Zeitschübe (jene Zeit als Text), Irrungen und Wirrungen des Kopfes samt Datumsgrenzen

Man kann Rückblicke machen, man kann Ausblicke machen, man kann Prognosen machen, man kann sich gute Vorsätze machen, man kann Bleigießen machen, man kann sich Sorgen machen, man kann Pläne machen, man kann Liebe machen, man kann Fondue machen, man kann es seiner Nachbarin machen, man kann es sich gemütlich machen, man kann gar nichts oder eine Party machen, man kann den Abwasch machen, man kann es sich selber machen, man kann ein Faß aufmachen, man kann To-Do-Listen machen, man kann einen Ausflug machen, man kann schnell noch den Einkaufszettel machen, denn die Geschäfte haben nur bis halb vier geöffnet. Aber zum Silvester einzukaufen, scheint mir wenig ratsam, weil sich vor den Kassen lange Menschenschlangen bilden, denn viele kaufen auf die letzte Minute ein.

Nein, es gibt hier im Blog keinen Rückblick aufs Jahr 2012, ich betrachte und werte nicht, was bedeutsam oder weniger bedeutsam war, was mir lesens- oder sehenswert erschien und was weniger. Auch fallen keine grundsätzlichen Worte. Es gibt nichts zu verbessern und es gibt nichts zu verschlechtern, es ist alles genau so wie es ist: gut eingerichtet und an seinem Platz – sozusagen ins messianisches Licht getaucht. Die Prosa des Lebens – und wie wenn an Feiertagen ebenso die Poesie desselben – schreibt und webt sich auch im nächsten Jahr als unendlicher Text weiter. Sobald ein Moment abgelebt und das heißt: vorüber ist, geht er in einen Text über – nämlich den der Erinnerung. Und nur in Sprache sowie in Bildern kann ein solcher vergangener Moment einzig dargestellt werden: jene Recherche du temps perdu. Sie speist sich zwar aus einer Vielzahl an Momenten, Augenblicken, Situationen, Erlebnissen, aber am Ende vergehen und zerrinnen die Momente und Erfahrungen ins Nichts (spätestens mit dem Tod), wenn sie nicht als Text oder als Bild festgehalten und aufgehoben werden. (Wobei auch das Bild als Text zu lesen ist.)

Das Vergehen mag manche schwindelig machen, weil die Sucht nach Leben den Impuls übersteigt, das Tote festzuhalten, und dies bringt den Kopf durcheinander. Aber dagegen besaß bereits jener Kant aus der vorkritischen Periode Mittel, um die Verwirrungen zu korrigieren oder doch zumindest in den Blick zu bekommen. So veröffentlichte Kant im Jahre 1764 die Abhandlung „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“. Anlaß für diese Schrift war ein Vorfall nahe bei Königsberg, wo ein in Ziegenfelle gehüllter Naturmensch hauste, vielleicht um den Ideen Rousseaus recht nahe zu sein, oder aber aus Intuition und einer Laune heraus unterwarf er sich diesem Stil des Lebens, eine Herde von Kühen, Schafen und vor allem Ziegen mit sich führend, religiöse Predigten haltend, weshalb das Volk ihn Ziegenprophet nannte. Heute würden wir die Angelegenheit differenzierter betrachten, den Ziegenpropheten als Korrektiv zur postbürgerlichen Gesellschaft wahrnehmen und von einem Hippie oder einem Aussteiger sprechen. „Lesen der Bibel und Anfertigung hölzerner Löffel waren seine Hauptbeschäftigung.“, so schrieb Vorländer in seiner Philosophiegeschichte. Wie passend!

Diese Verwirrungen des Kopfes, auf die Kant abzielt, reichen von der bloßen Dummköpfigkeit bis zur vollendeten Narretei hin. Und es findet sich mancher Gedankengang aus dieser eher satirischen Analyse später dann in seinen Kritiken wieder. Erkenntniskritik verfährt zwar im ganzen deduktiv, entbehrt aber zuweilen nicht der Induktion. Wer einen schalkhaften und heiter gestimmten Kant zu Gesicht bekommen möchte, der lese diesen Text oder auch die „Träume eines Geistersehers“, es finden sich dort Passagen, die eines Lichtenbergs würdig sind, der wiederum stark von Kant beeinflußt war. In jener amüsant zu lesenden Kopf-Schrift heißt es unter anderem:

„Der stumpfe Kopf ermangelt des Witzes, der Dummkopf des Verstandes. Die Behendigkeit etwas zu fassen und sich zu erinnern, imgleichen die Leichtigkeit, es geziemend auszudrücken, kommen gar sehr auf den Witz an; daher derjenige, welcher nicht dumm ist, gleichwohl sehr stumpf sein kann, in sofern ihm schwerlich etwas in den Kopf will, ob er es gleich nachher mit größerer Reife des Urtheils einsehen mag, und die Schwierigkeit sich ausdrücken zu können beweiset nichts minder als die Verstandesfähigkeit, sondern nur, daß der Witz nicht genugsame Beihülfe leiste, den Gedanken in die mancherlei Zeichen einzukleiden, deren einige ihm am geschicktesten anpassen.“

Dieses Witzes teilhaftig zu werden: nämlich das, was wir ästhetischen Takt und philosophisches Gespür nennen, auszubilden, sei jedem gewünscht, damit es zur Produktion von guten Texten reicht.

