Man kann Rückblicke machen, man kann Ausblicke machen, man kann Prognosen machen, man kann sich gute Vorsätze machen, man kann Bleigießen machen, man kann sich Sorgen machen, man kann Pläne machen, man kann Liebe machen, man kann Fondue machen, man kann es seiner Nachbarin machen, man kann es sich gemütlich machen, man kann gar nichts oder eine Party machen, man kann den Abwasch machen, man kann es sich selber machen, man kann ein Faß aufmachen, man kann To-Do-Listen machen, man kann einen Ausflug machen, man kann schnell noch den Einkaufszettel machen, denn die Geschäfte haben nur bis halb vier geöffnet. Aber zum Silvester einzukaufen, scheint mir wenig ratsam, weil sich vor den Kassen lange Menschenschlangen bilden, denn viele kaufen auf die letzte Minute ein.
Nein, es gibt hier im Blog keinen Rückblick aufs Jahr 2012, ich betrachte und werte nicht, was bedeutsam oder weniger bedeutsam war, was mir lesens- oder sehenswert erschien und was weniger. Auch fallen keine grundsätzlichen Worte. Es gibt nichts zu verbessern und es gibt nichts zu verschlechtern, es ist alles genau so wie es ist: gut eingerichtet und an seinem Platz – sozusagen ins messianisches Licht getaucht. Die Prosa des Lebens – und wie wenn an Feiertagen ebenso die Poesie desselben – schreibt und webt sich auch im nächsten Jahr als unendlicher Text weiter. Sobald ein Moment abgelebt und das heißt: vorüber ist, geht er in einen Text über – nämlich den der Erinnerung. Und nur in Sprache sowie in Bildern kann ein solcher vergangener Moment einzig dargestellt werden: jene Recherche du temps perdu. Sie speist sich zwar aus einer Vielzahl an Momenten, Augenblicken, Situationen, Erlebnissen, aber am Ende vergehen und zerrinnen die Momente und Erfahrungen ins Nichts (spätestens mit dem Tod), wenn sie nicht als Text oder als Bild festgehalten und aufgehoben werden. (Wobei auch das Bild als Text zu lesen ist.)
Das Vergehen mag manche schwindelig machen, weil die Sucht nach Leben den Impuls übersteigt, das Tote festzuhalten, und dies bringt den Kopf durcheinander. Aber dagegen besaß bereits jener Kant aus der vorkritischen Periode Mittel, um die Verwirrungen zu korrigieren oder doch zumindest in den Blick zu bekommen. So veröffentlichte Kant im Jahre 1764 die Abhandlung „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“. Anlaß für diese Schrift war ein Vorfall nahe bei Königsberg, wo ein in Ziegenfelle gehüllter Naturmensch hauste, vielleicht um den Ideen Rousseaus recht nahe zu sein, oder aber aus Intuition und einer Laune heraus unterwarf er sich diesem Stil des Lebens, eine Herde von Kühen, Schafen und vor allem Ziegen mit sich führend, religiöse Predigten haltend, weshalb das Volk ihn Ziegenprophet nannte. Heute würden wir die Angelegenheit differenzierter betrachten, den Ziegenpropheten als Korrektiv zur postbürgerlichen Gesellschaft wahrnehmen und von einem Hippie oder einem Aussteiger sprechen. „Lesen der Bibel und Anfertigung hölzerner Löffel waren seine Hauptbeschäftigung.“, so schrieb Vorländer in seiner Philosophiegeschichte. Wie passend!
Diese Verwirrungen des Kopfes, auf die Kant abzielt, reichen von der bloßen Dummköpfigkeit bis zur vollendeten Narretei hin. Und es findet sich mancher Gedankengang aus dieser eher satirischen Analyse später dann in seinen Kritiken wieder. Erkenntniskritik verfährt zwar im ganzen deduktiv, entbehrt aber zuweilen nicht der Induktion. Wer einen schalkhaften und heiter gestimmten Kant zu Gesicht bekommen möchte, der lese diesen Text oder auch die „Träume eines Geistersehers“, es finden sich dort Passagen, die eines Lichtenbergs würdig sind, der wiederum stark von Kant beeinflußt war. In jener amüsant zu lesenden Kopf-Schrift heißt es unter anderem:
„Der stumpfe Kopf ermangelt des Witzes, der Dummkopf des Verstandes. Die Behendigkeit etwas zu fassen und sich zu erinnern, imgleichen die Leichtigkeit, es geziemend auszudrücken, kommen gar sehr auf den Witz an; daher derjenige, welcher nicht dumm ist, gleichwohl sehr stumpf sein kann, in sofern ihm schwerlich etwas in den Kopf will, ob er es gleich nachher mit größerer Reife des Urtheils einsehen mag, und die Schwierigkeit sich ausdrücken zu können beweiset nichts minder als die Verstandesfähigkeit, sondern nur, daß der Witz nicht genugsame Beihülfe leiste, den Gedanken in die mancherlei Zeichen einzukleiden, deren einige ihm am geschicktesten anpassen.“
Dieses Witzes teilhaftig zu werden: nämlich das, was wir ästhetischen Takt und philosophisches Gespür nennen, auszubilden, sei jedem gewünscht, damit es zur Produktion von guten Texten reicht.
Den Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich einen guten Übergang von der einen Zeit – jener willkürlich gesetzten Datumsgrenze – in die andere. Und wie man die physikalisch bzw. die gezählte Zeit verschieben kann, weil es sich bei ihr um eine bloße Setzungen handelt, das hat die Insel Samoa letztes Jahr gezeigt, als sie am 29.12.2011 ihre Datumsgrenze zum Westen hin verschob. Der Inselstaat stellte die Uhren um 24 Stunden nach vorne und übersprang so einen Tag: Der 30.12. fiel ganz einfach aus. [Ach, wenn wir auf diese Weise manche Tage ungeschehen machen oder sie durch einen Akt von Magie tilgen könnten. Oder jenen einen Tag gar aufsteigerten und dehnten.]
Damit durfte Samoa als eines der ersten Länder das Jahr 2012 „begrüßen“. Samoa gehört von da ab zur Zeitzone von Australien und Neuseeland. Zeit dient als Wirtschaftsfaktor – eben eine westlich orientierte physikalisch-rechnerische, handhabbare Zeit – eine bloß technische Zeit, die sich in beliebige Richtungen verschieben läßt. Zeit ist eine kulturelle Setzung, wie alle Begriffe.
Bei einem Datum hingegen, das sich mit einem Ereignis oder einer Begebenheit konnotiert – und sei es der erste Kuß oder ein anderer besonderer Moment –, verhält es sich komplexer. Ein Datum ist von seiner Struktur her so angelegt, daß es sich selbst als vergangene Präsenz am Leben zu halten versucht, und es ist ihm zugleich sein Verschwinden eingeschrieben. Jedes Datum ist prinzipiell auslöschbar. Das Wissen darum samt der damit verbundenen Melancholie erzeugt jene Texte, die wir nicht missen möchten.