Am 23. August starb der französische Philosoph Jean-Luc Nancy. Ihn als Schüler Derridas zu bezeichnen mag zwar richtig sein, greift aber angesichts der originären Arbeit von Nancy, sei es zur Kunst, zur Religion oder zum Körper, deutlich zu kurz. Die sogenannte Dekonstruktion geht sicherlich nicht ihrem Ende entgegen – wenngleich einer ihrer letzten Vertreter nun tot ist und wenngleich seit einiger Zeit studentische Idioten solche Dekonstruktion der Lächerlichkeit preisgeben, aber das geschieht leider und meist, wie auch bei der Kritischen Theorie und beim sogenannten „Marxismus“, wenn Texte nicht gründlich gelesen, sondern auf unmittelbare politische Anwendbarkeit heruntergerotzt und auf eine Mechanik reduziert werden.
Von der eher anekdotischen Evidenz einmal abgesehen, daß mancher ein Buch wie „Es gibt – Geschlechtsverkehr“ vom Titel her bereits spannend finden könnte – quasi: zu lesen und nichts zu tun, Voyeur alter Schule – finden wir bei Nancy das Denken über den Körper ausgeprägt, was bis in die Fragen der Kunst reicht: „Die Haut der Bilder“, so lautet einer seiner Buchtitel (zusammen mit Federico Ferrari). Während jenes „Es gibt – Geschlechtsverkehr“ zunächst einmal eine Auseinandersetzung mit Lacan, Derrida und implizit auch mit jenem Heideggerschen „Es gibt“ ist, Körper über Umwege. Und dabei dachte ich, als mir damals der Titel in die Hände fiel und ohne das Buch gelesen zu haben, sofort an einen der großen Schlußsätze der Weltliteratur, an Kafkas „Das Urteil“, wo es mit einem Male, als es, vom Vater verkündetes Urteil, in den Tod und hinab in die große Vereinigung ging, zugleich laut wurde: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“ Während Herr Bendemann dies nicht mehr zu hören vermochte, weil er einige Sekunden zuvor, das Geländer festhaltend, wie ein Hungriger die Nahrung, sich über diesen letzten Halt hin zu Welt schwang, ausgezeichneter Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Baise–moi, Baisers volés. Davon also abgesehen, gibt es solche Essays wie „Noli me tangere“, darin Nancy jene in den Evangelien geschilderte Szene der Auferstehung des Jesus und der Begegnung mit Maria Magdalena im Friedhofsgarten, die in Tizians, Correggios und vor allem Rembrandts Gemälde Sujet der Malerei war, deutet und nicht nur in eine schöne Sprache von Fragmenten der Liebe bringt, sondern auch jenes Moment von Zeigen und Nicht-Zeigen, von Sichtbarem und Nichtsichtbarem ortet:
„In dieser Hinsicht bildet Noli me tangere die subtilste Szene und die (man muss es sagen) verhaltenste: Deshalb verstanden es die Maler auch, hier nicht ekstatische Schau eines Wunders auszumachen, sondern eine delikate Intrige zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, die einander anrufen und zurückstoßen, einander berühren und jeweils auf Distanz halten.“
Daß die Dekonstruktion bzw. das Denken Nancys zu einem wesentlichen Teil von der Phänomenologie herkommt, mag man in solchen Passagen ahnen, wo es einerseits um Blicke geht, aber zugleich auf das Feld des Berührens und der zarten Gesten verweisen wird. Es sind Hände, es ist Haut, es sind Worte und ins Bild gebracht wird zugleich das leere Grab. Der tote Leib, der mehr als tot ist und es eben doch nicht ist. Blicke zugleich, die sich täuschen, denn Maria Magdalena vermeint und glaubt, den Gärtner zu sehen. Erscheinen, Nähe und Distanz. Die Wirkung jenes Mannes aus der Ferne. Nancys „Noli me tangere“ ist zugleich eine Reaktion auf das Buch seines Lehrers Derrida „Berühren – Jean-Luc Nancy“, wie Benoît Peeters in seiner Derrida-Biographie ausführlich darlegt.