Den Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich einen guten Übergang von der einen Zeit – jener willkürlich gesetzten Datumsgrenze – in die andere. Und wie man die physikalisch bzw. die gezählte Zeit verschieben kann, weil es sich bei ihr um eine bloße Setzungen handelt, das hat die Insel Samoa letztes Jahr gezeigt, als sie am 29.12.2011 ihre Datumsgrenze zum Westen hin verschob. Der Inselstaat stellte die Uhren um 24 Stunden nach vorne und übersprang so einen Tag: Der 30.12. fiel ganz einfach aus. [Ach, wenn wir auf diese Weise manche Tage ungeschehen machen oder sie durch einen Akt von Magie tilgen könnten. Oder jenen einen Tag gar aufsteigerten und dehnten.]

Damit durfte Samoa als eines der ersten Länder das Jahr 2012 „begrüßen“. Samoa gehört von da ab zur Zeitzone von Australien und Neuseeland. Zeit dient als Wirtschaftsfaktor – eben eine westlich orientierte physikalisch-rechnerische, handhabbare Zeit – eine bloß technische Zeit, die sich in beliebige Richtungen verschieben läßt. Zeit ist eine kulturelle Setzung, wie alle Begriffe.

Bei einem Datum hingegen, das sich mit einem Ereignis oder einer Begebenheit konnotiert – und sei es der erste Kuß oder ein anderer besonderer Moment –, verhält es sich komplexer. Ein Datum ist von seiner Struktur her so angelegt, daß es sich selbst als vergangene Präsenz am Leben zu halten versucht, und es ist ihm zugleich sein Verschwinden eingeschrieben. Jedes Datum ist prinzipiell auslöschbar. Das Wissen darum samt der damit verbundenen Melancholie erzeugt jene Texte, die wir nicht missen möchten.

Von der ungeheuren Lust, ein Ich zu sein – Johann Gottlieb Fichte zum 250. Geburtstag

Diese Würdigung kommt verspätet, aber die Wahrheit läuft uns andererseits nicht weg: Die Philosophie Fichtes wird sich auch vier Tage später nicht grundsätzlich wandeln oder einer grundsätzlichen Revision unterzogen werden.

Es war mir immer verhaßt: dieses Bild, seit Schulzeiten an, denn es zeigt den Biedermann als Brandstifter und Spießbürger zugleich:

Die Truppen Napoleons, die in Preußen und Österreich intervenierten, waren sicherlich keine himmlischen Heerscharen, die für eine bessere Welt antraten, um Preußen und Österreich vom Joch königlicher sowie kaiserlicher Tyrannei zu befreien. Aber schlimmer als Frankreich erschienen mir immer der preußische Staat und Österreich insbesondere. Wohl auch aus dieser Österreichwut heraus gründet sich meine Liebe zu Thomas Bernhard. Obwohl diese Sicht, Frankreich als Befreier zu feiern, zugleich übertrieben ausfällt, denn im Grunde ist jeder Staat zu dieser und zur heutigen Zeit von Übel, scheint mir die Invasion Napoleons über Europa doch als ein probates Mittel, eine andere Epoche zu schaffen – ähnlich wie es Goethe in seiner „Kampagne in Frankreich“ beim Kanonendonner von Valmy notierte. Jedoch die schönste, gelungenste Sentenz zu diesem, unserem Staat, der aus Preußen erwuchs, stammt nun einmal – nein: nicht von dem Nationalphilosophen Fichte, sondern von Wolfgang Neuss, und der Satz geht so: „Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen.“

Aber machen wir die Philosophie nicht an den Äußerlichkeiten eines Bildes fest.

Mit der Veröffentlichung „Versuch einer Kritik aller Offenbarung“ trat Fichte hervor, das Publikum hielt diese zunächst anonym publizierte Schrift für ein Werk Kants – nämlich seine lang erwartete Religionsphilosophie. Kant klärte auf, Fichte ward berühmt. Leicht gestaltete Fichtes Weg sich freilich nicht, kam er doch aus armen Verhältnissen. Es war sein Werdegang zu seiner Zeit (und auch heute noch) keine Selbstverständlichkeit: aus einer Weberfamilie heraus mit acht Geschwistern machte es sich im 18 Jahrhundert nicht für selbstverständlich Karriere als Philosoph.

Im sogenannten Deutschen Idealismus angesiedelt, der eben nicht mit Kant, sondern mit Fichte seinen Anfang findet, setzte er eine Markierung, die sowohl für die Deutsche Romantik, Schelling und Hegel als auch für das Denken und Dichten Hölderlins von Bedeutung werden sollten: die absolute Reflexion, in der Sein und Selbst zu Deckung kämen und wo das Trennende der herkömmlichen Reflexion, die lediglich auseinanderschneidet, aufgehoben ist. (Für Hegel besaß der Begriff der Reflexion deshalb zugleich einen pejorativen oder zumindest defizitären Status, weil das, was in der Bestimmung im Grunde erst zu entfalten wäre, bereits allem Sein und Denken und das heißt dann: einschließlich des Seins des Subjekts voraussetzungslos vorgeordnet wurde. Die Wendung „Reflexionsphilosophie“ bei Hegel ist nicht freundlich gemeint. Eine erste Bestimmung davon samt ihrer Kritik liefert er in seiner Differenzschrift, die ich als Einstieg in die Philosophie Hegels zur Lektüre empfehle.)

