vermag. Die Bewegung der Zugehörigkeit oder der Nicht-Zugehörigkeit zu einer solchen Epoche sind zu subtil, die damit verbundenen Illusionen zu verführerisch, als daß sich hier eine Entscheidung treffen ließe.“ (Derrida, Grammatologie, S. 26 f.)

Derrida betreibt hier einerseits dieselbe Bewegung, die Heidegger bereits gegenüber Nietzsches Text unternommen hat: Nietzsche Philosophie bewegt sich insofern noch innerhalb der Metaphysik, als er die Oppositionen lediglich umdreht: statt Geist(-Metaphysik) nun eine Philosophie der Leiblichkeit, die doch nur eine verdeckte Metaphysik des Körper unter umgekehrten Vorzeichen abgibt. Und auch jener „tiefste Gedanke“ der Philosophie Nietzsches (der von der ewigen Wiederkehr sowie daran gekoppelt das Konzept des Übermenschen), welchen er im „Zarathustra“ entfaltet, steckt von der Struktur und der Art des Fragens, so Heidegger, noch im Bann der Metaphysik, es ist der metaphysische Gedanke Nietzsches.

Heidegger gehört in der Lesart Derridas noch dieser Epoche zu, während Derrida andererseits im Text Nietzsches eine Struktur ausmacht, die in Zügen bereits den Gegensatz dekonstruiert bzw. subtil hintertreibt. Diese Vielfalt im Text Nietzsches, welche sich in der Vielstimmigkeit äußert und sich über über Nietzsches Stile inszeniert, entfaltet Derrida in seinem Aufsatz „Sporen. Die Stile Nietzsches“, etwa anhand der Begriffe „maskulin/feminin“, über das Spiel der Schleier, das In-Szene-Setzen der Wahrheit.

„Mit der Radikalisierung der Begriffe der Interpretation, der Perspektive, der Wertung, der Differenz … sollte Nietzsche, ohne einfach (mit Hegel und wie Heidegger es möchte) innerhalb der Metaphysik zu bleiben, entscheidend zur Befreiung des Signifikanten aus seiner Abhängigkeit, seiner Derivation gegenüber dem Logos, dem konnexen Begriff der Wahrheit oder eines wie immer verstandenen ersten Signifikats beigetragen haben.“ (Gr. S. 36)

Andererseits sieht Derrida die Grenzen und die Schwierigkeit eines solchen unmittelbaren und dadurch lediglich postulierten Überstiegs. Es gibt kein Draußen. Der Immanenzzusammenhang ist bei Derrida total. Allenfalls finden sich minimale Sprünge und die Falten, welche sich auftun und in denen textuelle Operationen, Lektüren möglich sind. Das anfangs postulierte Spiel weicht bei Derrida zunehmend der Skepsis: denn es kann in der restlosen Verausgabung alles verloren gehen. Dieses die Denkstrukturen von Philosophie und Gesellschaft konstituierende Paradigma der Einheit als Anwesenheit und erfüllte Präsenz ist nicht per ordre abzuschaffen. Insofern plädiert Derrida zunächst für eine Form von Unentscheidbarkeit und für eine gleichsam partisanenhafte Teilhabe, die subtil unterminiert. („Die Bewegung der Zugehörigkeit oder der Nicht-Zugehörigkeit zu einer solchen Epoche sind zu subtil, die damit verbundenen Illusionen zu verführerisch, als daß sich hier eine Entscheidung treffen ließe.“) Insofern ist auch für Derrida die Moderne ein unvollendetes Projekt.

Die Moderne Heideggers hingegen ist die von Adalbert Stifter, der Jargon von Feldwegen. Agrarontologie. (Freilich entbindet das nicht von seiner Philosophie. Wie ich es oft betonte: man muß Heidegger gegen Heidegger lesen, und ich hoffe, daß ich hier im Blog irgendwann zu einer Heideggerlektüre komme.)

Wogegen sich Derridas Kritik jedenfalls richtet, sind Oppositionsbildungen, welche in seiner Lesart Effekt einer bestimmten Denkstruktur, mithin Effekte dieser Metaphysik sind, und die Formen des Ausschlusses (re-)produzieren. Dem Bann ist nicht einfach zu entkommen; es bedarf der Strategien und der Praktiken. Und insofern ist der Einwand, daß es sich bei Derridas Verfahren um eine Praktik handelt, die in ihrem textuellen Vollzug an den Modus des Ästhetischen gekoppelt ist, das aber gerade in diesem Vollzug seinen Eigenwert als Ästhetisches (und in seiner Reflexionsform als Ästhetik) nicht mehr behält, sondern in den Dienst genommen wird, nicht ganz falsch. (Siehe etwa bei Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst, und Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels).

Es geschieht solcher Überstieg im Text Derridas durch die Art des Schreiben, gleichsam vermittels des Stils. Solche Umpolung der Philosophie, und wenn man will, kann man es auch Kritik der Philosophie nennen, bedeutet freilich nicht, daß diese zu einem literarischen Genre sich transformiert; vielmehr thematisiert Derrida implizit und immer wieder in neuen Anläufen die Frage nach der Grenze. „Die Postkarte“ etwa funktioniert ein wenig, wie jene Wittgensteinsche Kippfigur des Hase-Entenkopfs. In diesem ästhetischen bzw. teils literarischen Moment mag auch einer der Gründe dafür liegen, daß es bei Derrida insbesondere in jenen Texten interessant wird, wo er nicht das „Programm“ der Dekonstruktion aufzeigt, sondern wenn er etwa Nietzsche, Celan, Kant, Kafka, Marx, Freud oder Benjamin liest. Dort eben, wo das Verfahren Derridas als Text praktiziert wird und anhand eines anderen Textes sich Passagen öffnen, wo Begriffe und Figuren in Bewegung oder in eine ungewöhnliche Konstellation geraten.