Während meines Studiums ist mir Nancy leider nicht in der Philosophie untergekommen, sondern in den 1990er Jahre in den Germanistikseminaren von Ulrich Wergin, und zwar über Nancys Buch „Undarstellbare Gemeinschaft“ und über jenen legendären Sammelband „Nietzsche aus Frankreich“, darin auch von Nancy ein Essay sich befand. Vor allem aber verwies Wergin immer wieder auf jenes zentrale Werk, das Nancy zusammen mit Philippe Lacoue-Labarthe herausgegeben und geschrieben hatte: „Das Literarisch-Absolute. Texte und Theorie der Jenaer Frühromantik“ – dankenswerterweise von turia + kant 2016 in Verlag genommen und übersetzt. Wer sich mit der Jenaer Frühromantik beschäftigt, wird im Kontext von Philosophie um dieses Buch nicht herumkommen. Es ist eine hervorragende Einführung ins philosophische Denken der Romantik wie auch in deren Literatur; parallel zu den Essays von Lacoue-Labarthe und Nancy werden die einzelnen Texte dargeboten: etwa das Älteste Systemprogramm, die Athenaeum-Fragmente sowie Texte von Schelling, Novalis und vor allem von Friedrich Schlegel – etwa das „Gespräch über Poesie“. Solches Darbieten von Primärliteratur ist fürs Studium zentral, denn wer die Originaltexte nicht kennt, hat am Ende auch von einer Einführung wenig. Lacoue-Labarthe und Nancy entfalten in diesem Buch kenntnisreich jenes Szenario um 1800 herum, welches jener bereits neuen Zeit von Frühaufklärung, Lessing, Wieland, Kant, Herder, Jacobi, Fichte und Goethe, Spinozastreit, Aufklärung, Sturm und Drang einen weiteren Dreh versetzte: das Neue, das Interessante als Formen einer Literatur, die mal Philosophie, mal Dichtung sein wollten. Wegmarken zum Absoluten, und wer dabei auf geistreiche Art angeregt werden möchte, der lese, so möchte ich hinzufügen, unbedingt Friedrich Schlegels „Lucinde“ und dazu noch das „Gespräch über Poesie“.
Insbesondere hielten Lacoue-Labarthe und Nancy in ihrem Buch fest, daß das zentrale Projekte des Jenaer Romantikkreises und der Gebrüder Schlegel jene Zeitschrift „Athenaeum“ bildete, sowie überhaupt das Projekt, Zeitschriften zu machen, darin Diskussionen stattfinden und der Geist der Zeiten einen Ausdruck finden kann – was bis heute verbreitet ist und was einen wesentlichen, aber leider nie realisierten Ausdruck in jenem Zeitschriftenprojekt von Walter Benjamin und Bert Brecht fand: „Krise und Kritik“. Gleichsam vom Titel her bereits die kluge Signatur eines Zeitalters, das wir Moderne nennen. Der Historiker Reinhart Koselleck drehte diesen Titel für sein legendäres Buch dann gleichsam um.
Zudem ist, so Lacoue-Labarthe und Nancy, diese Zeitschrift ein Projekt der „Verbrüderung der Kenntnisse und Fertigkeiten“ so hieß es im Athenaeum, wofür der Begriff des Symphilosophierens stand, welches freilich einer gewissen Wahl unterlag: „Man soll nicht mit allen symphilosophieren wollen, sondern nur mit denen die à la hauteur sind.“ (Fr. Schlegel, Athenaeumsfragment Nr. 264) Es handelt sich bei solchem Denken um eine in Gemeinschaft stattfindende Arbeit, ein ästhetischer wie auch philosophischer Gemeinsinnn, der sich über Nähe konstituierte und zuweilen auch Ähnlichkeit bei aller Unähnlichkeit hervorbrachte. Nähe im Denken, um einer Sache willen. Eine Form von Gemeinschaft mithin, die Nancy etwa mit Derrida und mit Lacoue-Labarthe pflegte. „Das Literarisch-Absolute“ ist schöner und gelungener Ausdruck solcher gemeinsamen Arbeit. Eben auch ein Aspekt, den das Absolute ausmacht und umfaßt, nämlich jenen Weg überhaupt zu gehen und wenn es gut läuft in Gemeinschaft. Gegebenenfalls auch eine Gemeinschaft mit anderem Denken, und so verwundert es in solchem Kontext nicht, daß es von Jean-Luc Nancy zwei Aufsätze zu Hegel gibt, nämlich „La remarque speculative“ (1973) und „Hegel. Lʼinquiétude du négatif“ – beide 2011 beim diaphanes Verlag erschienen.
Im Athenaeum manifestierte sich zudem jene für die Romantik wesentliche Schreibweise, die auch für bestimmte Formen des poststrukturalistischen Denkens zentral werden sollte (man nehme nur Derridas „Postkarte. 1. Lieferung): die Verwendung unterschiedlicher Gattungen, der Rückgriff auf das Fragment und es werden das literarische Eigentum und die Autorität des Autors in Frage gestellt. Wild wurde ausprobiert, was auch mit der Epochen- und Zeitenwende um 1800 zu tun hatte. Textformen als Versuche. Allerdings ist all dies nicht von Dauer und kann sich nur über eine kurze Phase durchhalten. So zumindest schildern es Lacoue-Labarthe und Nancy. Solches Befragen und das Infragestellen von Grenzen macht sicherlich eine gewisse Nähe auch zu den Autoren des sogenannten Poststrukturalismus und der Dekonstruktion aus.