Trotzdem ist diese Bewegung des Fichteschen Denkens konsequent, betrachtet man sie aus ihrer Zeit, denn sie greift die einschneidende Stelle aus einem der epochalen Werke der Philosophie heraus und gruppiert um diese Passage herum eine Philosophie des Subjekts: jenes zentrale Kapitel aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“, welches die Basis und zugleich den Drehpunkt für die Philosophie nach Kant bildete: „Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption“, wo es bei Kant heißt:

„Das Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das Ich denke, in demselben Subjet, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird.“ (K.d.r.V., B 132, 133)

Wieder ist es – wie so häufig in Kants Konzeption – das duale Verhältnis von Anschauung und Begriff, das in seiner letzten Konsequenz – freilich ohne die notwendige Vermittlung – an seinen archimedischen Punkt gelangt. Jede Vorstellung läßt sich als die eines Gegenstandes ansetzen und ebenso als Teil unseres Ichs. Insofern fällt das Vermittelnde und Konstituierende ins Subjekt selbst. Nur dieses erbringt solche Syntheseleistung, was zugleich den Status der Welt der Dinge, der Objekte tangiert, die nicht mehr, wie bei Descartes, als Gegebenheiten angenommen werden können. Dieser gesamte Paragraph 16 der „Kritik der reinen Vernunft“ verdient es, immer wieder und wieder gelesen zu werden. Es ist, in die Wiederholung und in das Denken, auf den Begriff und die Vorstellung gebracht, gleichsam reines Zen, und wenn ich in Phrasen stanzte, schriebe ich: ungeheuer tief gedacht und zugleich schwierig in seiner Konzeption. Worin liegt dieses grundsätzlich Neue und weshalb übersteigt diese Kopernikanische Wendung der Philosophie hin zum Subjekt in einem modernen Sinne Descartes Prinzip des Cogito als fundamentum in concussum? Obwohl auch bei Kant eine gewisse Statik vorliegt, beginnt hier die Bewegung des Selbstbewußtseins, das nicht mehr nur als starres Prinzip, sondern als aktives, hervorbringendes Vermögen konzipiert wird – dies reicht erkenntnistheoretisch von der Welt der Erscheinungen bis zur menschlichen Freiheit hin. Einerseits findet sich bei Kant das sich selbst Durchhaltende im Denken (als Substanz), welches jedoch andererseits als Akt der Spontanität, d.h. als aktives Vermögen sich konzipiert: die Bedingungen des Denkens überhaupt freisetzt und die Einheit im Urteilen stiftet und dabei zugleich vom empirischen Denkakt sich abtrennt, weil dieses „Ich denke“ – Descartes Cogito-Formel übersteigend – einen Begriff von Form bedeutet, indem es die Vorstellung des „Ich denke“ hervorbringt und dabei zugleich die Verbindung von Mannigfaltigem (in der Anschauung) ermöglicht. Subjekt und Objekt fallen ins Subjekt selbst hinein. Einen solchen Akt nennt Kant Selbstbewußtsein. An dieses Konzept eines unteilbaren Fixpunktes, der zugleich ein aktives Vermögen darstellt, knüpft Fichtes Text an, indem er sein Denken auf das höchste Prinzip der Philosophie richtete. In mehreren Anläufen und Varianten unterbreitete Fichte es in seiner „Wissenschaftslehre“, in der er eine Prinzipientheorie des Wissens begründet, welche die Erkenntnis- wie auch die Handlungsregeln umfaßt, und zwar aus einem unbedingten Grundsatz heraus. Manfred Frank schreibt in seinem Buch „Einführung in die frühromantische Ästhetik“:

„Grundlage seines [Novalis‘ bzw. Hardenbergs] wie des Fichteschen Denkens war die Einsicht – man kann sie fast für ein Generationserlebnis erklären –, daß das Faktum unseres Selbstbewußtseins nicht aus Entgegensetzungen der Reflexion erklärt werden kann: Sich auf sich zurückwendend und das gefundene dem findenden Bewußtsein unter dem Titel ‚Ichheit‘gleichsetzend, mußte die Reflexion mit dem Inhalt beider Relata schon bekannt sein; anders könnte sie das in Objektstellung Erfaßte nicht als dasselbe wie das Subjektive erkennen. Darum kann sich die Reflexion aber überhaupt gar nicht als den Urheber des Selbstbewußtseins ansehen, höchstens als einen Ort, in welchem ein anderswoher schon Bekanntes noch einmal zum Thema eines ausdrücklichen Aufmerkens wird. Fichte suchte diesen Sachverhalt dadurch zu berücksichtigen, daß er der Ichheit Unmittelbarkeit zusprach, in ihr ist das Objekt mit dem Subjekt unmittelbar (d.h. nicht vermittelt über ein begriffliches Wissen) identisch.“ (S. 249 f.)