„Die Dekonstruktion besteht nicht darin, von einem Begriff zu einem anderen überzugehen, sondern darin, eine begriffliche Ordnung ebenso wie die nicht-begriffliche Ordnung (Herv. v. Bersarin), an der sie sich artikuliert, umzukehren und zu verschieben.“ (Signatur Ereignis Kontext, in: Randgänge, S. 314)

Mit der Kritik des Logozentrismus, den Derrida als Metaphysik der phonetischen Schrift (bspw. der Buchstabenschrift) konzipiert, ist allerdings keine Kritik abendländischer Philosophie im Sinne von Ludwig Klages gemeint, der mit dem Begriff „logozentrisch“ eine lebensfeindliche Geistigkeit kritisiert, die „das Leben im Geiste zu binden“ versuche (zit. nach Hist. W. d. Phil., Bd. 5, Sp. 502) und die es in einem Konzept von Einheit zu überwinden gelte. Solche Ursprünglichkeiten und Einheitssubreptionen bzw. den Schein der heilen Welt kritisieren Derrida wie auch Adorno massiv. Interessant – als Nebensatz formuliert – mag dabei sein, daß sich auch Klages mit der Schrift beschäftigte, allerdings geschieht dies bei ihm in der psychologistischen Variante der Graphologie.

Sagt man Derrida zwar ein gewisses Raunen nach (wie es Habermas in „Der philosophischen Diskurs der Moderne“ formuliert), so ist dieser Modus des Schreibens aber nicht im Irrationalen oder Prärationalen gegründet wie bei Klages, sondern funktioniert als Strategie des Schreibens. Es wird bei Derrida nicht umstandslos ein Anderes als Besseres oder Rettendes supponiert, an dessen Ort es Zuflucht gäbe. Die Skepsis Derridas ist dahingehend radikal, weshalb seinen Text zuweilen ein melancholischer Ton durchzieht. Rettung und Utopie sind bei Derrida schwarz verhüllt. Und anders als bei Adorno gibt es eine Utopie womöglich nicht einmal mehr. Was bleibt sind Formen des Spiels.

Auch wenn die Waffe der Kritik, die in Derridas Text durchaus steckt, dadurch womöglich stumpf zu werden droht und man hierbei auch eine Strategie der Entschärfung sehen kann, so überzeugen mich Derridas programmatischen, generalisierenden Überlegungen, die er in der „Grammatologie“ vornimmt, eher im Hinblick auf eine ästhetische Lesart, insbesondere in bezug auf seinen Begriffes von Schrift.

Wieweit Derrida diese (Re-)Produktion des Ausschlusses ökonomisch fundiert bzw. von seiner Theorie her überhaupt fundieren kann und diese Struktur nicht nur als – sozusagen – Funktionen des Überbaus sieht, ohne dabei die materiellen Bedingungen, die Produktionsbedingungen einer Gesellschaft in den Blick zu bekommen, müßte man im Hinblick auf Derridas Begriff von Ökonomie betrachten. Derridas Begriff von Schrift macht es im Hinblick darauf selbst dem wohlwollenden Leser nicht immer ganz einfach.

„… daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei.“ ( Zur Kritik der Politischen Ökonomie, S. 8, in: MEW 13,)

Auch der Begriff der Ökonomie bei Derrida scheint mir eher am Modus des Ästhetischen orientiert zu sein und insbesondere im Zusammenhang mit Texten zu funktionieren, was jedoch nicht bedeuten muß, auf ein Zusammen- aber auch ein Gegenlesen mit dem Text von Marx, mit der Kritik der Politischer Ökonomie zu verzichten.

Zur „Grammatolgie“ – Lektüren Derridas (2)

Bezüglich Derridas Philosophie, die zuweilen unter dem Begriff der Dekonstruktion gefaßt wird, was diese Philosophie freilich unzureichend charakterisiert, läßt sich zunächst festhalten, daß es bei Derrida kein Hauptwerk in einem klassischen Sinne gibt. Seine zahlreichen kurzen oder längeren Texte stehen (meist) im Bezug zu anderen Texten – und sei dies der Großtext der abendländischen Metaphysik. Es werden in diesen Lektüren bestimmte, für Derrida zentral erscheinende Passagen gegengelesen und dabei Aspekte gesichtet, die abseits vom Strom des eigentlichen Textes liegen – Nebenaspekte, die sich bei genauer Lesart für Derrida nicht als nebensächlich erweisen, sondern das verborgene Zentrum eines Textes und zuweilen sogar das seiner Epoche bilden, von dem aus eine Sicht erfolgt, ohne daß dieser Punkt selber in den Blick gelangen kann.

In der „Grammatologie“ unternimmt Derrida eine solche Lektüre einerseits anhand des Begriffs der Humanwissenschaften, indem er fragt, wie sich der Diskurs über das Humane konstituiert und wie es um das Verhältnis von Sprache und Schrift bestellt ist. Grob gesprochen geht es um den Gebrauch des Zeichens „Mensch“. Eine solche zukünftige Lehre der Schrift wird als Grammatologie konzipiert.

„Die Konstituierung einer Wissenschaft oder einer Philosophie der Schrift ist ein notwendiges und schwieriges Unterfangen. Aber ist man einmal bis zu diesen Grenzen vorgestoßen und geht sie unermüdlich wieder an, dann muß ein Denken der Spur, der *Differenz und des Aufschubs einmal auch über den Bereich der episteme hinausreichen.“ (J. Derrida, Grammatologie, S. 169 f., Ffm 1983)

Diese „Grammatologie“ stellt Derridas umfangreichstes und sein wohl systematischstes Werk dar. Es werden darin die auf vielfache Weise verschränkten Aspekte des Eurozentrismus, der Präsenz, der Metaphysik und das Denken der différance, die dort noch unübersetzt *Differenz heißt, ausgeführt werden. Wesentlich ist ihm ein Denken der Schrift, das den Rahmen der Wissenschaft, den der Metaphysik übersteigt.