„Es sei hier also noch einmal gesagt, dass es hier nicht um das Bild von der Romantik geht, das man sich gemeinhin von ihr macht. Madame de Staël hat dies auf ihre Weise durchaus bereits vorausgeahnt. Trotz ihres etwas allzu kurz gegriffenen (…) Widerstands gegen Theorie hatte sie zumindest verstanden, dass das Neue in Deutschland um 1800 nicht die ‚Literatur‘, sondern die Kritik oder wie sie es auch nannte, die ‚literarische Theorie‘ ist.“ (Lacoue-Labarthe/Nancy, Das Literarisch-Absolute, S. 27 f.)
Was mich – aber das ist ein rein subjektives Moment – an Nancys Texten zur Religion und zur Auslegung von Bildern der Religion, wie eben in „Noli me tangere“, faszinierte, ist jener für einen nichtreligiösen Menschen, der doch, wie ich es bin, religiös gestimmt ist, ästhetische Zugang zur Religion über Bilder. Einerseits. Und zugleich ein über Begriffe wie das Absolute, das Spekulative und über die Unruhe des Negativen laufender Zugang des Denkens: ein Weg, der freilich nicht als System läuft, sondern in Ausfaltungen und im Detail abschreitet. In der Hingabe an eine Sache. Das Absolute ist nicht einfach ein Behälter, wo alles irgendwie darin ist und das man mit Stecken und Stangen, wie Hegel bereits spottete, dingfest machen könnte. Mit Jean-Luc Nancy ist ein Philosoph verstorben, der Ästhetisches, Politisches und die Philosophie selbst im Denken zu versammeln vermochte.
Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht,
Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen,
Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.
Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe
Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maß,
Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden,
Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann
(Fr. Hölderlin, Brod und Wein)
Hier mußte ich eben lächeln: „darin auch von Nancy ein Essay sich befand“. Adornos nachgestellte Personalpronomina bleiben uns, einmal von ihm berührt gewesen, selbst, wenn wir längst auf eigendenkende Distanz gegangen, subkutan erhalten, verstecken sich gleichsam in uns, aber spitzeln von Zeit zu Zeit, denn doch mal neugierig vor, oder spöttisch-frech – wie Koboldgesichtchen zwischen den Wurzeln,
(Das Komma hinter „Zeit“ bitte schnell wieder wegdenken.)
Sehr schön gesagt und geschrieben. In der Tat ist das so. Damit es dann aber nicht zur Routine wird, mache ich dieses Postponieren aber nur ab und zu.
PS: Bei WordPress kann man leider, anders als bei blogger.de, seine Kommentare nicht korrigieren.
„Er las immer Agamemnon statt angenommen, so sehr hatte er den Homer studiert.“
Lichtenberg.
Immerhin beinhaltet das, Homer überhaupt gelesen zu haben – was heute leider die wenigsten von sich behaupten können. Vom Studieren ganz zu schweigen.
Ich las einst etwas über Steinzeitmenschen wie Heidelberger und Steinheimer und dann etwas von Matthias Horx, und folglich ging mir der Name Horkheimer nicht mehr aus dem Kopf.
Als in einer Debatte von Merleau-Ponty die Rede war dachte ich an einen Wein, und dann kam die Frage auf, wenn Adorno ein Wein wäre, wie würde er schmecken.
Adorno wäre kein Wein; das ist in jeder Hinsicht zu schwach. Er wäre Single Malt, und zwar Single Cask, 40 Jahre, dreifach umgefüllt (muß man machen, weil der Alk die Faßwände angreift), Bourbon-Fässer, Faßstärke 74%, Destillerie eine von der Insel Isla, daher stark getorft: Laphoaig, Caol Isla.
Wein wird Adorno nicht gerecht. Allein Spitzenwhisky verwirklicht das riesenhafte Aromentableau. Es könnte mir eine reizvolle Aufgabe sein, einzelnen Texten einen Whisky oder auch mehrere zuzuordnen nach der traditionellen Einteilung der Philosophie: Logik (Negative Dialektik), Ästhetik (Ästhetische Theorie), Moralphilosophie (Minima Moralia). Ich sehe nicht, wie in den Feldern des Adornoschen Denkens und des Whiskys mehr zu lernen wäre, als so.