Es ist das Sich-selbst-Setzen des Ichs, um das Fichtes Philosophie kreist, und gleichzeitig versucht er, die Kantische Trennung von praktischer und theoretischer Vernunft einer Revision zu unterziehen. Dieser Begriff des Ichs bei Fichte darf jedoch nicht als individualisierter genommen werden, und er liest sich ebenso wenig im Sinne einer ersten Person Singular. Vielmehr handelt es sich um einen Strukturbegriff, dem eine transzendentale Qualität zukommt. Dieses Ich ist die reine Produktivität sowie Tätigkeit, was in jenem häufig zitierten Satz terminiert:

„Also das Setzen des Ich durch sich selbst ist die reine Thätigkeit desselben. – Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses blossen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und es setzt sein Seyn, vermöge seines blossen Seyns. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Product der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und That sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer Thathandlung; aber auch der einzig-möglichen, wie sich aus der ganzen Wissenschaftslehre ergeben muss.“ (Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, § 1 Erster, schlechthin unbedingter Grundsatz)

Fichtes Philosophie bricht nicht die Bahn, wie das die Hegelsche dann tat, aber sie öffnete Tore: sei dies nun innerhalb der Romantik, wenn man Novalis‘ „Fichte-Studien“ liest, welche um diese Reflexionsfigur kreisen, oder aber für das Konzept einer Philosophie des Selbstbewußtsteins, die nicht beim bloßen Ich = Ich und damit beim leeren Om Om verharrt.

„Das Ich setzt sich selbst, …“: Als Arthur Schopenhauer während einer Vorlesung Fichtes in Berlin diese Sätze vernahm, malte er dazu in seinen Notizen in ironischer Absicht einen Stuhl.

Einhundert Taler

Zum Beginn der Woche, als Nachklang zum religiösen Spektakel der letzten Woche, sei eine kurze Passage gegeben aus einem Text von Heinrich Heine, und zwar zu Kant. Heine ist bekanntlich kein Philosoph, seine Darstellung der Philosophie Kants fällt zuweilen etwas seicht aus, aber schreiben und zuspitzen: das macht Heine ganz wunderbar. Bei jenem im Text erwähnten Lampe handelt es sich – für die, welche der Biographie Kants nicht kundig sind, – um Kants Diener. Es schreibt Heinrich Heine:

Ich enthalte mich, wie gesagt, aller popularisierenden Erörterung der Kantschen Polemik gegen jene Beweise. [Gemeint ist Kants Kritik an den Gottesbeweisen, insbesondere dem ontologischen, hinw. Bersarin.] Ich begnüge mich zu versichern, daß der Deismus seitdem im Reiche der spekulativen Vernunft erblichen ist. Diese betrübende Todesnachricht bedarf vielleicht einiger Jahrhunderte, ehe sie sich allgemein verbreitet hat – wir aber haben längst Trauer angelegt. De profundis!

Ihr meint, wir könnten jetzt nach Hause gehn? Bei Leibe! es wird noch ein Stück aufgeführt. Nach der Tragödie kommt die Farce. Immanuel Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen tragiert, er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt – und der alte Lampe steht dabei mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte. Da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, und halb gutmütig und halb ironisch spricht er: „Der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein – der Mensch soll aber auf der Welt glücklich sein – das sagt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen.“ In Folge dieses Arguments, unterscheidet Kant zwischen der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft, und mit dieser, wie mit einem Zauberstäbchen belebte er wieder den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getötet.

Hat vielleicht Kant diese Resurrektion nicht bloß des alten Lampe wegen, sondern auch der Polizei wegen unternommen? Oder hat er wirklich aus Überzeugung gehandelt? Hat er uns eben dadurch, daß er alle Beweise für das Dasein Gottes zerstörte, recht zeigen wollen, wie mißlich es ist, wenn wir nichts von der Existenz Gottes wissen können? Er handelte da fast ebenso weise wie mein westfälischer Freund, welcher alle Laternen auf der Grohnderstraße zu Göttingen zerschlagen hatte, und uns nun dort, im Dunkeln stehend, eine lange Rede hielt über die praktische Notwendigkeit der Laternen, welche er nur deshalb theoretisch zerschlagen habe, um uns zu zeigen, wie wir ohne dieselben nichts sehen können.

(Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Drittes Buch. S. 604 f., in: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, Bd. 5. Frankfurt/M, Berlin, Wien, 1981)

Januartag mit Kant

Zuweilen hat die Krankheit etwas für sich, denn in den aufblitzenden und schnell wieder verglühenden Momenten von Geistestätigkeit und Intensität, jenen kurzen Stunden, die der extremen Wachheit geschuldet sind und sich selbst bei Krankheiten – aber vielleicht ja gerade dort – einstellen wollen, komme ich dazu, die Dinge zu treiben, welche ansonsten fern liegen, in der Vergangenheit entrückt. So nahm ich – ohne jede theoretische Intention und Motivation, einer bloßen Laune folgend – Kants „Kritik der reinen Vernunft“ aus dem Regal und las darin einige Passagen, insbesondere über den Begriff des Ideals.