„Die Schrift ist die Bedingung der episteme, ehe sie ihr Gegenstand ist; (…)

Die Wissenschaft von der Schrift hätte also ihren Gegenstand an der Wurzel der Wissenschaftlichkeit zu suchen. Die Geschichte der Schrift hätte auf den Ursprung der Geschichtlichkeit zurückzugehen. Wissenschaft von der Möglichkeit der Wissenschaft? Wissenschaft von der Wissenschaft, die nicht mehr die Form der Logik, sondern die von der Grammatik besäße? Geschichte von der Möglichkeit einer Geschichte, die nicht mehr Archäologie, Philosophie der Geschichte oder Geschichte der Philosophen wäre?“ (Grammatologie, S. 50)

In seiner Weise knüpft Derrida einerseits an die Kantische Frage aus der „Kritik der reinen Vernunft“ nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen an, und die Ausführungen des 2. und 3. Kapitels der Grammatologie stellen in diesem, man kann fast sagen transzendentalphilosophischen Sinne systematische Überlegungen dar, wie eine künftige Wissenschaft von der Schrift wird auftreten können. Er entwirft Züge dieser Wissenschaft mit Ausflügen in die Ethnologie, die Psychoanalyse, die Linguistik und die Zeichentheorie. Wobei – dies sei am Rande bemerkt – in der Lesart Derridas auch dieser Begriff von Wissenschaft Beschränkungen unterliegt. Es ist kein Begriff, der sich positiv fassen läßt. Und damit kommt andererseits jener Begriff des Überbordens einer Epoche ins Spiel, denn die Grammatologie ist die paradoxe Bewegung, innerhalb dieses Systems der Wissenschaften operieren zu müssen und zugleich diese zu überschreiten. Von dieser paradoxen Bewegung des Denkens Drinnen und Draußen zugleich zu sein, ohne dabei auf eine dialektische Struktur zurückzugreifen, welche hier vermittelt, werden fast alle Texte Derridas getragen. Es ist ein Denken an der Grenze. Es ist bei Derrida ein textuelles, teils vom Zufall gesteuertes Spiel, das sich in eine Leerstelle einschreibt und sich im Spannungsfeld und im Zwischenraum von Schrift (Schreiben) und Wissenschaft austrägt. In der „Grammatologie“ verfährt Derrida jedoch noch weitgehend diskursiv und hält das überbordende Spiel durch dieses gleichsam transzendentale und explikative Moment im Zaum.

In dieser Entwicklung von Theorie zeichnen sich, so Derrida, „Umrisse einer Grammatologie ab, von der sich sagen läßt, daß sie ihren Leitbegriff nicht mehr den Humanwissenschaften oder, was nahezu auf dasselbe hinausläuft, der traditionellen Metaphysik entnimmt.“ (S. 148) Denn die Frage nach dem Zeichen „Mensch“ muß anders ausformuliert werden, und es müssen für diese „Verwindung“ der Epoche neue Begriffe gefunden bzw. die überkommenen strategisch besetzt werden. Einer der Gründe, diese Epoche der Metaphysik zu verwinden, und hier liegt sicherlich der Aspekt, von wo die Philosophie Derridas ihr politisches Motiv bezieht, ist die grundsätzliche Gewalttätigkeit, das Gewaltverhältnis, das diesen Diskurs der Metaphysik resp. des metaphysischen Denkens prägt. Ein Humanismus, welcher das Andere in den Bereich des Eigenen überführt, aneignet und enteignet, stellt einen Begriff dar, welchen es zu überwinden gilt. Aber nicht einfach im Akt bloßer Entgegensetzung. Fast dialektisch läßt sich sagen, daß ein solcher Humanismus seinem eigenen Begriffe bzw. seinem Ansinnen widerspricht und deshalb auf seine Grundlagen und seine Ansprüche hin befragt wird. Insofern meint „Dekonstruktion“ zugleich eine Auseinanderlegung bzw. Analyse von Begriffen, so daß diese eine andere Fahrt- und Stoßrichtung erhalten.

Eine solche Lektüre der Umpolung, die zugleich diese (notwendige) Gewalt aufzeigt, geschieht in der „Grammatologie“, etwa wenn Derrida Rousseaus (relativ unbekannten) Aufsatz „Essai sur l‘origine des langues“ im Zusammenschluß mit den Texten des Ethnologen Lévi-Strauss liest, um innerhalb beider Texte den Diskurs einer Humanwissenschaft nachzuweisen, die auf Strukturen von Ausschluß und des Ethnozentrismus im Sinne einer aufs Eigene gerichteten Kultur beruht. Insbesondere bei Lévi-Strauss zeigt Derridas Text, daß hier der Blick des rousseauisch durchdrungenen Europäers waltet. Rousseau und Lévi-Strauss sind im Diskurs der Authentizität (des Eigenen als Bei-sich-sein und Anwesenheit gedacht) Komplizen. Derrida führt dies exemplarisch etwa an Lévi-Strauss‘ Kapitel „Schreibstunde“ aus „Traurige Tropen“ vor.

Das läßt sich an folgender kurzen Passage aus „Traurige Tropen“ relativ paradigmatisch verdeutliche. In einer der nächsten Lektüren Derridas komme ich auf die Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss zurück, insofern ich es mir nicht anders überlege, denn der Gang des Begriffes ist in dieser Lektüre offen und kann genauso ganz fremde Bahnen nehmen. Da das Zitat der Illustration dient, spare ich die Vorgeschichte, die Lévi-Strauss dazu schreibt.