Das wäre mal ein Tasting! Von altersher bin ich in meiner Eigenschaft als Malthead hohnlachender Gegner von „Whisky und Zigarren“- und „Whisky und Schokolade“-Tastings. „Whisky und Adorno“ aber wäre der intelligibel-hedonistische Kracher überhaupt, setzt jedoch voraus, dass die Teilnehmer Adorno gelesen haben.
Tip für Bersarin: „Whisky Doris“ ist in der Nähe Deines Wohnortes. Nach Jahrzehnten in der Szene sage ich: Es ist der beste Händler.
Ich habe es leider immer noch nicht, trotz Deiner Expertise, geschafft, in diesem feinen Geschäft einmal aufzuschlagen. Die Kombination Whisky und Adorno bzw. überhaupt bestimmte alkoholische Getränke und philosophische Texte ist nochmal eine Sache für sich, die ich in der Tat für interessant halte. Insbesondere auch im Blick auf Whisky. Bei Hegel würde ich wohl (deutschen) Riesling wählen.
Da ich leider ein schneller Trinker bin und viel Flüssigkeit kippe, werde ich vermutlich beim Wein bleiben. Wer gute Cocktails mag, dem rate ich zum Steigenberger in Leipzig. Und damit man es von der Hotelbar nicht so weit ins Bett hat, rate ich dazu, dort auch ein Zimmer zu buchen.
Stimmt, Hegel ist substanzdeutsch im besten Sinne des Wortes. Flaubert sagt: Die besten Romane schreibt man auf französisch, aber Denken kann man nur auf deutsch. Das stimmt. Ein Desiderat der Forschung scheint mir darin zu bestehen, warum Schelling, Fichte, Kant, Hegel, Marx in deutscher Sprache formulierten. Wie kommt es, dass das Deutsche zu einer solchen Begriffsmanufaktur wurde und ist? Sind es die Wörter, der Klang, irgendendetwas in der Sprachsubstanz, eine durch Sozioökonomik fundierte Sprachentwicklung? Wer sich in den Wahnsinn treiben will, liest Hegels – deutschen – Text „Das Maaß“. „Das Maaß ist die einfache Beziehung des Quantums auf sich, seine eigene Bestimmtheit an sich selbst; so ist das Quantum qualitativ. Zunächst ist es als unmittelbares Maaß, ein unmittelbares, daher als irgend ein bestimmtes, Quantum; ebenso unmittelbar ist die ihm zugehörige Qualität, sie ist irgend eine bestimmte Qualität.“
Soweit, so einfach. Aber wer jetzt weiterliest, verfällt dem Wahnsinn. „Das Maaß“ ist Hegel auf Droge, leider alles richtig, was er sagt, soweit ich das verstehe. Adorno, Marx und die italienischen Ökonomen des 15. Jahrhunderts konnte ich gut verstehen, auch Hegel. Aber „Das Maaß“ ist dann doch sehr speziell. Das dreht einem komplett das Hirn herum. Ich bin damit noch immer nicht ganz durch.
Damit nicht durchzusein, das glaube ich gut und gerne und böse Zungen sagen: Es ist ja erst die Seinslogik, da ist es noch einfach. Wir hatten gerade vor ein paar Tagen in einem Seminar im Frankenwald den Anfang der Wesenslogik und die Reflexionsbestimmungen am Wickel und also gelesen. Leicht war es nicht und ich denke bis heute über diese Passagen nach, die ich ja nicht das erste Mal in meinem Leben lese. Auf alle Fälle sind das Texte, die man gemeinsam lesen muß. Satz für Satz.
Bei Meiner gibt es von Pirmin Stekeler einen Kommentar zur Seins-, Wesens und Begriffslogik.
Ich beschäftige mich seit längerer Zeit ja eher mit relativistischer Quantenphysik, der hinterherzudenken mir als eine der anspruchsvollsten Denkaufgaben überhaupt erscheint. Nur, ich versuche mir das vorzustellen und denke in sprachlichen Beschreibungen des Gegenstands, alle anderen meinen, man könne sich das begrifflich nicht vorstellen und denken in mathematischen Formeln, mit denen wiederum ich nichts anfangen kann.
Ich denke, dies sind zwei Möglichkeiten, sich diesem komplexen Feld anzunähern. Wobei ja auch die Physiker Sprachbilder und metaphernhaltige Begriffe benutzen, wenn sie solche Phänomene erläutern: Wellen, Teilchen, Felder und Spins etwa sind ja solche Bilder.