Na ja: so etwas klingt zunächst banal wie Thomas Manns Tagebucheinträge: „Heute morgen rasiert. Heute mittag spazieren gegangen. Gestern abend Feuchtwanger getroffen. Schrecklicher Mensch.“ Oder es mutet wichtigtuerisch an, um sich im Bildungsdünkel zu differenzieren und den feinen Unterschied zu setzen. Wie dem auch sei – ich stieß auf folgenden Satz, der zwar erkenntnistheoretisch bzw. hier sogar erkenntniskritisch motiviert ist, jedoch sehr gut in das Feld der Ästhetik paßt, zumal Kant mit einem Beispiel aus derselben kommt:

„Das Ideal aber in einem Beispiele, d.i. in der Erscheinung, realisieren wollen, wie etwa den Weisen in einem Roman, ist untunlich, und hat überdem etwas Widersinnisches und wenig Erbauliches an sich, indem die natürlichen Schranken, welche der Vollständigkeit in der Idee kontinuierlich Abbruch tun, alle Illusion in solchem Versuche unmöglich und dadurch das Gute, das in der Idee liegt, selbst verdächtig und einer bloßen Erdichtung ähnlich machen.“ (KdrV B.599)

Solche Versinnlichung gerät im Kunstwerk, gerät für beide Seiten nicht gut: weder für die Ethik, noch für die Ästhetik – wobei es mir für die erstere egal ist. Was Kant bereits 1781 respektive 1787 wußte und wie nebenbei aus dem Handgelenk heraus formulierte, hat sich in der Kunst teils bis heute nicht durchsetzten können. Ach, wenn ich nur genug Zeit hätte, die Ideenversinnlicher mit der Waffe der Kritik niederzumähen. Doch nächste Woche treibt es mich wieder zur Erwerbsarbeit.

Freilich: daß das Gute einer bloßen Erdichtung ähnlich sein könnte, hat für sich genommen schon seinen Reiz. Zuweilen erscheinen mir die Nebenstellen eines Textes als die besten.

Kunst und Geschmack (2)

Zunächst möchte ich anhand von Christoph Menkes Aufsatz „Ein anderer Geschmack. Weder Autonomie noch Massenkonsum“, der im Septemberheft 2009 der „Texte zur Kunst“ erschien, einige Aspekte zum Verhältnis der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft sowie der damit einhergehenden Emanzipation eines Subjekts und die Bedeutung des Geschmacks bzw. der Ästhetik innerhalb dieses Prozesses herausgreifen.

Dieser Text von Menke läßt sich deshalb gut aufgreifen, weil er (paradigmatisch) ein Bündel von Positionen des 18. Jahrhuderts zusammenfaßt, ohne daß man diese verschiedenen Perspektiven nun im Detail auseinanderlegen müßte. Freilich erzeugt dieses Vorgehen eine gewisse Allgemeinheit, die um den Preis des Details erkauft ist. Aber zuweilen kann die Perspektive des Überfliegens den Blick fürs Einzelne wiederum schärfen.

Grundsätzliche These Menkes ist es, daß Geschmack den für die Ästhetik des frühen 18. Jahrhundert zentralen Begriff abgibt. Geschmack stellt nicht nur ein Beurteilungsvermögen im Hinblick auf Objekte, sondern zugleich auch ein Erkenntnisvermögen derselben dar, das ohne vorgegebene Regeln und Begriffe im ‚Sinnlichen‘ verfährt, so Menke. Wenn er schreibt, daß dies ohne Regeln geschieht, so ist dies freilich nicht ganz richtig. Die Entwicklung des Geschmacksbegriffs ist durchaus komplexerer Natur, angefangen eben bei Gracian bis zur Geschmackskritik der französische Salons, wo es durchaus auch um ein praktisches Moment, nämlich um Lebensregeln ging.

Weiter heißt es bei Menke „Geschmack ist das Vermögen, ohne methodische Überprüfung und argumentative Rechtfertigung, in einem Akt sinnlichen Erfassens, zu erkennen und zu beurteilen, wie es um einen Gegenstand bestellt ist.“ (S. 39)

Es ist dies zwar eine verkürzte Definition, welche eine komplexe Entwicklung innerhalb der Ästhetik (insbesondere in Deutschland, aber auch mit Blick auf Frankreich und England, das empirische Moment, das eine starke Rolle spielte) trotzdem ganz gut zusammenfaßt. Womit gebrochen werden soll, ist das Ideal der Regeln, nach denen ein Kunstwerk einzig verfaßt zu sein hat und an dem es gemessen wird. Der Begriff des Geschmacks richtet sich insofern gegen die traditionellen regelgeleiteten Kunstlehren. Denn diese gesetzten Vorgaben bleiben der vielfältigen Sache und ihrem Mannigfaltigen äußerlich, da es eine Gruppe von Objekten gibt, die dem begrifflichen und diskursiven Wissen zunächst entzogen ist und die sich als unregulierbar erweist – eben das ästhetische Objekt. (Einen Widerschein davon mögen auch jene „Querelle des Anciens et des Modernes“ abgeben.)