„Die Schrift hatte also bei den Nambikwara ihren Einzug gehalten (da der Ethnologe Stifte an die Nambikwara verteilt hat, Anm. Bersarin); aber nicht, wie man hätte annehmen können, am Ende eines mühsamen Lehrgangs. Sie hatten ihr Symbole entlehnt, während ihre Realität ihnen fremd blieb. Und zwar eher im Hinblick auf ein soziologisches als auf ein intellektuelles Ziel. Es ging nicht darum, etwas zu wissen, zu behalten oder zu verstehen, sondern darum, Prestige und Autorität eines Individuums – oder einer Funktion – auf Kosten der anderen zu vermehren. Ein Eingeborener, der noch dem Steinzeitalter anzugehören schien, hatte erraten, daß das große Verständigungsmittel, auch wenn er es nicht verstand, anderen Zwecken dienen konnte.“ (Traurige Tropen, S. 292 f., Fft/M 1989)

Viele dieser Kritikpunkte Derridas lassen sich zwar nachvollziehen, aber die „Grammatologie“ enthält trotz allem – insbesondere zum einleitenden Beginn – manche problematische Stelle, was unter anderem daran liegt, daß die Kritik Derridas als eine generalisierende, totalisierende auftritt. Als Stichworte hierzu seien Begriffe wie Logo- und Eurozentrismus genannt. Denn zur Disposition steht bei Derrida die Epoche der als Präsenz gedachten Metaphysik [das Sich-(selbst)-Vernehmen in der Stimme], welche er – analog zu Heidegger – von Platon bis Hegel und darüber hinaus reichen läßt. Derrida kritisiert eine Zeichenkonzeption, die der gesprochene Sprache (als phone, Stimme oder parole) gegenüber der Schrift als Abgeleitetem den Vorrang einräumt. Auch sein Konzept von Schrift ist zunächst ungewohnt und wird sich denjenigen, welche lediglich Passagen aus der „Grammatologie“ lesen, nicht erschließen.

Solchen Großtheorien begegnet man zunächst mit Vorsicht und Skepsis, zumal manches bei Derrida als Postulat und Proklamation auftritt. Form und Inhalt entsprechen hier nicht ganz dem notwendigen Stand und der erforderlichen Vermittlung, die in späteren Texten Derridas (aber auch schon in der Aufsatzsammlung „Die Schrift und die Differenz“) durchgeführt ist.

Es erweist sich zudem häufig als problematisch, etwas auf eine solche Art von Großkritik und Großgeschichte des abendländischen Denkens zu entgegnen. Andererseits ist es an den Details leicht, eine Widerlegungen solcher totalisierender Kritik zu bringen, weil sich in verschiedensten Texten immer Aspekte oder Passagen zeigen lassen, die einen anderen Blick öffnen und zum Text Derridas im Widerspruch stehen. Die Texte Hegels und auch der Romantik, insbesondere Novalis, aber auch der vormals brillante als Reaktionär endende Friedrich Schlegel, lassen sich stellenweise wie frühe Manifeste des Poststrukturalismus und verborgenes Denken der Differenz lesen. Man muß es dann nur noch freilegen.

Bei solchen Großtheorien, die aufs Ganze wollen, verhält es sich ähnlich wie in Heideggers Kritik der abendländischen Metaphysik als seinsvergessen oder – in ganz anderer Weise – wie bei den Kapiteln „Der Begriff der Aufklärung“ und „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ aus Adornos/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“, wo der Begriff Aufklärung über 2500 Jahre der Philosophie abdeckt. Wobei man hier festhalten muß, daß Adorno/Horkheimer ihren Text als „Philosophische Fragmente“ und als „Flaschenpost“ verstehen. Es handelt sich bei diesen Passagen sozusagen um Kulturdiagnosen, die aus einer Makroperspektive vorgenommen werden. Diese strukturiert sich naturgemäß anders als ein mikrologischer Blick oder als eine Detailuntersuchung des Historikers, des Sozialwissenschaftlers oder des Philosophen, der skrupulös vorgehend die Texte analysiert.

Ein weiterer Grund für das Befremden, was sich einstellt, wenn man die „Grammatologie“ heute liest, rührt – unter anderem – daher, daß manche dieser Fragestellungen und Probleme der 60er Jahre nicht mehr die von heute sind und Derrida insbesondere auf die seinerzeit in Frankreich herrschenden Diskurse reagiert, die in den 60er Jahren der BRD andere waren. Derrida bezog sich, so schriebt François Dosse in seiner „Geschichte des Strukturalismus“, auf eine inflationäre Flut von Schriften und Auseinandersetzungen zur Theorie der Sprache, insbesondere von Sprachwissenschaftlern, auf die Derrida als Philosoph reagierte. Und so unternimmt er insbesondere in der Grammatologie einen fast schon systematisch zu nennen „historischen Aufweis der Verdrängung der Schrift durch die abendländische Zivilisation zugunsten der phonè.“ (Dosse, Bd. 2, S. 41) Diesen Zusammenschluß von Zeichentheorie, Strukturalismus und Metaphysikkritik (vermittelt über Nietzsche, Freud, Heidegger) sollte man bei Derridas Begriff der Schrift im Hinterkopf behalten. Derrida versucht – eben als Philosophie und nicht als Linguist oder sprachanalytischer Philosoph – eine grundsätzlich wirkende, jedoch verdrängte Struktur freizulegen, die die abendländische Philosophie bestimmte bzw. bestimmt. Diese Schrift versteht Derrida nicht als die phonetische Schrift (etwa die Buchstabenschrift), sondern der Schriftbegriff umfaßt generell Zeichen und Ausdrücke des Graphischen. Hierunter fallen für Derrida Hieroglyphen genauso wie jene (für den Europäer zusammenhanglosen) Gravuren, welche die Nambikwara, fertigen.