Neben der klassischen Regelpoetik gerät in der Ästhetik jedoch auch die Philosophie des deutschen Rationalismus in die Kritik. Im Rahmen des Sinnlichen kann für den Rationalismus nichts beurteilt werden, denn es existiert kein sinnliches Beurteilungsvermögen. Das Schöne ist im Rationalismus etwa der Wolffschen Philosophie un- oder genauer unterbestimmt. Es ist ein Mangel an Deutlichkeit, der sich dann in jener Wendung des „Je ne sais quois“ äußert. Um einen kurzen Eindruck nur zu gewinnen: das Schöne ist ein „analogon rationis“, eine noch verworrene Vorstellung dessen, was vom Begriff dann in deutlicher Repräsentation geleistet werden kann. (Diese Zusammenhänge insbesondere im Hinblick auf die Frühromantik lassen sich sehr gut bei Manfred Frank in seiner „Einführung in die frühromantische Ästhetik“ nachlesen. Dieses sehr instruktive Buch ist bei Suhrkamp erschienen.)

Geschmack nun steht für Menke im Spannungsfeld der Pole Subjektivität (eben als Träger dieses Geschmacks) und einem Anspruch auf Objektivität, daß nämlich dem Geschmack ein Gegenstand korrespondiert.

Zentrales Motiv für Menke ist hier nun die für das 18. Jhd. ganz eigentümliche Ausbildung einer neuen Form von Subjektivität, die freilich schon in den Rahmen der praktischen Philosophie eingebettet ist. Diesen Bezug auf Ethik muß man (nicht nur) bei Menke immer im Hinterkopf haben, so auch in seinem Text zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts „Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie.“ Diese Form von Subjektivität ist einerseits gesellschaftlich vermittelt, andererseits aber bildet sich hier über die Ästhetik und insbesondere über den Geschmack als Effekt sozialen Wandels eine Form (bürgerlicher-frühkapitalistischer) Individualität heraus, wie sie bisher nicht existierte. Diese Effekte des Sozialen tangieren auch die Ästhetik und die Kunst. So schreibt Menke:

Der Geschmack ist subjektives Vermögen: eine durch Übung erworbene, aber eben deshalb nicht auf Regeln zu bringende Fähigkeit, die das Subjekt in eigener Verantwortung, ungeleitet durch eingelebte Tradition oder rationale Methode, anzuwenden vermag. Im Geschmack urteilt das Subjekt selbst. Zugleich ist der Geschmack objektive Instanz: die Fähigkeit, die Dinge zu sehen, wie sie in sich selbst sind, unverhüllt durch den Schein des Vorurteils und der Naivität. Der Geschmack urteilt über die Sache selbst. Es ist nicht die Vernunft der wissenschaftlichen Methode, sondern die Vernunft als ästhetischer Geschmack, im dem das Autonomieideal der bürgerlichen Gesellschaft seinen entscheidenden Ausdruck findet“ (S. 40)

Eine solchen Perspektive, die Dinge zu sehen, wie sie in sich selbst sind, wird die Erkenntnistheorie Kants in der „Kritik der reinen Vernunft“ und später dann die Ästhetik Kants, die er in der „Kritik der Urteilskraft“ entfaltet, doch in eine anderes Licht bringen. Es wird sich in der „Kritik der reinen Vernunft“ zeigen, daß es keinen Weg mehr in das Innere der Dinge geben kann. Es herrscht ein Block, eine Grenze. Diesem Motiv des Innen werden wir dann erst wieder im Deutschen Idealismus, kulminierend in Hegel wiederbegegnen. So etwa in jenem Satz aus der „Wissenschaft der Logik“: Eine Grenzen setzten, heißt bereits, sie zu überschreiten. („Denn eine Bestimmtheit, Grenze ist als Schranke nur bestimmt im Gegensatz gegen sein Anderes überhaupt als gegen sein Unbeschränktes; das Andere einer Schranke ist eben das Hinaus über dieselbe.“, Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 145, Frankfurt/M 1986) In Adornos „Negativer Dialektik“ wird dieses Moment des Blocks als Rettendes eine Rolle spielen, um jener universellen Verfügbarkeit eine Schranke zu setzten.

Trotz dieser vorkritischen, vorkantischen Sicht, welche bei Menke philosophisch durchaus beabsichtigt ist, bringt er mit diesem Zitat einen wichtigen Aspekt ins Spiel: Daß nämlich in der Idee des Geschmacks ein Moment der Befreiung und der gesellschaftlichen Autonomie aufscheint. Weisen der Subjektivität und Formen derselben sowie der Objektivitätsanspruch sind nicht mehr sozusagen von Natur aus vorhanden und geben unhinterfragbare, feststehende philosophische Bestimmungen ab, sondern sie konstituieren sich in einem freien Feld ästhetischer Artikulation und Weltaneignung jeweils neu. Menke faßt diese Dinge allerdings sehr weit, und man muß wohl hinzufügen, daß diese Aspekte in bezug auf den Geschmack auf den deutschsprachigen Raum einzuschränken und zudem einer gewissen Generalisierung geschuldet sind.

Mit dem Geschmacks kommt zugleich der Begriff der Bildung ins Spiel. Geschmack ist insbesondere in der deutschen Aufklärung nichts, das einfach gegeben ist, sondern eine Fähigkeit zur Beurteilung, die erst erworben werden muß und sich erst durch beständige Übung bzw. Arbeit ausbildet. Im Grunde ein Trainings- und Übungslager, und wir sind hier natürlich mit Sloterdijk gesprochen nicht sehr entfernt von den Anthropotechniken, wie er dies in seinem Buch „Du mußt dein Leben ändern“ darstellt. Der Athlet des Körpers und der des Geistes sind über den Begriff der Arbeit, der trainierenden Tätigkeit sowie der Übung verwandt.

Gegenstand des Geschmacks ist in Menkes Sicht das Schöne, aber auch darüber hinaus: Geschmack umfaßt alles das, für dessen Erkenntnis es keine Begriffe und für dessen Beurteilung es keine Regeln gibt. „Das Feld des Geschmacks ist das in der bürgerlichen Gesellschaft sich beschleunigt erweiternde Feld des Neuen.“, so Menke. Den Begriff des Innovativen müßte man auch im Hinblick auf die sozialen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts noch einmal gesondert nehmen. Zunächst bleibt festzustellen, daß in Menkes Konzept des Geschmacks – freilich unausgesprochen – der Kantische Begriff der Urteilskraft einfließt. Und insbesondere hier verschwimmen bei Menke die Bestimmungen und Differenzen zwischen der Urteilskraft und dem Geschmack.

Urteilskraft überhaupt“, so Kant, „ist das Vermögen , das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert (…) bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.“ (Kritik der Urteilskraft, S. 87, Fft/M 1974) Diese reflektierende Urteilskraft eben ist es, die sich mit jenem Neuen, jenem (gesellschaftlichen) aufzufindenden Allgemeinen abzugeben hat und nicht nur in ästhetischer, sondern zugleich in gesellschaftlich-kritischer Absicht reflektiert und damit eben zugleich praktisch wirkt.

In dieser Konstellation ästhetischer Urteile, die über die Kategorie des Geschmacks, funktionieren, gerät zugleich der Aspekt des Übens und der Praktiken zur zentralen Stelle. Denn daß die reflektierende Urteilskraft jenes Allgemeine auffindet, geschieht eben nicht nach vorgegebenen Regeln, sondern muß von Fall zu Fall geübt werden, so auch Kant. Lediglich durch eine gewisse Erfahrung spielt sich Gewöhnung ein. Ansonsten sind eben ein Maß an Fingerspitzengefühl und Takt nötigt, um diese Leistung zu vollbringen. Es bedarf eines (entwickelten) Sensoriums. Diese Dinge werden dann später für den Umgang mit Kunst und auch im Hinblick auf Adorno bedeutsam, etwa über die Kategorie des Taktes. Ein sozusagen ästhetisch-ethisch konnotierter Begriff, der in Adornos „Noten zur Literatur,“ etwa in dem Essay zu Goethes „Iphigenie“, eine Rolle spielt; so etwa, wenn der vermeintliche Barbar Thoas als sehr viel humaner und milder sich erweist als jene Griechen, welchen man Humanität nachsagt.

Im nächsten Teil zeige ich weitere Bestimmungen des Geschmacks bei Menke im Blick auf eine Ästhetik des 18. Jahrhunderts, um dann auf die Moderne überzuleiten.

Immanuel Kant – Zum 205. Todestag

 Ich habe ihn, ich gebe es zu, vergessen vor lauter Thomas Bernhard: Immanuel Kant, welcher heute seinen 205. Todestag hat. Bernhard zumindest hätte es gefallen, am selben Tag sterben zu dürfen, wie jener große Philosoph der Aufklärung, zumal Bernhard schließlich ein Theaterstück mit dem Titel „Immanuel Kant“ geschrieben hat.

Kein besonderer und extra runder Todestag heute, doch ein besonderer Philosoph, der gerade jetzt in den Zeiten einer allgemeinen Manipulation durch die Medien und in der es kaum noch mediales, kritisches Gegengewicht gibt, wichtig ist und es wert ist, immer wieder und wieder gelesen und studiert zu werden. (Als kleines aufklärerisches Korrektiv sei hier etwa auf die Nachdenken-Seite oder auf „Kritik und Kunst“ verwiesen, um nur einige Seiten zu nennen.)

Also auf die Schnelle (was eigentlich ungerecht gegen ihn ist): ein paar Sätze zu Kant. (Doch ungerechter noch wäre es, gar nichts zu schreiben über diesen Großen aus Königsberg. Ich hätte heute – naturgemäß – auch gerne etwas zu Darwin geschrieben, doch die traumatischen Erfahrungen aus dem Leistungskurs Biologie halten mich davon ab.)

Nicht nur bedeutet Aufklärung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, wie es Immanuel Kant in seiner Schrift „Was ist Aufklärung“ schrieb, sondern es ist diese Aufklärung eine Lebenshaltung, um – zumindest im Denken, wenn es in der Praxis schon kaum noch möglich ist – standhaft zu bleiben innerhalb einer Welt, in der dauernd manipuliert und getrickst wird, um Menschen für dumm zu verkaufen und sie dahin zu bringen, wohin man sie haben will. Als kleines Nebenher-Mäandern: daß ausgerechnet die FDP, der Antreiber eines radikal neoliberalen Kurses, in der größten Wirtschaftskrise seit 1929 mit 18 % in den Umfragen dasteht, ist wohl eigentlich als ein Hohn anzusehen: um billig zu kalauern: es wählen sich die Kälber ihre Metzger selber, das Bürgertum glaubt, durch diesen Akt vorauseilenden Gehorsams noch einmal davon zu kommen: aber sie täuschen sich. Es kommt eben keiner so einfach davon, nur weil er auf den Gesang der Sirenen hört und sich mit dem Aggressor gemein macht: das, was die Krise eigentlich ausgelöst hat, soll sie wieder austreiben: lächerliche Homöopathie, die dem Publikum um den Bart geschmiert wird. Wie heißt es bei Heiner Müller: Erst wenn sie mit Schlachtermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen. So wird es leider kommen, und bei dieser nächsten Bundestagswahl 2009 wird der aufklärerische Impuls kaum Wirkung zeigen.