Wenn man aber die Schrift nicht mehr nur in ihrer strengen Bedeutung linear und als phonetische Aufzeichnung begreift, dann muß es erlaubt sein, jede Gesellschaft, die in einer Lage ist, ihre Eigennamen hervorzubringen, das heißt auszulöschen und mit klassifikatorischen Differenzen zu spielen, als Gesellschaft zu bezeichnen, die die Schrift im allgemeinen praktiziert. Dem Ausdruck ‚schriftlose Gesellschaft‘ würde also weder realiter noch auf der Ebene des Begrifflichen etwas entsprechen. Dieser Ausdruck stellt vielmehr, indem er den vulgären, das heißt ethnozentrischen Begriff der Schrift mißbraucht, den ethnozentrischen Onirismus wieder her. Die Geringschätzung der Schrift, das sei am Rande bemerkt, paßt sich sehr wohl diesem Ethnozentrismus an. Wir bewegen uns in einem nur scheinbaren Paradox, in einem jener Widersprüche, in denen ein vollkommen kohärenter Wunsch geäußert wird und in Erfüllung geht. Mit ein und derselben Geste verachtet man die alphabetische Schrift, serviles Instrument eines gesprochenen Wortes, das seine Fülle und Selbstpräsenz erträumt, und verweigert den nicht-alphabetischen Zeichen die Ehre, überhaupt Schrift zu sein. Diese Geste können wir bereits bei Rousseau und Saussure feststellen.“ (Gramm. S. 192 f.)

Diese „Grammatologie“ tritt dabei – zunächst – als Wissenschaft von der Schrift bzw. als eine „Anspielung“ (S. 13) auf die Bühne. Wobei die Fesseln derselben an die Metapher, die Theologie, die Metaphysik nicht einfach abzustreifen sind. Sich ihrer zu entledigen kann nicht im Akt der bloßen Opposition erfolgen, sondern bedarf der Strategien. In späteren Werken wird Derrida häufig von der „Strategie der Dekonstruktion“ sprechen. In der „Grammatologie“ spricht er von diskreten und verstreuten Anstrengungen (S. 14). Insofern ist hier auch mein Hinweis auf eine Philosophie an der Grenze und am Rahmen zu verstehen:

„… die Geschichte der Metaphysik von Platon (über Leibniz) bis Hegel und, jenseits ihrer scheinbaren Grenze, von den Vorsokratikern bis Heidegger. Eine Geschichte, die trotz aller Differenz den Ursprung der Wahrheit im allgemeinen von jeher dem Logos zugewiesen hat. Die Geschichte der Wahrheit, der Wahrheit der Wahrheit ist, bis auf die verschwindende, aber entscheidende Differenz einer metaphorischen Ablenkung, immer schon Erniedrigung der Schrift gewesen, Verdrängung der Schrift aus dem ‚erfüllten‘ gesprochenen Wort.“ (Gram. S. 11 f.)

Daß dieser Prozeß nicht umkehrbar, sondern ein notwendiger ist und daß es keine Idylle vor dieser Epoche gab, wird Derrida nicht müde zu betonen. Es gibt keinen Ursprung, an den es zurück ginge. Was bleibt, ist die Erfahrung einer ursprünglichen Teilung, gewissermaßen ein nicht-ursprünglicher Ursprung, ein immer schon geteilter Ursprung, für welchen Derrida den Begriff der différance prägen wird, der die Projektionen omnipotenter Ganzheit und die Fixierungen aufbricht bzw. subtil hintertreibt.

Eve of Deconstruction? – Lektüren Derridas (1)

Wie anfangen?

Man muß irgendwo, an einer Stelle, an einem oder mit einem Punkt, anfangen. Es gibt keinen gerechten, keinen absoluten, keinen richtigen Anfang. Der Auftakt ist schwierig. Es ist – wie beim Spiel – zugleich eine Frage des Einsatzes. Hegel hat dieser Frage des Anfangs eine umfangreiche Einleitung zum Beginn seiner „Wissenschaft der Logik“ gewidmet: „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“

Nun geht es im Text Derridas jedoch nicht um Philosophie als System, welche in dieser Art auch gar nicht mehr möglich ist. Das, was sich dem System entzieht und trotzdem als Philosophie auftritt, darf oder muß deshalb aber noch lange nicht unsystematisch im Sinne von Beliebigkeit, Durcheinander oder Spielerischem verfaßt sein, obwohl, wie wir sehen werden, die Momente des Spiels und der Aleatorik in Derridas Texten eine zentrale Rolle einnehmen.

Nicht immer kann der Auftakt eines Textes so vielschichtig sein und derart genau passen, wie in Derridas Vortrag „Die différance“, den er am 27. Januar 1968 vor der Société française de philosophie hielt. Wenn er nämlich damit ansetzt, daß er von einem Buchstaben sprechen werde: „Von dem ersten, wenn man dem Alphabet und den meisten Spekulationen, die darüber gewagt wurden, glauben darf.“ (Derrida, Die différance, S. 29, in: J. Derrida, Randgänge d. Philosophie, Wien 1988)

Jener bedeutungstragende Unterschied des „a“ anstelle von „e“, in dem von Derrida eingeführten Begriff bzw. Neologismus „différance“ (im Französischen gibt es nur „différence“), der in der Aussprache eines Vortrages nicht hörbar ist, sondern nur als Text lesbar, so daß man diese Einführung zugleich als einen strategischen Zug werten kann. Ein stummes Zeichen, ein schweigendes Denkmal, wie Derrida formuliert, das sich, als Majuskel geschrieben, durch eine Pyramide darstellbar macht.

„Das a der différance ist also nicht vernehmbar, es bleibt stumm, verschwiegen und diskret, wie ein Grabmal: oikesis. Kennzeichnen wir damit im voraus jenen Ort, Familiensitz und Grabstätte des Eigenen, an dem die Ökonomie des Todes in der différance sich produziert“ (S. 30)