Aber um aus der unnützen Aufregung zurückzukommen: Insofern ist Aufklärung und Entschleierung hier mehr als wichtig, insofern tut Kant mehr als Not, nicht nur im Feld der theoretischen Philosophie die Grenzen der Metaphysik aufgezeigt zu haben, auf daß sie nicht Ansprüche erhebe, die ihr nicht zustehen, sondern auch im praktischen Bereich einer Ethik das Fundament zu sichern, ohne hier auf theologische Prämissen oder – als Gegenposition – auf das größte Glück der größten Zahl, also einen Utilitarismus, zurückgreifen zu müssen. Wie wäre es: wenn man einen Menschen opferte, um dafür 10 oder 100 oder 1000 usw. Menschen retten zu können? (Adorno sind solchen Beispiele ein Greuel, weil sie bereits Ausdruck des verdinglichten Denkens sind. Zu recht.) Nach Kant ist ein solches pragmatischen Verhalten, das sich am bloßen Kosten-Nutzen-Kalkül orientiert, völlig unstatthaft, und es gäbe für die Entscheidung, den einen zu opfern, keinerlei Begründung. Darin eben ist Kant so bedeutsam: daß es nicht um den kurzfristigen Effekt und Erfolg einer Handlung gehen kann, sondern daß etwas Prinzipielles im Vordergrund steht und Handlungen reflektierend leiten muß. Vielleicht läßt sich deshalb nach dem Scheitern des Marxismus, weil das historische Subjekt Proletariat aus der Geschichte sich verabschiedet hat, und jenseits oder diesseits einer Habermasschen Diskursethik mit der Kantischen Philosophie etwas anfangen, um eine Form der Begründung für Handlungen zu finden. Manchmal können ein oder zwei Schritte zurück gut tun, um einen Blick aus einer Ferne auf die vertrauten Dinge zu gewinnen. (Siehe auch da Karl Kraus-Wort)

Was man Kant, etwa von der Position Hegels aus, vorwerfen mag, ist dieses Ziehen von Grenzen, in denen die Vernunft ihren Bereich absteckt, denn nach Hegel heißt es, eine Grenze zu setzten, bedeutet, sie bereits zu überschreiten. Aber nicht nur innerhalb der theoretischen Vernunft, daß diese nämlich ihre eigenen Fähigkeiten nicht ausreizen möge zugunsten einer haltlosen Metaphysik, sondern auch zwischen der praktischen und der theoretischen Vernunft tut sich im Kantischen System eine Kluft und Grenze auf. Die am Ende offene Frage, wie die beiden Aspekte der Vernunft, nämlich der theoretische und der praktische, sich zuletzt vermittels einer „Kritik der Urteilskraft“ noch zusammenbringen lassen und ob überhaupt ein solcher Holismus wünschenswert oder möglich sei, dies gibt immer noch die große Frage der Moderne oder, mit dem leider in Vergessenheit geratenen Lyotard gesprochen, der Postmoderne ab. (In seiner Schrift „Der Widerstreit“ findet diesbezüglich eine hochinteressante Auseinandersetzung mit Kant statt.) Diese Fragen und die Entschleierung der Verhältnisse halten Kant in der kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart, denn nach ihm ist nur der kritische Weg allein noch offen, immer wieder aktuell.

Wie Ernst Bloch es schrieb: Kant ist das Schwarzbrot der Philosophie, was sagen will, daß seine manchmal etwas trockene Sprache nicht immer die „Lust am Text“ weckt; aber doch ist die Kantische Philosophie ein Grundnahrungsmittel, es geht um den Akt des Denkens, die Leistung der Vernunft, wenngleich sie sich in ihrer Selbstbewegung bei Kant noch nicht selber erkannt hat, dies geschieht erst mit Hegel. Aber wer einmal in diese Welt des klaren Gedankens und der klaren Sprache der Kantischen Philosophie eingedrungen ist, den lassen diese Sätze und dieses Denken so schnell nicht mehr los. Bis zu Hegel ist es dann nur ein kleiner Schritt. Zumindest aber ist die Kantische Philosophie für die heutige Zeit unentbehrlich. Denn die Aufklärung ist ein Projekt, welches noch sehr jung ist und eigentlich gerade erst eröffnet wurde. Momentan sind wir auf einem Weg in die andere Richtung. Vor allem in den Zeiten der Krise, wenn die Peitsche des Herren lauter knallt und die Rufe der gedungenen Antreiber und Aufseher schärfer werden, ist es in der kuscheligen Strohecke des Stalls besonders gemütlich und warm.