Dieses Verhältnis von Eigenem und Anderem, der Aspekt der Ökonomie, des Aufschubs, der zeitlich-räumlichen Differenz, des Begehrens, des Todes (man denke hier korrespondierend an die Ausführungen Heideggers in „Sein und Zeit“ §§ 46 ff. und an das Herr/Knecht-Kapitel aus Hegels Phänomenologie, auch als Vorankündigung für hoffentlich Kommendes gedacht) spielen in Derridas gesamten Werk eine Rolle und tauchen darin – vielfach ausgefaltet – in unterschiedlichen Konstellation und Anordnungen auf. Insbesondere das Verhältnis von Einmaligkeit und Wiederholbarkeit gibt eine zentrale Chiffre ab: daß das, was nur ein einziges Mal stattfindet – beispielsweise die Beschneidung – in eine Struktur (der Wiederholung) eingeschrieben sein muß, um überhaupt erst als solches lesbar zu werden. Dieses Verhältnis von Einmaligkeit und Wiederholung, das man zunächst als ein dialektisches wird ausmachen können, wird aber bei Derrida in eine ganz andere Richtung als die dialektische transformiert, die man vielleicht als eine hyperbolische Dialektik wird bezeichnen können. Denn immer geht es Derrida darum, auch dem Diskurs der Dialektik, welchen er ernst nimmt und schätzt – sein Werk läßt sich genauso gut als ein Abarbeiten an Hegels Philosophie lesen –, in einer Form der Bejahung ohne Vorbehalt zu begegnen (anders etwa als Foucault oder Deleuze), was dann aber zugleich bedeutet, daß auch die Figuren der Dialektik einer Ökonomie (des Textes) unterliegen, die lesbar zu machen ist. Solches Lesbarmachen ist bei Derrida aber keines, das nun einerseits eine neue Opposition aufbauen will – es geschieht ganz immanent, und es verbindet sich nicht mit einem absoluten Geltungsanspruch oder operiert von einer sozusagen allwissenden Perspektive, von der aus die Lektüre vorgenommen wird. Auch die Dekonstruktion ist keine Letzte Philosophie, und es gibt immer die Möglichkeit ihres Verschwindens, so Derrida. Auch ihr Blick unterliegt Beschränkungen, die selber nicht gesehen werden können. (Hier wären auch Nähen zum Soziologen Niklas Luhmann auszumachen.) Nichts sichert ihren Bestand. Diesen Tod, dieses absolute Verschwinden als Möglichkeit ist in Derridas Texten immer mitgedacht, wird zum Thema oder schwingt als Grundton mit, weshalb zuweilen von einer melancholischen Skepsis, einem Ton der Trauer im Text Derridas gesprochen wird.

Ausführlich stellt Derrida dieses Verhältnis von Einmaligkeit und Wiederholung in seinem Buch „Schibboleth“ dar. Dort liest er verschiedene Gedichte Celans (unter anderem das für Celan zentrale Gedicht „Schibboleth“, was dem Buch seinen Titel gab) sowie Celans Büchnerpreisrede „Der Meridian“. Ich werde diesem Buch mindestens einen Text widmen. In „Schibboleth“ insbesondere entfaltet Derrida einen Begriff von Erfahrung, den ich für philosophisch als auch politisch so gewichtig halte, daß er nicht unerwähnt bleiben sollte. Das Spannende ist, daß gerade an einem Text, der sich auf den ersten Blick – über die Poetik des Datums – einem literarischen Werk widmet, das politische Moment der Dekonstruktion sich abzeichnet. Etwa wenn es darum geht, das sowohl das Diskriminierende als auch die Vernichtende, welche sich vermittels des Begriffs „Schibboleth“ eröffnen, zu zeigen:

„Und die Gileaditer nahmen ein die Furten des Jordans vor Ephraim. Wenn nun die Flüchtigen Ephraims sprachen: Laß mich hinübergehen! so sprachen die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er dann antwortete: Nein! hießen sie ihn sprechen: Schiboleth; so sprach er: Siboleth und konnte es nicht recht reden; alsdann griffen sie ihn und schlugen ihn an den Furten des Jordans, daß zu der Zeit von Ephraim fielen 42000.“ (Buch Richter 12 5-6, Übersetzung aus der Lutherbibel)

Solches aber ist für Derridas Werk im ganzen typisch: insbesondere an Stellen, wo man es nicht erwartet, taucht ein völlig neuer Aspekt auf, der die Lektüre noch einmal in eine ganz andere Perspektive und Sicht bring. Es verschränken sich die verschiedenen Aspekte, der Text Derridas ist multiperspektivisch gefaltet. Dies macht den Reiz der Philosophie Derridas aus.

Um die Lektüre Derridas jedoch auch für die Leserinnen und Leser lesbar und fruchtbar zu machen, welche nicht zahlreiche Semester Philosophie studierten, möchte ich zunächst einige grundsätzliche Dinge schreiben und im ersten Text eine kleine Hinführung zu Derrida geben. Dabei stellt sich eben die Frage, wie hier vorzugehen sei: die für Derrida zentralen Begriffe wie différance, Schrift, Supplement, Spiel, Struktur, Gabe, Euro-, Phono- sowie Logozentrismus und einige mehr werde ich anhand von Texten und Zitaten darstellen und sichten. Es sind teils komplexe Begriffe, die sich nicht durch Definition erschließen, was ja in der Philosophie sowieso ein schwieriges und eher unphilosophisch sich gebärdendes Unterfangen ist, sondern durch ihren Gebrauch, die Darstellung bzw. die Art und Weise, wie Derrida diese Begriffe verwendet.

Wie ich das genau betreibe, wie ich en detail vorgehe, weiß ich nicht. Ich habe keinen konkreten Plan, es werden sich diese Teile, sozusagen wie beim Kaleidoskop, zusammenfinden, entwickeln und fügen oder auch nicht. Auf alle Fälle geschieht die Lektüre aber sehr nahe am Text Derridas und wird weniger Großthesen und Überflug eines Adlers, als vielmehr konkrete Arbeit bzw. Darstellung enthalten. Die qualifizierte Diskussion wird sich dann hoffentlich durch den einen oder anderen Kommentar ergeben. Zuweilen kann es aber geschehen, daß ich insofern abschweife, indem ich einen Blick auf Heidegger und Adorno insbesondere, aber auch auf Nietzsche und Hegel werfe, um hier wiederum gegenzulesen. „Sein und Zeit“ als auch Heideggers (hermeneutische) Hölderin-Interpretation, die er in seiner Vorlesung zum „Isther“ und zu „Andenken“ entfaltet, könnten hier Bezugspunkte bilden, um zu Derrida noch einmal eine Erweiterung zu produzieren, Gleiches gilt für Adorno Parataxis- und seinen Eichendorff-Aufsatz. Ein Strang der Lektüre wird also zu einer Philosophie des poetischen Sprechens hin ihren Lauf nehmen, ein anderer wird politische Aspekte der Dekonstruktion sichten. Denn die Dekonstruktion ist eben keine rein ästhetische oder literaturwissenschaftliche Angelegenheit. Dies zeigt sich etwa an dem Konzept einer Ethik der Gabe und insbesondere in den späteren Texten Derridas „Politik der Freundschaft“ (1994) und „Schurken“ (2003).

Was die Dekonstruktion betrifft, die zuweilen und fälschlich als eine Methode bezeichnet wird, so beschränke ich mich hier lediglich auf Derridas Texte. Paul de Man und überhaupt die sogenannte Yale-School tauchen hier nicht auf. Das wäre dann ein Projekt für sich. Wenn hier in den Kommentaren aber einer oder eine mit Judith Butler, die ja, wie ich das sehe, zentrale Aspekte Derridas aufgreift und weiterentwickelt, gegen- oder mitlesen möchte, so ist das herzlich willkommen. Ich selber kenne Butler zu wenig, um Qualifiziertes schreiben zu können.

Die Dekonstruktion Derridas ist keine Methode – Derrida hat sich gegen eine Funktionalisierung bzw. eine Kanonisierung seines Vorgehens vehement gesträubt –, sondern vielmehr eine, fast kann man sagen, individuelle (Text-)Praktik, die explizit mit dem Eigennamen „Derrida“ verknüpft ist. Wobei dieses Konzept des Eigenen von Derrida zugleich kritisiert wird. Als ein Movens seiner Philosophie kann man sicherlich feststellen, „daß das gesamte Werk J.D.s von von diesem Unbehagen an der Zugehörigkeit“ (G. Benningeton, Jacques Derrida, S. 333, Fft/M 1994) durchzogen ist. Derrida betreibt die Dekonstruktion des „Eigen(tlich)en“ und der identitären, das Subjekt besetzenden und fixierenden Diskurse – darin bestehen sicherlich eine Analogie zur Philosophie Adornos.

Ich gestehe, daß ich Derrida zusammen mit Adorno, Benjamin, Foucault und mit Abstrichen Heidegger für die bedeutendsten Philosophen des 20. Jhds halte, wobei diese Auswahl natürlich manche Perspektive ausläßt, denn die Einsichten der verschiedenen Positionen in der sprachanalytischen Philosophie und in der Phänomenologie sind auf ihre Weise für die Philosophie des 20. Jhds genauso bedeutsam, und freilich wird man auch hier einiges gegenlesen können. Insbesondere zwischen Derrida uns John Searle gab es eine philosophische Debatte.

Das aber, was Derrida mit Emphase betreibt, zu imitieren oder – unter dem Aspekt des Mimetischen – ähnlich zu machen, ist schlicht unmöglich. Wenn man dieses Vorgehen kopierte, käme lediglich ein furchtbarer Abklatsch heraus. Insofern wird es hier keine Dekonstruktion Derridas mit seinen eigenen Mitteln geben – was auch nicht einfach zu betreiben ist, weil dafür sein Text zu komplex gebaut ist. Derrida hat die Kritik an ihm bereits mitgedacht, ähnlich wie in der Philosophie Hegels, um es ein wenig generalisierend zu formulieren.

Nebenbei sei bemerkt, daß Derrida in der Rezeption auch für die Bildenden Künste sowie für die Architektur bedeutsam war. Vielleicht gelingt es mir, im Hinblick auf die Bildenden Künste eine Sicht auf sein Buch „Die Wahrheit in der Malerei“ zu werfen, das unter anderem eine Auseinandersetzung sowohl mit Kant als auch mit Heideggers Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerks“ sowie der darin enthaltenen Deutung des van Gogh Bildes „Ein Paar Schuhe“ abgibt.

Einige biographische Details noch: Derrida wurde am 15. Juli in El-Biar in der Nähe von Algier geboren, also im damals französisch besetzten Algerien. Er ist von seiner Religion her Jude, wuchs aber relativ säkular geprägt auf. Spät erst erhielt Derrida in Paris einen Lehrstuhl. Eines der wichtigsten Jahre für ihn war sicherlich das Jahr 1967, als gleich drei seiner Werke erschienen: „Die Stimme und das Phänomen“, „Grammatologie, und „Die Schrift und die Differenz“. Dieses Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, wo so unterschiedliche Autoren wie Freud, Artaud, Hegel, Bataille, Foucault, Jabès und Lévinas gegengelesen werden.

Manche schreiben, diese drei Bücher seien die bedeutendsten Werke Derridas, aber es verfehlt den Blick auf ihn und steht quer zu seiner Philosophie, in der umfangreichen Literaturliste Hierarchisierungen vorzunehmen. Anerkannt war Derrida im traditionellen, altbackenen, konservativen akademischen Betrieb nicht. Viele begriffen nichts von seiner Philosophie, weil sie Derrida nicht gelesen hatten, oder hielten es für eine Spielerei, für Literatur oder Scharlatanerie. Solche Herren der offiziellen Diskurse konnten den Zug seiner Philosophie über Frankreich hinaus in die USA, nach Italien, aber auch in die Seminare deutscher Universitäten hinein nicht aufhalten.

Als besonders perfide gilt der Protest von zahlreichen Professoren aus der Sektion der analytischen Philosophie, darunter auch W. V.O. Quine, gegen die Ehrendoktorwürde der Universität Cambridge im Jahre 1992: „Weit verbreitet, so seine Philosophie-Kollegin Sarah Richmond, sei bei britischen Akademikern die Meinung, Derridas Ideen bedeuteten ‚Gift für den Geist junger Leute‘.“ (Der Spiegel v. 13.4.1992) Er erhielt diese Ehrendoktorwürde dennoch. 2001 wurde ihm der Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt verliehen. Auf Einladung von Jürgen Habermas hielt er in Frankfurt den Vortrag „Die Zukunft der Universität“. Am 31. Mai 2003 veröffentlichen Derrida und Habermas in der FAZ gemeinsam den Text zur Rolle der Europäischen Außenpolitik „Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas“. Der Text ist auch als eine Reaktion auf den Irak-Krieg der USA zu lesen.

Derrida starb am 8. Oktober 2004 in Paris. Er wurde lediglich 74 Jahre alt.

Endlich Gewißheit: Die Postmoderne endet 2011!

Zurück aus dem hohen Norden, dort wo die Rentiere wohnen, die Menschen raue Umgangsformen pflegen, dort wo im Winter die Tage kurz, die Nächte lang, die Frauen blond, die Gewässer kalt, die attraktivsten Frauen jedoch schwarzhaarig sind, wünsche ich allen Leserinnen und Lesern ein frohes und gesundes Neues Jahr. Machen Sie das Beste daraus – das Schlechte kommt von ganz alleine.

In einigen Blogs gab es während meiner Abwesenheit Texte bzw. Diskussionen zur Postmoderne, so etwa hier, hier und hier. Meine Position zu den Ansätzen der Postmoderne, des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion findet sich eher in den letzten beiden Texten wieder. Wobei auch der Beitrag auf „Kritik und Kunst“ – sozusagen ex negativo – interessant ist. Aber ich habe diese Dinge (insbesondere die Kommentare) nach meiner Rückkehr nur kurz überflogen. Und ich muß einmal schauen, ob ich in dem einen oder anderen Beitrag noch etwas dazu schreibe.

Wer zu diesen Theorien – denn der Poststrukturalismus (sowie die Postmoderne bzw. die Dekonstruktion) treten nicht im Singular auf – etwas Einführendes lesen möchte, den verweise ich auf das gute Buch von Vincent Descombes, Das Selbe und das Andere (Fft/M 1981). Weiterhin in diesem Umkreis das Buch von F. Dosse, Geschichte und Strukturalismus Bd. 1 Das Feld der Zeichen 1945 – 1966 und Bd. 2 Die Zeichen der Zeit 1967 – 1991, (beide Hamburg 1996). Das Buch ist sehr ausführlich, ob es den komplexen Theorien gerecht wird, sei dahingestellt. Ganz allgemein zur französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, die sich ja nicht nur auf die Postmoderne beschränkt, und sehr anregend geschrieben, ist das Buch von B. Taureck, Französische Philosophie um 20. Jahrhundert. Analysen, Texte, Kommentare (Reinbek 1988) Was dieses Buch auszeichnet: daß eben auch die Texte selbst sehr ausführlich zu Wort kommen, es gibt lange Text-Passagen von Sartre, Derrida, Merleau-Ponty, Foucault, Deleuze, Lyotard, die dann kommentiert werden. Ausnehmend gut eignet sich dieses Buch zum Selbststudium. Insbesondere deshalb, weil darin mein Plädoyer befolgt wird: Zu den Texten! Was Postmoderne, Poststrukturalismus, Dekonstruktion sind, lernt man nur durch die Texte.

Im ganz anderen Rahmen, um auch die (post-)strukturalistische Psychoanalyse einzubeziehen, empfehle eindringlich ich das Buch von Alain Juranville, Lacan und die Philosophie (1990, Klaus Boer Verlag). Die Texte Lacans geben sich zuweilen hermetisch. Dieses Buch schlüsselt die Theorie Lacans äußerst gut auf, insbesondere im Hinblick auf Freud, Kant, Hegel, Saussure, Heidegger. Es ist unbedingt zu lesen, wenn man sich mit dem Poststrukturalismus beschäftigen möchte.

Zudem verweise ich bezüglich des Themas bescheiden auf meine angefangene, nie beendete, lange nicht fortgeführte Serie „Eine Verteidigung der Postmoderne gegen ihren Mißbrauch“. Mehr noch findet man hier im Blog unter der Kategorie „Postmoderne“.

Grundsätzliches zu Derridas Philosophie kann man in dem Gesprächsband „Positionen“ (Wien 1986, Passagen Verlag) lesen, wo Derrida einige Aspekte seiner Philosophie in Gesprächen darstellt. Insbesondere bei Derrida besteht die Schwierigkeit darin, daß sich seine Philosophie in einer verknappten Form kaum wiedergeben läßt. Zudem: es gibt in diesem Sinne bei Derrida keine Hauptwerke, wo man sagen kann: lies mal das und dann das Buch! Der Text Derridas zerstreut und verzweigt sich.

Zum hier bei Aisthesis bereits thematisierten Verhältnis von Philosophie und Literatur möchte ich folgendes zitieren:

„Zum dritten Punkt, zur Ästhetik, zu den Bezügen zwischen Philosophie und Literatur, Philosophie, Rhetorik und Politik ist zu sagen, daß ich niemals – man lese doch bitte den Text – die Philosophie der Rhetorik gleichgesetzt habe. Natürlich glaube ich, daß man die Rhetorik im philosophischen Diskurs analysieren muß, aber wenn man sich auf die Mythologie blanche oder andere philosophische Texte bezieht, so sieht man, daß ich niemals die Philosophie auf ein literarisches Genre reduzieren wollte. Was mich andererseits tatsächlich interessiert, das sind die Grenzen, die Probleme der Grenzen zwischen Philosophie und Literatur. Aber dieses Problem aufwerfen heißt nicht, die Philosophie auf eine Art Literatur zu reduzieren. Ich richte mich nicht mehr im Bereich der Literatur ein, als ich mich im Bereich der Philosophie eingerichtet habe. Im übrigen fehlt dem philosophischen Diskurs und besonders dem von Habermas eine ausgearbeitete Aufmerksamkeit gegenüber der Schrift, gegenüber diesen so schwierigen Fragen der Gattung und der Rhetorik.“ (Positionen, S. 29 f.)